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Ich warte auf dich

von

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Prolog

Mit kreisenden Bewegungen streiche ich über meinen Bauch. Nie hätte ich daran gedacht eines Tages von einer derartigen Glückseligkeit erfüllt zu sein. Selig. Ja, das scheint das richtige Wort für meinen Umstand zu sein. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, wie es nur von werdenden Müttern gelächelt werden kann. Eine Gelassenheit, die ich noch nie zuvor gespürt habe, erfüllt mich seit gut einem halben Jahr. In Gedanken versunken, streiche ich wieder über die Stelle an meinem Bauch, die sich unruhig nach außen wölbt.

Leise summe ich vor mich hin, um dich zu beruhigen. Es ist alles gut, mein Liebling. Niemand wird dir etwas zu Leide tun. Wie stolz und voller Freude werden dein Vater und ich erst sein, wenn du endlich das Licht der Welt erblickt hast. Bis dahin bleibt aber noch ein wenig Zeit, die du dir unbedingt in Mamas Bauch gönnen solltest, mein Liebling. Es tut mir leid, dass ich manchmal in wenig glückliche Zeiten zurückblicke. Falls ich dich damit beunruhige, tut es mir von Herzen weh. Du bist mein größtes Glück und ein Kind der Liebe. Eigentlich hätte ich dich schon sehr gern früher bekommen, doch dieses Geschenk blieb mir verwehrt. Es ist so wie es ist. Manchmal könnte ich deinen Vater dafür ohrfeigen, dass er mich solange warten lassen hat. Dennoch sollte ich aufhören in der Vergangenheit zu leben; für dich und für ihn. Die Vergangenheit kann nicht mehr geändert werden, aber die Zukunft gestalten wir zusammen.
 

Wer hätte das gedacht, mein Spatz? Wer hätte erwartet, dass sich unser fast hoffnungsloses Unternehmen nach Erebor zurückzukehren doch noch zum Positiven wenden würde? Zu viel Zeit war bereits ins Land gezogen, doch wir haben es irgendwie geschafft. Wie, bleibt mir manchmal immer noch ein kleines Rätsel.

Die zärtlichen Berührungen scheinen dich für den Moment wieder zufrieden gestimmt zu haben. Wieder umspielt das selbe Lächeln von vorhin meine Lippen. Ein Windhauch spielt mit einer meiner losen Haarsträhnen während ich gedankenverloren auf dem steinernen Balkon stehe und in die Ferne sehe. Von der Umgebung nehme ich nicht viel wahr. Du bist mein kleiner Protagonist. Das muss sich dein Vater in Zukunft gefallen lassen. Aber er wird schon seine Liebe für uns beide gerecht zu verteilen wissen. Da bin ich mir sicher.
 

Dein Vater ist ganz vernarrt in dich, obwohl wir beide dich erst in einigen Monaten zu Gesicht bekommen werden. Ich muss auflachen, wenn ich daran denke, wie es wohl werden wird, wenn du da bist und ein jeder versucht herauszufinden von wem du die Augen, die Nase und alles andere hast. Dabei bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob du nun ein kleiner Junge oder ein Mädchen bist. Anhand deiner kleinen, stürmischen Bewegungen kann ich nichts ablesen. Falls du ganz nach deiner Mutter kommen wirst, sollten sich alle Zwergenjungs schon einmal in Acht nehmen.

Papa kann ein Liedchen von Mamas Temperament singen.

Ein Wildfang stellt sich vor

Viel zu flink für ein Zwergling hüpfte ein kleines Mädchen über Stock und Stein. Die langen rot-braunen Haare waren teilweise geflochten, teilweise hatten sich ein paar Strähnen im Spieleifer gelöst. Das grüne Kleid war von Schmutzflecken gezeichnet. Es schien als wäre seine Trägerin das ein oder andere Mal bereits in den Rasen geplumpst.
 

Ihre Eltern konnten über ihr Verhalten nur resigniert den Kopf schütteln. Woher dieser Bewegungsdrang kam, war ihnen ein Rätsel. Nur zu oft hatten sie bereits versucht sie von ihren Alleingängen abzuhalten, denn schließlich war die Wildnis im Hinterland des Erebors kein Spielplatz und schon gar nicht für eine Zwergin.
 

Ihr Vater, Ásgrímur, war vom Temperament seiner einzigen Tochter nicht begeistert. Schließlich war er ein angesehener Zwerg im Dienste Thrórs und es gehörte sich einfach nicht für ein Mädchen über Stock und Stein zu springen. Und das schon überhaupt nicht, wenn es sich bei der kleinen Draufgängerin um seine eigene Tochter handelte. Was sollten die anderen Krieger nur darüber denken, wenn Ásgrímur seinen Wildfang nicht unter Kontrolle bekam? Ein gestandener Krieger, der sich nicht einmal Respekt in seinem eigenen Heim beschaffen konnte?

Nein, diese Blöße wollte und konnte er sich nicht geben. Denn nicht nur er, sondern auch seine beiden Schwager, Balin und Dwalin, würden sich den ein oder anderen dummen Kommentar anhören müssen, wieso denn die Nichte wieder nicht gehorchen wollte und sich gegen den Willen ihrer Familie stellte.
 

So kam es auch an diesem Tag wieder zu einer oft erlebten Prozedur: Lenja hüpfte von einem Stein zum anderen über den schmalen Flussverlauf als sie aus dem Augenwinkel eine ihr allzu bekannte Gestalt entdeckte, die ihres Onkels Dwalin. Einen kurzen Augenblick zögerte die kleine Zwergin, ob sie ihr Spiel unterbrechen sollte. Doch da sie ihren Onkel kannte, zuckte sie in Gedanken nur mit den Schultern und setzte unbekümmert ihren Erkundungsweg über „die Fluten“, wie sie sie nannte, fort.
 

„Meine liebe Lenja, was glaubst du, was ich hier mache?“, begann Dwalin und lehnte sich gegen einen Felsen wohl wissend, dass diese Unterhaltung wieder länger als nötig dauern konnte.
 

„Hmm“, entkam dem Mund seiner Nichte, die nun aufmerksam lauschte, ihn aber nicht anguckte und ihr Spiel nicht unterbrach.
 

„Deine Mutter sucht dich. Und du weißt ganz genau, dass sie sich jedes Mal die schlimmsten Gedanken macht, wenn du nicht mehr aufzufinden bist. Die Szenarien, die sie sich ausmalt, sind unter uns gesagt, schlimmer als so mache Schlacht, die ein Zwerg je ausfechten muss. Also...“
 

Lenja blieb stehen. Sie hatte ihrem Onkel aufmerksam zugehört, auch wenn es keine wirklich neue Erkenntnis für sie war, dass ihre Mutter eben eine typische Mutter war. Ständig machte sie sich Gedanken über alles und jeden in ihrer Nähe und seitdem sie mit einem kleinen Geschwisterchen für Lenja schwanger war, verstärkte sich diese Angst. Dennoch war das kein Grund ihr ihren Onkel als Babysitter hinterher zu schicken.
 

„Aber ich habe ihr doch eine Nachricht hinterlassen! Ich weiß gar nicht, wieso Mutter so einen Aufstand macht... schließlich habe ich ihr geschrieben, dass ich draußen spiele. Sie war ja nicht da als ich mich langweilte. Also musste ich doch handeln und mir eine Beschäftigung suchen. Balin sagt doch immer, dass Langeweile dem Geist auf Dauer schadet“, ließ Lenja entrüstet verlauten, während sie mit verärgerter Miene Dwalin fixierte. Er konnte ja nichts für die Überempfindlichkeit seiner älteren Schwester. Dennoch war es Lenjas Meinung nach falsch ihn immer als Aufpasser hinterher zu schicken, wenn ihr Vater nicht zugegen war.
 

Der Zwerg erhob sich und kam auf seine Nichte zu, ging dann kurz vor der Kleinen in die Knie und versuchte es noch einmal auf diplomatischen Weg sie von einer Heimkehr zu überzeugen.
 

„Dein Vater konnte dich nicht wieder einfangen, denn der ist momentan nicht im Erebor. Wenn du nun also die Freundlichkeit hättest den Heimweg anzutreten bevor deine Mutter dir und mir den Kopf abreißt oder noch viel zu früh niederkommt...“
 

Dwalin machte Anstalten seine Nichte auf den Arm zu nehmen. Diese drehe sich in diesem Moment jedoch schlagartig um und rannte so schnell sie konnte schnurstracks davon.
 

„Komm und hol mich!“, schrie sie, wie schon so oft in einer solchen Situation.
 

Es gehörte für Lenja dazu sich nicht kampflos dem Willen ihres Onkels, ihrer Mutter oder ihres Vaters zu beugen, sodass sie sich einen Spaß daraus machte vor Dwalin zu fliehen und erst einmal von ihm gestellt werden musste bevor sie sich ihrem Schicksal ergab. Schließlich war sie eine Zwergin und ihrer Meinung nach gehörte es sich genauso wenig sich einfach ohne Widerstand zu beugen. Selbst wenn das ein kleines Kämpfchen mit Onkel Dwalin bedeutete. Der ließ ihr gnädigerweise einen kleinen Vorsprung bevor er ihr hinterher jagte.
 

Ohne es öffentlich zugeben zu wollen, missfiel ihm Lenjas Verhalten und ihr Temperament nicht so sehr wie seiner Schwester und deren Mann. Natürlich, sie hatten Recht, dass ein Zwergenmädchen sich nicht wie ein Junge zu verhalten hatte. Dennoch konnte es ja auch nicht schädlich sein, wenn man dem Mädchen ein bisschen Raum lassen würde, sich zu einer starken Frau zu entwickeln. Nicht, dass ihm die Vorstellung einer Axt schwingenden Lenja gefiel. Doch sah er in den Augen seiner Nichte eine Entschlossenheit seit ihrer Geburt aufblitzen, die es sehr schwer zu unterdrücken galt. Zumal er sich eine selbstbewusste Nichte wünschte, die sich nicht jeden dummen Kommentar der Zwergenmänner gefallen lassen würde. Er selbst wusste, wie idiotisch sich Männer in Gegenwart der „Rarität Zwergin“ verhalten konnten. Er war in der Hinsicht auch nicht immer eine große Ausnahme.
 

Lenja hörte ihren Onkel immer näher kommen. Das Herz schlug ihr heftig bis zum Hals. Auch wenn sie während der gesamten Verfolgungsjagd ein Grinsen in ihrem Gesicht nicht unterdrücken konnte, war es doch anstrengend mit ihren kurzen Beinen gegen ihren viel größeren und stärkeren Onkel anzutreten.
 

„Hab ich dich“, mit diesem Worten erreichte Dwalin Lenja und mit einem kurzen Schwung hatte er sie sich über die linke Schulter geworfen. Jeglicher Widerstand war nun zwecklos. Sie ergab sich ihrem Schicksal und wurde wie ein erlegtes Tier Richtung Erebor geschleppt.
 

„Onkel Dwalin, weißt du wieso du gewonnen hast?“, fragte Lenja ihren Onkel.
 

Dwalin lachte auf und musste aufpassen, dass seine Nichte ihm nicht vom Arm rutschte. „Du wirst es mir wohl bestimmt gleich sagen, nicht wahr?“
 

„Natürlich“, begann Lenja.
 

Typisch, dachte Dwalin. Die Verwandtschaft mit Balin war nicht abstreitbar. Immer nach Gründen suchen und sie dann auch als Weisheit verkaufen wollen, ganz wie sein älterer Bruder.
 

„Dann lass mal hören.“
 

„Naja, ich habe ja dieses unpraktische Kleid an. Und damit kann ich nicht so schnell laufen als wenn ich, wie du, eine Hose tragen würde. Meinst du, dass Mutter mir erlauben würde eine zu tragen? Dann bräuchte sie sich auch keine Gedanken mehr machen, dass mir etwas Schlimmes passiert. Denn wenn ich schneller als mein Onkel laufen könnte, dann kann mich auch kein anderes Ungeheuer einholen. Weißt du, das wäre doch toll, oder nicht? Und Vater braucht auch nicht mehr hoffen, dass das Kind in Mutters Bauch ein Junge wird. Schließlich hat er doch mich. Würdest du mir dann das Kämpfen mit Waffen beibringen? Onkel Dwalin!? Hörst du mir denn überhaupt zu?“
 

Dwalin verdrehte die Augen während Lenja den gesamten Weg zum Erebor zurück munter weiter redete. Er liebte seine Nichte über alles. Doch was dieser kleine Wirbelwind da von ihm verlangte, war aussichtslos. Schließlich war sie ein Mädchen und das konnte er beim besten Willen nicht einfach ignorieren.

«

Warum bin ich kein Junge?!

Lenjas Mutter war eine stolze Zwergin. Láfa war die ältere Schwester von Balin und Dwalin und hatte eine nicht weniger ausgeprägte Sturheit als ihre Brüder. Ein weit verbreitetes Zwergenproblem.

Was ihre Tochter anbelangte, so hatte diese das Glück von ihren Eltern die doppelte Menge an Eigensinn geerbt zu haben.
 

Natürlich war es immer die Schuld des jeweilig anderen, wenn Lenja über die Stränge schlug. Láfa warf ihrem Mann dann vor, nicht genügend Zeit für sein Kind zu haben und durch seine Abwesenheit als Autoritätsperson den Aufmerksamkeitsdrang seiner Tochter zu verstärken, was dieser damit konterte, dass es die Aufgabe einer Mutter sei für die Erziehung ihres Nachwuchses zu sorgen. Derartige Diskussionen schlugen Lenja auf ihr Gemüt.
 

Nichts lag ihr mehr im Sinn als ihre Eltern glücklich zu sehen. Doch ihre Abenteuerlust konnte sie nicht unterdrücken. Sie hatte es versucht. Unzählige Male hatte sie versucht sich selbst zu disziplinieren und das zu tun, was von ihr erwartet wurde. Sie hatte ja schließlich eine Ahnung, was korrektes Verhalten für sie als Zwergin bedeutete.
 

Von ihrer Mutter und deren Freundinnen hatte sie einige mehr oder weniger spannende Unterhaltungen mitverfolgt, wenn die Frauen sich trafen. Weiberkram, wie Onkel Dwalin immer zu sagen pflegte, war das. Nur war wohl Dwalin nie in den Genuss einer solchen Frauenrunde gekommen, dachte sich Lenja. Dann hätte er gewusst, wie furchtbar deprimierend es für seine Nichte war. Sie fühlte sich nicht mehr frei, sondern eingesperrt.

Nein, beim besten Willen, sie fühlte sich in einer fremden Welt, wenn sie den Gesprächen der Frauen lauschte. Zwangsweise musste Lenja ja immer mit, denn schließlich sollte sie doch auch eine stolze Zwergin werden. Und dies war der verzweifelte Versuch ihrer Mutter sie indirekt zu disziplinieren.
 

So begleitete die junge Lenja in ihrem schönsten Kleid ihre hochschwangeren Mutter auch dieses Mal zu deren Freundinnen Dís, die Enkeltochter des Königs, und Reya, der Frau eines angesehenen Kriegers. Die Prinzessin war in der Frauenrunde die Jüngste und im Gegensatz zu den beiden anderen Frauen noch unverheiratet. Lenja und ihre Mutter wurden schon erwartet als sie in die warme Stube der Prinzessin eintraten.
 

„Wie geht es dir meine liebe Láfa? Deine Niederkunft rückt in großen Schritten näher, nicht wahr?“, bemerkte Reya als sich Lenjas Mutter dankend auf einen Sessel niederließ.
 

Ihre Tochter setzte sich wie immer etwas abseits von der Frauenrunde vor den Kamin. Sie liebte die Wärme und das Knacken des Holzes, wie sie es aus heimlichen Besuchen in der Schmiede kannte. Niemals hätte Lenja ihren Eltern auch nur ein Sterbenswort über ihre Ausflüge zu ihrem Onkel Dwalin erzählt, wenn jener dort an seinen Äxten werkelte. Dieses Geheimnis war sie sich und ihrem Onkel schuldig.

Ein Lächeln huschte Lenja über das Gesicht als sie daran dachte den Frauenklub mit dieser Neuigkeit in alle Ewigkeiten zu verschrecken.
 

„Ja, bald ist es soweit und Ásgrímur hat seinen verdienten Stammhalter. Ein Junge ist doch das wonach es jedem Zwerg sehnt. Einen Erben, der die Blutlinie weiterführen wird. Ich habe es fast nicht mehr für möglich gehalten, aber mit dieser Geburt wird sich wohl hoffentlich auch die Beziehung und der Zusammenhalt innerhalb der Familie wieder verstärken“, erklärte Láfa.
 

Lenja traute kaum ihren Ohren. Kaum merklich drehte sie ihren Kopf etwas weiter in die Richtung der drei Frauen, die zusammen am Tisch saßen. Hatte sie das eben richtig verstanden? Das Baby, also ihr Bruder, war in den Augen ihres Vaters und ihrer Mutter mehr wert als sie? Sie, die sie nur ein einfaches Mädchen war? Das konnte doch nicht der Ernst ihrer Eltern sein! Was war das für eine Welt, die sich um sie herum auftat und ihre bisherige gehörig ins Wanken brachte?
 

Lenja schnappte leise nach Luft. Sie wollte und konnte ihre Mutter für deren Aussage nicht vor ihren Freundinnen bloß stellen. Nicht jetzt. Nicht wenn dies stimmen sollte. Sie würde ihre Beziehung zu ihren Eltern nur noch weiter aufs Spiel setzen nachdem sie nun langsam aber sicher von ihren wahren Absichten erfuhr.
 

„Es stimmt“, pflichtete Reya Láfa bei. „Auch bei meinem Mann und mir war es anstrengend bis ich ihm endlich einen Jungen gebar. Ihr wisst doch, wir hatten schon zwei Mädchen bis sich unser Sohn ankündigte. Ich habe ja schon an mir gezweifelt. An meinen Qualitäten als Frau. Obwohl ich mich um alles andere im Haushalt gekümmert hatte, blieb doch ein kleiner Funken des Zweifels, ob ich eine gute Ehefrau sein konnte, wenn ich meinem Mann keinen Stammhalter schenkte.“
 

Bitte? Das flaue Gefühl in Lenjas Magengegend verstärkte sich bei jedem einzelnen Wort Reyas. Tief in sich versunken, hoffte sie einen ganz schlechten Traum zu haben und jeden Moment aufzuwachen. Sie zählte in ihrem Geiste bis drei, doch nichts passierte. Es musste die Realität sein.
 

„Naja, vielleicht übertreibt ihr beiden es ein bisschen“, begann Dís, die etwas von Lenjas Unruhe mitbekommen zu haben schien. „Ich habe auch zwei ältere Brüder, die natürlich in der Thronfolge weiter oben stehen als meine Person. Dennoch kann ich nicht behaupten, dass ich mich für meine Existenz als Frau rechtfertigen muss.“
 

„Ich bitte dich Dís. Du weißt doch ganz genau, dass es nur auf Thorin ankommt. Du als jüngstes Kind hast nicht unter einem Erfolgsdruck deiner Mutter leiden müssen. Sie hatte ihre Pflicht bereits bei ihrer ersten Niederkunft getan“, flötete Reya zuckersüß.
 

Ein hilfloser Blick Dís' streifte durch den Raum und blieb an Lenjas Rücken hängen. Sie hatte sich merklich versteift als Reya sprach. Hatte es Láfa denn nicht bemerkt? Hatte sie es nicht gesehen, dass ihre Tochter, ihr einziges Kind, unter jedem Wort der Frauen litt?
 

Bitte Mutter! Mama, sag etwas dazu, flehte Lenja still in Gedanken. Sag, dass du mich liebst, dass du mich genauso lieb haben wirst, wie meinen ungeborenen Bruder! Den verzweifelten Kampf gegen die Tränen hatte Lenja bereits verloren. Die erste Träne rann ihr über die linke Wange als ihre Mutter ihre Gedanken wohl zu hören schien und zum Reden ansetzte.
 

„Reya hat Recht. Du bist unverheiratet und kennst den Druck nicht. Ein Sohn ist der Kitt einer guten Ehe und wenn dieser Bestandteil fehlt, dann kannst du dich drehen und wenden, wie du willst. Es ist nicht das Wahre und jeder beobachtet dich. Du hast das Gefühl einen Fehler begangen zu haben...“
 

FEHLER!

Bei diesem Wort konnte Lenja nicht mehr an sich halten. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Platz am Kamin auf. Und durchquerte die Stube in schnellen Schritten Richtung Tür. Ihr war nicht nach Reden, nach Diskutieren. Sie meinte nun umso mehr zu wissen, wieso ihre Eltern immer so streng zu ihr waren. Sie war ein Produktionsfehler. Etwas das nicht hätte entstehen dürfen. Noch nicht. Nicht als Erstgeborene.
 

„Nanu, Lenja, Schatz, was ist los?“, fragte ihre Mutter besorgt.
 

„Mir ist übel. Ich muss an die frische Luft“, gab Lenja kurz zu Protokoll bevor sie halsüberkopf aus dem Zimmer stürmte.
 

Sie wollte schreien, doch etwas schnürte ihr die Luft ab. Sie war zu traurig, zu verstört, um überhaupt einen Ton herauszubekommen. Wie konnte ihre Mutter nur so etwas sagen und dann noch so besorgt tun, als ob nie etwas geschehen wäre?
 

Lenja lief hastig die Flure hinunter. Sie konnte nicht mehr denken. Sie wollte nur noch weg. Einfach alles hinter sich lassen. Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht als sie über die königlichen Korridore so schnell jagte, wie ihr Kleid es ihr überhaupt erlaubte. Wie ferngesteuert lief sie die ihr nur allzu bekannten Wege. Wohin lief sie eigentlich? Automatisch schlug sie den Weg Richtung Schmiede ein. Sie hoffte Dwalin dort zu finden. Ihr Onkel würde ihr Halt geben. Sie hoffte es jedenfalls.
 

Durch die dunklen Korridore eilend, kam sie endlich an ihr Ziel. Sie riss die Eingangstür auf und rannte im Eifer des Gefechts gegen einen Zwerg. Nicht gegen ihren Onkel. Sondern gegen keinen anderen als den Kronprinzen persönlich, Thorin, Sohn des Thráin. Vollkommen perplex sah Lenja in die blauen Augen des Prinzen und entschuldigte sich kurz für ihre Unaufmerksamkeit bevor sie ihren Weg rasch, aber langsamer als zuvor in den hinteren Bereich der Schmiede fortsetzte, wo sie ihren Onkel vermutete.
 

Und dort fand sie ihn auch. Tief versunken im fast zärtlichen Akt des Schleifens. Überrascht blickte Dwalin auf als er seine Nichte bemerkte und ihm stockte der Atem als er ihre verweinten Augen und ihre Verzweiflung wahrnahm.
 

„Lenja, was ist passiert? Nun sag doch! Ist etwas mit deiner Mutter?“, stammelte Dwalin sichtlich besorgt.
 

„Sie...sie...liebt mich nicht. Ich...bin ein Nichtsnutz..kein Junge..nur ein Mädchen...Vater liebt mich auch nicht...10 Jahre hat er warten müssen...das Baby...es ist mehr wert...ich will nicht, dass es auf die Welt kommt...es soll bleiben, wo der Pfeffer wächst...“, schniefte Lenja mit zittriger Stimme und suchte verzweifelt die Augen ihres Onkels.
 

Dwalin ließ seine Arbeit liegen und kam auf seine Nichte zu. Endlich, dachte Lenja und war überglücklich als er sie in die Arme nahm. Tränen flossen ihr in Strömen über das Gesicht. Wenigstens liebte ihr Onkel sie, wie sie war. Auf ihn war Verlass. Die kleinen Hände legte sie ihm um den breiten Hals und atmete tief ein und aus. Langsam, aber nur sehr langsam, begann sie sich zu beruhigen. Er brauchte nichts sagen. Seine Präsenz reichte ihr. Das war mehr als sie nach dem Geständnis ihrer Mutter zu hoffen gewagt hatte.
 

Dwalin strich ihr sanft über den Rücken. Lenja hob ihren Kopf von seinen Schultern an und sah ihm in die Augen als sie ihn fragte, ob er ihr nicht zeigen könne, wie man mit Schwert und Axt umzugehen habe. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, was er erwidern sollte. Tief im Inneren hatte er es geahnt, dass sich seine Nichte eines Tages ernsthaft mit dieser Bitte an ihn wenden würde. Nicht wie Lenja es sonst tat, wenn sie aus Jux ihre Kämpfe gegen ihn austrug.
 

Ein leises, fast gehauchtes „ja“ war Dwalins Antwort. Lenja schmiegte sich wieder in seine Arme. Auf ihren Onkel konnte sie zählen.

Kinder sind grausam

Seitdem Lenja schmerzhaft bewusst wurde, dass ihre Existenz wohl eher ein Witz der Natur war und sie auch in Zukunft weniger Ansehen haben würde als ihr noch ungeborener Bruder, verbrachte sie mehr Zeit als eigentlich nötig bei ihrem Onkel Dwalin. Die nun noch größere emotionale Distanz zu ihrer Mutter und ihrem Vater nahmen jene nicht wahr. Jedenfalls schien Lenja durch ihre Abwesenheit weniger Unfug zu treiben und war unter den wachsamen Augen ihres Onkels sicher. Zumal sich Láfa nun voll und ganz auf die baldig anstehende Geburt konzentrieren konnte, so dachte Ásgrímur.
 

Wie so oft in den letzten Tagen wartete Lenja auf ihren Onkel. Immer wenn er sie nicht mitnehmen konnte, hockte sie auf einem Stein oder machte es sich auf ihrer Decke gemütlich, die sie immer in ihrem neuen Rucksack dabei hatte. Schließlich hatte Lenja doch beschlossen eine große Kriegerin zu werden und als anständig ausgerüstete Kriegerin im Dienste des Zwergenkönigreichs gehörte es dazu einen ledernen Rucksack zu tragen. Das hatte sie bei den Männern gesehen. Und Dwalin hatte ihr nach immer lauter werdenden Flehen und Bitten einen geschenkt.
 

Offiziell handelte es sich dabei natürlich nicht um ein Transportmittel für spätere Kriegsutensilien sondern um eine Art Reisetasche, die Lenja brauchte, um immer Wechselwäsche dabei zu haben. Lenjas Eltern hatten diese Erklärung ohne Weiteres geschluckt. Nur Balin hatte schmunzelnd darüber hinweggesehen und mit einem tadelnden Fingerzeig seinen Bruder ermahnt. Doch auch er wusste von Lenjas Leiden. Dwalin hatte es ihm erzählt und Balin brach es das Herz den kleinen Wirbelwind traurig zu sehen. Also schwieg er zu den Berufsplänen seiner Nichte; fürs Erste jedenfalls.
 

Lenja wusste nicht, wie lange sie bereits auf Dwalin wartete. Sie hoffte, dass er bald kommen würde. Gedankenversunken blickte sie auf die schwere Tür durch die er schon vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war. Wichtige Gespräche waren das wohl wieder.
 

Die Zwergenjungs, die sich immer vehement weigerten mit Lenja zu spielen, liefen bereits zum fünften Mal an ihr vorbei. Die Zwergin zog ihre Beine an ihre Brust und stützte den Kopf auf ihre Knie während sie keine Notiz davon nahm, dass Gúgur dämlich grinsend auf sie zukam. Er war der selbsternannte Anführer der Bande.
 

„Schaut euch das an, Leute! Da sitzt die Verrückte wieder und wartet wie ein Schoßhündchen auf ihren Onkel! Warum bist du kein anständiges Mädchen und gehst mit deiner Puppe spielen?“, plusterte sich Gúgur vor Lenja auf.
 

Eigentlich hatten ihr ihre beiden Onkel ein Versprechen abgerungen, sich nicht unnötig mit den Jungs anzulegen. Ein Mädchen gegen fünf Jungs war nicht fair und sie befürchteten, dass Lenja den Kürzeren bei einer Rauferei ziehen würde.

Aber beim besten Willen, den dummen Spruch konnte die Zwergin nicht unkommentiert stehen lassen. Sie erhob sich von ihrer Decke und stand nun wenige Zentimeter Aug in Aug mit dem Anführer. Die gleiche Körpergröße gab Lenja zusätzlich Sicherheit als sie so gelassen wie möglich erwiderte:
 

„Du musst es ja wissen. Warum gibst du es nicht zu, dass du ganz neidisch darauf bist, wenn deine Schwestern mit ihren Puppen Mutter und Kind spielen? Ach ja, dir ist es ja verboten so ein Mädchenkram zu machen. Du kannst es deinen Freunden ruhig sagen, dass die blauen Flecken an deinem linken Arm von deinem Vater stammen als er dich dabei erwischt hat, wie du als stolzer Puppenvater durch deine Kammer gegangen bist.“
 

Gúgurs Gesichtsfarbe hatte sich während Lenjas Worte mehrfach verändert. Voller Zorn und mit zusammengekniffenen Augen, die Schlitzen glichen, zischte er:
 

„Du dreckige Lügnerin! Was weißt du schon? Du bist eine Schande für deine Familie! Dein Vater und deine Onkel sind angesehene Krieger und was bist du? Du bist nicht normal! Anstatt sich ihrem Willen zu beugen, stellst du dich dagegen und versuchst ein Junge zu sein. Aber das wirst du nie im Leben schaffen, denn du bist und bleibst ein schwaches Mädchen! Eine Verrückte! Ich glaube, deine Mutter hat während deiner Schwangerschaft gesoffen. Sonst wäre nicht so etwas wie du es bist am Ende dabei rausgekommen!“
 

Mit diesen Worten wandte er sich triumphierend zu seinen Freunden um, die ihm zustimmend zu grölten. Eine selten dagewesene Wut stieg in Lenja auf. Für diese Worte sollte der kleine Spinner büßen. So nicht! Niemand sollte es wagen sie bis auf die Knochen zu beleidigen. Auch wenn sie kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatte, war es eine Frechheit, wie der Dreikäsehoch da mit ihr sprach. Na warte, dachte sich das Mädchen. Du wirst gleich sehen, was es bedeutet sich mit Lenja anzulegen.
 

Sie tippte Gúgur auf die rechte Schulter als dieser schon gar nicht mehr mit einer Reaktion von ihr rechnete. Er drehte sich selbstsicher um und fiel im nächsten Moment rücklings auf den Boden. Was war geschehen? Er sah für den Bruchteil von Sekunden nur noch Sterne vor seinen Augen kreisen bevor ein stechender Schmerz durch seine Nase fuhr. Die anderen Jungs waren einen Schritt zurückgewichen als ihr Anführer zu Boden gegangen war.
 

Lenja stand zum Kampf bereit vor Gúgur als es diesem so langsam dämmerte, was soeben geschehen war. Mit der rechten Hand tastete er sich vorsichtig zu seiner schmerzenden Nase vor. Eine Flüssigkeit lief aus ihr heraus. Mit zitternder Hand betrachtete er die tiefrote Substanz, die an seinen Fingern schimmerte. Blut! Hatte das verrückte Mädchen ihm doch glatt einen Schlag auf die Nase verpasst und diese wohl auch noch gebrochen! Das sollte sie ihm büßen.
 

Immer noch leicht benommen rappelte sich der Junge aus seiner Rücklage wieder hoch auf seine Beine. Seine Augen blitzten als er Lenja fixierte. Diese hielt seinem Blick stand. Die beiden Kinder schlichen wie Ringer in einem Kreis umeinander herum. Beide lauerten auf die nächste Reaktion des Anderen. Sie folgten einander bis Gúgur zum Schlag ausholte. Er verfehlte sein Ziel und strauchelte. Nur mit Mühe konnte er verhindert vornüber zu kippen, denn Lenja war ihm aus dem Weg gesprungen. Bebend vor Wut schrie Gúgur seinen Freunden zu, das Mädchen zu schnappen und festzuhalten. Keiner wusste so recht, ob er sich wirklich mit dieser Furie anlegen sollte. Nur ein größerer Junge machte Anstalten Lenja zu packen. Er hielt sie in einem Klammergriff an den Schultern fest.
 

Das Mädchen versuchte sich kräftig gegen den Griff des Größeren zu wehren, aber egal was sie versuchte, alles schien ausweglos. Gúgur kam siegessicher auf sie zu. Eigentlich hatte Lenja ja hoch und heilig versprochen nie im Leben den einen Trick anzuwenden, den Onkel Dwalin ihr einst für den Notfall empfohlen hatte. Aber wenn das nun kein Notfall sein sollte, dann wusste sie auch nicht. Mit voller Kraft hob sie das Knie als Gúgur direkt vor ihr Stand und zum Faustschlag ausholte. Der Schlag verpasste sie dieses Mal leider nicht und traf mit voller Wucht ihr rechtes Auge. Ihr Notfallkniff hatte seine Wirkung aber ebenfalls nicht verloren, sodass sich Gúgur mit einem schmerzverzerrten Gesicht am Boden krümmte und sich verzweifelt seine nun lädierten Kronjuwelen hielt.
 

Die anderen Jungs sahen sich verwirrt und beängstigt an. Sie tauschten blitzartig Blicke aus. Keiner wusste genau, was nun geschehen sollte. Der Große hatte Lenja unbewusst losgelassen als ihr Anführer zu Boden ging. Eine Überforderung lag in der Luft und brachte sie förmlich zum Knistern. Unentschlossenheit, wie sie sich nun aus der Situation ziehen sollte, überkam auch Lenja. Dwalin hatte ihr nicht verraten, wie es nach der Geheimwaffe weitergehen sollte. Und schon gar nicht, was man machen sollte, wenn man von einer Gruppe bedroht würde.

Das Mädchen überlegte fieberhaft als sie plötzlich eine Stimme vernahm:
 

„Genug jetzt! Lasst den Mist und geht nach Hause.“
 

Lenja drehte sich um und sah, dass die Tür, die Dwalin einst hinter sich geschlossen hatte, geöffnet war und ihr Onkel mit Thorin im Türrahmen stand. Doch es war nicht ihr Onkel, der eben das Wort ergriffen hatte. Es musste der Prinz gewesen sein. Sie kannte diese tiefe, melodische Stimme nicht.
 

Wie lange sie dort schon standen? Wie viel hatten sie von der Rauferei mitbekommen? Lenja fühlte sich ertappt, obwohl ja nicht sie den Streit begonnen hatte. Doch wussten die beiden Männer das? Oder dachten sie, dass das Mädchen die Anstifterin gewesen ist?
 

Während es bei Lenja im Kopf drunter und drüber ging, hatte sich Gúgur von seinem Tiefschlag erholt und aufgerappelt. Mit seinen Freunden verließ er schnell die Szenerie. Schließlich wollte er nicht auch noch den Ärger des Prinzen auf sich ziehen. Die Pein, die Lenja ihm angetan hatte, reichte für den heutigen Tag. Schimpfe von Erwachsenen und dann auch noch von der Königsfamilie wäre selbst ihm zu viel des Guten gewesen. So liefen die Jungs davon und ließen Lenja vor den Männern allein zurück.
 

Lenja atmete tief durch. Sie wusste nicht, wie sie sich erklären sollte. Und dann noch vor Thorin. Das würde gewaltig Ärger geben. Das war bestimmt für Dwalin peinlich, wenn er eine so ungezogene Nichte hatte. Kaum im Stande die Augen zu heben, wagte sie dann schließlich doch einen Blick in das Gesicht ihres Onkels. Was sie dort ablesen konnte, ließ ihren Atem stocken. Sie kannte den Ausdruck. Immer, wenn Dwalin kurz davor war vor Lachen zu platzen, machte er eine solche Grimasse. Lenja konnte es nicht fassen. Was sollte das denn nun bedeuten? Verwirrt ließ sie ihren Blick nach links zu Thorin schweifen. Auch in seinem Gesicht konnte sie so etwas wie Schalk lesen, dennoch war das im Vergleich zu Onkel Dwalins Gesicht um Welten weniger. Das war wohl so eine königliche Zurückhaltung, dachte sich Lenja im Nachhinein.
 

Dwalin hielt es nicht mehr aus und lachte los: „Voll auf die Zwölf! Der Junge wird sich noch lange an die Stärke meiner Nichte erinnern. Was meinst du Thorin? Hast du schon einmal eine so kleine Kriegerin gesehen?“
 

„Nein, das habe ich nicht. Aber ich muss sagen, dass du nicht übertrieben hast. Eure Verwandtschaft ist unverkennbar. Der Schlag mit der Rechten wurde eindeutig vererbt“, gab der Angesprochene zu Protokoll während nun auch er breit grinste.
 

Lenja fühlte sich wie in einem falschen Film. Hatte sie das eben richtig mitbekommen? War das ein Lob? Und wieso schien der Prinz etwas von ihrem, nun ja, seltsamen Verhalten für ein Zwergenmädchen zu wissen? Oder interpretierte sie in seine Aussage etwas hinein?
 

„Das wird aber ein hübsches Veilchen abgeben, meine liebe Lenja“, sprach Thorin sanft weiter und deutete auf den Schatten unter Lenjas rechtem Auge.
 

„Hmm“, kam es schüchtern von der Zwergin während ihr Onkel fast vor Stolz zu platzen schien. Seine Nichte hatte nicht nur den Willen sondern auch die Stärke eine große Kriegerin zu werden.
 

„Wir müssen uns dann nur noch eine Erklärung für Balin und deine Eltern einfallen lassen“, grinste Dwalin. „Was hältst du davon? Du hast ganz eifrig den Haushalt deiner Onkel geschmissen und bist in ihrer Unordnung gestolpert? Balin ist ja eh nicht zu Hause gewesen und kann nicht etwas anderes behaupten.“
 

Lenja schnaufte halb verärgert, halb erleichtert auf: „Aber Onkel Dwalin, ich bin doch nicht sooo ein Mädchen.“

Großes Unglück

Es lag spürbar Spannung in der Luft. Alle schienen dem Ende der Schwangerschaft von Láfa entgegen zu fiebern. Nicht nur Lenjas Eltern waren froher Hoffnung, sondern auch Dwalin und Balin. Wobei den beiden Onkel die immer schlimmer werdenden Stimmungsschwankungen ihrer Nichte nicht verborgen blieben.
 

Nach dem „Geständnis“ Láfas in der Frauenrunde hatte Lenja allen Mut zusammen genommen und versucht ihre Mutter auf die verletzenden Worte anzusprechen. Sie wusste nicht wie sie sie damit konfrontieren sollte und ob es überhaupt einen richtigen Weg dafür gäbe. Bei ihrem Onkel Dwalin wäre das alles kein Problem gewesen. Hier hielt sie sich immer an die Devise „Gerade-aus-heraus“, aber bei ihrer Mutter wusste Lenja nie genau, wie sie ein Gespräch anfangen sollte. Sehr schnell bekam sie auch nur die kleinsten Dinge in den falschen Hals.

Die Traurigkeit über den vermeintlichen Nachteil als Mädchen ließ sich aber mit voranschreitender Schwangerschaft nicht mehr kommentarlos hinunterschlucken, sodass Lenja schließlich doch eines Abends das Gespräch mit ihrer Mutter suchte.
 

Vor dem Kamin saß Láfa und strickte für ihr Ungeborenes ein Paar blaue Söckchen. Lenja sollte eigentlich bereits selig in ihrem Bett schlummern, doch waren ihre Nächte bereits von Alpträumen über kleine grausame Brüder geprägt, sodass sie nun endlich an ihre Mutter herantrat:
 

„Mutter, ich weiß, dass ich eigentlich bereits schlafen sollte. Doch ich kann nicht. Schon seit mehreren Wochen quält mich eine Sache und bringt mich um den Schlaf.“
 

Láfa blickte von ihrer Strickarbeit auf und sah ihre Tochter verblüfft an. „Nimm Platz. Was brennt dir so sehr auf der Seele, mein Kind?“, fragte sie.
 

Lenja setzte sich tief durchatmend neben ihre Mutter: „Vor ein paar Wochen als wir bei Dís und Reya waren. Naja, du erinnerst dich doch bestimmt noch daran, dass ich plötzlich aus dem Raum gegangen bin und meinte, mir wäre übel. Weißt du noch?“
 

Ihre Mutter nickte und sah sie weiterhin fragend an.
 

„Ähm, ja. Da habt ihr euch doch über meinen kleinen Bruder unterhalten und dass Söhne euch lieber wären als Töchter. Und dann auch noch, dass Mädchen zu bekommen euch unglücklich macht...sag mal Mutter, hast du mich überhaupt lieb?“, bei den letzten Worten fing Lenja an zu weinen und sah betreten zu Boden.
 

Zwerge weinen nicht. Auch Frauen und Mädchen nicht. Sie ertragen ihren Kummer im Stillen und nur für sich, hieß es doch immer. Doch Lenja war das alles egal. Ihre Mutter hatte sie doch schließlich geboren und warum sollte sie sich vor ihr verstellen, nur um damit dem Klischee einen Gefallen zu tun?
 

Wie das erste Prasseln eines sich ankündigenden Regenschauers liefen die Tränen dick über Lenjas Gesicht. Gewünscht, ja erhofft, hatte sie sich genau die Reaktion ihrer Mutter als jene ihr mit einer in letzter Zeit kaum dagewesenen Zärtlichkeit die salzigen Wassertropfen aus dem Gesicht wischte.
 

„Mein armer Schatz! Es tut mir so furchtbar leid! Natürlich liebe ich dich. Und deinen kleinen Bruder werde ich nicht mehr, sondern genauso sehr lieben wie dich kleinen Wirbelwind. Was ich da in der Gesellschaft der anderen Frauen gesagt habe, war nicht gegen dich gerichtet. Es hatte eher damit zu tun, dass, nun ja, dein Vater und ich in den letzten Jahren nicht die beste Ehe geführt haben. Ach was erzähle ich dir das... es ist eigentlich nichts für deine Kinderohren...es tut mir so leid, meine Lenja. Ich habe damals einfach nicht nachgedacht als ich einfach drauflos gesprochen habe während du im Raum warst...“, setzte Láfa an und unterbrach sich selbst kurz um ihre Gedanken zu ordnen.
 

„Dein Vater ist nicht immer einfach. Und als Krieger im Dienste unseres Königs hat er auch das ein oder andere Schreckliche miterlebt, was eine Ehe nicht unbedingt besser macht. Es ist manchmal schwierig, wenn er alles in sich hineinfrisst und ich ihm alles aus der Nase ziehen muss...wir haben Probleme, die aber wirklich nichts mit dir zu tun haben. Das sind so dumme Erwachsenendinge, weißt du mein Schatz. Und naja, genau zu diesen Dingen gehörte der immer stärker werdende Wunsch deines Vaters einen Sohn zu haben, der in seine Fußstapfen treten soll. So schnell ließ sich diese Sehnsucht dann leider doch nicht erfüllen und aus einem Wunsch wurde kaum auszuhaltender Druck...ich wollte dich nicht mit meinen Aussagen unglücklich machen, meine Tochter“, auch Láfa hatte nun feuchte Augen als sie in die grünen, verweinten Äuglein ihrer Tochter blickte.
 

„Ich weiß nicht, ob du es sofort kannst. Aber ich hoffe, du kannst mir das dumme Gespräch von damals eines Tages verzeihen“, setzte die Frau nach und strich ihrer Tochter vorsichtig über den rechten Arm.
 

„Ich glaube schon“, flüsterte Lenja und sah ihrer Mutter tief in ihre blauen Augen. „Eins weiß ich aber ganz genau. Wenn ich mal groß bin und einen Mann habe, dann bekomme ich nur Mädchen mit dem. Die sind viel stärker, denn schließlich bekommen wir Frauen doch die Babys.“
 

Láfa lächelte ihre Tochter an. Manchmal, so dachte sie sich, wäre es vielleicht doch etwas besser so mutig wie ihr Mädchen zu sein.
 

**
 

Munteres Treiben war in der Stube ausgebrochen. Láfa lag bereits seit mehreren Stunden in den Wehen. Lenja fand, dass das Baby sich viel zu viel Zeit ließ. Sie hatte nach dem Gespräch mit ihrer Mutter ihren vorerst inneren Frieden mit dem kleinen Bruder geschlossen. Immerhin konnte der ja nichts für die Probleme ihrer Eltern und sie wollte ihm eine gute große Schwester sein. Er konnte bestimmt davon profitieren, dass Lenja bereits erste Erfahrungen in Rangeleien mit den blöden Zwergenjungs und ihrem Onkel Dwalin hatte. Wer eine große Kriegerin als Vorbild hatte, konnte doch nur ein guter kleiner Krieger werden, oder etwa nicht?
 

Die Tür zur Kammer ihrer Eltern öffnete sich ein weiteres Mal wie bereits zuvor innerhalb der letzten Stunden. Lenja wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie kannte sich ja nur theoretisch mit so einer Geburt aus. Ihr Vater und ihre beiden Onkel machten auf sie zwar einen nervösen, aber keinesfalls ängstlichen Eindruck.
 

Nun trat eine Zwergin aus der Tür heraus, um Ásgrímur mitzuteilen, dass die Geburt in den finalen Zügen liege. Sie bat ihn etwas warmes Wasser zu bringen damit das Kind dann auch gewaschen werden konnte, wenn es denn endlich auf der Welt war. Wie auf das Stichwort wartend, eilte Dwalin aus der Stube. Er hatte bereits vor Stunden Wasser im Kessel aufgesetzt, damit sein Neffe auch einen guten Start ins Leben haben würde. So war ihr Onkel eben, dachte sich Lenja grinsend. Onkel von Hauptberuf und nebenbei eben noch Krieger.
 

Die Türe fiel wieder ins Schloss und Lenja hielt dieses Warten und das endlose Schweigen in der Stube nicht aus. Ihr Vater lief wieder mit den Händen auf dem Rücken verschränkt und nachdenklichem Gesicht quer durch den Raum auf und ab.
 

Das Mädchen ließ sich auf dem Sofa neben Balin fallen und seufzte auf: „Sag mal Onkel Balin, hat das bei mir damals eigentlich auch so lange gedauert? Ist das normal, dass Mutter mit meinem Brüderchen so lange beschäftigt ist? Oder will er sie ärgern?“
 

Balin legte vergnügt den Arm um ihre Schulter: „Du hast eindeutig nicht so lange gebraucht. Innerhalb von drei Stunden warst du auf der Welt. Aber das hat nichts zu bedeuten. Die einen brauchen eben länger als die anderen. Das ist manchmal so. Und das ist auch nichts, wovor man sich fürchten oder seinem kleinen Bruder Boshaftigkeit unterstellen muss“.
 

Lenja strahlte ihn an: „Dann ist ja gut. Ich dachte schon, dass ihm noch eine Fußzehe fehlt und er deshalb noch ein bisschen in Mutters Bauch verbringen will bis die so ist, wie sie sein soll.“
 

Glucksend rutschte das Mädchen fast vom Sofa als der baldige Doppel-Onkel Dwalin mit dem gewünschten warmen Wasser in den Raum trat. Vorfreude und Stolz spiegelten sich in seinen Zügen wieder, die ein Außenstehender eventuell falsch interpretiert hätte. Immerhin war er nur der werdende Onkel und nicht der Vater. Aber er liebte seine Schwester und seine Nichte so sehr, dass er sich wie ein Kind auch unendlich auf seinen Neffen freute.

Nicht, dass der anders behandelt werden würde, wie Lenja. Schließlich brauchte Dwalin niemanden zum Raufen oder zum Ringen. Das konnte seine Nichte ebenfalls schon wie ein Junge. Nein, er freute sich einfach darauf, dass die Familie weiter wuchs. Er und Balin waren ja nicht verheiratet und da er eben noch nicht selbst Vater war, liebte er die Kinder seiner Schwester umso mehr.
 

Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag. Dwalin hatte das Wasser in einem Krug in der Hand und wollte an die Tür zur Kammer klopfen als jene ruckartig aufgerissen wurde und die Zwergin von vorhin mit bleichem Gesicht im Türrahmen stand.
 

Lenjas Onkel ließ vor Schreck den Krug fallen, der auf der Erde in tausend Teile zersprang. Balin war vom Sofa aufgesprungen und Ásgrímur war wie vom Donner gerührt stehen geblieben. Lenja wusste nicht was geschehen war, doch bedeuteten die Reaktionen der Männer wohl nichts Gutes.
 

„Mein Herr, eure Frau hat den Jungen entbunden. Aber sie verliert ungewöhnlich viel Blut. Dem Kind geht es gut. Nur...“.
 

Lenja hörte nicht mehr, wie die Frau weitersprach. Ohne ein Wort sprang sie vom Sofa auf und lief an der Zwergin vorbei zu ihrer Mutter. Bei der Aktion schubste sie die Hebamme fast um. Sie wollte zu ihrer Mutter. Alles andere war ihr egal. Das konnte nicht sein! Nein! Ihre Mutter war eine starke Frau. Ihr konnte es einfach nicht schlecht gehen. Das war nicht möglich! Niemand, keiner auf der Welt konnte ahnen, wie sehr Lenja ihre Mutter liebte, auch wenn sie sich viel zu oft stritten. Ihre Mutter konnte jetzt nicht einfach so schlapp machen. Nein, das ging nicht! Sie hatte doch eine Tochter und nun auch einen kleinen Sohn. Sie brauchte sie, nein, beide Kinder brauchten ihre Mutter!
 

„Lenja! Komm da weg!“, hörte man Ásgrímurs verzweifelte Stimme.
 

Als Lenja ins Zimmer stürzte, sah sie ihre erschöpfte Mutter im Bett liegen. Sie wirkte zerbrechlich, hatte Schweißperlen auf der Stirn und war kalkweiß im Gesicht. Ein Bündel aus weißem Stoff lag ihr auf der Brust. Sie war zu schwach, um ihren Sohn zu halten. Als sie Lenjas Anwesenheit war nahm, lächelte sie ihr unter größter Anstrengung zu.
 

„Komm mein Kind“, flüsterte Láfa ihr zu.
 

Lenja eilte zu ihrer Mutter ans Bett. „Mutter, das geht nicht! Du kannst nicht krank werden. Nein! Ich brauche dich. Wir brauchen dich doch! Du kannst uns nicht allein lassen!“
 

Láfa betrachtete ihre Tochter. Ihre Lenja. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten. Ihr Mädchen war eine Starke. Auch mit ihren zehn Jahren war sie bereits so klug und tapfer, wie es andere niemals in ihrem langen Zwergenleben werden würden.
 

Unter starker Anstrengung versuchte die Mutter ihrer Tochter eine ihrer losen roten Haarsträhnen aus dem Gesicht hinter das Ohr zu stecken. Es gelang ihr nicht. Unter Schmerzen stöhnte sie auf.
 

„Mama bitte!! Werde doch wieder gesund. Du musst durchhalten!“, schrie Lenja verzweifelt und Tränen liefen ihr wie Sturzbäche über das Gesicht.
 

„Weine nicht mein Kind. Wir werden es nicht ändern können. Ich bin so schwach. Ich habe bereits zu viel Blut verloren. Weine nicht um mich mein Schatz. Auch wenn ich dich verlassen muss, so werden wir uns doch eines Tages wiedersehen. Nicht hier, nicht im Jetzt. Aber ich werde auf dich im Jenseits warten. Es tut mir so leid dich nicht weiter auf deinem Leben begleiten zu können. Nicht zu sehen, wie du erwachsen wirst, dich nicht glücklich verliebt zu sehen. Ich möchte nicht gehen, aber es bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss dich verlassen.

Doch versprich mir bitte eins: Pass auf dich und deinen kleinen Bruder auf. Liebe ihn wie dich selbst. Sei ihm eine gute Schwester, wenn ich ihm keine Mutter mehr sein kann.“
 

Verzweifelt rang Lenja nach Luft. Sie konnte nicht mehr denken. Ihre Mutter würde sterben! Das war nicht fair. Nicht jetzt nachdem sie sich wieder besser verstanden! Das war so ungerecht! Sie war doch erst 10 Jahre alt. Wie sollte sie es ohne sie schaffen?
 

„Mama, lass mich nicht allein. Ich mache auch alles, was du willst. Nur verlass mich nicht! Lass mich nicht allein. Ich verspreche dir alles, nur werde wieder gesund! Mama, sag doch was! Mama, sprich mit mir! Bitte!“, Lenja schrie die letzten Worte voller Verzweiflung und unter Tränen, die brannte als ob sie aus Feuer wären.
 

Sie zitterte. Ihre Mutter bewegte sich nicht mehr. Das konnte nicht wahr sein! Lenja hatte das Gefühl als würde man ihr Messer in ihren Körper rammen. Mehrere auf einmal und alle gleichzeitig in ihr kleines Herz. Láfas Herz hatte aufgehört zu schlagen und mit seinem letzten Schlag schien für Lenja die Welt still zu stehen. Wie in Trance drückte sie die schlaffe Hand ihrer Mutter ein letztes Mal bevor sie wie in Zeitlupe den Raum verließ. An Dwalin und Balin vorbei, die ebenfalls ihre Tränen nicht zurückhalten konnten und an ihrem Vater vorbei, der Lenja nicht wahrzunehmen schien und mit einem Blick voller Leere den leblosen Körper seiner Frau anstarrte. Balin trat auf Lenja zu, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie musste raus. Weg von diesem Ort. Einfach nur weg.
 

Kälte umgab Lenja. Sie konnte ihren Atem sehen als sie auf einen der steinernen Balkone des Erebor stand. Es war mittlerweile stockdüstere Nacht. Die Sterne oben am Himmel funkelten. Sie richtete ihren Blick zum Himmelszelt. Ihre Mutter hatte ihr einmal eine Geschichte erzählt als sie noch kleiner gewesen war. Nach ihrem Tod wachen die Verwandten von oben über ihre Familien. Lenja hoffte, dass das stimmte. Kraftlos sackte sie in sich zusammen und sah in die wolkenlose Nacht hinein. Die Tränen tropften von ihrem Kinn zu Boden. Sie fühlte sich so leer. So allein. Aber auch wütend. Ja, es war auch ein Stück Wut in ihr. Nicht auf ihre Mutter. Nein, auf die niemals. Aber auf eine andere Person. Ja, und wie sie begann innerlich zu kochen.
 

Rasend vor Wut rappelte sich Lenja wieder auf die Beine und schrie zum Himmel gerichtet: „Ich hasse ihn!“

Stürmische Zeiten

Mit dem Tod ihrer Mutter begann nicht nur das Leben von Lenjas kleinem Bruder, sondern auch ein neuer Abschnitt für das Mädchen selbst. Natürlich war es eine herbe Umstellung für alle. Niemand konnte Láfa ersetzen. Und niemand sollte sich auch nur im Entferntesten anmaßen, wenn es nach Lenja ging. So gut sie konnte, wollte sie dem kleinen Ári eine Stütze sein und als Schwester die Mutterrolle übernehmen. Die Rolle, die Láfa verwehrt blieb.
 

Sie hatte es ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen und ein Ehrenwort durfte nicht gebrochen werden, schon gar nicht bei den Zwergen. Doch dass sich das Mädchen damit eine Aufgabe zumuten, die ihre Kräfte weit überschreiten würde, ahnten nur wenige. Um genau zu sein, waren es Balin und Dwalin, die sich um ihre Nichte und den kleinen Neffen sorgten.
 

Ásgrímur versank zusehends in Kummer. Kummer über den Tod seiner Frau, Kummer über die fehlende Mutter seiner beiden Kinder und versank zuletzt in Selbstmitleid. Er war unzufrieden mit der Situation, mit sich selbst und allem und jedem, der ihn umgab. Von Lenja erwartete er mehr als ein kleines Mädchen von zehn Jahren stemmen kann. Auch sie, ein unerschrockener kleiner Wildfang wie sie es war, schaffte es nur zu Beginn die Aufgaben ihres Vaters zu seiner Zufriedenheit zu erfüllen.
 

Ári wurde zwar von einer anderen Zwergin gestillt, doch war es an Lenja ihren kleinen Bruder den Rest des Tages zu umhegen und zu umpflegen. Sie hatte nicht viel Ahnung von Babys und das Geschrei des Kindes ging ihr jedes Mal durch Mark und Bein. Sie versuchte alles um den Kleinen ruhig zu bekommen. Sie gab ihm ein Fläschchen, kontrollierte seine Windel, lief mit ihm auf dem Arm gefühlte 100km im Haus auf und ab, doch nicht immer half es. Manchmal hatte Lenja Glück und ihr Bruder beruhigte sich schnell. Sehr oft jedoch schlief Ári aber erst wieder fest ein, wenn die Sonne bereits im Begriff war aufzugehen.
 

„Na endlich. Du kleiner Plagegeist hast dir aber mal wieder schön viel Zeit gelassen deine große Schwester zu ärgern, was?“, dachte das Mädchen, wenn ihr Bruder endlich Ruhe gab und ihr ein wenig Schlaf zu gönnen schien.
 

Doch Lenja fehlte die Zeit andere Tätigkeiten im Haushalt zu erledigen, die ihr Vater von ihr verlangte. Putzen, Kochen, Waschen und sich um den Kleinen kümmern. Sie wusste nicht, wie ihre Mutter das ganze Pensum geschafft hat. Klar, Láfa hatte wohl mehr Zeit gehabt sich in ihre Rolle einzufinden. Doch Lenja wusste schon nach kürzester Zeit nicht mehr, wie sie dem gerecht werden sollte.

Auf Fragen ihrer Onkel reagierte sie immer noch viel zu stolz und lehnte stur wie sie nun einmal war Hilfe von den beiden rigoros ab. Keiner sollte sie für schwach halten. Nicht jetzt. Auch wenn sie selbst noch ein Kind war, sollte keiner denken, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllen konnte.
 

Doch nach knapp einem Monat war Lenjas Kraft aufgebraucht. Sie vergaß immer wieder Aufgaben im Haushalt. Sie war zu sehr mit ihrem Bruder beschäftigt. Immer wieder nickte sie tagsüber bei ihrer Arbeit ein und wurde von Áris Geschrei abrupt aus ihrem Schlaf gerissen.
 

Lenja merkte selbst, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Ihr Vater verlangte zu viel. Nur wie sollte sie es diesem Mann begreiflich machen, dass sie litt? Dem Mann, der ihre Mutter auf dem Gewissen hatte? Er, der Láfa gedrängt, sie unter Druck gesetzt und nun als Quittung seiner Tat seinen Kindern die Mutter genommen hatte? Für Lenja stand es außer Zweifel, dass Ásgrímur am Tod ihrer Mutter Schuld hatte. Sie begann ihn in jener Nacht des Schmerzes zu hassen und dieses unbändige Gefühl loderte immer mehr in ihrer Seele auf.
 

Ihr Vater kümmerte sich nicht um sie oder seinen Sohn. Er kümmerte sich nur noch um sich selbst. Tagsüber war er nicht zu Haus, da er im Dienste des Königs unterwegs war. Und nach getaner Arbeit kam er meist erst in tiefster Nacht heim. Wo er war, wusste Lenja nicht. Zu Beginn hatte sie überlegt ihn darauf anzusprechen. Doch wie ein Gespräch beginnen, wenn ihr Gegenüber kaum mit ihr spricht? Ásgrímur neigte noch nie zum Schwatz, doch sprach er kaum mehr als drei Worte mir seiner Tochter nach Láfas Tod.

So ließ Lenja die Fragerei und hoffte, dass es sich mit der Zeit vielleicht wieder bessern und er sich wenigstens um Ári kümmern würde. Doch es passierte nichts.
 

Nach einer weiteren Nacht ohne Schlaf hielt es Lenja nicht mehr aus. Sie hob Ári aus seinem Bettchen und band ihn sich in einem Tragetuch vor den Bauch. Es war noch sehr früh am Morgen. Die Sonne war im Begriff hinter dem Einsamen Berg aufzugehen. Die Luft war frisch. Lenja konnte ihren Atem sehen als sie sich über einen Außenweg der Wallanlagen zu Dwalin und Balin aufmachte. Sie musste sich Hilfe holen. Ári und sie, sie beide brauchten ihre Onkel nun.
 

Lenja klopfte an die schwere Tür. Sie wartete kurz. Nichts rührte sich. Sie versuchte es erneut mit mehr Nachdruck. Wieder kein Erfolg. Sie atmete tief durch und überlegte. Ári schlief seelenruhig an ihrer Brust. Das war ja klar. Die ganze Nacht machte er Radau und nun holte er seinen Schlaf nach. Lenja wusste nicht, ob sie Lachen oder Weinen sollte beim Anblick ihres Bruders. Wollte sie etwas erreichen, musste sie nun handeln.
 

„Also gut, ihr Schlafmützen. Wenn ihr es nicht anders wollt, dann muss es eben auf die harte Tour geschehen“, dachte sich das Mädchen und hämmerte wie wild gegen die Tür.
 

„Onkel Balin, Onkel Dwalin! Macht mir endlich die Tür auf! Ich weiß ganz genau, dass ihr mich gehört habt. Nun macht endlich auf. Ich muss unbedingt mit euch sprechen. Sofort! Los jetzt! Macht die Tür auf! Ich habe Ári dabei und uns beiden geht es nicht gut. Bitte, öffnet die Tür!“
 

Ein Poltern begleitet von einem lauten Fluchen war hinter der Tür zu hören als sie kaum später von Dwalin geöffnet wurde. Wäre es nicht um etwas ungemein Wichtiges gegangen, hätte Lenja sich beim Anblick ihres Onkels bestimmt kaputt gelacht. Es war wirklich ein Anblick für die Götter: Der große Zwergenkrieger in Unterhemd und langen Unterhosen. Lenja wusste, dass Dwalin ein Morgenmuffel war, doch wirkte er wacher als sie ihn sonst zu dieser Uhrzeit kannte. In seinen Augen konnte sie Besorgnis lesen und so schob sie sich ohne weitere Erklärung an ihm vorbei in den Raum.
 

Lenja ließ sich mit Ári zusammen auf dem Sofa nieder. Der Kleine schlief immer noch seelenruhig.

Dwalin setzte sich neben die beiden und sah seine Nichte eindringlich an. Er hatte sie bereits einige Tage nicht mehr gesehen, doch das Mädchen machte keinen guten Eindruck auf ihn. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, ihre Haare hingen anders als sonst ungeordnet an ihrem Kopf herunter und sie wirkte blass und zerbrechlich.

Nie hatte Dwalin Lenja in so einem Zustand gesehen. Nicht einmal als sie bei einer ihrer Kletteraktionen über die Fluten in den Fluss gefallen war und daraufhin mit einer schweren Grippe an das Bett gefesselt war. Etwas musste nicht in Ordnung sein. Und er hatte da auch schon so einen Verdacht. Doch war es an Lenja nun das Wort zu ergreifen und sich selbst aus ihrer Situation zu befreien. Sie war bis jetzt zu stolz und zu stur gewesen sich von ihm oder Balin helfen zu lassen.
 

„Schieß los. Was können wir schon zur frühen Stunde für dich tun, Kleine?“, fragte Dwalin Lenja und sah ihr tief in ihre müden grünen Augen, welche von einem rötlichen Schimmer umgeben waren.
 

„Es geht nicht mehr Onkel Dwalin. Vater... er verlangt so viel von mir...er ist nie da und wenn er dann daheim ist, kümmert er sich nicht um uns. Ich meine, er wollte doch unbedingt einen Sohn. Aber er kümmert sich ja noch nicht mal um Ári. Um mich muss er sich doch nicht kümmern. Ich bin schließlich schon groß, aber Ári... es ist so anstrengend. Ich muss alles machen. Wirklich alles. Und Vater spricht kein Wort mit mir. Höchstens sagt er mir, was ich machen soll. Doch das wird auch immer weniger. Er lässt mich mit Ári im Stich. Wir bekommen ihn kaum zu Gesicht. Ich habe schon das Gefühl, wir wohnen mit einem Gespenst zusammen, das kommt und geht, wann es will. So kann es doch nicht mehr weitergehen, oder?“, sprach Lenja und sah ihren Onkel mit Tränen in den Augen an.
 

„Natürlich kann das nicht so weitergehen“, Balin war unbemerkt in den Raum getreten. Lenja drehte ihren Kopf hastig in seine Richtung. „Nur sollte dir auch eins bewusst sein, liebe Lenja. Damit wir dir helfen können, musst du dir auch helfen lassen. Es soll kein Vorwurf sein, doch denk nach, wie oft Dwalin und ich dich bereits mit Ári unterstützen wollten und du stur, wie du nun einmal bist, alles abgelehnt hast. Bitte denk in Zukunft daran, dass wir dir nichts Böses wollen, wenn wir dir helfen möchten. Du und auch Ári, ihr beide seid uns wichtiger als alles auf der Welt und keiner unterstellt dir Schwäche, wenn du verzweifelt bist, mein Kind.“
 

„Du hast ja Recht, Onkel Balin“, flüsterte Lenja mit gesenktem Haupt.
 

Dwalin nahm seine Nichte in die Arme und strich ihr zärtlich über den Rücken. „Hey, nicht den Kopf hängen lassen. Wir werden uns schon etwas einfallen lassen. Was meinst du Balin: Sollten wir uns unseren Schwager nachher mal schnappen und ihm ein bisschen ins Gewissen reden? Vielleicht ist ihm ja nicht klar, was er den beiden zumutet?“
 

„Das könnte sein. Nun ja, er hat ja auch seine Frau verloren. Aber wir sollten etwas gegen seinen Tunnelblick tun, nicht wahr? Mach dir mal keine Gedanken, Lenja. Wir kümmern uns darum und sprechen heute noch mit deinem Vater“, erwiderte Balin.
 

Lenja schniefte kurz und nickte vorsichtig. Sie hoffte so sehr, dass ihre Onkel Recht behalten würden und sich nach dem Gespräch alles endlich wieder normalisieren würde. Nur ein Quäntchen Unbehagen blieb. Lenja kannte ihren Vater. Er war genauso stur und engstirnig wie sie. Und das war nicht immer die beste Voraussetzung für Ratschläge.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Mit einem Fünkchen mehr Hoffnung als noch vor dem Gespräch mit Dwalin und Balin erledigte Lenja die heutigen Arbeiten im Haushalt. Auch Ári schien seine Schwester ein wenig mehr Zeit als sonst für ihre Aufgaben zu zugestehen. Er schlummerte bereits wieder seit Mittag friedlich in seinem Bettchen. Wenn Lenja sich nicht täuschte, müsste die Sonne bald untergehen.
 

Immer wieder dachte das Mädchen an ihre Onkel. Wie hatte ihr Vater das Gespräch wohl mit ihnen aufgenommen? War es ihm bewusst, wie sehr er seine Kinder vernachlässigte? Wie würde es nun weitergehen? Inständig hoffte Lenja, dass sich die Situation für alle wieder entspannen würde. Ja, sie hatte einen Groll auf ihren Vater. Doch irgendwo war er ja auch ihr Vater. Der Mann von dem sie abstammte. Und trotz aller Dinge, die bereits geschehen waren, existierte da wohl auch noch ein kleines Quäntchen Hoffnung.

Lenja würde es sich niemals eingestehen. Aber sie hoffte still und heimlich, dass Ásgrímur sie doch irgendwie, auf seine ganz versteckte eigene Art und Weise, lieb hatte. Ein Wunsch, wie ihn wohl alle Kinder hatten. Nichts war so wichtig und schützenswert wie die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern. Doch neben diesem natürlichen Wunsch gesellte sich auch die Ungewissheit.

Bereits seit Stunden spielte Lenja in Gedanken „was-wäre-wenn“-Spiele durch als nun wie auf das Stichwort die Haustür geöffnet wurde und laut ins Schloss fiel.

Ásgrímur war wieder da.
 

„Lenja!“, hörte das Mädchen die Stimme ihres Vaters vom Flur her. „Bist du in der Küche?“
 

„Ja, Vater“, antwortete die Tochter wahrheitsgetreu.
 

Anhand der Stimmlage konnte Lenja nicht einschätzen, wie Ásgrímur gelaunt war. Doch bis jetzt konnte sie an seinen wenigen Worten keinen Gemütszustand erkennen. Sie fürchtete sich ein wenig ihrem Vater nun unter die Augen zu treten. Obwohl sie wusste, dass sie im Recht war mit Balin und Dwalin über den Zustand zu sprechen, fühlte sie sich schlecht. Vielleicht wäre es doch besser gewesen ihren Vater selbst darauf an zusprechen? Nun war es dafür jedenfalls zu spät.
 

Der Zwerg betrat die Küche als Lenja auf einem Holzstuhl stehend Vorräte in ein Regal räumte. Die oberste Etage war für das Mädchen zu hoch, doch alle anderen waren bereits belegt gewesen, sodass sie sich mit dem Stuhl aushelfen musste. Sie hielt inne und sah zu ihrem Vater, der im Türrahmen stand. Sie versuchte mit einem Blick auf ihn festzustellen, wie er das Gespräch mit seinen Schwagern aufgenommen hatte. Doch nichts war in seinen Zügen abzulesen.
 

Langsam kam er auf Lenja zu, die wie angewurzelt abwartend auf dem Stuhl stand. Kurz vor seiner Tochter holte Ásgrímur aus und trat gegen ein Stuhlbein. Mit einem lauten Knacken verbrach es entzwei und das Mädchen fiel zu Boden. Hastig und angetrieben von aufflammender Panik, kroch Lenja auf allen Vieren rückwärts. Ihr Herz raste. Sie konnte ihre vor Angst geweiteten Augen nicht von ihrem Vater abwenden. Mit Schrecken stellte das Mädchen fest, dass sie bereits mit dem Rücken zur Wand saß. Sie saß in der Falle. Wie sollte sie diesem Mann, den sie einst einmal als ihren Vater bezeichnet hatte nun entfliehen können? Sie rang nach Luft. Wie würde es nun weitergehen?
 

„Was sollte das, du Miststück? Du bist eine kleine dreckige Verräterin! Hast du nichts Besseres zu tun als deinen Onkeln so einen Unsinn zu erzählen? Mich als unfähigen Vater da zustellen? Was fällt dir überhaupt ein?“, herrschte Ásgrímur seine Tochter von oben herab an.
 

„Wie soll das nur mit dir weitergehen? Sprich! Nicht nur, dass du schon immer Flausen im Kopf hattest und dich nicht wie ein anständiges Mädchen benehmen wolltest. Nun setzt du solche Lügen in die Welt und hetzt die beiden auch noch gegen mich auf! Wo soll das nur noch mit dir enden, Lenja?“
 

Mit den letzten Worten trat der Zwerg ein paar Schritte auf das Mädchen am Boden zu. Sie zitterte am ganzen Körper und schüttelte wie geistesabwesend ihren Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Wer war das? Das konnte doch nicht ihr Vater sein! Das war ein Monster! Wie konnte ihre Mutter diesen Mann nur einst geliebt haben? Wimmernd vor Angst versuchte Lenja ihre Panik so gut wie nur möglich herunter zu schlucken. Sie wollte Ásgrímur nicht noch mehr Angriffsfläche bieten. Sie wusste wie sehr er Gefühlsdusseligkeiten verabscheute.

Als ob er ihre Gedanken hören konnte, begann der Zwerg erneut sein abscheuliches Spiel.
 

„Hast du Angst vor deinem eigenem Vater, mein Kind? Ich kenne den Ausdruck in deinen Augen. Deine Mutter war auch von derselben Sorte. So ein schwaches Weibsbild, das dachte, sie könnte machen was sie wollte. Und nun hat sie die Quittung dafür. Sie ist tot und hat dich verlassen. Keiner kann dich mehr beschützen. Keiner wird dich mehr in Schutz nehmen, wenn du wieder gegen die Natur handelst und meinst, eine Frau könne wie ein Mann sein. Auch Dwalin und Balin werden es sich nicht mehr erlauben mich zu Recht zu weisen. Und weißt du woran das liegt? Ich kann es dir sagen. Wenn wir beide hier fertig sind, wirst du dich nicht mehr trauen ihnen auch nur ein Sterbenswort zu erzählen, was hier in unseren vier Wänden passiert. Hast du mich verstanden?“, sprach Ásgrímur kalt.
 

Lenja wusste nicht so recht, was sie da nun tat. Wie in einem anderen Körper rappelte sie sich auf ihre Beine. Trotz ihrer Angst vor dem, was ihr Vater ihr noch antun konnte, wollte sie sich das nicht gefallen lassen. Etwas trieb sie an, sich zu wehren. Auch wenn es sich dabei um einen ausweglosen Kampf handelte. Ein kleines Mädchen gegen ihren Vater, der zudem auch noch Krieger war. Eigentlich hätte sie es gleich sein lassen sollen, doch sie wollte nicht kampflos aufgeben. Nein, das konnte sie nicht! Sie war es Ári und sich selbst schuldig sich nun zur Wehr zu setzen. Und irgendwo musste sie auch ihre tote Mutter beschützen, von der das Ungeheuer dort so abfällig sprach.
 

„Was hast du vor? Willst du mich um Verzeihung bitten bevor ich dich für deine dreckigen Lügen bestrafe oder bist du wirklich so verrückt dich gegen deinen eigenen Vater zu stellen? Ich sage dir was: ein Nichts bist du! Deine Mutter hat es nun besser dort wo sie ist. Sie braucht die Schande nicht mehr zu betrachten, die sie selbst verursacht hat. Sie hätte dir sofort Einhalt gebieten sollen als sich die ersten Anzeichen deiner Geisteskrankheit zeigten“, zischte der Zwerg mit einer nie dagewesenen Leere in den grünen Augen.
 

„Ich hasse dich! Du bist ein Monster! Du hast Mutter auf dem Gewissen! Ich bin keine Lügnerin! Ich weiß nicht, wie Mutter dich je lieben konnte. Du bist abscheulich! Du bezichtigst mich der Lüge und machst all diejenigen schlecht, die dich einst liebten. Ich verachte dich! Du magst zwar mein Erzeuger sein, aber als Vater bist du für mich gestorben!“, schrie Lenja rasend vor Wut Ásgrímur entgegen.
 

Schmerz durchfuhr ihr Gesicht. Erst links, dann das zweite Mal rechts. Er hatte sie geohrfeigt. Niemals hatte er sie geschlagen. Doch für alles gab es bekanntlich ein erstes Mal. Nur wollte Lenja nicht in den Genuss einer Wiederholung kommen. Die Wucht der Schläge hatte sie erneut zu Boden stürzen lassen. Doch anders als zuvor beugte sich der Zwerg mit einem bedrohlichen Funkeln über sie.
 

„Wie du siehst, du bist ein Nichts. Es wäre klüger für dich in Zukunft deinen Mund zu halten. Ansonsten kann ich für nichts garantieren. Du wirst noch sehen, was es bedeutet, sich mit mir anzulegen“, flüsterte Ásgrímur.
 

Ohne Vorwarnung holte er dieses Mal mit seinen schweren Stiefeln aus und trat zu. Lenja krümmte sich unter Schmerzen. Tränen ließen heiß über ihr Gesicht. Schmerz und Verzweiflung stiegen in ihr hoch. Als ihr Vater erneut ausholte, griff sie geistesabwesend nach dem Küchenmesser. Sie hatte es vorhin noch auf die Arbeitsplatte gelegt nachdem sie einen Eintopf vorbereitet hatte. Dort lag es auch noch. Ihre Chance war gekommen. Sie nahm es in die Hand und stach auf ihren Vater ein. Sie erwischte ihn am linken Oberschenkel. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie um ehrlich zu sein auch nicht.

Verblüfft und mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte Ásgrímur Lenja an. Diese holte erneut aus und rammte ihm dieses Mal das Messer tief in den Oberschenkel hinein.
 

„Was zum...?!“, schrie der Mann auf als Lenja losstürmte.
 

Sie sah ihre Chance gekommen. Den kleinen Ári riss sie aus seinem Bettchen und rannte so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben mit dem Kind auf dem Arm los. Weg, bloß weg von hier! Das war ihr einziger Gedanke. Sie hoffte, dass das Messer ihren Vater etwas beschäftigen und ihr mit Ári Zeit verschaffen würde. Sie brauchte einen Vorsprung um sich und dem Kleinen ein schreckliches Schicksal zu ersparen.
 

Mit Ári im Arm rannte Lenja über Steinwege und Korridore. Sie überlegte kurz, ob sie zu Balin und Dwalin fliehen sollte. Doch die Behausung der beiden war zu weit entfernt. Sie hatte Angst, dass ihr Vater ihr auf dem Weg dorthin auflauern könnte. Nein, das war zu offensichtlich. Sie konnte es nicht wagen diesen Weg einzuschlagen. Es blieb Lenja nichts anderes übrig als ihr Glück anderswo zu versuchen. Und in diesem speziellen Fall hieß der einzige Fluchtweg: raus aus dem Erebor. Dort würde ihr Vater sie niemals vermuten. Die Idee war selbst für ihre Verhältnisse zu absurd. Ásgrímur würde sie nie in freier Natur suchen.
 

Mit einem Hechtsprung über die letzten Steinstufen rannte Lenja auf das Tor zu ihrer Freiheit zu. Ári in ihren Armen strampelte wild, doch schrie er nicht. Zum Glück, denn das hätte eventuell ihren Fluchtweg verraten.

Das Herz hämmerte Lenja in der Brust. Sie hatte es bald geschafft. Sie lief auf das Portal zu und fand sich in stockdüsterer Nacht wieder. Sie musste weiter. Weiter hinein in die Dunkelheit. Weg vom Eingang. Hinaus in die nah gelegenen Wälder. Einen Unterschlupf finden und warten. Warten bis hoffentlich ihre Onkel kämen und die Kinder in Sicherheit brachten. Nur woher sollten sie wissen, dass Lenja und Ári auf der Flucht waren? Würde man überhaupt nach ihr suchen? Vielleicht hätte jemand der Portalswächter sie erkannt und konnte ihnen Bescheid geben?
 

Stolpernd erreichte Lenja völlig außer Atem das Dickicht der angrenzenden Wälder. Sie hatten es geschafft. Für das Erste waren sie wohl in Sicherheit. Nur wie es weitergehen sollte, wusste das Mädchen nicht. Erschöpft ließ sie sich mit Ári auf dem weichen Waldboden nieder. Sie bettete ihren Bruder in ihren Armen und strich ihm zärtlich über das kleine Gesicht.
 

„Wir haben es geschafft, Ári! Der böse Mann wird uns hoffentlich nicht mehr wehtun“, flüsterte Lenja ihrem Brüderchen zu.

„Du kannst jetzt weiterschlafen. Und morgen werden hoffentlich Balin und Dwalin uns suchen kommen. Und dann muss Vater bestraft werden. Hoffentlich...“
 

Lenja lehnte sich erschöpft etwas zurück und lauschte in die dunkle Nacht hinein. Nein, das muss Einbildung gewesen sein. Da war niemand außer den beiden Kindern. Oder doch!?

Erschrocken drückte das Mädchen ihren Bruder wieder fest an ihre Brust als sie ein Geräusch direkt neben sich ausmachte. Nein, das konnte doch nicht wahr sein! War das wirklich ihr Vater? Sie sprang auf ihre Beine.
 

„Zeig dich, wer auch immer du bist!“, sprach Lenja so fest und entschlossen, wie es überhaupt möglich war.
 

Kaum hatte sie diesen Befehl ausgesprochen, sah das Mädchen nun deutlich wer oder besser was sie eben gehört hatte. Zwei Augen sahen sie ängstlich an. Doch gehörten sie eindeutig nicht zu einem Zwerg. Ein Ork oder Goblin war es auch nicht.
 

„Bitte tue mir nichts!“, sprach da ein Elbenmädchen mit zittriger Stimme.

Schwestern im Geiste

Lenja atmete erleichtert auf. Auch wenn sie noch nicht wusste, wieso sich ein Elbenmädchen mitten in der Nacht im Wald befand, so war ihr diese neue Bekanntschaft doch um einiges lieber als auf ihren Erzeuger zu treffen.
 

Die Elbin war um einiges größer als die Zwergin. Wie Lenja hatte sie lange rot-braune Haare und soweit sie es in der Dunkelheit ausmachen konnte, schimmerten ihre Augen grünlich. Die Zwergin öffnete kaum merklich den Mund und staunte. Sie hatte das Gefühl sich selbst in einem seltsamen Spiegel zu betrachten. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie annehmen können, dass das andere Mädchen eine verschollene Zwillingsschwester von ihr war. Lenja schluckte. Auch ihr Gegenüber schien sich ähnliche Gedanken zu machen, denn auch sie konnte ihren Blick nicht von der Zwergin abwenden.

Zögernd setzte sich Lenja mit Ári wieder auf den weichen Waldboden.
 

„Magst du dich nicht auch setzen?“, fragte sie vorsichtig die Elbin.
 

Ohne zu antworten, aber mit Sicherheitsabstand, nahm diese gegenüber den beiden Zwergenkindern Platz.

Da Lenja nie lange Stille aushielt und die merkwürdige Situation schon seltsam genug war, beschloss sie nicht zuletzt auch aus Neugier herauszufinden, warum ebenfalls andere Kinder des Nachts durch die Wälder zwischen Düsterwald und Erebor unterwegs waren.
 

„Also, das hier ist Ári“, Lenja deutete auf das schlafende Baby in ihrem Arm, „und ich bin Lenja. Und wer bist du?“
 

„Mein Name ist Tauriel“, antwortete das Elbenmädchen schüchtern.
 

Lenja lächelte sie an. Sofort huschte ein Lächeln der Erleichterung über Tauriels Gesicht.
 

„Es freut mich dich kennenzulernen, Tauriel. Aber was machst du denn mitten in der Nacht im Wald? Und dann auch noch so weit von zu Hause weg?“
 

„Naja, das könnte ich dich ja auch fragen, Lenja“, antwortete Tauriel.
 

Lenja hatte das Gefühl, dass die Elbin wohl auch weiterhin in Gegenfragen ausweichen würde. Nur sollte und konnte sie einer Fremden vertrauen? Andersherum waren sie alle Kinder, die warum auch immer nicht bei ihren Eltern daheim saßen. Andere Völkerzugehörigkeit mal dahingestellt. Sie teilten alle ein Schicksal und die Umstände wollten wohl, dass sie diese finstere Nacht zusammen verbrachten.
 

Die Zwergin späte wieder hinüber zur Elbin. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie hatte ein positives Gefühl, wenn sie sie ansah. Ein Gefühl, als ob sie sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Als ob das Schicksal nur darauf gewartet hatte die Mädchen in dieser Nacht der Angst zu vereinen.
 

„Also gut“, sprach Lenja. „Dann mache ich mal den Anfang.“
 

Tauriel hob erwartungsvoll den Kopf und schien ihre ohnehin spitzen Ohren noch weiter erwartungsvoll zu spitzen.
 

„Ich bin mit meinem kleinen Bruder weggelaufen. Wir mussten fliehen und verstecken uns hier, damit unser Vater uns nicht findet. Er hat mich geschlagen und...und... naja, ich musste mich doch wehren. Auch für Ári musste ich das tun“, begann Lenja als Tauriel plötzlich aufstand und sich neben sie setzte.
 

Nanu? Lenja starrte Tauriel an. Mit einer solchen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Naja, jedenfalls nicht sofort und das so ganz ohne Worte. Die Elbin blickte ihr tief in die Augen. Plötzlich spürte sie eine warme Berührung. Tauriel hatte ihr wie zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter gelegt und lächelte ihr aufmunternd zu. Ein seltsames Gefühl der Vertrautheit überkam Lenja. Sie fühlte sich doch wirklich viel besser seitdem sie Tauriel getroffen hatte. Und das ohne bis jetzt ausgiebig mit einander gesprochen zu haben.
 

„Weißt du, meine Mutter ist gestorben. Also unsere Mutter. Kurz nachdem Ári geboren wurde. Und Vater hat sich nicht mehr um uns gekümmert. Ich habe alles machen müssen und dann ging es einfach nicht mehr. Mit meinen Onkeln habe ich heute Morgen gesprochen. Das sind die Brüder von meiner Mutter und die wollten mit ihm reden. Naja, da ist wohl was schief gegangen“, Lenja holte tief Luft.
 

„Und dann kam er nach Hause. Er ging auf mich los. Einfach so ohne Vorwarnung. Ich viel zu Boden. Er schlug mich, trat auf mich ein. Und dann war da das Küchenmesser. Das war unsere Chance. Ich lief mit Ári um unser Leben, raus aus dem Erebor und dir direkt in die Arme. Ich weiß nicht, wie es morgen weitergehen wird, aber ich bin irgendwie froh dich getroffen zu haben und nicht so ganz allein mit Ári im dunklen Wald zu sitzen. Ach nein, vergiss es! Jetzt denkst du bestimmt, wir Zwerge haben eine totale Macke und alle schlagen ihre Kinder. Wir sind zwar ein wenig ruppig und bestimmt viel kantiger als Elben, aber bitte, ich kann...“
 

„Es ist schon gut“, unterbrach Tauriel Lenja. „Du brauchst dich nicht für die Tat deines Vaters zu schämen. Wenn du wüsstest, warum ich hier bin... auch bei den Elben ist nicht immer alles honigsüß, wie alle anderen Völker über uns denken...“
 

Lenja sah Tauriel fragend an als diese eine Träne unterdrückte.
 

„Die körperlichen Schmerzen, die du beschreibst, kenne ich nicht. Dafür musste ich anderweitig leiden. Niemand hatte mich auch nur im Entferntesten gefragt, ob ich einverstanden war. Meine Eltern stammen aus Bruchtal und da lebte ich auch noch bis vor kurzer Zeit. Doch sie beschlossen mich zu Verwandten in das Reich von Thranduil zu schicken, dem König über den Düsterwald. Ich sollte eine große Kriegerin werden. Doch ich habe es heute nicht mehr ausgehalten. Immer dieser furchtbare Gehorsam! Und wenn du nicht hörst, dann dringt die Ausbilderin in deine Gedanken ein. Sie quält dich so lange bis du nachgibst und dich beugst. Als sich die Möglichkeit ergab, bin ich so schnell ich konnte aus dem Tor gelaufen. Und da ich mich nicht auskenne, bin ich nun hier gelandet. Ich habe mich verlaufen und weiß nicht, wie ich zurückkehren soll. Und ob ich das überhaupt möchte.“
 

Tauriel senkte traurig den Kopf. Lenja rutschte wie automatisch näher an das andere Mädchen heran. Mit ihrem freien rechten Arm drückte sie die Elbin an sich.
 

„Hey, das wird schon irgendwann wieder besser werden. Mein Onkel Balin sagt ja immer, dass nach Regen auch wieder Sonne kommt. Ich hoffe, er behält Recht. Für dich hoffe ich das auch“, sprach Lenja.
 

„Ich hoffe. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, was ich machen soll. Wenn ich zurückkehre, dann werde ich auf jeden Fall bestraft. Eigentlich wollte ich so gern Kriegerin werden, aber nicht so weit von meinen Eltern entfernt... sie fehlen mir furchtbar. Und bei meiner Tante geht es mir zwar nicht schlecht, aber es ist so anders. Es ist irgendwie alles so blöd im Moment“, erwiderte Tauriel.
 

„Wem erzählst du das. Ich vermisse meine Mutter auch. Und der Mann, der eigentlich mein Vater sein soll, ist ein Monster. Ich würde alles dafür geben, wenn meine beiden Onkel mich hier mit Ári finden und einfach zu sich nehmen. Weg von ihm! Manchmal sind sie auch etwas chaotisch, aber dabei so lustig und niemals grausam“, sagte Lenja während ihr beim Gedanken an eine bessere Zukunft bei Dwalin und Balin ein ganz kleines Lächeln über das Gesicht huschte.
 

„Aber weißt du was?“, fragte Tauriel und sah Lenja an.
 

„Was denn?“, fragte die Zwergin neugierig.
 

„Ich bin so froh dich hier getroffen zu haben! Bei den Waldelben habe ich noch keine Freunde. Und um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie wirkliche Freunde in Bruchtal. Irgendwie war ich immer etwas anders. Klar, eine Kriegerin werden zu wollen, ist bei uns Elben nicht etwas Unmögliches. Aber ich sehe mit meiner Haarfarbe ja auch schon etwas anders aus als der Großteil. Und ich wollte nie mit den anderen Mädchen spielen. Die waren mir immer zu blöd mit ihren Puppen und so. Ich wollte immer mit den Jungs raufen. Vielleicht ist das nun die Quittung für mein Verhalten. Ich bin allein im Düsterwald...“
 

„Du bist doch nicht allein! Wenn du magst, dann bin ich deine Freundin, Tauriel. Auch wenn du eine Elbin bist und keine Zwergin, wie ich, heißt das doch noch lange nicht, dass wir keine Freundinnen sein können, oder? Ich würde mich freuen, wenn du meine beste Freundin wirst.“
 

Lenja lächelte Tauriel an. Sie strahlte das Zwergenmädchen an.
 

„Du meinst das ernst? Ich meine, bei uns reden sie immer so schlecht über Zwerge. Aber ich kann das gar nicht glauben, wenn ich dich und deinen kleinen Bruder so sehe“, meinte die Elbin.
 

„Jaja, auch bei uns gibt es auch dumme Witze über Elben. Aber mal ganz ehrlich, ich glaube, das Schicksal wollte, dass wir uns heute Nacht treffen. Und ich finde dich toll, weil wir so viel gemeinsam haben. Ich möchte auch so sehr Kriegerin werden, doch darf ich das nicht so wirklich. Es ist bei Zwergen nicht „normal“, dass Frauen kämpfen. Klar, wir sind hart im Nehmen. Aber das bitteschön nur in den eigenen vier Wänden“, entgegnete Lenja und verdrehte bei den letzten Worten die Augen.
 

Tauriel musste lachen: „Du bist so lustig, Lenja! Ich meine, du hast bereits so schreckliche Dinge erlebt und bringst es doch fertig mich zum Lachen zu bringen. Und das an einem so dunklen Ort, wie dem hier. Ich freue mich dich als Freundin gewonnen zu haben, meldir Lenja.“
 

„Mahal, ich freue mich dich kennengelernt zu haben. Und als Zeichen unserer Freundschaft schenke ich dir das hier.“
 

Lenja hatte einen ihrer Ohrringe abgemacht und reichte ihn Tauriel. Es war der schönste, den das Mädchen besaß. Sie hatte ihn erst vor Kurzem bei Onkel Dwalin in der Schmiede selbst gefertigt und war sehr stolz auf ihr Werk. Ein sehr feiner Schriftzug auf Khuzdul zierte ihn: gullend- Glück, das wünschte sich Lenja. Sie hatte es sich bei Dwalin abgeschaut, dessen beide Äxte ebenfalls einen persönlichen Schriftzug trugen.

Und nun fand sie, dass ihre neue Freundin die richtige Person war, der sie ein solches Geschenk geben konnte. Glück, dass konnte auch Tauriel gebrauchen.
 

Die Elbin nahm den verzierten Ohrring mit freudig strahlenden Augen an. Sie drückte Lenja an sich.
 

„Ich danke dir so sehr für dein Geschenk, Lenja! Ich bin stolz deine Freundin zu sein.“
 

Langsam überkam die Mädchen eine bis jetzt verdrängte Müdigkeit. Beide schmiegten sich aneinander. Ári schlummerte in Lenjas Armen und während ihr langsam aber sicher die Augen immer schwerer wurden, dachte sie darüber nach, was wohl noch geschehen wird. Nach dem Schmerz von vor wenigen Stunden hatte sie eine Freundin gefunden. Auch wenn es keine Zwergin war, war Tauriel wenigstens eine aufrichtige Person. Und das war viel mehr als Lenja von so manchen Zwergen bis jetzt erlebt hatte.
 

Ob Balin und Dwalin sie hier finden würden, wusste das Mädchen nicht. Was auch immer geschehen würde, sie war nicht mehr allein. Und mit diesem Gedanken schlief sie glücklich ein.

Vom Suchen und Finden

„Lenja! Lenja, wo bist du? L-E-N-J-A!!“
 

Abrupt wurde das Zwergenmädchen aus ihrem Schlaf gerissen. Hatte sie sich das eben eingebildet oder war das wirklich die Stimme ihres Onkels? War das Dwalin, der da nach ihr rief?
 

Verschlafen rieb sie sich die Augen. Ári schlummerte immer noch seinen seligen Säuglingsschlaf. Ein Blick nach rechts ließ das Mädchen aufschrecken. Wo war Tauriel? Sie lag doch rechts neben ihr. War sie einfach so ohne ein Wort verschwunden? Wieso hatte sie Lenja nicht geweckt? Hilfesuchend blickte das Mädchen schnell von rechts und links. Sie konnte die Elbin nirgends sehen. Weder zwischen den Bäumen noch irgendwo in der Nähe der Büsche. Wo war Tauriel hin? Oder hatte Lenja sich die Sache nur eingebildet? Bei dem Gedanken tastete sie kurz an ihrem linken Ohr. Nein, das konnte keine Erfindung ihres geschändeten Geistes gewesen sein! Ihr Ohrring fehlte. Also musste Tauriel auch echt gewesen sein! Oder etwa nicht?
 

„L-E-N-J-A!! Hörst du mich, Kurze?! W-O B-I-S-T D-U??“, rief da erneut jemand.
 

Dwalin!! Lenjas Herz machte einen Sprung. Das war wenigstens keine Einbildung gewesen! Was mit Tauriel geschehen war, wusste Lenja nicht. Es konnte jedenfalls nichts Schlimmes gewesen sein, denn davon wäre sie doch auch wach geworden. Am Wahrscheinlichsten war es wohl, dass das Elbenmädchen den Heimweg wieder angetreten war und der neuen Freundin ein bisschen Schlaf mit dem Kleinen nach der gestrigen Odyssee geben wollte.
 

Vorsichtig näherte sich Lenja mit Ári auf dem Arm der Richtung aus der sie die Stimme ihres Onkels vernommen hatte. Sie wusste nicht, ob er allein nach ihr suchte oder ob Ásgrímur dabei war. Ihr Magen zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Sie wusste nicht, was ihr Onkel wusste oder vielmehr vermeintlich zu wissen schien. Hatte ihr Vater ihm etwas über die Sache mit dem Küchenmesser erzählt? Oder wie kam Dwalin auf die Idee nach seiner Nichte zu suchen?
 

Lenja beugte sich unter den Ästen nach vorn. Die Sonne war bereits aufgegangen. Es schien ein sehr freundlicher Tag zu werden. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Da entdeckte sie endlich ihren Onkel. Er war nicht allein unterwegs. Ein anderer Zwerg war bei ihm. Er war von ähnlicher Statur wie Dwalin. Doch es handelte sich eindeutig nicht um ihren Vater. Da war sich Lenja sicher. Auch auf die Gefahr hin, dass sie eine gewaltige Standpauke für ihr Verschwinden bekommen würde, musste sie sich nun in ihrem Versteck zu erkennen geben. Sie brauchte Dwalins Hilfe, seinen Schutz.
 

„Onkel Dwalin! Wir sind hier drüben!“, rief das Mädchen als sie einen Satz aus dem Dickicht in die Helligkeit machte.
 

„Gordul! Zum Himmel, wo hast du denn gesteckt? Ich suche dich schon seit Stunden“, schnaufte Dwalin als er auf seine Nichte zukam.
 

„Wie dem auch sei, ich bin froh dich nun endlich gefunden zu haben. Du musst mir unbedingt erklären, was passiert ist! Ich denke gestern Abend an nichts Böses als plötzlich an die Tür gehämmert wird und man mir sagt, dass meine Nichte mit ihrem kleinen Bruder wie von der Tarantel gestochen aus dem Erebor läuft. Wie auf der Flucht müsst ihr wohl dabei ausgesehen haben. Und dann renne ich auf direktem Weg zu deinem Vater, um zu wissen, warum man bei mir hämmert und nicht zu aller erst bei ihm. Und was erwartet mich da bei euch zu Hause? Das totale Chaos in der Küche und dein Vater mit einer fetten Fleischwunde im Oberschenkel. Es sah dort fast so aus wie auf einem Schlachtfeld. Von dir und Ári fehlte jede Spur! Er meinte, du hättest einfach so auf ihn eingestochen und wärst dann fluchtartig davon gelaufen. Also bitte sag mir jetzt, was ich davon halten soll. Lenja, sprich mit mir! Da stimmt doch irgendwas nicht!“
 

Dwalin war vor seiner Nichte in die Knie gegangen und sah sie fast flehend an. Sie konnte eindeutig Besorgnis in seinen Augen lesen. Doch da war auch noch etwas anderes. Etwas, was sie noch nie bei ihrem Onkel entdeckt hatte. War das da wirklich Furcht? Angst? Um sie oder um das, was sie ihm zu beichten hatte? Glaubte er denn wirklich, dass sie so verrückt war und ihren Vater ohne Grund angriff. Ein Mädchen wie sie? Allein gegen einen Mann? Ihren Vater? Einem erfahrenen Krieger?
 

Lenja holte tief Luft als sie ihrem Onkel tief in die Augen sah.
 

„Irgendetwas ist bei eurem Gespräch mit ihm schief gelaufen, Dwalin! Er kam gestern nach Hause und dann ohne ein Wort, ging er auf mich los! Er beschimpfte mich, schlug mich, drohte mir und trat mir mit seinen schweren Stiefeln in die Rippen. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Und dann war da das Küchenmesser auf der Arbeitsplatte. Ich musste es doch tun! Ich hatte eine solche Angst. Dann nahm ich Ári und wir liefen um unser Leben hinaus in die Finsternis. Ich dachte, er würde mir auf dem Weg zu dir und Balin auflauern. Deshalb bin ich aus dem Portal raus! Dwalin! Du musst mir glauben! Ich habe so eine Angst vor ihm! Er ist nicht mehr mein Vater! Ich sage dir, das da gestern Abend bei uns daheim war ein Monster!“, sprudelte es nur so aus dem Mädchen heraus.
 

Dwalins Augen weiteten sich. Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Was er dort hörte, hätte er sich nicht einmal in den schlimmsten Träumen ausgemalt. Er riss sich so gut er konnte zusammen und sprach dann zu Lenja:
 

„Wo hat er dich geschlagen? Ins Gesicht? Du hast links und rechts so einen blauen Rand? Hat er dich geohrfeigt?“
 

Das Mädchen nickte.
 

„Komm, gib Ári mal kurz her. Ich gebe ihn meinem Freund hier. Er wird ihn so lange halten bis ich deine Rippen abgefühlt habe. Keine Angst, er wird ihm nicht wehtun“, sagte der Zwerg und Lenja reichte ihm ihr Brüderchen. Der machte keinen Murks als er sich in fremden Armen wiederfand.
 

„Arme hoch über den Kopf, Kurze!“
 

Das Mädchen gehorchte sofort. Dwalin begann vorsichtig ihren Rippenbogen abzutasten. Erst links, dann rechts. Er schnaufte auf.
 

„Wie es sich anfühlt, sind zwei, vielleicht auch drei Rippen geprellt. Du kannst deine Arme wieder runter nehmen. Ich fasse es nicht! Dieser Abschaum! Wie konnten wir uns nur so in ihm täuschen?“, die letzten Worte sprach Dwalin eher zu sich selbst.
 

„Du glaubst mir also?“, fragte Lenja vorsichtig leise.
 

Ihr Onkel rang nach Luft.
 

„Natürlich tue ich das! Und Balin wird das auch! Das ist sicher. Da war doch von Anfang an etwas faul an seiner Geschichte!

Als ob du so verrückt wärst dich mit ihm aus Jux anzulegen. Und du hast natürlich auch nichts Besseres zu tun als dich erst zusammentreten zu lassen, ihm dann einfach so das Messer in seinen Oberschenkel zu rammen und dann noch aus Langeweile deinen Bruder auf deiner Flucht mitzunehmen.

Es tut mir so leid, Kurze! Wir hätten dich vor diesem Schwein beschützen sollen. Doch wer konnte ahnen, dass er in seinem Inneren zu solchen Taten fähig ist!? Leider können wir die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Was wir aber können, und da werde ich alles dran setzen, ist ihn für seine Tat büßen zu lassen! Er wird schon sehen, was er davon hat.

Du kommst jetzt mit Ári zu mir und Balin. Und wenn du dort in Sicherheit bist, dann werden wir unserem König erst einmal die Augen öffnen, was er da für einen sauberen Krieger hat.

Ich werde ihn öffentlich für das anklagen, was er dir angetan hat. Und dann soll er sich beweisen. Es wird sein Untergang sein. Er wird sich wünschen nie geboren worden zu sein! Da bin ich mir sicher! Und nun komm!“
 

Vorsichtig hob er seine Nichte in seine Arme. Ári schien sich auch nicht in den Armen des anderen Zwerges beschweren zu wollen und so näherten sich die Vier dem Erebor.
 

Lenja hatte ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend. Ob Dwalin Recht behalten würde? Würde man ihr glauben und Ásgrímur bestrafen? Wo nahm ihr Onkel nur seine Zuversicht her? Das Mädchen wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Erst war ihre neue Freundin spurlos verschwunden und nun wollte Dwalin Ásgrímur öffentlich anklagen. Wenn das mal alles gut ging...
 

**
 

Lenja hatte so etwas noch nie erlebt, geschweige sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern je etwas von einem solchen Vorgehen gehört zu haben. Kaum waren sie in den Erebor heimgekehrt, hatte Dwalin mit ihr und Ári zusammen den König aufgesucht.

Es war dem Mädchen etwas mulmig zu Mute, denn sie hatte nie in ihrem Leben den gigantischen Thronsaal betreten. Wenn es nicht um etwas sehr Dringliches gegangen wäre, hätte sie wohl stundenlang staunend die Halle mit all ihren Wandteppichen und prunkvollen Verzierungen betrachtet und immer noch neue Details ausfindig gemacht.
 

Dwalin mit seinem Neffen auf dem Arm und Lenja an der anderen Hand trat vor den Zwergenkönig. Beide verneigten sich vor Thrór, der auf seinem imposanten Steinthron saß. Er betrachtete die Ankömmlinge neugierig und sprach dann zu Dwalin: „Meister Dwalin, was gibt es derartig Dringendes? Wir haben Euch noch nie in einer solchen Erregung gesehen. So sprecht und teilt uns mit, was Euch auf der Seele zu brennen scheint!“
 

„Ich danke Euch für Eure Zeit, die Ihr mir und meiner Nichte Lenja, Ásgrímurs Tochter, und meinem Neffen entgegen bringt. Ich würde Euch nicht belästigen, wenn es sich in diesem Falle nicht um Leben und Tod handeln würde, mein König“, sprach Dwalin und Lenja konnte die Neugier in des Königs Augen förmlich sehen.
 

„So denn, sprecht frei heraus“, forderte Thrór den Zwerg auf.
 

Dwalin sah dem König bei jedem seiner Worte ins Gesicht.
 

„Ich beschuldige Ásgrímur, einem Eurer fähigsten Krieger, öffentlich seine Tochter am gestrigen Abend misshandelt zu haben. Nur mit viel Glück entkam sie ihrem Schicksal und konnte in die Wälder nahe dem Erebors flüchten. Ich fordere meinen Schwager auf in Eurem Beisein Stellung zu seinem abscheulichen Verhalten zu beziehen. Des Weiteren mache ich mich für dessen Verbannung stark. Es sollte einem jeden Zwerg bewusst sein, dass seine Nachkommen sein größtes Gut ist. Doch Ásgrímur hat letzte Nacht bewiesen, dass dem nicht so ist und eindeutig die Tradition gebrochen. Dafür bitte ich Euch einen Bann über ihn auszusprechen und meinem Bruder Balin und mir die beiden Kinder in die Obhut zu geben.“
 

Lenja konnte nicht viel in den Zügen des Zwergenkönigs ablesen. Aber eins war eindeutig, er hatte ihrem Onkel sehr aufmerksam zugehört. Plötzlich nickte Thrór und befahl zwei seiner Wachen Ásgrímur zu ihm zu bringen. Er sollte sich zu diesen Vorwürfen äußern, so wie es die Tradition verlangte.

Prozess

Lenja konnte die Anspannung kaum mehr aushalten. Auch Dwalin schien es nicht viel anders zu ergehen. Immer wieder ging er auf und ab. Man hatte die beiden angewiesen in einem Nebenraum Platz zu nehmen. Man wartete immer noch auf Ásgrímur.

Die Wachen waren schon vor einer gefühlten Ewigkeit losgezogen, um ihn zu seinem Verhör zu holen. In der Zwischenzeit hatte Lenja ihren Bruder einer Dienerin des Königs übergeben. Man hatte ihr versprochen gut auf den Kleinen zu achten und das Mädchen hatte zugestimmt. Dieser Ort war nichts für einen Säugling.

Auch Balin war nun zu seinem jüngeren Bruder und seiner Nichte gestoßen. Dwalin hatte nach ihm schicken lassen, nachdem er Lenja und Ári in den Wäldern gefunden hatte.
 

„Ich fasse das nicht. Waren wir so blind, Dwalin? Warum haben wir nicht gesehen, was unser Schwager für einer ist?“, fragte Balin und rang sichtlich nach Fassung.
 

Auch jetzt saß er immer noch kopfschüttelnd neben Lenja. Das Mädchen sah ihren Onkel an. Sie konnte sich nicht erinnern ihn je zuvor in einem derart verzweifelten und nachdenklichen Zustand gesehen zu haben. Er grübelte oft, aber nicht so sehr, wie an dem heutigen Morgen.

Balin bemerkte ihren Blick und versuchte zu lächeln.
 

„Mach dir keine Gedanken, Lenja. Es wird sich schon alles zu seiner Richtigkeit lösen. Unser König ist ein weiser Mann. Er wird schon sehen, wer ihn belügt und wer nicht“, setzte der Zwerg an.
 

„Und das bedeutet auch für dich, dass du ihm jede seiner Fragen ehrlich antworten musst. Auch wenn es dir unangenehm ist. Wenn du etwas verschweigst, weil du dich dafür schämst, dann spielst du deinem Vater in die Hände. Also beherzige die Tugend der Wahrheit und zeige einem jeden dort im Thronsaal aus welchem Holz du im Gegensatz zu deinem Erzeuger geschnitzt bist. Vergiss nicht, dass Dwalin und ich in deiner Nähe bleiben und Ásgrímur dir vor den Augen aller dort nichts mehr antun kann. Versprichst du mir dies?“
 

Lenja nickte. Sie war ihrem Onkel dankbar für seine Worte. Auf ihn und Dwalin konnte sie wirklich zählen. Balin strich ihr über ihre Haare.
 

„Du bist ein sehr starkes Mädchen, weißt du das Lenja? Ich bewundere deine mentale Kraft, mein Kind. Nicht jeder hätte so gehandelt, wie du in letzter Nacht. Und deine körperliche Fitness, die Stärke im Kampf: da können wir beide hier dir noch den ein oder anderen Kniff beibringen.“
 

Lenja ließ ihren Kopf an Balins Schulter sinken. „Danke“, hauchte sie als plötzlich mit einem Ruck die schwere Tür zum Thronsaal geöffnet wurde. Er war jetzt also da.
 

Eine Wache verkündete: „Meister Balin, Meister Dwalin. Unser König verlangt nach Euch sowie Eurer Nichte. Der Prozess wird nun eröffnet.“
 

Lenja schluckte. Jetzt wurde es also ernst. Sie folgte der Wache und ihren beiden Onkeln in den Thronsaal. Sie war sich anhand eines Blickes auf Dwalin sicher, dass dieser innerlich vor Wut und Hass auf seinen Schwager kochte. Wären die beiden allein gewesen, wäre er wohl ohne zu zögern auf Ásgrímur losgegangen. Er ballte seine mächtigen Hände zu Fäusten.
 

Die Gruppe blieb zur Linken des Königs stehen. Direkt gegenüber, zu seiner Rechten, stand Ásgrímur zwischen den beiden Wachen, die ihn zuvor geholt hatten. Lenja zuckte ein wenig zusammen bei dem Blick, den er ihr zuwarf. Dieselbe Kälte des gestrigen Abends kam ihr entgegen. Sie griff ruckartig nach Balins Hand.

Neben dem König, der wie einst auf seinem imposanten Thron saß, standen nun auch sein Sohn Thráin und sein Enkel Thorin. Diese Anklage von Dwalin musste also doch von sehr großer Wichtigkeit sein, wenn sich nun auch noch die gesamte königliche Familie versammelte.
 

Eine unangenehme Stille erfüllte den Thronsaal. Keiner sprach bis Thrór persönlich das Wort ergriff:
 

„Uns ist zu Ohren gekommen, dass Ihr, werter Ásgrímur, einer Unserer besten Krieger, in der letzten Nacht eine unserer wichtigsten Traditionen innerhalb der Gemeinschaft gebrochen habt. Euch wird von Euren Schwagern, Meister Balin und Meister Dwalin, vorgeworfen, das Mädchen misshandelt zu haben. Ihr seid nun hier um Euch zu diesen Anschuldigungen zu äußern. Es sollte Euch bewusst sein, dass die Forderung eines Banns im Raum schwebt, über die Wir am Ende dieses Prozesses entscheiden werden.

So denn, Euch gehört nun das Wort, Meister Ásgrímur.“
 

Der Zwerg trat nach vorn, näher an den König heran und verbeugte sich bevor er folgendes sprach:
 

„Ich weise die Vorwürfe meiner beiden Schwager entschieden zurück. Mir ist es ein Rätsel auf welche Beweise diese Anschuldigungen fußen, eure Hoheit. Weder der eine noch der andere waren am gestrigen Abend in meinem Heim zugegen. Sie sind als Zeugen nicht brauchbar. Was wir hier haben sind die bekümmernden Aussagen meiner armen Tochter und meiner Wenigkeit. Ich weiß nicht, was in das Kind gefahren ist, dass sie ihrem eigenen Vater solch abscheuliche Taten vorwirft. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie der Tod meiner Frau immer noch zutiefst mitnimmt und sie ihre Trauer an mir auslässt.“
 

Lenja hielt den Atem an und drückte panisch die Hand ihres Onkel Balins. Was hatte ihr Vater vor?
 

„Ich möchte Lenja verzeihen. Für den Aufstand, den sie hier auch vor Euren Augen standfinden lässt und für ihre Tat von gestern Abend.“
 

Thrór beugte sich wenige Zentimeter: „Was für eine Tat meint Ihr?“
 

„Sie stach ohne eine Vorwarnung mit dem Küchenmesser auf mich ein, Eure Majestät. Auf ihren liebenden Vater...sie rammte es mir in den linken Oberschenkel. Das erste Mal noch zögerlich. Aber das zweite Mal hatte eine Wucht, wie sie nur Hass oder pure Verzweiflung hervorbringen kann. Dann riss sie ihren Bruder aus der Wiege und lief ohne ein weiteres Wort davon. Wo sie die Nacht blieb, weiß ich nicht, mein König.“
 

„Habt Ihr Euch gewehrt? Und habt Ihr nach dem Mädchen gesucht?“, wollte der König wissen.
 

„Nein. In beiden Fällen muss ich Eure Fragen verneinen.“
 

„Warum habt Ihr Eure Tochter nicht gesucht?“, fragte Thrór weiter.
 

„Ihr müsst wissen, mein Herr, dass Lenja schon immer ein unruhiges Gemüt hatte. Sie ist zuweilen sehr impulsiv. Jedoch beruhigt sie sich meist dann auch rasch. Ich habe gehofft, dass sie ihren Fehler einsieht und wieder in die Arme ihres liebenden Vaters kommt, wie sie den Weg schon so oft wieder zurückgefunden hat.“
 

Lenja rang um Fassung. Sie fühlte sich nach den Worten ihres Vaters so leer. Alles um sie herum schien in sich zu verschwimmen. Sie schnappte nach Luft. Was wollte er denn von ihr? Machte es ihm Spaß sie vor allen zu quälen? Ohne sie aufhalten zu können, rann ihr bereits die erste Träne heiß über das Gesicht. Neben sich hörte sie Dwalin verächtlich auf schnauben. Balin an ihrer linken Seite drückte ihre Hand fester in die seinige. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf über das, was Ásgrímur eben zu Protokoll gegeben hat.
 

Das Mädchen wurde aus ihren Gedanken gerissen.
 

„So denn, danken Wir Euch für Eure Darstellung der Geschehnisse, Meister Ásgrímur“, sprach der König und Lenjas Vater trat wieder zurück an seinen Ausgangsplatz.
 

Thrór sah daraufhin in Lenjas Richtung.

„Komm nach vorn, mein Kind. Hab keine Scheu. Wir wollen dich nun auch befragen.“
 

Lenja ließ Balins Hand zögernd los und trat dann mehrere Schritte auf den Thron zu. Sie knickste und wartete auf eine weitere Aufforderung zum Sprechen.
 

„Stimmt es, was dein Vater angibt? Hast du ihm ein Messer am gestrigen Abend in seinen Oberschenkel gerammt, Mädchen?“, fragte der König.
 

„Ja, Herr“, antwortete Lenja wahrheitsgetreu.
 

Thrór schloss für wenige Sekunden die Augen bevor er erneut ansetzte: „Du weißt, dass du vor Uns die Wahrheit sprechen musst, nicht wahr?“
 

Lenja nickte und sah den Zwergenkönig an.
 

„Gut. Dann sag Uns, ob es der Wahrheit entspricht, dass du ohne Grund auf deinen Vater losgegangen bist. Wir wollen aus deiner Sicht hören, was bei euch daheim geschehen ist bevor du das Messer gegen deinen Erzeuger richtetest.“
 

„Eure Majestät, die Wahrheit ist, dass mein Vater Euch und alle hier im Raum belügt. Es stimmt, ich habe das Messer in seinen linken Oberschenkel gerammt. Dies geschah aber aus Notwehr, müsst Ihr wissen. Es hat ihm wohl nicht gefallen, dass ich mit meinen beiden Onkeln am Morgen, wenige Stunden vor dem Vorfall, über unsere Situation gesprochen habe“, Lenja atmete kurz durch.
 

„Seit dem Tod meiner Mutter nach der Geburt meines Bruders Ári vor knapp einem Monat lässt mein Vater mich ihre Arbeit daheim übernehmen. Nur vergisst er dabei, dass ich selbst noch ein Kind bin. Es überforderte mich und so sprach ich mit Balin und Dwalin, die sich dem Problem zusammen mit meinem Vater annehmen wollten. Doch ich weckte wohl damit schlafende Hunde, Eure Majestät.“
 

Thrór richtete sich von seinem Thron auf und stieg wenige Stufen herab. Er kam auf Lenja zu. Das Mädchen wusste nicht, was sie von dieser Reaktion halten sollte. Der König blieb direkt vor ihr stehen und sah ihr tief in ihre grünen Augen.
 

„Sprich nur weiter, mein Kind. Es interessiert Uns, was daraufhin geschah.“
 

„Mein Vater kam in die Küche als ich das Regal einräumte. Ich stand auf einem unserer Holzstühle als er ohne ein Wort das eine Stuhlbein mit einem heftigen Tritt entzwei brach, sodass ich zu Boden fiel. Ich bekam Angst vor ihm. Er kam auf mich zu und beschimpfte mich dafür, dass ich mit Balin und Dwalin gesprochen habe. Er machte auch meine tote Mutter schlecht. Ich spürte gleichzeitig Angst und Wut in meinem Körper, Eure Majestät. Ich stand auf und beschimpfte ihn ebenfalls, woraufhin er mir links und rechts in das Gesicht schlug. Ich fiel erneut zu Boden und dann trat er auf mich mit seinen schweren Stiefeln ein. Ich konnte nicht mehr. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich und auch meinen kleinen Bruder aus dieser schrecklichen Situation befreien sollte, mein König. Also griff ich aus Notwehr zu einem Küchenmesser, das ich dann in seinen Oberschenkel rammte. Ich schnappte mir Ári aus seinem Bettchen und rannte um unser beider Leben. Ich hatte so Angst. Ich hatte Todesangst. Ich wusste nicht, was er uns noch antun würde, wenn er mich in die Finger bekam“, verzweifelt und erfasst von den Emotionen der letzten Nacht stiegen Tränen in Lenjas Augen auf. Sie blieben dem König nicht verborgen.
 

„Und was geschah dann, Mädchen?“, fragte er immer noch den Blick tief in ihre nun geröteten Augen gerichtet.
 

„Ich lief mit Ári durch das Hauptportal aus dem Erebor, Eure Majestät. Wir versteckten uns in den Wäldern nahe unserer Heimat.“
 

„Und du bist nicht auf direkten Weg zu deinen beiden Onkeln gelaufen?“
 

„Nein.“
 

„Und kannst du Uns auch sagen, warum du dies nicht getan hast?“
 

„Weil ich mich davor fürchtete, dass mein Vater mir auf dem Weg dahin auflauern würde.“
 

„Gibt es jemanden, der dich auf deinem Weg raus aus dem Erebor gesehen hat? Hast du jemanden bemerkt, der deinen Zustand erkennen konnte und bestätigen kann, dass du sprichwörtlich auf der Flucht warst?“, fragte der König wissbegierig.
 

„Ich selbst habe niemanden bemerkt auf unseren Weg in die Sicherheit, mein König. Aber mein Onkel Dwalin, der mich heute Morgen zusammen mit Ári fand, sprach davon, dass jemand noch gestern Abend bei ihm gewesen ist und ihm sagte, dass seine Nichte und sein Neffe in die Dunkelheit verschwanden“, hilfesuchend sah sie sich nach Dwalin um.
 

Der schien nur darauf zu warten, dass der König ihm das Wort erteilte als plötzlich eine Stimme hinter Thrór zu sprechen begann.
 

„Ich war es, der das Mädchen zusammen mit ihrem Bruder gesehen hat, Eure Majestät“, sprach Thorin.
 

Thrór drehte sich zu seinem Enkel um.
 

„Ich war auf dem Rückweg von der Waffenkammer als ich die beiden Kinder sah“, führte der junge Mann fort. „In Lenjas Gesicht stand blankes Entsetzen, Angst und Verzweiflung, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Kind gesehen habe. Sie schien mir auf der Flucht vor etwas. Bevor ich sie stoppen konnte, war es bereits zu spät und sie lief mit dem Säugling hinaus in die dunkle Nacht. So ging ich auf direktem Weg zu ihrem Onkel Dwalin, um ihm das Gesehene zu berichten. Jedoch eins steht für mich außer Frage: dem Mädchen muss großes Leid widerfahren sein.“
 

Thrór nickte gedankenversunken.

Er verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und sprach ein letztes Mal zu Lenja:
 

„Drehst du dich bitte ein wenig mehr in Richtung des Lichtes, mein Kind? Wir wollen dir bei mehr Kerzenschein in dein hübsches Gesicht gucken.“
 

Das Mädchen tat, wie ihm geheißen und drehte den Kopf. Thrór betrachtete sie nachdenklich.
 

Der König nickte ein weiteres Mal und gab Lenja mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie wieder zu ihren Onkeln zurücktreten durfte. Dwalin legte ihr schützend die Hand auf ihren Rücken.
 

„Wir haben einen Entschluss getroffen. Meister Ásgrímur, Wir verbannen Euch aus Unserem Reich. Ihr werdet es sofort auf direktem Weg verlassen müssen, da Ihr gegen die Sitten Unseres Volkes verstoßen und Eure Tochter auf das Schändlichste misshandelt habt.

Geht Uns aus den Augen!“

Ein letztes Aufbäumen

Lenja atmete neben ihren Onkeln hörbar auf. Verbannung! Ihr Vater würde nun aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und musste den Erebor verlassen. Man hatte ihr geglaubt! Ihr, dem kleinen Zwergenmädchen, dem der eigene Vater ein solches Leid zugefügt hatte.
 

Ihr Herz machte einen Sprung. Ásgrímur würde ihr ab jetzt nichts mehr tun können. Er hatte seine Gunst beim König verspielt und musste nun die Konsequenzen für seine abscheuliche Tat tragen. Und sie konnte nun mit Ári zu Balin und Dwalin ziehen! Auch wenn ihre Onkel ein wenig chaotisch waren, konnte sie dort nun endlich ein fröhlicheres Dasein beginnen nach der großen Trauer über den Verlust ihrer Mutter und der herben Enttäuschung über den Mann, den sie einst Vater nannte.
 

Lenja ließ ihren Blick zu Balin schweifen, der ihr zunickte und zu seinem Bruder meinte: „So, nun wäre das ja geklärt. Dann können wir mit den beiden Rabauken heim.“
 

Das Mädchen schmunzelte. Ja, nun konnte ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnen - und keiner konnte sie davon abhalten.
 

Die Gruppe hatte sich soeben zur Haupteingangstür des Thronsaals begeben als Lenja eine Unruhe hinter sich vernahm. Sie drehte sich ruckartig um und sah, wie Ásgrímur den Wachen heftigen Widerstand leistete. Ihr Vater war ein sehr kräftiger Mann und dass er sich dieses Urteil einfach gefallen lassen würde, wäre auch zu schön um wahr zu sein gewesen.
 

Lenja starrte wie gebannt auf ihren Vater. Ihr kleiner Körper bebte vor Angst. Ihr stockte der Atem. Sie konnte keine Worte finden als sich Ásgrímur gegen die beiden Wachen durchsetzte und niemand im Thronsaal zu reagieren schien. Wieso tat denn keiner etwas? Verdammt nochmal!
 

Der König winkte mit einer Handbewegung neue Wachen herbei, die sich um den Zwerg kümmern sollten. Doch für Lenjas Augen war dies ein seltsames Schauspiel. Niemand schien großartig überrascht, dass Ásgrímur Widerstand leistete.
 

Jetzt endlich hatten auch ihre Onkel gemerkt, dass das Mädchen stehen geblieben war und ihnen nicht folgte.
 

„Kurze, Abmarsch nach Hause. Lass deinen Erzeuger mal das Problem der Wachen sein“, brummelte Dwalin.
 

Doch Lenja reagierte nicht. Sie konnte immer noch nicht den Blick von Ásgrímur wenden, der sich für ihren Geschmack viel zu schnell in ihre Richtung zubewegte. Erneut machten zwei andere Wachen Anstalten ihren Vater außer Gefecht zu setzen, doch auch dieser Versuch war wohl leider nicht von anhaltender Dauer.
 

„Mittelerde an Lenja. Hier spricht dein Onkel Dwalin. Ich habe die letzte Nacht kein Auge zugetan, weil ich dich und deinen Bruder gesucht habe und will nun ins Bett. Also kommst du jetzt endlich?“
 

Das Mädchen hatte ihre Sprache immer noch nicht wiedergefunden.
 

Ihr Onkel drehte sich leicht genervt und übermüdet zu ihr um. Dwalins Blick verdüsterte sich schlagartig, als er sah, wie sich sein Schwager erneut aus der Umklammerung der Wachen zu befreien schien.
 

„Lenja, geh zurück! Balin kümmere dich um die Kurze. Ich habe hier noch ein Hühnchen mit unserem sauberen Schwager zu rupfen!“, wies der Zwerg seinen Bruder und seine Nichte an.
 

Das Mädchen flüchtete zu ihrem Onkel, der sie schützend hinter sich zog. Sie sah an ihm vorbei, wie Dwalin in Richtung ihres Vaters ging. In ruhigen Schritten trat er seinem verurteilten Schwager entgegen. Langsam und bedacht kam er auf ihn zu.
 

Ásgrímur wandte sich wieder aus dem Griff der Wachen. Sie gingen leicht benommen zu Boden. Bei einem Zwerg lief Blut aus der Nase.
 

Lenjas Vater sah seinen Schwager auf sich zukommen.
 

Ein hämisches Lächeln umspielte seine Lippen: „Ah, wen haben wir denn da? Der Retter der kleinen ungezogenen Mädchen. Was hast du vor? Willst du mich vor versammelter Mannschaft zu Mus schlagen oder gar töten? Für wen hältst du dich, hm?“
 

„Ich bin hier um das zu beenden, was dein Schicksal ist. Wenn es die Wachen nicht schaffen, dann schmeiße ich dich eigenhändig raus aus dem Erebor, du Abschaum! Du sollst deiner Tochter kein Leid mehr zufügen können!“
 

„Na na, lieber Schwager. Wer will denn da gleich so grob sein? Mein Töchterchen muss es dir ja sehr angetan haben, was? Du willst mich, deinen eigenen Schwager, den Mann deiner verstorbenen Schwester, daran hindern, meine Lenja mit in das Verderben zu nehmen, in das sie mich gerissen hat?“
 

Erneut wies der König seine Wachen an, den Verurteilten nun endlich zu überrumpeln und ihm ihn aus den Augen zu schaffen. Er schien dieses Theater leid zu sein.

Doch Dwalin gab ihnen mit einem Zuruf zu verstehen, dass das hier nun seine eigene Angelegenheit war. Eine etwas andere Privatangelegenheit vor den Augen Thrórs.
 

Die beiden Männer fixierten sich mit ihren Blicken. Lenja wusste nicht welcher Blick ihr eher Angst einjagen sollte.

Sie hatte ihren Onkel noch nie derart wütend gesehen. Klar, Dwalin war manchmal ein kleiner Choleriker, der immer, wenn ihm etwas nicht passte laut wurde. Doch so schnell wie die Lautstärke zunahm, so schnell verschwand sie auch wieder. Das hier war aber nun etwas ganz anderes. Wenn ihr Onkel nun so leise und beherrscht war, dürfte es in ihm nur so brodeln, dachte sich Lenja als sie wieder vorsichtig hinter Balins Bein hervor lugte.
 

Immer noch bewegte sich keiner der beiden. Sie funkelten sich weiterhin mit Hass in den Augen an. Beide waren unbewaffnet und hatten eine ähnliche Statur. Wie und ob dieser sich anbahnende Kampf zum Vorteil für Dwalin ausgehen sollte, wusste das Mädchen nicht. Trotz der Stärke ihres Onkels hatte sie Angst um ihn. Angst davor, dass ihr Vater ihm erheblich schaden könnte.
 

Nun tat Ásgrímur einen Schritt nach vorn auf Dwalin zu. Dieser zuckte kaum mit einem Muskel und blieb an derselben Stelle, an der er sich befand. Abwarten hieß wohl seine Devise. Warten bis der andere den ersten Schritt machte.

Sein Schwager nahm dies als willkommene Einladung seinen perfiden Plan zu verfolgen und preschte nun mit einer Schnelligkeit auf den anderen Zwerg zu, die Lenja noch nie bei ihrem Vater beobachtet hatte. Auf einmal standen die beiden Männer direkt voreinander. Wenige Zentimeter trennten die beiden.
 

Lenja wusste nicht, ob Dwalin damit gerechnet hatte. Ob es Teil seiner Strategie war oder was auch immer er sich dabei gedachte hatte. Jedenfalls lag er plötzlich rücklings auf dem Steinboden des Thronsaals. Ásgrímur kniete über ihm und hatte seine Hände, nein, seine Pranken, um den Hals seines Schwagers gelegt. Sie schlossen sich mit einem Ruck, der Lenja das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Monster war dabei ihren geliebten Onkel die Luft ab zuschnüren! Er wollte ihn erwürgen. Er wollte, dass Dwalin starb. Er sollte es sein, der dem Zwerg seinen letzten Atemzug nahm.
 

Das Mädchen schrie verzweifelt nach ihrem Onkel, der sich heftig unter dem festen Griff seines Schwagers wand. Der kalte, triumphierende Blick Ásgrímurs funkelte zu ihr herüber. Ihr wurde schlecht. Wieso tat denn hier keiner etwas und half ihrem Onkel?
 

In diesem Moment zog Balin seine Nichte aus dem Saal. Wie in Trance ließ sie sich hinter ihm herziehen. Sie konnte den Blick nicht von den beiden am Boden liegenden Zwergen abwenden. Bevor sich das schwere Portal vor ihrer Nase schloss, hatte Dwalin sich aus der Umklammerung seines Schwagers befreit und diesen zu Boden gestoßen. Die Positionen hatten sich also nun endlich geändert.
 

„Onkel Balin! Wieso hilft denn dort keiner? Die haben doch alle nun gesehen, dass dort ein Monster im Raum ist!“, klagte Lenja verzweifelt.
 

Der Zwerg sah seiner Nichte in ihre Augen: „Er weiß schon, was er dort tut. Dein Vater ist durch den Bann „Vogelfrei“ geworden. Weißt du, was das heißt?“
 

Lenja schüttelte den Kopf.
 

„Nun ja, das bedeutet, dass er unter keinem Schutz mehr steht. Jeder, der es will, kann sich seiner annehmen. Und da Ásgrímur Widerstand leistet, kann auch Dwalin sich das Recht nehmen gegen ihn vorzugehen und ihn eigenhändig für das zu bestrafen, was er dir angetan hat“, sprach Balin weiter.
 

Das Mädchen zuckte zusammen als sie aus dem Inneren des Saals Gepolter vernahm.
 

„Er weiß schon, was er da tut, Lenja. Dwalin ist um einiges jünger als dein Vater. Wenn er sich nicht bei dem sicher wäre, dann hätte er ihn auch nicht herausgefordert. Du musst deinem Onkel da vertrauen.“
 

„Ich hoffe, du hast Recht“, flüsterte Lenja.
 

Sie hatte große Angst um ihren Onkel. Balin nahm sie an die Hand.
 

„Auch wenn es dir schwer fällt. Wir müssen jetzt hier weg. Das ist kein Ort für Zwergenkinder. Auch für dich nicht, Lenja“, fügte ihr Onkel hinzu als sie zum Widerspruch anzusetzen schien.
 

„Wenn die Sache hier beendet ist, wird er schon Heim kommen. Also, lass uns deinen Bruder holen und dann geht es für dich erst einmal in den Zuber und danach rein in ein weiches Bett. Du hast noch einiges an Schlaf nachzuholen“, zwinkerte ihr Balin zu.
 

Woher er nur immer seine Zuversicht nahm, war Lenja ein Rätsel. Sie hoffte, dass er Recht behalten würde und sie Dwalin bald in ihre Arme schließen konnte. Gedankenversunken folgte sie Balin. Jedoch konnte sie den eiskalten Blick Ásgrímurs immer noch vor ihrem inneren Auge sehen. Wie hatte ihre Mutter nur ein solches Ungeheuer lieben können? Wann war er zu dem geworden?
 

**
 

Lenja lag bereits mehrere Stunden unter ihrem weichen Federbett. Nachdem sie ein heißes Bad im Zuber genommen hatte, versprach sie Balin auch sofort ihren fehlenden Schlaf aus der letzten Nacht nachzuholen. Doch sie konnte trotz Müdigkeit kein Auge zumachen.

Sie dachte an ihren Onkel Dwalin. Wieso war er noch nicht wieder hier? Wo blieb er nur solange? Was hatte ihr Vater ihm vielleicht doch noch angetan? War er verletzt? Und wenn ja, wie ging es ihm? Aber ihr Onkel war doch bärenstark! Keiner konnte ihm etwas anhaben! Oder etwa doch?
 

Das Mädchen lag still mit ihren Gedanken unter der warmen Decke als plötzlich die Eingangstür geöffnet wurde. Sie lauschte. War das nun endlich Dwalin? Oder hatte man Boten zu Balin geschickt, um ihn den Gesundheitsstatus seines jüngeren Bruders mitzuteilen?

Lenja spitzte die Ohren. Durch die geschlossene Tür fiel es ihr nicht so leicht etwas mitzubekommen. Das Mädchen schlüpfte aus dem Bett und tapste auf Zehenspitzen zur Tür. Sie legte ihr rechtes Ohr an das Holz und lauschte.
 

Dwalin! Es war eindeutig seine Stimme! Er sprach über irgendetwas mit seinem Bruder. Was, das konnte Lenja nicht verstehen. Aber sie war so froh, dass ihr Onkel endlich wieder da war. Ásgrímur schien ihn nicht allzu sehr zugesetzt zu haben. Jedenfalls war Dwalin heim gekommen. Und das bedeutete wohl nur Gutes.
 

Lenja öffnete vorsichtig die Tür. Nur einen kleinen Spalt. Sie wollte sehen, wie es Dwalin ging. Vorsichtig lehnte sie ihren roten Schopf auf den Flur hinaus. Keiner war mehr zu sehen. Sie hörte Balin mit dem quengelnden Ári in der Küche. Nur wo war Dwalin hin?

Sie hatte da so ihre Vermutung. Wahrscheinlich hatte er sich in seine Kammer zurückgezogen. Er musste ja noch den Schlaf der letzten Nacht nachholen. War doch klar, dachte sich Lenja.
 

Leise schlich sie sich zu seiner Kammer. Auf Zehenspitzen gestellt, öffnete sie die Tür. Ganz vorsichtig trat sie hinein, um sie sofort wieder hinter sich zu schließen.
 

Sie hatte Recht gehabt. Ihr Onkel Dwalin lag in voller Länge unter seiner Decke.
 

„Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst, Kurze“, brummelte er aus dem Halbdunkeln.
 

„Geht es dir gut, Onkel Dwalin?“, fragte Lenja ihren Onkel mit einem unguten Gefühl.
 

„Logisch. Wer will mich umhauen will, der muss schon früher aufstehen“, hörte das Mädchen ihn antworten.
 

Ein Rascheln durchbrach die Stille. Dwalin hatte das Bettdeck zur Seite geklappt.
 

„Willst du da immer noch an der Tür stehen bleiben, oder kommst du wie sonst auch her und lässt deinen armen Onkel endlich seinen wohlverdienten Schlaf nachholen?“, wollte er von Lenja wissen.
 

Die ließ sich nicht zweimal bitten und verschwand glücklich neben Dwalin unter der Decke. Sie beobachtete ihren Onkel nun erst einmal aus nächster Nähe. Waren das da wirklich blaue Flecke an seinem breiten Hals? Und das da an seiner rechten Augenbraue? War das mal eine Platzwunde gewesen?
 

„Weißt du, dass das unheimlich ist, wenn du mich mit deinen großen Kulleraugen so in der Dunkelheit anstarrst, Kurze?“, fragte Dwalin seine Nichte.
 

„Hm“, machte Lenja nur und grinste. Sie schmiegte sich an ihren Onkel, wie sie es schon so oft getan hatte.
 

„Und wer hat gewonnen?“, wollte das Mädchen wissen.
 

„Wer wohl? Er wird dir nichts mehr tun können“, brummte Dwalin. Was das genau bedeutete, erfuhr Lenja erst etwas später. Aber für den Moment reichte ihr die Erklärung ihres Onkels.
 

„Du, Dwalin“, begann sie.
 

„Was gibt’s denn noch, Kleine?“, seufzte ihr Onkel neben ihr.
 

„Ich hab dich lieb. Und wenn ich mal groß bin, dann will ich auch so einen Mann wie dich haben. So einen Brummelzwerg wie du einer bist. Der richtig Eindruck macht und dann aber daheim so knuddelig wie ein kleiner Hund ist“, mit diesen Worten schlag Lenja die Arme um seinen Hals.

Lektionen

Der Entschluss war nun endlich gefasst. Lenja wollte sich nicht mehr länger vertrösten lassen. Sie wollte nun endlich mit der Ausbildung beginnen. Eine Kriegerin wollte sie werden und kein geringerer als Dwalin sollte ihr dabei helfen.
 

Er hatte ihr es bereits so oft versprochen, doch immer wieder kam etwas dazwischen. Mal war er nicht im Erebor und verließ diesen ohne seiner Nichte wirklich zu sagen, wohin ihn seine Mission führte, mal hatte das Mädchen das Gefühl ihr Onkel Balin würde sie und seinen jüngeren Bruder stärker beobachten, wenn Lenja Dwalin fast dazu bekommen hatte mit ihr endlich das Kämpfen zu üben -und er hasste die Kontrolle seines älteren Bruders- und dann gab es Zeiten, wo sie sich dachte, dass Dwalin einfach keine Lust hatte.
 

Nun sollte er ihr aber nicht mehr ausweichen können.

Eines Abends als Balin noch nicht daheim war, setzte sich Lenja auf die Lehne des Sofas auf dem ihr nichtsahnender Onkel Dwalin seine müden Knochen ausgestreckt hatte und entspannte. Der sah nur kurz auf und schloss wieder seine Augen.
 

Sie wusste, wie sie ihn aus dem Konzept bringen konnte. Nur zu oft hatte sie es bereits ausprobiert und sie kannte ihren Onkel in- und auswendig. Also starrte sie ihn weiter von der Lehne aus an. Sie bewegte sich keinen Zentimeter. Sie wusste, dass Dwalin ihre Anwesenheit spürte und ihn das nervös auf sein Gemüt schlug, wenn sie nichts sagte und nur schaute.

Pünktlich, wie erhofft, begann er sich auf dem Sofa unruhig zur Seite zu drehen. Lenja fühlte sich in ihrem Vorhaben bestätigt und hielt an ihrer Position fest. Es würde nicht mehr lange dauern bis Dwalin nachgeben würde.
 

„Was willst du von mir, Kurze? Ist es denn so viel verlangt, wenn du deinen armen Onkel nach getaner Arbeit ein bisschen Zeit zum Verschnaufen lässt?“, brummte Dwalin mit geschlossenen Augen in das Polster.
 

Endlich, nun konnte das Unternehmen Fahrt aufnehmen!
 

Lenja rutschte von der Lehne auf die Beine ihres Onkels hinab. Auch wenn sie kein Federgewicht mehr war, gab Dwalin keinen Murks von sich. Hatte er noch die Hoffnung, dass er seine Nichte wortlos von ihrem Vorhaben abbringen konnte?
 

Langsam aber stetig krabbelte sie an ihm hoch. Vorsichtig wie ein Bergsteiger hob sie sich bis zu seinem Gesicht empor. Als sie fast auf Augenhöhe waren, pustete sie ihrem Onkel auf seinen dunklen Bart.
 

„Lass das, Lenja!“, brummte Dwalin und streifte sich mit einer Hand durch sein Gesicht, sodass Lenja in Deckung gehen musste, um nicht erwischt zu werden.
 

Kaum war Ruhe eingekehrt, begann das Mädchen ihr Spiel von vorn und pustete ihrem Onkel wieder ins Gesicht. Der öffnete nun mit einem Ruck seine Augen und sah seine Nichte direkt in ihre großen, grünen Kulleraugen.
 

„Ich hasse es, wenn du mich so anschaust. Was willst du, Kurze? Es muss ja unheimlich wichtig sein, wenn du mich mit diesem Blick anstarrst“, gab Dwalin resigniert von sich.
 

„Du hast es mir so oft versprochen, Onkel Dwalin! Ich will jetzt endlich kämpfen lernen. Ende der Diskussion“, meinte das Mädchen und schob trotzig die Unterlippe nach vorn.
 

„Himmel! Du klingst manchmal wirklich wie Balin! Ende der Diskussion. Pah, ich wollte doch gar nicht mit dir diskutieren“, entgegnete der Zwerg und verdrehte seine blauen Augen.
 

„Umso besser!“, rief Lenja voller Freude und begann auf und ab zu hüpfen. „Dann können wir ja gleich loslegen, oder nicht!?“
 

„Wenn du so weitermachst, dann bin ich seekrank und nichts geht mehr“, stellte Dwalin trocken fest, woraufhin das Mädchen sofort inne hielt.
 

„Also gut. Morgen Nachmittag, Punkt vier Uhr kommst du mit Ári zusammen zum Fluss“, sagte der Zwerg.
 

„Aber wieso denn mit dem Kleinen? Der stört doch nur“, schimpfte Lenja.
 

„Meinst du Balin merkt sonst nicht, dass wir beide etwas im Schilde führen? Also, keine Wiedereden. Du nimmst deinen Bruder mit, ziehst dir ein paar Hosen unter deinen Rock und sagst ihm, dass du einen tollen Spaziergang mit Ári machst und ihr beide mich dann auf dem Rückweg abholt, falls er dich fragen sollte. In Ordnung?“, meinte Dwalin als er Lenja in ihre vor Freude glitzernden Augen schaute.
 

„Du bist der Beste, Onkel Dwalin!“, sprach sie und drückte ihm einen Kuss auf seine Nase.
 

„Ist ja gut. Aber jetzt lässt du mich bitte ein bisschen in Ruhe, einverstanden?“
 

„Abgemacht“, stimmte Lenja ihm zu und verschwand aus der Stube.
 

Dwalin sah ihr hinterher und schüttelte den Kopf.
 

**
 

Lenja konnte es kaum mehr aushalten. Schon den ganzen Tag war sie so glücklich. Heute sollte es endlich losgehen!
 

Viel zu früh zog sie sich ihre ledernen Hosen unter ihren weitesten Rock. Sie würde ihn nachher einfach ausziehen. Und obenherum sorgten ihr Hemd und die Weste für den nötigen Freiraum. Für Ári hatte sie sich auch schon etwas ausgedacht. Damit sie sich voll und ganz mit Dwalin auf ihre erste Übungsstunde konzentrieren konnte, sollte ihr Brüderchen ein Gurtgestell um bekommen.

Das ließ er sich auch daheim gefallen, wenn Lenja Dinge im Haushalt erledigte und ihn nicht ständig mit sich herum tragen konnte. Er hatte in der letzten Zeit mit dem Krabbeln begonnen und so konnte sie sich wenigstens sicher sein, dass er an seinem Sicherheitsseil befestigt nicht weit kam. Manchmal fand sie, dass Ári damit aussah, wie ein kleiner Hund. Aber er durfte sie nicht stören. Nicht heute.

Und wenn er sein Kuscheltuch dabei hatte, dann würde er schon ruhig sein, dachte sich die große Schwester.
 

So nahm Lenja Ári auf den einen Arm und ihren Rucksack auf den anderen, indem das Gestell und die Decke sich befanden. Jetzt musste sie sich nur noch an Balin vorbei schleichen.
 

„So Onkel Balin, ich gehe mit dem kleinen Knirps hier eine große Runde spazieren. Und auf dem Rückweg bringen wir dann Dwalin mit“, sprach Lenja und verschwand ohne auf eine Reaktion zu warten aus der Eingangstür.
 

Balin blickte ihr verwundert nach. Selten hatte er seine Nichte mit einem solchen Elan gesehen, wenn es um einen Spaziergang mit Ári ging. Wenn da mal nicht ein anderer Grund dahinter stecken sollte.
 

Beschwingt kam Lenja am Treffpunkt an. Dwalin war noch nicht da. Wahrscheinlich war sie noch etwas zu früh. So entschloss sie Ári schon einmal sein Gestell anzulegen und das Seil, das ihm einen gewissen Spielraum gab, fest an einem Baum zu verknoten. Auf seine Schmusedecke gekuschelt, wirkte er auch nicht unglücklich auf seine Schwester. Sie ließ sich neben ihm nieder, zog den Rock aus und wartete sehnsüchtig auf ihren Onkel. Wo steckte der nur?
 

Endlich entdeckte sie ihn. Er trug irgendetwas bei sich, was Lenja aus dieser Entfernung noch nicht genau erkennen konnte. Lang war es aber auf jeden Fall.

Als er näher kam, sah sie es eindeutig: er trug zwei lange Hölzer bei sich.
 

„Und Kurze, bist du immer noch davon überzeugt, kämpfen zu lernen?“, fragte Dwalin als er vor ihr stehen blieb.
 

Lenja betrachtete die Holzstäbe und nickte dann.
 

„Ja, das bin ich.“
 

„Dann legen wir jetzt los. Also, wir üben heute mit den Stäben das Blocken. Das heißt für dich, dass du aufpassen musst, wenn ich mich mit dem Stab nähere. Du musst versuchen meinen Schlag zu blocken und die Wucht aufzufangen. Meinst du, du bekommst da hin?“, sprach der Zwerg mit einem besorgten Blick auf die Kleine.
 

„Und ob ich das schaffe“, meinte Lenja siegessicher.
 

„Auf geht’s“, sprach ihr Onkel und reichte ihr einen Holzstab bevor er im nächsten Augenblick sie auch direkt attackierte.
 

Tapfer blockte Lenja jeden seiner Schläge. Nach und nach wurden die aber immer stärker und kamen schneller hinter einander. Langsam aber sicher kam das Mädchen öfters ins Straucheln, woraufhin Dwalin inne hielt und sie durchatmen ließ.
 

„Wollen wir für heute aufhören? Du machst deine Sache wirklich gut, aber ich will dich auch nicht fix und fertig machen“, meinte der Zwerg.
 

„Nein, nein. Das geht schon. Was hältst du davon, wenn noch eine weitere Schwierigkeit einbauen? Wie wäre es, wenn wir auf den Steinen über den Fluss weiterkämpfen“, erklärte Lenja als sie sich vom Boden aufrappelte.
 

„Ist das dein Ernst? Du willst wirklich dahin?“, fragte ihr Onkel überrascht.
 

Sie nickte.
 

„In Ordnung“, sprach Dwalin und folgte Lenja wenige Meter zu den großen Steinen, die sie schon immer so gern übersprungen hatte.
 

Beide stellten sich gegenüber den anderen auf und Dwalin setzte wie schon so oft zum Schlag an. Lenja hielt so fest sie konnte dagegen. Der unebene Boden zu ihren Füßen knirschte leicht unter der Anstrengung.
 

„Echt gut, Kurze“, lobte Dwalin sie bevor er ein weiteres Mal ausholte.
 

Doch dieses Mal hielt Lenja nicht nur mit aller Kraft dagegen, sondern holte nun unbewusst zum Gegenschlag aus. Durch den Schwung geriet Dwalin ins Wanken und nach einem kurzen Straucheln landete er im Fluss.
 

Lenja ließ sofort ihren Holzstab fallen und eilte ihm hinterher.
 

„Es tut mir so leid, Onkel Dwalin! Ich wollte nicht, dass du ins Wasser fällst. Wirklich nicht!“, sprudelte es nur so aus dem Mädchen.
 

Dwalin hatte sich nach der ersten Verwunderung schnell wieder gefangen und brach in schallendes Gelächter aus.
 

„Ist schon gut, Kurze. Das nächste Mal bin ich aber nicht so zimperlich. Ich weiß ja jetzt, dass du ordentlich Kraft in den Armen hast und auch nicht davor zurückschreckst deinen eigenen Onkel ins Wasser zu befördern.“
 

Lenja musste nun auch lachen als sie ihrem Onkel aus dem Wasser half. Der Arme war richtig durchnässt und so führte die beiden mit dem kleinen Ári zusammen der direkte Weg durch das Portal hinein in den Erebor zurück.
 

Auf ihrem Weg begegneten sie einer Gruppe von Zwergen, die im Dienste des Königs standen. Unter ihnen war auch Thorin, der die Ankömmlinge mit fragendem Blick anschaute.
 

„Es hat plötzlich angefangen zu regnen, in Ordnung?“, meinte Dwalin knapp im Vorbeigehen.
 

Lenja schmunzelte. Thorin tat es ihr gleich. Nur konnte sie es nicht sehen.

Von Männern und Frauen

Einige Sommer waren bereits ins Land gezogen seitdem Lenja und Ári bei ihren Onkeln lebten. Beide Kinder hielten die Zwerge auf Trab; jedes auf seine eigene Art und Weise.
 

Ári war von einem Säugling zu einem kleinen, aufgeweckten Zwergenjungen herangewachsen. Am liebsten spielte er tagein tagaus mit den anderen Jungs. Mal hier, mal dort flitzten sie durch die Gänge. Sie spielten Zwerge gegen Orks, wobei nie jemand freiwillig die Rolle der fiesen Ungeheuer übernehmen wollte. Immer entschied das Los. Ári hatte meistens Glück.

Doch als er einmal Pech hatte, lief er zu seiner großen Schwester und klagte ihr sein Leid. Und was machen die tollsten Schwestern, die der Erebor beherbergte? Genau, sie unterbrechen kurz ihre Aufgaben und laufen einer ganzen Bande Zwergenkinder hinterher. Freudig quiekend rannte die Meute durch die Gänge. Lenja hinter ihnen her.

So schnell es eben in dem unpraktischen Kleid geht, dachte sich die junge Frau.
 

Ja, Lenja war kein kleines Mädchen mehr. Nicht nur ihre Haare waren in den letzten Jahren um viele Zentimeter länger geworden. Sie selbst war auch in die Höhe geschossen und nur noch knapp einen Kopf kleiner als ihr Onkel Dwalin. Der nannte sie trotzdem immer noch „Kurze“. Aus Gewohnheit oder manchmal auch, um sie ein bisschen zu necken.
 

Zu ihrem Missfallen hatte ihr Körper an einigen Stellen plötzlich unnatürliche Rundungen bekommen. Sie war mit großen Schritten in die Pubertät gerutscht, ohne es sofort zu merken. Natürlich hatte sie nach und nach gesehen, wie ihre Brust anfing zu wachsen. Auch ihre Hüften waren breiter geworden. Von ihren Oberschenkeln ganz zu schweigen. Diese Veränderungen machten Lenja nicht glücklicher, das Gegenteil war eher der Fall.

Und die Kleider saßen auch nicht mehr so locker an ihrem Körper, wie sie es wollte. Eigentlich trug sie die „Dinger“, wie sie sie gegenüber ihren Onkeln und Ári nannte, nur noch in der Öffentlichkeit. Immer wenn sie mit Dwalin den Schwertkampf abseits des Erebor übte, trug sie ein Paar lederne Hosen unter ihrem Rock.
 

Wie dem auch war. Nur zu oft hatte sie in letzter Zeit beobachtet, wie der ein oder andere junge Zwerg ihr einen interessierten Blick zuwarf. Erst letztens am Durinstag als sie mit Ári an der Hand auf ihre Onkel wartete.
 

Zuerst hatte sie vermutet, dass der verstohlene Blick einem älteren Mädchen hinter ihr galt. Doch als sie sich umdrehte, um zu schauen, wie die vermeintlich Angebetete reagieren würde, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass dort keine andere junge Frau stand. Ihr wurde mulmig zumute. Meinte der schmierige Typ sie? Ihr blieb keine Zeit diese Frage weiter zu ergründen, denn Dwalin näherte sich freudig strahlend ihr und Ári. Er nahm den verwirrten Blick seiner Nichte wahr und warf dem selbsternannten Casanova von gegenüber einen vernichtenden Blick zu.
 

„Versprich mir bitte eins, Kurze: Lass auch in der nächsten Zeit noch die Finger von Jungs. Das ist noch nichts für dich. Die machen euch Mädchen nur schöne Augen und dann...“, brummte ihr Onkel.
 

„Und dann was? Was meinst du, Onkel Dwalin?“, fragte Lenja interessiert.
 

„Ach, das ist auch egal. Hauptsache du lässt die Finger von den Kerlen“, wich Dwalin aus. „Und lass dieses furchtbare „Onkel“ weg! Ich fühle mich jedes Mal auf den Schlag um mehrere Jahrzehnte gealtert, wenn du mich so nennst.“
 

„Ist notiert, Dwalin“, schmunzelte sie. „Aber Balin darf ich wohl noch „Onkel“ nennen, oder?“
 

„Ja, das musst du sogar! Denn der ist wirklich älter als ich“, lachte Dwalin auf als er sich mit seiner Nichte und seinen Neffen im Arm auf zum zwergischen Neujahrsfest machte.
 

**
 

„Ich kann das nicht, Balin. Du musst das machen. Was soll ich ihr denn sagen? Das führt doch zu nichts! Du bist der ruhigere und ausgeglichenere von uns beiden. Es ist deine Aufgabe!“, meckerte Dwalin eines frühen Abends so leise wie möglich.
 

Er wollte nicht, dass Lenja sofort mitbekam, das über sie gesprochen wurde. Er wusste, dass seine Nichte es hasste, wenn einfach über sie so gesprochen wurde als wäre sie ein Möbelstück oder eine Sache, die keine eigene Meinung hatte.
 

„Jetzt zier dich doch nicht so, Dwalin! Natürlich bin auch ich ihr Onkel. Aber ihr beide seid doch immer ein Herz und eine Seele. Also: Steh jetzt deinen Mann und sprich mit ihr! Sie vertraut dir von uns beiden am Meisten. Du wirst das schon schaffen, mein lieber Bruder. Wer kämpfen kann, der kann auch mit seiner Nichte ein wichtiges Gespräch führen“, beschloss Balin.
 

Lenja hatte die beiden in ihrem Zimmer bereits gehört. Sie wunderte sich, um was es ihren Onkeln ging. Und um das endlich herauszufinden, wollte sie jetzt einfach nachfragen gehen. Wenn es wirklich so wichtig war, wie Balin meinte und Dwalin sich davor drückte, dann musste sie die Sache einfach in die Hand nehmen. Manchmal musste sie eben ihre Onkel zu deren Glück zwingen.
 

„Über was wollt ihr denn mit mir sprechen?“, fragte Lenja als sie im Türrahmen zur Stube stand.
 

„Das erklärt dir alles dein Onkel Dwalin. Ich gehe jetzt ein bisschen mit Ári spazieren. Komm mein Junge, lassen wir die beiden mal allein“, sprach Balin und Ári verschwand fröhlich neben seinem Onkel aus dem Raum.
 

„Du bist furchtbar, weißt du das Balin“, schimpfte Dwalin seinem älteren Bruder hinterher.
 

„Also“, machte Lenja.
 

Dwalin fühlte sich ertappt. Er räusperte sich.
 

„Ähm, ja. Magst du dich nicht setzen?“
 

„Habe ich irgendetwas ausgefressen, oder was ist nicht in Ordnung, Dwalin?“, fragte Lenja mit hochgezogener Augenbraue.
 

„Nein, nein. Ganz und gar nicht. Es ist nur so...du wirst ja älter. Und na ja, da verändert sich ja auch so einiges. Also...außen und innen, wenn du verstehst, was ich meine... weißt du, was ich dir damit sagen will?“, stotterte Dwalin sichtlich peinlich berührt.
 

Lenja schüttelte verwirrt den Kopf.
 

„Also gut. Dann probiere ich es mal anders...hmm...also, du hast doch bestimmt gemerkt, dass du..nun ja...so langsam...breiter wirst... also, ich will jetzt nicht sagen, dass du dick bist oder so...du bekommst aber so langsam...wie soll ich es sagen...Kurven! Ja, das ist das richtige Wort! Also, die weiblichen Kurven an Brust und Hüfte. Verstehst du?“
 

„Nein...nur so halb“, entgegnete Lenja mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was wollte er ihr sagen?
 

Dwalin begann erneut sich um Kopf und Kragen zu reden: „Also. Wir halten fest. Dein Körper wird weiblicher. Und das bedeutet, dass du langsam aber sicher zu einer Frau wirst, Kurze. Und das wiederum heißt, dass du auch...noch nicht sofort...na ja, irgendwie auch alles...kannst...was alle andere Frauen auch können... verstehst du das?“, fragte Dwalin mit verzweifeltem Gesichtsausdruck.
 

„Was willst du mir damit sagen?“, fragte Lenja, obwohl es ihr nun langsam dämmerte, worauf ihr Onkel eigentlich hinaus wollte. „Etwa nähen und stricken?“
 

„Nein, das doch nicht! Ich meine...na...Kinder kriegen. So, nun ist es raus. Bald hast du den Körper einer Frau und das bedeutet, dass du schwanger werden kannst. Also, wenn du mit einem Mann“, er räusperte sich und wurde etwas rot, „Mann ist das schwer! Ich verfluche Balin, dass er mich einfach so in Stich mit dir lässt...du weißt schon...wenn ein Mann und eine Frau zusammen...na ja, sich zusammen ein Lager teilen...sich lieb haben...dann kann es sein, dass dann ein Kind entsteht...verstehst du mich, Kurze?“
 

Lenja hatte ihren Onkel schon verstanden. Auch wenn sie damals vielleicht noch ein bisschen zu jung für die „wichtigen“ Dinge im Leben gewesen war, hatte sie ihre Mutter bereits gefragt gehabt, wie die Babys entstehen als Ári unterwegs war. Und im Gegensatz zu Dwalin hatte Láfa ihr ohne großartige Ausschweife erklärt, woher die Kinder kamen und wann Lenja eines Tages selbst welche bekommen könnte. Sie wusste, dass Dwalin verzweifelt versuchte ihr zu erklären, was es hieß langsam erwachsen zu werden.

Doch so leicht wollte sie es ihm nicht sofort machen. Sie wollte ihn noch ein bisschen ärgern bevor sie sich zu erkennen gab.
 

„Du meinst also, wenn ich mit dir zusammen in einem Bett schlafe, dann werde ich schwanger und bekomme ein Kind?“, fragte Lenja und hatte Mühe sich ein Lachen zu verkneifen.
 

„Was? Nein, natürlich nicht! Ich bin dein Onkel...Ich meine...wenn ein Mann und eine Frau...wie soll ich dir das nur erklären...sich sehr innig lieben...ineinander...gleiten...“
 

„Ist schon gut, Onkelchen! Mutter hat mich schon über alles Wichtige aufgeklärt als Ári sich ankündigte. Du brauchst keine Angst haben. Ich weiß, wie das mit dem Kinderkriegen so geht. Jedenfalls theoretisch. Und ich habe nicht vor, das in nächster Zeit auszuprobieren. Geht’s dir jetzt besser?“, sprach Lenja fröhlich strahlend und legte fürsorglich eine Hand auf Dwalins Schulter.
 

„Und wieso lässt du mich so lange im Dunkeln tappen? Das ist unfair!“, schimpfte Dwalin sichtlich beleidigt.
 

„Na, ich konnte doch nicht ahnen, wo du drauf hinaus willst. Wieso hast du denn nicht gleich gesagt, dass du mit mir über den Zyklus einer Frau sprechen willst, hm?“, fragte Lenja halb amüsiert, halb mitfühlend.
 

Der arme Dwalin...sprach er sich doch so sehr um Kopf und Kragen. Als Lohn gab Lenja ihrem Onkel einen Kuss auf die Stirn.
 

„Das machst du aber nicht bei einem dieser daher gelaufenen Bürschchen“, brummte er.
 

„Nein. Großes Zwergenehrenwort!“

Zukunftspläne

Mit der Zeit wurde Lenja nicht nur immer mehr zu einer jungen Frau, sondern entwickelte auch zusehends eigene Ansprüche an sich und ihr zukünftiges Leben. Natürlich hatte sie sich in der Regel bisher ohne großen Protest um die Belange im Haushalt ihrer Onkel und um die Erziehung von Ári gekümmert, doch konnte und sollte dies ihrer eigenen Meinung nach nicht der Sinn ihres weiteren Lebens sein. Sie wollte einer anderen Tätigkeit nachgehen; die eines richtigen Berufes.
 

In den letzten Monaten und Wochen hatte die Zwergin sich bereits Stunde um Stunde mit diesem Gedanken beschäftigt. Immer wieder hatte sie über ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten nachgedacht. Über die Vor- und Nachteile, die eine Berufswahl mit sich brachte. Hinzu kam die Problematik, dass sie eine Frau war. Und dies schränkte ihre Auswahlmöglichkeiten enorm ein. Für Lenja stand fest, dass sie sich auch weiterhin so gut es ging um ihren kleinen Bruder kümmern wollte. Es sollte eine Tätigkeit sein, die sie in direkter Nähe zum Erebor ausführen konnte, sodass ihr die nötige Zeit für ihre Familie blieb.
 

Es sollte jedoch auch keine einfache Arbeit als Hilfskraft sein, denn dafür hatte sie nicht Stunde um Stunde unter Balins strengem Blick Dinge erlernt, die sonst nur den Jungs vorbehalten waren: die unterschiedlichsten Rechnungsarten, räumliches Zeichnen und Berechnung, Stoffunterscheidung, Grundlagen der Reaktion von Stoffen, Metallen und so weiter und so fort. Manchmal war Lenja in den Abendstunden über den Büchern, die ihr Onkel ihr gab, eingeschlafen. Aber die Tatsache, dass er sie später nach ihrem neuen Wissen prüfte, ließ schnell Fortschritte zu.

Doch wollte sie sich nun diese Kenntnisse auch zu Nutze machen. Sie bescherten ihr Vorteile, die nur wenige junge Zwerge besaßen.
 

Eines Tages wurde Lenja endlich bewusst, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Noch gleich am selben Abend wollte sie mit Balin und Dwalin über ihre Pläne sprechen.

Kaum, dass jene die Stube betraten in der Ári und seine Schwester sich befanden, begann das Mädchen über die begonnene Flechtarbeit an ihres Bruders Schopf hinüber von ihren Vorstellungen zu berichten.
 

„Ich muss unbedingt mit euch beiden sprechen. Heute ist mir nun bewusst geworden, wie meine Zukunft aussehen soll“, begann Lenja das Gespräch und schaute kurz von Áris Strähnen auf.
 

Balin schaute sie interessiert an während Dwalin sich ein Lachen nicht verkneifen konnte.
 

„Was kommt jetzt, Kurze? Ich glaube nicht, dass du nun mit dem Wunsch Köchin zu werden aufschlägst, oder? Ich meine, so eine begnadete Köchin wie Jofrandá bist du nicht“, grinste Dwalin seine Nichte herausfordernd an.
 

„Was nicht ist, kann doch noch werden, mein Bruder“, meinte Balin daraufhin tadelnd.
 

Lenja schüttelte nur den Kopf.
 

Auch Ári kicherte: „Onkel Balin, Onkel Dwalin, das wäre aber nicht so gut, wenn Lenja Köchin wird. Die armen Zwerge, die ihr Essen dann probieren müssten. Wisst ihr nicht mehr wie schlecht uns allen war als sie den Wildschweinbraten...aua! Du tust mir weh!“
 

„Entschuldige, du kleine Nervensäge. Da habe ich doch wohl eben die Strähne ein bisschen zu stark angezogen, was?“, bemerkte Lenja über die Äußerungen ihres Bruders.
 

Ári schob beleidigt die Unterlippe nach vorn.
 

„Wenn ich doch so eine schlechte Köchin bin, dann sollten die drei Herren ab heute selbst kochen. Vielleicht wäre das ja die beste Idee, wenn mein Essen den Mägen der Anwesenden hier nicht bekommt“, ergänzte die Zwergin trocken.
 

„So war das ja nun auch nicht gemeint“, versuchte Dwalin seine Nichte zu beschwichtigen.
 

„Hört, hört. Kann ich euch dann nun endlich erklären, was ich mir für die Zukunft vorstelle oder kommt noch so ein dümmlicher Kommentar von euch, hm? Falls ja, dann habt ihr nun die Zeit dazu“, brummte Lenja.
 

„Nein, mein Kind. Du hast unsere volle Aufmerksamkeit, nicht wahr Dwalin?“, sagte Balin und fixierte seinen jüngeren Bruder mit einem strengen Blick, den dieser auswich.
 

„Dann ist gut. Also, ich möchte unbedingt einen Beruf erlernen“, begann Lenja und wartete einen Moment bevor sie weitersprach.

Dies hatte nicht nur einen dramatischen Effekt sondern sorgte in der Regel auch dafür, dass Dwalin ihr zuhörte. Im Gegensatz zu Balin hatte der Zwerg eine weniger ausgeprägte Gabe, was die Konzentration auf Gespräche anging.
 

„Und das heißt, dass ich Schmiedin werden will“, fügte Lenja stolz hinzu während sie dieses Mal vom Flechten aufblickte und ihre beiden Onkel anschaute.
 

Beiden entglitten die Gesichtszüge.
 

„Kurze, beim besten Willen. Das ist nicht so einfach, wie du dir das wahrscheinlich vorstellst“, begann Dwalin zögerlich.
 

„Da muss ich ihm Recht geben. Du kannst das nicht werden. Du bist schließlich eine Frau und das Schmieden ist Männersache“, pflichtete Balin seinem Bruder bei.
 

„Natürlich kann ich das werden! Wieso habe ich denn sonst so viele Sachen bei dir lernen müssen, Balin? Soll das alles umsonst gewesen sein? Nein, so geht das nicht!“, protestierte Lenja und ließ wutschnaubend Áris Haarsträhnen abrupt los, die dem Kleinen ein wenig die Sicht nahmen.
 

„Lenja, du weißt genau, dass das nicht geht. Du bist eine Frau. Und das bedeutet, dass du erst einmal von keinem Schmied in die Lehre genommen werden würdest und dann hätten wir noch das Problem mit der Kraft, die dir in den Armen fehlt“, sprach Balin bestimmend.
 

„Aber..“, versuchte es die Zwergin mit einem Widerspruch und wandte sich hilfesuchend an Dwalin.
 

„Nichts aber. Bitte, denk nach. Hast du jemals davon gehört, dass Frauen dem Schmiedehandwerk nachgegangen sind? Nein, denn das ist auch keine Aufgabe für euch. Schlag es dir also aus dem Kopf, Liebes. Ich kann es verstehen, wenn du jetzt erst einmal enttäuscht bist. Aber im Nachhinein wirst auch du feststellen, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist. Wenn du gern einem Handwerk nachgehen magst, dann wäre die Schneiderei vielleicht etwas für dich. Was meinst du dazu, Lenja?“, führte der Zwerg seine Gedanken weiter aus.
 

Lenja schnaubte verächtlich auf. Wieso wollte es denn keiner verstehen, dass sie es todernst mit ihrem Wunsch meinte? Hätten Balin und Dwalin denn nicht wissen müssen, dass sie niemals unüberlegt einen solchen Gedanken äußern würde?
 

Ári lugte vorsichtig unter seinen wilden, dunklen Haarsträhnen hervor, wohl wissend, dass seine Schwester innerlich vor Enttäuschung zu kochen begann.
 

Es sollte nicht lange dauern bis sie von ihrem Platz aufsprang und schnellen Schrittes im Raum auf und ab ging. Sie machte das sehr oft, wenn sie angestrengt nachdachte. Die Hände auf ihrem Rücken verschränkt schritt sie ihren imaginären Weg ab. Sie sprach nicht. Sie sah nicht vom Boden auf.

Doch plötzlich blieb sie abrupt stehen und drehte sich mit einem Schwung in die Richtung von Dwalin.
 

„Du hast es ihm nicht gesagt, oder?“, fragte Lenja ihren Onkel.
 

Dwalin blickte nervös zwischen seiner Nichte und seinem Bruder hin und her.
 

„Ich..äh.. Lenja, es reicht jetzt mit diesem Theater! Können wir das nicht ein anderes Mal klären?“, versuchte der Zwerg sich aus der Situation zu retten, in die seine Nichte ihn zu drängen versuchte.
 

Balin musterte die beiden mit einem verblüfften Gesichtsausdruck. Sein Bruder und seine Nichte hatten immer ein engeres Verhältnis zu einander gehabt, das stand außer Frage. Sie verbrachten auch im Laufe der Jahre immer mehr Zeit miteinander. Er hatte sie nie gefragt, was sie dann unternahmen. Er wollte es auch nicht unbedingt wissen.

Zu Beginn war er zwar neugierig gewesen. Doch hatte die Ausgeglichenheit, die Lenja immer mehr umgab ihm Einhalt geboten. Hauptsache das Mädchen war glücklich. Er hatte seinem Bruder in der Hinsicht immer vertraut. Dessen Erziehung hatte dafür gesorgt, dass der Wildfang zusehends ruhiger wurde. So dachte der Zwerg jedenfalls bis zu diesem Moment.
 

Doch Lenja wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. Sie hatte einen wunden Punkt bei Dwalin ausfindig gemacht. Obwohl er auch sie in gleicher Weise betraf, war es nun an der Zeit die Geheimniskrämerei zu beenden.
 

„Du hast wirklich nicht mit Balin darüber gesprochen. Hattest du Angst gehabt, dass er uns beide dafür tadeln würde? Hast du gedacht, dass er es unterbinden könne?“, begann Lenja erneut ihr Fragespiel.
 

Dwalin schlug sich schützend seine Hand vor die Augen. Er wollte sich dem Blick seines älteren Bruders nicht aussetzen müssen. Dieser blickte ihn nun mit einem von Minute zu Minute größer werdenden verärgerten Blick an.
 

„Kann mir jetzt einer von euch erklären, was hier zwischen euch beiden vorgeht? Über was redet ihr eigentlich?“, begehrte der Zwerg auf.
 

„Los, Dwalin. Trau dich endlich!“, forderte Lenja.
 

Ihr Onkel schüttelte nur kleinlaut den Kopf. Er versuchte angestrengt den Blicken seines Bruders und seiner Nichte auszuweichen.
 

Was auch immer er Balin gegenüber nicht zugeben oder vielmehr erklären wollte, es musste etwas furchtbares sein. So dachte jedenfalls sein Bruder als er die Szenerie in der Stube betrachtete. Sonst war Dwalin nicht auf den Mund gefallen und hatte zu allem und jedem einen Kommentar auf den Lippen. Nur am heutigen Abend war er stiller als sein älterer Bruder es ihm je zugetraut hätte.
 

„Wenn mein Bruder seinen Mund nicht auf bekommt, dann musst du es für ihn übernehmen, Lenja! Was in Durins Namen geht hier vor?“, verlangte Balin zu wissen.
 

„Nun ja, wie soll ich es dir sagen, Onkel Balin. Mein Wunsch kommt nicht von ungefähr... meine Liebe zum Metall geht schon etwas länger als du wahrscheinlich je vermuten konntest“, begann Lenja nun fast so kleinlaut wie Dwalin sich zu fühlen schien. Der Mut hatte sie beim Anblick ihres Onkels verlassen.
 

Balin legte den Kopf etwas schief. Was wollte seine Nichte ihm damit sagen?

Auch Ári hob eine Augenbraue. Dies aber vielmehr, weil er auf die Reaktion seines Onkels gespannt war. Er wusste, welches Geheimnis Lenja und Dwalin verband. Auch er war ein Teil jenes Bundes, der sich schon vor mehreren Jahren geschlossen hatte. Nur hatte ihn damals keiner fragen können, ob er sich diesem Bündnis anschließen wollte. Er war zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal den Windeln entwachsen.
 

„Ich höre“, sprach Balin und drängte Lenja damit weiterzusprechen.
 

„Wie soll ich sagen... ich hatte schon öfter Schwerter und Äxte in der Hand als es jemals einer Frau zustehen sollte“, sagte Lenja und zog aus Furcht vor der Reaktion ihres Onkels den Kopf ein.
 

Balin rührte sich nicht. Er war bleich im Gesicht geworden. Seine Augen huschten von Lenja über Dwalin, der sich auch geduckt hatte, wieder hin zu seiner Nichte. Nur langsam schien er zu begreifen, was Lenja ihm eigentlich sagen wollte.
 

„Also, Dwalin hat mir das Kämpfen beigebracht. Ich bin zwar noch nicht perfekt, aber ich lerne stetig dazu. Und dann dachte ich mir jetzt: die Schmiedekunst zu erlernen würde auf dem Weg dorthin helfen“, beendete die Zwergin schüchtern ihre Erklärung.
 

Jetzt war auch bei Balin endgültig der Groschen gefallen. Verärgert sprang er von seinem Platz auf. Er schüttelte nur den Kopf und blickte Lenja an: „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Habt ihr beiden nichts Besseres zu tun als hinter meinem Rücken solchen Unfug auszuhecken? Seit Jahren geht das schon? Was hast du dir dabei überhaupt gedacht, Dwalin? Oder hast du überhaupt gedacht als du einem Mädchen, deiner eigenen Nichte, solche Flausen in den Kopf gesetzt hast? Wenn das jemand mitbekommt, was ihr hier im Stillen getrieben habt, dann...dann...“
 

Der Zwerg rang sichtlich nach Luft. Lenja hatte ihren Onkel niemals zuvor in ihrem Leben derart außer Sich vor Wut gesehen. Sein ganzer Körper bebte vor Wut. Mit einer wilden Handbewegung scheuchte er Ári und seine Schwester aus der Stube, dessen Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
 

Die Geschwister blieben wie angewurzelt vor der Tür stehen. Ári griff nach Lenjas Hand als sie aus dem Inneren der Stube Balins immer lauter werdende Stimme vernahmen. Sie verstanden beide nicht jedes Wort, dennoch reichten die Wortfetzen aus, um sich ein Bild über die Enttäuschung und die Wut ihres Onkels zu machen.
 

„Ich habe ihn noch nie so gesehen“, durchbrachen Áris Worte die Stille.
 

„Ich auch nicht“, antwortete Lenja und konnte den Blick nicht von der Tür nehmen hinter der nun auch Dwalin sich wieder gefangen zu haben schien. Sie konnte seine Stimme hören, die verzweifelt versuchte die Situation zu erklären.
 

„Du, Lenja“, begann der kleine Zwerg und drückte die Hand seiner Schwester.
 

„Was denn, Ári?“
 

„Vielleicht sollte sich Balin mal anschauen, wie gut du kämpfst. Dann hat er bestimmt weniger Angst. Du bist wirklich gut“, sprach der Junge und strahlte Lenja von unten herauf an.
 

„Und außerdem brauche ich eine große Schwester, die mich vor allem Übel verteidigen kann. Von Onkel Balins Geschichten weiß ich, dass du mir schon einmal das Leben gerettet hast als ich noch ein Säugling war. Und wenn du nun kämpfen könntest, wie ein Mann, dann bräuchte ich nie wieder Angst zu haben, denn du bist bei mir.“

Von Träumen und Geburtstagskindern

Seit dem ersten und einzigen Wutausbruch ihres Onkels Balins an den sie sich überhaupt erinnern konnte, waren bereits einige Jahre ins Land gezogen. Lenja hatte am Ende doch noch bekommen, woran sie so fest geglaubt hatte: Sie durfte eine Lehre beginnen. Natürlich nicht die eines Schmieds, aber immerhin war ihr handwerkliches Geschick auch bei dieser anderen Berufung nicht minder gefordert. Mit Balins und Dwalins Hilfe hatte sie es wirklich vollbracht und durfte das Handwerk einer Goldschmiedin erlernen.
 

Zu Beginn war ihr Meister zögerlich und wollte seinen Ohren nicht trauen als Dwalin versuchte ihm klar zu machen, dass Lenja durchaus Talent besaß und eine hervorragende Schülerin in diesem Bereich sein würde.
 

„Meister Dwalin, du weißt ganz genau, dass Frauen nicht mit Metallen arbeiten sollten. Ihr Talent liegt einfach in anderen Bereichen“, sprach Hungstarri als der Zwerg ihn mit Lenja zusammen an seiner Arbeitsstätte aufsuchte.
 

„Lass meine Nichte ihr Talent unter Beweis stellen“, versuchte Dwalin den Schmied zu überzeugen. „Lenja hat mir schon so oft in der Schmiede geholfen. Sie besitzt zwar nicht die Kraft eines Mannes. Dafür arbeitet sie sehr filigran und detailliert. Glaub mir, alter Freund, sie wird dich nicht enttäuschen. Die Kleine wird eine Meisterin ihres Fachs sein, wenn du ihr nur die Möglichkeit dazu gibst.“
 

Hungstarri betrachtete die junge Frau bei den Worten ihres Onkels neugierig. Er überlegte sichtlich, ob er ihnen Glauben schenken und seine wichtige Arbeit unterbrechen sollte. Er musste zugeben, dass Dwalins Nichte einen sehr entschlossenen Eindruck neben ihrem Onkel machte. Auch kannte er den Zwerg seit einer gefühlten Ewigkeit und wusste, dass er zwar gern die eine oder andere Rede schwang, aber bei einer solchen Angelegenheit sich keine Blöße geben würde. Das Mädchen hatte zudem einen ungewöhnlichen Schimmer in ihren grünen Augen, der selbst ihm als Unbekannten sofort auffiel. Er konnte es sich nicht wirklich erklären, doch schien die junge Frau eine Aura zu umgeben, der es keinesfalls an Neugierde oder Leidenschaft zu fehlen schien.

Der Schmied schnaufte kurz auf und nickte dann zögerlich.
 

„In Ordnung, deine Nichte soll ihre Chance bekommen. Lass sie mir einfach hier. Du kannst gegen Nachmittag wiederkommen. Bis dahin weiß ich sicher, ob deine Worte nur heiße Luft waren oder, ob die junge Dame hier doch für die Kunst der Schmuckherstellung geeignet ist.“
 

Und Hungstarri sollte sich nicht geirrt haben. Lenja befolgte jede seiner Anweisungen mit Bedacht und überzeugte ihn durchaus mit ihrer Fingerfertigkeit.
 

So kam es, dass sie am nächsten Tag ihre Lehre beim Schmied begann. Sie war glücklich und stolz auf alles, was sie dort lernen durfte und was sie unter seinen wachsamen Augen selbst fertigte.

Zu Beginn vernahm Lenja das ein oder andere Getuschel von anderen Zwergen, wenn sie sich auf zur Arbeit oder danach auf den Heimweg machte. Es stimmte: sie war die erste ihres Faches in Thrórs Königreich. Doch je mehr von ihren Fertigungen in Hungstarri Schmiede den Besitzer wechselten, umso mehr verstarb die Nachrede.

Lenja, Balins und Dwalins Nichte, wurde für ihre Arbeit geschätzt und respektiert. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh, sich nun auch in aller Öffentlichkeit mit ihrem Talent zu präsentieren. Wer hätte schon gedacht, dass eine junge Frau derartige Schätze fertigen konnte? Doch keiner außer Lenjas Familie ahnte, welche anderen Talente noch in ihr schlummerten.
 

Die Zeit zog ins Land und so war Lenja nicht nur eine erwachsene Frau geworden, sondern stand kurz davor die begonnene Lehre mit Bravur abzuschließen. Hungstarri bot ihr an auch weiterhin in seinem Betrieb zu bleiben, wenn sie mochte. Und sie nahm dieses Angebot dankend an. Sie wusste, dass sie sich auf den alten Zwerg verlassen und noch viel von ihm lernen konnte.
 

Zudem konnte sie weiterhin, wenn auch nur unter strengen Auflagen ihres Onkel Balins, mit Dwalin den Waffenkampf trainieren. Sie wusste nicht, wie ihr Onkel es hinbekommen hatte seinen älteren Bruder in der Hinsicht umzustimmen. Nach dem heftigen Streit an jenem Abend an dem Lenja ihr Geheimnis lüftete, hatten die beiden Brüder noch lange miteinander diskutiert. Mal laut, dann wieder etwas leiser. Weder Ári noch seine Schwester wussten, was Dwalin mit seinem Bruder für einen Handel schloss. Was jedoch feststand, war, dass sie regelmäßig für mehrere Stunden mit Dwalin verschwand und fleißig an ihrer Ausdauer, Kondition und Stärke arbeitete. Und das alles unter dem strengen Blick Balins.
 

„Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Lenja es eines Tages ihrem zukünftigen Mann erklären will, wieso sie mit Waffen umgehen kann. Wahrscheinlich beherrscht sie die Kampfkunst bis dahin besser als ihr Auserwählter. Das soll aber euer beider Problem bleiben. Ich halte mich da raus. Es sollte euch beiden aber Bewusst sein, dass das noch zu unfassbaren Problemen führen kann.“
 

So oder so ähnlich sprach Balin seinem Bruder und seiner Nichte hin und wieder in ihr Gewissen.
 

Er wusste, dass die beiden auch ohne sein Einverständnis ihren Weg weiterhin bestritten hätten. So sollten sie aber wenigstens nicht ganz ohne Tadel ihr Vorgehen ausüben können.

Auch Balin konnte es sich selbst nicht recht erklären, wieso er dem Treiben seines Bruders und seiner Nichte nicht Einhalt gebot. Es ziemte sich nicht für eine Frau mit Waffen zu hantieren. Das stand außer Frage. Doch war er in sich gegangen und hatte überlegt, ob es Lenja nicht auch Vorteile brachte. Eine Frau, die sich beschützen konnte? Eine Frau, die im Notfall wusste, wie sie ihre Familie vor dem Bösen in Sicherheit bringen konnte? Hatte sie nicht schon einmal unter Beweis gestellt, dass eine große Kriegerin in ihr ruhte als sie mit Ári vor fast einem Jahrzehnt um beider Leben gegen ihren Vater kämpfte? Ásgrímur würde ihr zwar kein Leid mehr zufügen können, da er den anschließenden Konflikt mit Dwalin nur um wenige Stunden überlebt hatte. Doch wusste Lenja nichts davon. Dachte sie, dass sie eine Kriegerin werden musste, um sich auch in Zukunft gegen ihren Vater zur Wehr setzen zu können? Balin hatte den Verdacht, dass seine Nichte nur deshalb dermaßen fixiert auf das Erlernen von Kampfkünsten war. Erst überlegte er, ihr die Wahrheit über den Verbleib ihres Erzeugers zu sagen. Doch dann zögerte er. Wie würde sie dann zu Dwalin stehen? Und war es nicht vielleicht doch besser, wenn Lenja gegen alle anderen Ásgrímurs Mittelerdes gewappnet war, die ihr vielleicht noch auf ihrem Lebensweg begegnen sollten? So beließ es Balin dabei und überwachte kritisch die Fortschritte seiner Nichte. Schließlich sollte sie ja keine hauptberufliche Kriegerin werden.
 

**
 

Es war Dwalins Geburtstag. Schon seit Tagen herrschte zwischen den Geschwistern Aufregung. Ári wollte seiner Schwester unbedingt bei den Vorbereitungen helfen. Auch wenn sie nicht die begnadetste Köchin war, backen konnte sie wie eine Meisterin. Und da ihr Onkel nichts lieber mochte als Lenjas mit Creme gefüllte Teigbällchen, verbrachte sie Stunde um Stunde mit ihrem selbsternannten kleinen Backgesellen in der Küche. Sie wusste schon, warum sie mehrere Portionen von den süßen Bällen formte. Kaum waren die ersten fertig, verschwanden sie auch schon in Áris Mund. Mit einem prüfenden Blick betrachtete sie ihren kleinen Bruder.
 

„Waff if denn, loff?“, fragte der sie dann immer mit vollem Mund, worüber sich Lenja herrlich amüsierte.
 

Trotz der widrigen Umstände hatten es die Geschwister dann doch geschafft mehrere Ladungen Teigbällchen herzustellen und ihren Onkel am Nachmittag damit zu überraschen.

Gemeinsam schlugen sie sich die Mägen voll. Kaum waren alle süßen Dinger verschwunden, machte sich über die drei eine Müdigkeit breit, die nur von Balin durchbrochen wurde. Typisch, dachte sich Lenja. Schließlich hatte er ja am wenigsten von der Nascherei abbekommen.
 

„Dwalin, wolltest du nicht langsam los? Wolltest du den heutigen Abend nicht zusammen mit ein paar anderen Zwergen in der Schänke verbringen? Ich für meinen Teil habe leider noch etwas anderes zu tun“, bemerkte der Zwerg als er seinen Bruder, seinen Neffen und seine Nichte mit seligen Gesichtern sich die Bäuche reiben sah.
 

„Stimmt ja. Ich werde langsam alt. Wie gut, dass du mich daran erinnerst, Bruderherz“, sprach der Angesprochene und rappelte sich mit vollem Bauch von seinem Platz auf.
 

Er streckte sich ausgiebig, packte ein paar Dinge zusammen, gab Ári einen Handschlag zum Abschied und Lenja eine innige Umarmung.
 

„Dann genießt ihr beiden am heutigen Abend die freie Zeit von euren beiden Onkeln“, sprach Dwalin und verließ das gemeinsame Heim Richtung Schenke.
 

Balin sah ihm nach. „Vielleicht wäre es besser, wenn du ihn am späten Abend dort einsammeln könntest, Lenja. Er wird es nicht lustig finden, wenn ich dich ihm hinterher schicke, aber dann können wir auf jeden Fall sicher sein, dass er auch in seinem baldigen Zustand den Weg nach Hause finden wird.“
 

„Aber Balin, ich kann ihn dort nicht abholen! Er wird doch bestimmt nicht mit mir mitkommen wollen. Und überlege doch, dort sind nur Männer! Ja, die eine oder andere Schankmagd wird auch anwesend sein. Aber ich bin nicht aus demselben Holz geschnitzt, wie die. Ich bin Goldschmiedin und habe keine Nerven aus Stahl, wenn mich ein Betrunkener übel von der Seite belästigen sollte. Ich meine...Balin!“, begehrte Lenja verzweifelt auf als ihr Onkel ihr die Hand auf die Schulter legte.
 

„Du schaffst das schon, Kind. Er wird auch auf dich hören. Wenn er nicht auf dich hört, dann weiß ich nicht, auf wen er dann noch hören sollte. Und außerdem wird sich keiner trauen dich einfach so zu belästigen. Sie sind nicht lebensmüde, wenn dein Onkel im Raum ist. Glaube mir! Er kann einiges vertragen, doch wird er immer noch so klar bei Verstand sein, dass er mitbekommt, wenn ein Mann dir zu nahe kommt. Du bist sein größter Schatz. Und damit wird er auch im benebelten Zustand noch ein wachsames Auge auf dich haben. Also, keine Widerrede. Du gehst ihn gegen Mitternacht holen. Ich würde es ja selbst tun, doch habe ich eine wichtige Mission zu erledigen. Und damit noch eins klar ist: Ári, du bleibst schön daheim! Lenja wird das auch allein schaffen. Wer mit Äxten kämpft, der bekommt auch seinen Onkel aus der Schenke nach Hause“, sprach der Zwerg und verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen so schnell wie sein jüngerer Bruder vor ihm das Heim.
 

Lenja wurde aus ihrer Starre gerissen als sie hinter ihrem Rücken Áris Gelächter vernahm. Sie verdrehte ihre Augen, fuhr sich durch ihre rotbraunen Haare und drehte sich zu ihm um. Ihr kleiner Bruder kugelte sich förmlich vor Lachen auf dem Stubenboden.
 

„Was ist denn daran wieder so lustig, du kleiner Troll?“, fragte Lenja entnervt.
 

Ári unterbrach für einen Augenblick sein Gekicher: „Na ja, jetzt musst du auch noch einen anderen Kampfstil lernen. Und zwar den der Frauen!“
 

Der Zwerg prustete wieder los.
 

Seine Schwester schüttelte nur den Kopf und atmete tief durch. „Was soll mir das jetzt sagen, Ári?“
 

„Du weißt nicht, wie Frauen kämpfen? Ich sage es dir: wenn dir einer von den Kerlen zu nah kommen sollte, dann holst du ordentlich mit der Hand aus und knallst ihm eine saftige Ohrfeige. Das ist der Kampfstil einer Frau!“, sprach der Kleine todernst.
 

„Woher willst du denn wissen, wie Frauen kämpfen?“, fragte Lenja ihren Bruder verwirrt.
 

„Onkel Dwalin hatte doch neulich so ein blaues Veilchen um das eine Auge. Da habe ich ihn gefragt, wo er das her hat. Und dann hat er mir von der Kampftechnik berichtet“, führte Ári weiterhin stolz aus.
 

„So so“, dachte sich die Zwergin mit einem breiten Lächeln. „Dann weiß ich ja wenigstens, dass ich nicht die einzige Frau bin, die in welcher Art auch immer, kämpft.“

Von Schankstuben und ihren Gästen

Lenjas Herz hämmerte wild in ihrer Brust als sie sich mit vorsichtigen Schritten der Schankstube näherte. Wie Balin ihr befohlen hatte, befand sie sich nun auf dem Weg Dwalin von seinem Stelldichein in der Schenke abzuholen. Doch wie würde er reagieren? Ahnte er, dass man ihm seine Nichte zum Abholen hinterher schicken würde? Und wenn dem nicht so war, würde er einfach so, ohne große Umschweife, mit ihr zusammen die Heimreise antreten?
 

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in einem solchen Etablissement gewesen zu sein. Sie kannte einen solchen Ort immer nur aus den wildesten Erzählungen ihres Onkels oder aus den Geschichten von betrunkenen Gatten, die den Umlauf machten, wenn sie ihre Wäsche zusammen mit anderen Zwerginnen an der großen Bleichstelle machte. Lenja wusste nicht, inwieweit sie diesen Schilderungen Glauben schenken sollte. Im Normalfall wäre ihr dies auch egal gewesen, wenn sie nun nicht in eine solche Stube eintreten müsste.
 

Hoffentlich würde es nicht unnötig lang dauern, dachte sich die Frau und war in Gedanken bei Ári, der bis eben selig in seinem Bett geschlafen hatte. Dennoch kannte sie ihren kleinen Bruder, was ihr leichte Kopfschmerzen bescherte. Sie wusste, dass er etwas beleidigt war sie nicht auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Und das wiederum könnte dafür sorgen, dass er schon sehnsüchtig und hellwach auf seine Schwester und ihren gemeinsamen Onkel im Bett wartete.
 

Lenja atmete tief ein und aus. Die rechte Hand war nur noch wenige Zentimeter von dem Riegel zur Schenke entfernt. Auf einem Schild las sie „Zum tollkühnen Mundschenk“ und schüttelte den Kopf. Zwerge. Ein seltsames, aber lustiges Volk.

Wie der Name vermuten ließ, hörte sie schon vor der Tür ein heiteres Durcheinander von Stimmen aus dem Inneren kommen. Es brachte ja alles nichts. Sie musste nun endlich die Pforten öffnen, auf dem schnellsten Weg Dwalin finden, ihn unterhaken und dann schnurstracks aus der Schenke verschwinden. So sah ihr Plan aus, den sie in Gedanken schon mehrere Male durchgespielt hatte. Also gut. Ihre Zeit war gekommen. Ihre Hand drückte viel schneller als gedacht den Türriemen herunter und mit einem beherzten Schritt nach vorn befand sie sich nun an einem unbekannten Ort.
 

Lenja musste zu Beginn erst einmal blinzeln. Nicht nur das Licht war anders als sie es sich vorgestellt hatte, sondern auch die schwere Luft, welche zwischen den einzelnen Tischen hing, machte ihr im ersten Moment zu schaffen. Es war schwummerig und durch den erhöhten Tabakkonsum wurde dieser Effekt auch noch verstärkt. Zum Pfeifengeruch gesellte sich ebenfalls ein etwas süßlicher, nicht minder schwerer Geruch. Sie kannte ihn, wenn aber nur sehr flüchtig. Es war der Geruch nach Alkohol; nach Met, nach Apfelwein und nach Starkbier. Ihr war nicht nachvollziehbar, wie man an einem solchen Ort mehr Zeit als nötig verbringen konnte oder wollte.
 

Lenja blickte suchend durch die Schenke. Sie konnte Dwalin nirgends in dem Halbdunkel erblicken. Auch schien hier keiner von ihrer Anwesenheit Notiz genommen zu haben. Fragend wandte sie ihren Blick nach vorn zur Theke hinter der fünf Zwerginnen fleißig ihrer Arbeit nachgingen. Sie würde dort fragen müssen. Also dann.
 

Die Frau schritt auf die anderen Frauen zu, von denen die ein oder andere ihr einen interessierten Blick zuwarfen. Die Älteste unter ihnen, Lenja nahm an, dass es sich bei ihr um die Wirtin handeln musste, nickte ihr freundlich zu.
 

„Wie kann ich dir helfen, Liebchen? Suchst du deinen Gatten? Ich habe dich hier noch nie gesehen“, bemerkte sie herzlich.
 

Lenja schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich suche meinen Onkel Dwalin. Ich sollte ihn hier abholen.“
 

Die Ältere musterte sie interessiert. „Ach du bist das! Lenja, nicht wahr? Er erzählt immer sehr viel von dir, wenn er zu mir kommt. Und ich muss bemerken, dass er nicht untertrieben hat. Du bist wirklich ein Prachtweib, weißt du das Liebchen? Falls es vielleicht einmal nicht mehr mit der Schmiederei klappen sollte, könnte ich mir dich sehr gut hinter der Theke vorstellen. Der ein oder andere Zwerg würde bei deinem Anblick bestimmt auch mehr bestellen. Und das nur, damit du so oft wie möglich an seinen Tisch kommst“, bemerkte die Wirtin und zwinkerte Lenja schelmisch zu.
 

Die junge Frau schluckte bei dem Gedanken.
 

„Also gut. Dann bringe ich dich nun auf schnellstem Wege zu unserem Geburtstagskind. Mal gucken, wie er reagiert, wenn ich ihm dich als Überraschung mitbringe“, sprach sie, kam hinter der Theke hervor und hakte Lenja unter ihrem Arm ein.
 

Gemeinsam schritten sie zwischen den Tischen entlang immer weiter in die Schankstube hinein. Lenja hätte sich niemals erträumen können, dass die Schenke doch so groß war. Allein hätte sie den Weg zu Dwalin bestimmt nicht gefunden. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich einem der abgelegensten Stellen in der Wirtschaft näherten. Und so war dem auch.
 

Hinter einer hölzernen Schiebetür versteckt, befand sich die Geburtstagsgesellschaft. An der langen Tafel saß Dwalin zusammen mit einer Hand voll anderen Zwergen. Lenja kannte sie alle vom Sehen her, doch bis auf den Prinzen konnte sie keinem einen Namen zuordnen. Keiner der anwesenden Männer schien die beiden Frauen in der offenen Tür bemerkt zu haben. Alle hatten sie Krüge vor sich stehen und diskutierten mal mehr, mal weniger wild gestikulierend mit einander.
 

Lenja holte neben der Wirtin tief Luft. Wieder überkam sie der Gedanke, wieso sie dies eigentlich über sich ergehen lassen musste.
 

Die Wirtin nahm ihre Unsicherheit wahr. Sie nickte ihr aufmuntert zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr: „Keine Angst, Liebes. Die Zwerge hier sind alle harmlos. Sie werden dir schon keine schlüpfrigen Dinge entgegen säuseln. Obwohl es eigentlich schade ist, bei dem Körper, der sich unter deinem Kleid zu verstecken versucht.“
 

Ihre Stimme durchbrach die Männergespräche: „Schau doch mal, mein lieber Dwalin, wen ich dir als Überraschung hier mitgebracht habe. Du hättest mir aber ruhig verraten können, dass deine Nichte so ein hübsches Weibsbild ist. Dann hätte sie sofort bei mir ihre Lehre beginnen können.“
 

Na Wunderbar. Alle Gesichter drehten sich zu den beiden Frauen. Hoffentlich würde Dwalin jetzt nicht wütend werden. Er blinzelte kurz, stand dann etwas schwankend auf und trat auf Lenja zu. Strahlend nahm er sie in seine Arme.
 

„Das Leute, ist meine Nichte Lenja. Sie ist die Beste, die man sich überhaupt wünschen kann. Und nun kommt sie auch noch hierher, um mit uns allen auf meinen Geburtstag anzustoßen. Was für ein wunderbares Weib, nicht wahr? Ufindá, sei ein Schatz und bring meiner Kurzen hier einen Krug voll Met. Sie braucht nun schließlich auch etwas zum Heben.“
 

Die Wirtin nickte und verließ den Raum.
 

Lenja wusste nicht, ob sie diese Szenerie nun lustig oder eher traurig finden sollte. Sie hätte niemals gedacht, dass ihr Onkel nach so viel Alkohol intus immer noch derart normal sprechen konnte. Balin hatte Recht behalten als er meinte, dass sein Bruder einiges vertragen könne.
 

Zaghaft versuchte sie Dwalin ihre eigentliche Anwesenheit so leise wie möglich zu zu raunen: „Dwalin, das geht nicht. Ári ist allein zu Hause und Balin wird es gar nicht gut heißen, wenn ich hier mit euch Männern trinkend in der Schenke sitze.“
 

„Balin, dieser alte Spielverderber“, bemerkte Dwalin trocken und zog seine Nichte mit sich zu seinem vorherigen Platz.
 

Mit einem beherzten Ruck saß Lenja ohne es zu wollen neben ihrem Onkel und einem älteren Zwerg, der ihr freundlich zunickte.
 

„So, Kurze. Dann stell ich dir mal meine Kumpanen hier vor: Der Kerl da neben dir ist Óin. Daneben sitzt sein Bruder Glóin. Die anderen beiden gegenüber von uns sind Dori und Thorin.“
 

Alle nickten ihr freundlich zu. Lenja hatte keine Idee, wie sie ihre Anwesenheit beurteilten. Immerhin war sie ja eine Frau und sollte sich an einem Ort wie diesem hier nicht aufhalten. Sie wurde aus ihrer Starre gerissen als Ufindá ihr einen großen Metkrug vor die Nase stellte.
 

Dwalin neben ihr hob seinen Krug in die Höhe. Er prostete allen Anwesenden zu: „Auf uns! Mögen wir nicht eher von unseren Stühlen kippen bis draußen der Hahn den Tag ankündigt.“
 

Kaum hatte er seinen Satz beendet, stürzten alle Männer ihre bis dato reichlich gefüllten Krüge hinunter. Lenja wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Unsicher blickte sie über den Rand ihres Metkrugs und nippte an dem Honigwein.
 

Glóin war der Erste, der seine Sprache wiederfand: „Also Dwalin, wenn deine Nichte schon des Nachts durch die Finsternis zur Schenke schleicht und sich wenig fraulich mit an unseren Tisch setzt, dann muss sie sich jetzt aber auch wie ein richtiger Zwerg verhalten. Wir müssen ihr noch den richtigen Zug beibringen, wie mir scheint.“
 

Gespannt blickten alle zu der jungen Frau. Hatte sie das jetzt richtig verstanden? Verlangten sie alle von ihr, dass sie ebenfalls ihren Krug in einem Zug leeren sollte? Wie viel hatten sie bereits getrunken, dass sie so etwas von ihr erwarteten?
 

„Also, bist du nun so ein Hausmütterchen, wie alle anderen Frauen oder steckt mehr in dir als deinem Zukünftigen lieb sein sollte? Wo steckt die Kampfesslust, die dein Onkel uns immer weiß machen will, wenn er zu viele Krüge gehoben hat?“, sprach der rothaarige Zwerg mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen.
 

Er forderte sie heraus. Das war eindeutig. Sie war gleichzeitig schockiert und amüsiert von der Vorstellung, dass man sie prüfen wollte. Was Dwalin auch immer ihnen erzählt haben mochte, es muss auf jeden Fall interessant genug gewesen sein. Wollte man seine Geschichten prüfen oder sich einfach nur einen dummen Scherz mit ihr erlauben?
 

Lenja schloss kurz die Augen, blickte Glóin dann direkt ins Gesicht, lächelte ihn provokativ an, nahm mit ihrer Rechten den Metkrug, führte das Getränk zu ihren Lippen und stürzte es mit einem Ruck ihre Kehle hinunter. Sie hatte Mühe sich nicht zu verschlucken. Aber sie wollte die Provokation des Zwergen nicht auf sich sitzen lassen. Mit einem dumpfen Ton stellte sie das leere Gefäß wieder auf den schweren Holztisch. Keiner sprach. Alles schaute mit großen Augen auf die junge Frau. Plötzlich fühlte sie ein anerkennendes Klopfen auf ihrer Schulter.
 

„Un isch dachte imma, daz de kessen Bienschen, di us Kärle untern Tisch saufn kön scho alle Reißaus jenomn habn“, lallte Óin ihr strahlend entgegen.
 

Schallendes Gelächter brach am Tisch aus. Auch Lenja konnte sich nicht mehr halten. So ein Kompliment hatte sie in ihren wildesten Träumen sich nie vorgestellt. Um ehrlich zu sein, wäre sie auch nie auf die Idee gekommen in eine Schenke zu gehen und dort zusammen mit ihrem Onkel und anderen Zwergen Krüge zu stemmen.
 

„Was für ein Mordsweib“, nickte Glóin anerkennend und orderte eine neue Fuhre an Krügen.
 

Und so begannen die Gespräche wie einst vor ihrer Ankunft von Neuem. Es wurde über Tabak, Wein, Waffen und Frauen gesprochen. Lenja wusste schon bald nicht mehr wie viele Krüge sie hatte leeren müssen. Immer wieder wurden neue Wünsche mit ihnen hinunter gespült. Mal sollten keinem am Tisch die Haare ausfallen, dann sollte Lenja auch kinderreich die hübschesten Zwerge gebären und am Ende wünschte Óin allen, dass sie auch ihren richtigen Heimweg wiederfanden.
 

Lenja hätte sich niemals erträumt in dieser Runde so viel Spaß zu haben. Auch wenn sie zusehends immer betrunkener wurde, so fühlte sie sich unter den Männern sehr wohl. Zwar sprach sie wenig und lauschte meistens den Gesprächen, gab aber ausführliche Beratung bei Glóin, der sich für ein „kesses Bienschen“, wie Óin sie nannte, interessierte und ihr den Hof machen wollte und kommentierte hier und da mit ein paar Worten die Männergespräche. Keiner schien sich an ihrer Präsenz zu stören.
 

Doch auch die schönste Zeit musste schließlich ihr Ende finden. Nachdem Lenja ihren gefühlt siebten Krug geleert hatte, berührten langsam aber sicher die ersten Sonnenstrahlen die Konturen des Erebor.
 

Hoffentlich würde es keinen großen Ärger von Balin geben, wenn sie nun erst mit Dwalin zusammen nach Hause stolperte, dachte sich die junge Frau mit einem Grinsen.
 

Die Gruppe schien sich nun aufzulösen und Lenja erhob sich von ihren Platz. So dachte sie jedenfalls bis sie zu straucheln begann und heftig schwankend fast zu Boden viel.
 

„Immer vorsichtig, Kurze“, grinste Dwalin sie an und hielt sie an ihrem rechten Arm aufrecht.
 

„Wa wohl dochn wenich su vil“, hauchte Lenja ihrem Onkel entgegen.
 

„Schätzchen, du hast ordentlich gebechert. Wir sollten schauen, dass du so schnell wie möglich ins Bett kommst.“
 

„Hm“, war alles, was Lenja im Moment noch von sich geben konnte.
 

Zusammen mit Dwalin und Thorin ging die Frau zusammen heimwärts. Die anderen hatten unterschiedliche Wege in ihrem Zustand zu bestreiten. Wenigstens war Lenja nicht allein. Bei Dwalin und Thorin untergehakt schwankte sie zwischen den Männern über die schweren Steinböden. Das ein oder andere Mal mussten sie aufpassen, dass Lenja sie nicht umriss. Langsam aber sicher näherten sie sich ihrem Ziel. Plötzlich überkam Dwalin ein natürliches Bedürfnis.
 

„Thorin, schleif die Kurze schon weiter mit dir mit. Das viele Bier verlangt seinen Tribut und möchte in die Freiheit entlassen werden“, sprach er an den anderen Zwerg gewandt und verschwand nachdem dieser mit einem Kopfnicken geantwortet hatte.
 

Lenja sah ihren Begleiter von der Seite her an. Die ganze Nacht hatte er nicht viel gesprochen, ähnlich wie sie. Aber doch war sie sich sicher, dass auch er die Zwergenrunde sehr zu schätzen gewusst hat.
 

„Oire Majestet, s tu mir leid“, meinte Lenja in ihrem desolaten Zustand zu ihm als beide versuchten gemeinsam die Steinstufen einer imposanten Treppe zu erklimmen.
 

„Was tut dir Leid?“, fragte der Zwerg sichtlich bemüht, die Frau nicht auf halber Strecke zu verlieren.
 

„Dasich so bin wi ich bin“, nuschelte sie. „I glaup ich braauch ne Pause."
 

Vorsichtig ließ Thorin Lenja sich auf eine Stufe setzen. Er setzte sich neben sie. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass sie zur Seite kippen könnte, überkam sie der Gedanke.
 

„Ihr habt sooo schöne Aujen“, fing die Frau ohne Zusammenhang neben dem Prinzen sitzend das Gespräch an.
 

„Deine sind auch ganz bezaubernd“, entgegnete der Zwerg ohne so Recht zu wissen, was Lenja ihm eigentlich mit diesem Kommentar sagen wollte.
 

„Aba nich so schöön widi oiren, meyn Prints“, flüsterte sie und ließ ohne ihr direktes Zutun ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Die Schwerkraft zollte Lenja ihren Tribut.
 

„Thorin, nicht Prinz oder Majestät“, sagte der Zwerg leise.
 

„Hm, was is?“, fragte Lenja in ihrer Erschöpfung an ihn gelehnt.
 

„Mein Name ist Thorin.“
 

„Is doch nich schlimm. Nen schööna Name“, entstieg es ihren Lippen als ihr auch schon die Augen zufielen.
 

Das war das Letzte an das sich Lenja noch halbwegs erinnern konnte als sie mit einem hämmernden Schmerz in den Schläfen am Mittag in ihrem Bett erwachte. Wie sie da hingekommen ist, wusste sie nicht. Wahrscheinlich hatte Dwalin sie und Thorin doch wieder eingeholt und sie dann in ihr Bett verfrachtet. Ihr war auch nicht danach großartige Fragen zu stellen. Ihr Verhalten aus der gestrigen Nacht war ihr mittlerweile peinlich. Hoffentlich hatte sie nicht noch irgendwem auf die Stiefel erbrochen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sie sich ihr Bettdeck über den Kopf. Nie wieder würde sie auch nur in die Nähe einer Schenke gehen!

Katerstimmung

Die Tür zu Lenjas Kammer wurde mit ihrem markanten Quietschen geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen. Die junge Frau seufzte auf. Noch immer hämmerten ihre Schläfen mit einer unvorstellbaren Wucht. Sie wollte allein sein, mit niemandem in ihrem noch immer desolaten Zustand sprechen. Und schon gar nicht mit Balin.
 

Sie hatte im Moment keine Lust sich für ihr Verhalten aus der letzten Nacht zu rechtfertigen oder vielmehr zu entschuldigen. So versuchte sie sich von der Rücklage, in der sie sich befand, in die Bauchlage zu bringen. Eine wirklich nicht gut durchdachte Idee, wie sie schon Sekunden später feststellen musste. Stocksteif blieb sie mit der Decke über den Kopf liegen. Die minimale Bewegung von eben sorgte dafür, dass ihr ruckartig schlecht wurde.

Wer auch immer in ihrer Kammer stand, sollte von Lenjas Willen aus mit ihr schimpfen, sie schelten oder was auch immer ihm beliebte tun können. Hauptsache sie brauchte sich für diese Unterredung nicht zu bewegen.
 

Leise Schritte tapsten um ihr Bett, blieben dann am Fußende stehen. Das Federdeck wurde angehoben und eine kleine Person krabbelte unter ihr entlang, empor zu der jungen Frau, die unter ihr vergebens Schutz gegen den Eindringling suchte.
 

„Ári, was soll das?“, murmelte Lenja erschöpft.
 

Der kleine Zwerg hatte nun ihren Kopf erreicht und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
 

„Ich habe Euch soeben wach geküsst, holde Maid“, stellte ihr Bruder fest und schaute seiner Schwester in ihre rot umrandeten Augen.
 

„Vielen Dank, mein Herr. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr mich jetzt noch eine Weile in meinem Himmelreich allein lassen könntet“, erwiderte Lenja und drehte ihren Kopf vorsichtig zur Seite um weiter zu schlafen.
 

„Das geht aber nicht“, protestierte der Kleine.
 

„Und warum sollte das nicht gehen? Geh doch einfach Dwalin ärgern. Oder hör Balin zu, wie er über meine Unfähigkeit von letzter Nacht schimpft“, seufzte seine Schwester.
 

„Balin ist doch noch gar nicht wieder da. Und Dwalin“, sprach er weiter und machte eine Pause um das Interesse seiner Schwester zu wecken, „ist vorhin erst nach Hause gekommen.“
 

Mit einem Ruck war Lenja wach. Was hatte der Kleine da eben gesagt? War er die gesamte Nacht allein gewesen? Und wie kam sie eigentlich heim, wenn Dwalin den Weg erst später wiedergefunden hatte?

Sie setzte sich kerzengerade auf und bereute ihre Tat kaum, dass sie sie vollzogen hatte. Sie ließ sich wieder vorsichtig in ihr Kissen fallen.
 

„Ist dir wieder schlecht, Lenjalinchen?“, fragte Ári interessiert.
 

Mit einem Auge schaute sie den kleinen Zwerg an, der über ihr thronte.
 

„Wieso denn wieder? Weißt du etwas, dass ich wissen müsste?“, fragte sie ihren Bruder vorsichtig.
 

Wie auf das Stichwort gewartet, nickte Ári eifrig. Allein vom Zuschauen hatte Lenja das Gefühl, dass ihr langsam aber sich schlecht werden würde.
 

„Du hast gebrochen als ob es keinen Morgen mehr geben würde“, flötete ihr Bruder und begann freudig auf und ab zu hüpfen.
 

„Stopp!! Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, aber wenn du so weitermachst, dann haben wir hier gleich wohl denselben Zustand wie letzte Nacht“, brummte die Zwergin.
 

Sofort gehorchte ihr Bruder. Er strahlte sie an.
 

„Willst du denn nun endlich hören, wie du letzte Nacht nach Hause gekommen bist, Schnuppi?“
 

Ári war förmlich kurz davor zu platzen. Es musste ihn schon den gesamten Tag beschäftigt haben. Nur war keiner, weder Dwalin noch seine Schwester, bis jetzt in der Lage gewesen ihm zu zuhören.
 

„Hm“, antwortete Lenja und hatte ein wenig Angst vor dem, das sie nun zu erwarten schien.
 

„Also“, begann ihr Bruder und setzte eine höchst feierliche Mine auf.

„Ich habe ja die ganze Zeit auf dich hier gewartet. So genau weiß ich nicht mehr, wann ich wach geworden bin. Und dann bin ich zu deiner Kammer geschlichen, um zu gucken, ob du schon wieder da bist. Aber du warst weg. Bei Dwalin habe ich auch geguckt. Alles leer. Dann habe ich nachgedacht, was ich so machen kann. Aber du hattest die Eingangstür ja abgeschlossen. Sonst wäre ich euch suchen gegangen.“
 

Lenja durchfuhr der Gedanke, dass sie wenigstens eine Sache in der letzten Nacht richtig gemacht hatte indem sie dem kleinem Frechdachs den Fluchtweg versperrte.
 

„Und dann konnte ich nicht mehr schlafen. Also bin ich ganz einfach wach geblieben. Ich habe mir in der Küche etwas zu essen gesucht und das dann in der Stube gegessen. Und bevor du jetzt schimpfst: ich habe gar nicht so doll gekrümelt! Von dort habe ich dann auch nach gaaaanz langer Zeit komische Geräusche gehört. Vor der Tür. Das hat vielleicht lange gedauert bis dann die Tür offen stand. Und als ich dann schon losstürmen wollte, um dich und Dwalin zu begrüßen, staunte ich nicht schlecht. Du warst zwar irgendwie dabei, aber der Zwerg, der dich im Schlepptau hatte, war nicht unser Onkel.“
 

Lenjas Augen weiteten sich ängstlich als ihr leise dämmerte, wer sie da heim begleitet hatte.
 

Wie zur Bestätigung sprach Ári fröhlich weiter drauflos.
 

„Das war Thorin. Ich darf ihn so nennen. Das hat er mir erlaubt. Na ja, er hatte ganz schön Mühe dich hier rein zu bugsieren. So richtig gehen wolltest du ja nun auch nicht. Also hat er dich einfach über seine Schulter gepackt und dich rein getragen.“
 

Bitte, mache jemand, dass sie aus dem schlechten Traum aufwachen würde!

Wie war er bloß an ihren Schlüssel für die Tür gekommen? Schamesröte durchfuhr ihr Gesicht als sie daran dachte, wie er ihre Hüften auf der Suche nach dem Schlüssel berührt haben musste.
 

„Ich habe ihm geholfen, wo es nur ging. Deine Kammertür habe ich geöffnet und die Decke zurückgeschlagen damit er dich in dein Bett legen konnte. Kaum hatten wir dich zugedeckt, da hast du angefangen so komische Geräusche von dir zu geben. Das war richtig gruselig! Ich wusste ja nicht, was das uns sagen sollte, aber der Thorin, der hatte da sofort einen Verdacht. Und er hatte Recht: du musstest alles ausspeien, was du noch kurz vorher in dich hinein gegossen hattest.“
 

Lenjas Gesicht schien vor Pein zu brennen. Sollte das wirklich stimmen, was Ári ihr da erzählte?
 

„Wir waren ein wirkliche gutes Team, der Thorin und ich. Ich habe deine Haare festgehalten und er hat wie ein großer Krieger den Eimer vor deinen Mund gehalten. Du brauchtest gar nicht mehr zielen. Wir Männer haben dich richtig gut umsorgt.“
 

Sie schloss die Augen und fragte sich, warum dieser Alptraum nicht vorüber gehen wollte.
 

„Irgendwann warst du nach dem fünften oder sechsten Mal dann auch fertig. Du warst richtig erschöpft. Also haben wir dich allein gelassen. Und dann wussten wir nicht, wie es weitergehen sollte. Balin war ja die ganze Zeit schon nicht da. Du warst zu nichts zu gebrauchen. Und Dwalin fand irgendwie den Heimweg nicht wieder.“
 

Lenja öffnete wieder ihre Augen und sah, dass Áris Wangen vor Freude leicht gerötet waren.
 

„Und was habt ihr dann gemacht?“, fragte die Zwergin vorsichtig.
 

„Thorin ist hier geblieben. Bis eben!“, und seine Augen leuchteten. „ Er wollte mich nicht allein lassen. Und dann haben wir zusammen Kekse gegessen, er hat mir richtig spannende Geschichten von unseren Urvätern erzählt, wir haben mit meinen Holzschwertern gespielt und ganz viel gelacht. Irgendwann ist dann auch Dwalin nach Hause gestolpert. Der sah richtig müde und zerknautscht aus. Thorin hat ihn gefragt, wo er denn geblieben war. Und Dwalin meinte nur etwas, dass wie „Bin wohl beim Pissen eingeschlafen“ geklungen hat. Ich fand das ja höchst seltsam. Er hat auch gar nicht richtig mit uns beiden gesprochen. Ist einfach an uns vorbei geschlurft und in seiner Kammer verschwunden.“
 

Lenja blinzelte verwirrt. Der arme Dwalin. Hatte es also auch ihn dahingerafft...eine wichtige Frage brannte noch auf ihrer lädierten Seele.
 

„Und dem Thorin war nicht auch, wie soll ich sagen, ein wenig übel?“
 

„Nein, Schnupsi! Das hatte mich ja auch gewundert. Also habe ich ihn gefragt. Und dann meinte er nur, dass das alles hartes Training wäre. So ähnlich wie beim Kämpfen, meinte er.“
 

Also doch, dachte sich die Zwergin. War der wehrte Herr Prinz also doch ein kleiner Trunkenbold? Bei dem Gedanken musste sie unweigerlich grinsen.
 

„Und das Beste überhaupt kommt ja noch, Lenjalinchen. Als der Thorin dann ja meinte, dass das so wie beim Kämpfen wäre, da konnte ich nicht anders und musste ihn dann fragen, ob du dich dann nicht auch verbessern könntest. Du weißt schon, Kondition und so weiter. Er guckte mich dann etwas schief von der Seite an und meinte dann, dass du theoretisch auch eine bessere Trinkerin werden würdest, wenn du regelmäßig dem Suff nachgehst. Und na ja, dann konnte ich nicht anders. Es ist mir irgendwie so raus gerutscht...“
 

„Was ist dir raus gerutscht?“, fragte Lenja ihren Bruder und hob die Augenbraue.
 

„Schnupsi! Ich habe ihm gesagt, dass du das ganz schnell hinbekommen könntest, wenn du nur wolltest. Weil du ja bereits schon Erfahrung mit dem Erlernen von Jungssachen hast...“
 

Die Zwergin riss die Augen auf und starrte ihren Bruder an: „Sag mir jetzt ja nicht, dass du es ihm erzählt hast!“
 

„Na ja, irgendwie doch...“
 

Mit einem Ruck viel Ári von ihrem Schoß. Sie hatte sich zu schnell aufgesetzt und funkelte den Kleinen wütend an.
 

„Wie konntest du das nur tun? Du bist mein Bruder! Was fällt dir ein mich zu verraten? Wunderbar! Vielen Dank, Ári! Jetzt werde ich das Gespött aller werden.“
 

Der Junge schüttelte nur den Kopf.
 

„Aber nein. Er fand das richtig beeindruckend als ich ihm alles erzählte. Wie du immer mit Dwalin trainierst. Wie du die Kleider hasst. Wie wir alle zusammen Balin angelogen haben. Und wie stark du bist. Ich glaube, der Thorin findet dich ganz toll. Du solltest ihm auf jeden Fall mal eine ganze Ladung an Keksen backen, wenn du wieder auf den Beinen bist. Die hat er schneller verschlungen gehabt als Dwalin in seiner Höchstform. Und weißt du, was ich glaube?“
 

„Nein“, murmelte Lenja und fragte sich, wieso der seltsame Traum immer noch nicht vorbei war.
 

„Ich glaube, dass Thorin dich bestimmt mal beim Training besuchen kommt. Der war ja so überrascht am Anfang. Aber dann habe ich ihm ja alles ganz genau erzählt. Und zum Schluss meinte er dann, dass das irgendwie zu dir passen würde. Wie genau hat er mir dann aber doch nicht verraten. Und dann haben wir beide gehört, wie du dich öfter im Bett bewegt hast, weil wir ja die Kammertür einen Spalt offen gelassen hatten falls du noch einmal brechen müsstest. Er meinte, dass du bald wieder hell wach sein würdest. Dann nahm er sich noch ein paar Kekse und verschwand.“
 

Sollte sie nun lachen oder weinen? Lenja wusste es einfach nicht.
 

„Und bevor er gegangen ist, hat er mir noch das hier für dich gegeben“, sprach der Junge und reichte seiner Schwester ein Stück Pergament.
 

Lenja begann die ersten Runen zu lesen.
 

„Ist das ein Liebesbrief?“, fragte der Zwerg ganz gespannt und hopste wieder auf und ab.
 

„Ári! Lass den Quatsch!“, schimpfte Lenja und drehte sich mit dem Papier in der Hand von ihm weg.
 

In feinen Runen stand dort:

"Ich freue mich die Bekanntschaft einer so trinkfesten, starken jungen Dame gemacht zu haben."

Von Schnapsdrosseln und ihren Gesängen

Nachdem Ári seinen Vortrag über die nächtlichen Ereignisse beendet und Lenja sich sowohl über sich selbst als auch über die Nachricht auf dem Pergament wunderte, beschlossen die beiden Geschwister ihren Onkel Dwalin aufzuwecken. Sie wollten sich die Situation zu Nutze machen und davon profitieren, dass Balin das ganze Schlamassel nicht mitbekommen hatte.
 

Lenja folgte ihren Bruder mit vorsichtigen, langsamen Schritten zu Dwalins Kammer. Sie war darauf bedacht sich nicht allzu schnell zu bewegen, da sie bei jedem noch so kleinen Ruck mit einem leichten Gefühl des Schwindels kämpfen musste. Ihr Bruder war da eher von der konträren Sorte und öffnete die Kammertür ohne eine Vorwarnung.
 

Mit einem Hechtsprung landete der kleine Ári auf dem Bauch seines Onkels.
 

Dwalin rang nach Luft. Durch den Aufprall war der Zwerg aus seinen Träumen gerissen worden und schien für den Bruchteil einer Sekunde erst einmal überlegen zu müssen, wo er sich befand und von welchem Wesen er nun heimgesucht wurde.
 

„Aufstehen, du Schlafmütze!“, rief Ári fröhlich über seinem Onkel thronend.
 

„Bei Aule! Womit habe ich das nur verdient?“, fragte Dwalin wohl eher zu sich selbst als zu seinem Neffen.
 

„Womit du mich verdient hast?“, fragte der kleine Zwergenjunge leicht entrüstet und schob trotzig die Unterlippe nach vorn. „Womit habe ich es denn verdient, dass du und Lenja mich die gesamte Nacht allein gelassen habt, hm? Wenn du jetzt nicht langsam wach wirst, dann kann ich ja Onkel Balin erzählen, wie böse ihr beiden zu mir wart.“
 

„Ist ja schon gut. Ist ja schon gut, Kleiner“, brummte Dwalin und streckte sich vorsichtig.
 

Jetzt erst schien der Zwerg Lenja im Türrahmen zu bemerken. Sie hatte sich gegen ihn gelehnt, um dort auf ihren wackeligen Beinen Halt zu finden. Mit einem fragenden Blick bedachte er seine Nichte, die zugleich zu begreifen schien.
 

„Es geht schon wieder besser, Dwalin“, meinte die Zwergin und versuchte zu lächeln.
 

„Du siehst aber ein bisschen blass um die Nase aus, Kurze“, entgegnete ihr Onkel und versuchte sich mit Bedacht zusammen mit Ári auf seinem Schoß aufzurichten.
 

„Kann sein. Aber es geht mir wirklich wieder viel besser als noch in der Nacht.“
 

„Wie bist du eigentlich hier hergekommen? Hat Thorin dich gebracht? Mir war so als ob er mit Ári am Gange war als ich die Tür hinter mir schloss. Das kann aber auch alles eine furchtbare Einbildung gewesen sein...“, bemerkte Dwalin und hing seinen Gedanken nach.
 

Ári hopste wieder auf und ab. Er gab erneut die merkwürdigen Ereignisse der letzten Nacht so detailliert wie nur möglich wieder. Schließlich wollte der Kleine seinen Onkel auf den neuesten Stand bringen.

Als ihr Bruder seinen Vortrag beendet hatte, schaute Dwalin Lenja mit einem schiefen Lächeln an.
 

„So so. Dir ist der Alkohol wohl ein bisschen zu Kopf gestiegen, was? Da können wir ja froh sein, dass Ári hier für Recht und Ordnung gesorgt hat, nicht wahr, du edler Ritter?“, sprach Dwalin und knuffte seinen Neffen leicht in die Seite, woraufhin dieser leise zu kichern begann.
 

„Wer musste mich denn zum Trinken verführen, hm? Wer hat mir denn immer einen gefüllten Krug vor die Nase gestellt als der vorherige kaum geleert war?“, begehrte Lenja wütend auf.
 

Dwalin schien sie ärgern zu wollen. Anstatt ihr zu zuhören und sie anzuschauen, alberte er wieder mit Ári herum.
 

„Wir können so froh sein, dass du hier gewesen bist, kleiner Mann. Wer weiß, was deine Schwester, die kleine Schapsdrossel, dem Prinzen in sein Ohr gezwitschert hat. Wer weiß, was die beiden noch für Sachen miteinander getrieben hätten, wenn du nicht dazwischen gegangen wärst und für Sitte und Anstand gesorgt hättest“, sagte Dwalin weiter zu seinem Neffen, der sich jetzt gar nicht mehr unter Kontrolle hatte und zwischen seinem Lachanfall nach Luft rang.
 

„Du bist so ein Spinner, weißt du das Dwalin! Wer ließ mich denn in den Armen eines Fremden?“, Lenjas Stimme wurde bei jedem ihrer Worte schriller.
 

Auch Dwalin konnte sich nun nicht mehr zusammen reißen. Ein lautes und herzliches Lachen entfuhr seiner Kehle. Ári stimmte fröhlich mit ein. Zu allem Überfluss fingen die beiden nun auch noch an sich gegenseitig Luftküsse zuzuwerfen. Keiner schien Lenjas Wut ernst zu nehmen. Sie wollten sie bis aufs Blut reizen. Und das hatten sie auch bald geschafft.
 

„Weißt du eigentlich, Ári, dass die Produktion von Zwerglingen immer mit einem Kuss zwischen einem Zwerg und einer Zwergin anfängt“, erklärte Dwalin seinem Neffen, der eifrig jedes seiner Worte in sich aufnahm.
 

„Was soll das denn nun bedeuten? Hast du deinen restlichen Verstand versoffen? Du bist so...so...“, Lenja war dermaßen wütend auf ihren Onkel, dass ihr die Sprache versagte.
 

Ohne auch nur auf seine Nichte zu achten, sprach er weiter mit Ári: „Du musst dir das in etwa so vorstellen, Kleiner: Die Frau und der Mann saugen sich an den Lippen an. Nach und nach fällt dann ihre Kleidung zu Boden und mit den Kleidungsstücken auch das sich küssende Paar. Und weiß du auch, was dann passiert?“
 

Der Zwergenjunge schüttelte mit großen Augen seinen Kopf.
 

Dwalin hob triumphierend seine rechte Augenbraue als er weitersprach: „Der nackte Zwerg legt sich auf die ebenfalls nackte Zwergin und dringt in sie ein.“
 

Ári blinzelte seinen Onkel verwirrt an. Es schien gewaltig hinter seiner kleinen Stirn zu arbeiten.
 

„Aber womit und wo will der Zwerg denn in die Zwergin rein? Ich verstehe das nicht ganz, Onkel Dwalin.“
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen holte Dwalin tief Luft: „Weißt du, Kleiner, wenn die Frau dem Mann so sehr gefällt und sie ihn allein durch ihre Anwesenheit fast um den Verstand bringt, dann wird in seiner Hose etwas steif und was da so hart wird, das ist...“
 

Dwalin konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Lenja wurde das zweideutige Gespräch zwischen ihrem Onkel und ihrem kleinen Bruder zu bunt. Mit einem beherzten Sprung war sie auf Dwalin zu gekommen und hielt ihm den Mund fest mit beiden Händen zu. Mit einem Schalk in den Augen sah er sie von unten herauf an als sie oberhalb seines Kopfes in den Kissen kniete und ihn so zum Schweigen brachte.
 

Ári quietschte vor Überraschung und gleichzeitig vor Freude auf. Er schien auch sofort sein Interesse an der Zwergenproduktion verloren zu haben, denn im nächsten Augenblick schrie er mit voller Hingabe: „Kissenschlacht! Lenja, wir beide gegen Dwalin!“
 

Seine Schwester ließ den Mund ihres Onkels los und schnappte sich ein Kissen.
 

Sie wusste, dass zwei gegen einen unfair war. Doch nach der ganzen Stänkerei sollte Dwalin sein Fett wegbekommen. Ári schwang auch schon das erste Kissen und warf es in Richtung seines Onkels, der sich gerade noch im rechtzeitigen Moment aus der Wurfbahn retten konnte. Mit zwei Kissen in der Hand versuchte sich Dwalin gegen die Angriffe seiner Nichte und seines Neffen zu retten.

Die Schlacht hatte begonnen und forderte schon nach weniger Zeit ihren Tribut. Erst wenige, dann immer mehr Daunenfedern flogen durch die Luft des Raumes.
 

In dem Wirrwarr aus Federn und einer herrlichen Klopperei, staunte Balin nicht schlecht als er das Spektakel von der Tür aus beobachtete.

Als er soeben heimgekehrt war, wunderte er sich keines seiner Familienmitglieder in der warmen Stube zu erblicken. Stattdessen vernahm er belustigtes Stimmengewirr aus der Kammer seines jüngeren Bruders, welches von dumpfen Schlaggeräuschen gefolgt wurde. Mit einer Vorsicht und Neugier öffnete er die Kammertür einen Spalt. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass Dwalin nach seiner Geburtstagsfeier bei so guter Laune gewesen war. Lenja musste ihre Aufgabe ohne Mühen erledigt haben. Mit einem zufriedenen Lächeln schaute er noch ein bisschen dem Treiben der drei Krieger zu als ihm plötzlich ein Kissen an seinem linken Ohr vorbei rauschte. Ári hatte versucht seinen Onkel mit dem Kissen zu erwischen.
 

„Hey, das ist unfair! Du hast dich eindeutig bewegt, Onkel Balin“, schimpfte der kleine Krieger.
 

Erst jetzt hatten Lenja und Dwalin den Besuch in der Kammer realisiert. Dwalin ließ das Kissen sinken, welches er gerade seiner Nichte um ihre Ohren hauen wollte und zwinkerte seinem Neffen zu.
 

„Soll ich dir mal zeigen, wie das richtig geht, Ári?“, fragte der Zwerg und warf das Kissen ohne auf die Antwort zu warten in die Richtung, wo just Balin stand.
 

Balin reagierte noch schnell genug und verschwand rasch wieder durch die Tür, durch die er einst gekommen war. Gelächter durchfuhr die Stille hinter dem Holz. Der Zwerg schüttelte den Kopf und verdrehte kurz die Augen. Na ja, immerhin schien alles glatt gelaufen zu sein und die drei hatten ihren Spaß. Er wollte sie auch gar nicht weiter stören. Mit hastigen Schritten verließ er den Ort des wilden Geschehens und nahm am warmen Feuer Platz.
 

In der Kammer ging das bunte Treiben munter weiter. Nachdem Ári zu seinem Leidwesen feststellen musste, dass mit Lenja wohl keine Schlacht gegen ihren Onkel gewonnen werden konnte, schlug er Dwalin einen anderen Plan vor: Lenja sollte ausgekitzelt werden!
 

Nichts bereitete ihrem Onkel größeren Spaß als wenn seine Nichte lachend nach Luft japste und um Gnade flehen musste. Auch wenn ein Außenstehender dies wohl eher nicht nachvollziehen konnte, waren es für Dwalin Momente der Freude. Die Freude seine Nichte dabei zu beobachten, wie sie aus voller Kehle sich vor Lachen schütteln musste. Die Freude, die ihr schon während ihrer Kindheit so leidlich abhanden gekommen war. Die Freude, die ihr einst Ásgrímur genommen hatte.
 

Auch dieses Mal musste Lenja ihren Onkel und ihren Bruder um Gnade bitten. Erschöpft von der letzten Nacht, der Kissenschlacht und dem Gekitzel atmete die Frau umringt von Ári und Dwalin glücklich auf. Keiner sprach. Alle drei lagen ruhig nebeneinander und genossen die Anwesenheit der Anderen.
 

„Du, Dwalin“, durchbrach Ári die Stille.
 

„Was gibt’s, du kleines Ungeheuer?“, fragte der Angesprochene.
 

„Eins kann ich dir aber sagen: letzte Nacht hat Lenja all ihre Kleidung anbehalten und sie hat sich auch nicht an Thorins Lippen festgesaugt.“
 

Na wunderbar! Fing der Kleine also doch wieder mit dem Thema von vorhin an!
 

„Vielleicht sollten wir ihm ja mal sagen, dass Lenja unglaublich kitzelig ist. Dann klappt das bestimmt auch besser mit dem...wie war das noch gleich? Hartwerden und Einstöpseln?“, sprach Ári links neben Lenja.
 

Von rechts entkam Dwalin ein unterdrücktes Lachen.
 

„Halt jetzt einfach deine Klappe, Dwalin!“, brummte seine Nichte ihm entgegen.

Besuch

Lenja war wie so oft sehr früh auf den Beinen. Ihre Arbeit als Goldschmiedin bereitete ihr viel Vergnügen, doch war es ein zeitaufwändiges Unterfangen Broschen, Ketten, Armbänder, Ringe und all die anderen Kostbarkeiten zu fertigen. Je nachdem, ob es sich um einen speziellen Auftrag oder eine eigene, freie Anfertigung handelte, musste sie unterschiedlich schnell arbeiten. Dabei war aber immer ein gewisses Maß an Präzision einzuhalten. Dass sie ihre Arbeit zur vollsten Zufriedenheit ihrer Kunden erfüllen wollte, war eines ihrer persönlichen Ziele. Dabei unterschied Lenja nicht zwischen ihren Auftraggebern. Ob Zwerg oder Mensch, Frau oder Mann, Klein oder Groß: die junge Frau nahm sich zur Aufgabe die Wünsche aller so gut, wie es ihr nur möglich war, zu erfüllen.
 

So saß sie auch an diesem Vormittag an ihrer Werkbank in Hungstarris Schmiede. Lenja blieben noch wenige Tage bis sie den Brautschmuck einer Menschenfrau fertiggestellt haben musste. Es war ein enormer Aufwand, den sich ein wohlhabender Kaufmann aus Thal für seine Tochter leisten ließ. Eine sehr teure Aussteuer, wie Lenja dachte.

In der Hinsicht empfand sie nicht wie wohl die Mehrheit ihres Volkes.
 

Sicherlich, das nur zu oft erwähnte Klischee eines Zwerges, dem es nach Schätzen gelüstet, bestand ihrer Ansicht nach nicht ausschließlich aus Luftschlössern. Sie wusste, dass viele ihres Volkes nach Reichtum und schönen, wertvollen Dingen strebten. In der Regel verloren sie nur sehr selten an Wert und dienten somit als solide Grundlage für die eigene oder auch familiäre Zukunft. Kostbarkeiten zu horten, sie zu erweitern, ermöglichte vielen Zwergen ein halbwegs sicheres Leben. Doch nur allzu oft im Leben gab es auch negative Beispiele. Nicht wenige übertrieben diesen Drang und veränderten sich durch den Besitz dieser Güter. Sie hatten Einfluss auf ihr Gemüt, auf ihre Vorstellungen hinsichtlich ihres Lebens, ihrer Zukunft. Nicht wenige entwickelten eine krankhafte Einstellung zum eigentlichen Wert. Sie beschlossen den persönlichen Schatz für sich, und nur für sich allein, zu horten. Niemand durfte sich auch nur in dessen Nähe begeben. Selbst Familienmitglieder konnten in Verdacht geraten, sich am Eigentum vergreifen zu wollen. Sie konnten leicht unter das Banner des Feindes geraten, wenn die Gier überhandnahm. Die Lust an finanzieller Macht. Die Habgier an kostbaren und zugleich kostspieligen Dingen. Der Geiz, der einem den Geist vernebeln konnte. Das Gefühl, mehr Wert zu sein als andere. Das Recht, bestimmte Dinge für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Und alles zusammen besaß eine unbeschreibliche Gewalt den Charakter eines Zwerges zu zerstören ohne, dass der Betroffene bewusst davon Notiz nahm.
 

Lenja hatte schon den einen oder anderen Kunden erlebt, dem dieses Schicksal zuteil geworden war. Diejenigen, die es betraf, legten eine kaum auszuhaltende Unruhe und Gereiztheit an den Tag, mit der die Zwergin kaum umgehen vermochte.
 

Sie war in dieser Hinsicht anders. Natürlich waren nicht alle Zwerge ausschließlich von wertvollen Dingen in der negativen Variante geprägt. Doch sie selbst, als Goldschmiedin, die jeden Tag solche Schätze in den Händen hielt und sie erst zum Leben erweckte, konnte diesen ursprünglichen Rohstoffen nichts abgewinnen. Es stand außer Frage, dass sie sie schön fand, sie sie als Arbeitsgrundlage schätzte, wusste, wie sie sie zu kombinieren hatte, damit sie in Verbindung mit anderen Edelsteinen oder Metallen ein vorzügliches, harmonisches Gesamtbild abgaben. Doch am Ende des Tages waren und blieben sie für Lenja nur ihre Arbeit.
 

In ihrem Alltag konnte sie ihnen nicht viel abgewinnen. Wie andere Zwerginnen auch, trug sie Schmuck; eine Kette und mehrere Ohrringe. Doch hielt sie sie im Vergleich eher schlicht. Silber war ihre ausschließliche Grundlage. Sie wollte den Metallen und Edelsteinen auch keinen direkten Weg in ihre Seele bieten.
 

Manchmal, wenn sie Geschenke für Frauen fertigte, überlegte Lenja.

Würde ihr ein derartiges Präsent auch gefallen? Würde jemand so einen kostspieligen Aufwand auch für sie aufwenden, um ihr Herz zu erobern oder es für die bereits erlebte gemeinsame Zeit belohnen wollen? Sie konnte es nicht bis in das letzte, kleinste Detail verneinen. Was jedoch feststand, war, dass für die Zwergin andere Werte einen höheren Stellenwert einnahmen.
 

Es lag wohl an ihrer Vergangenheit. An den Dingen, die sie bereits in jungen Jahren erleiden musste. Den Vertrauensbruch einst zwischen ihr und ihrer Mutter. Dann die gräulichen Taten, die ihr Vater an ihr verübte. Sie wusste, dass Gold und Edelsteine solche Probleme und Abgründe nicht heilen konnten. Das Einzige, was die Seele und damit ihr eigenes Herz heilen könnte, war Liebe, Ehrlichkeit, Vertrauen, Treue und ein gewisses Quäntchen von einem Kämpferherz.
 

Nicht zuletzt durch ihr Wesen und ihren ungewöhnlichen Willen, ähnlich stark wie ein Mann zu sein, wusste Lenja, dass der Zwerg an den sie eines Tages ihr geschundenes Herz vergeben würde, bei ihr viel Zeit und Mühe brauchte, um sie vollständig zu erobern.

Wie hieß es immer so schön? Zwerge binden sich nur einmal im Leben. Und wenn sie es tun, dann mit völliger Hingabe. Man konnte schon fast von einer Selbstaufgabe sprechen.
 

Bei ihr würde es ein ausgiebiger Kampf werden, denn ihre Vergangenheit hatte ihr mehr Misstrauen mit auf den Weg gegeben als ihr lieb war.
 

Ein Knarren an der Eingangstür riss Lenja aus ihren Gedanken.
 

Die Zwergin hob ihren Blick von der fast abgeschlossenen Tätigkeit Edelsteine für ein Armband in ihre vorgesehenen Fassungen einzusetzen, um festzustellen, wer soeben ohne ein Wort in ihre Arbeitsstube eingetreten war. Mit einem raschen Griff nahm sie das Vergrößerungsglas aus ihrer linken Augenhöhle und staunte nicht schlecht als sie den Besucher erkannte.
 

Der dunkelhaarige Zwerg kam näher auf sie zu und begrüßte Lenja mit einem freundlichen Nicken. Jetzt erst war ihr schmerzlich bewusst geworden, dass sie sich nicht an die Vorschriften hielt.
 

„Es tut mir leid, mein Herr. Ich habe eben nicht klar gedacht. Ich entschuldige mich vielmals bei Euch für meinen Fehler“, sprach die junge Frau, erhob sich von ihrem Platz, ging etwas in die Knie und senkte ihren Blick.
 

„Lenja, was soll das? Du brauchst nicht vor mir zu knicksen. Und ich hatte gedacht, dass die steife Förmlichkeit mit der feuchtfröhlichen Nacht auch verschwunden sei“, bemerkte Thorin ruhig.
 

Die Zwergin hob ihren Kopf. Die Gedanken an die durchzechte Nacht ließ ihr eine Röte in ihre Wangen schießen. Sie schämte sich für ihr Verhalten. Hatte sie doch in jener Zeit die Kontrolle über sich und ihr Handeln verloren gehabt.
 

Als ob Thorin ihre Gedanken gelesen hatte, sprach er das aus wovor sie sich am meisten fürchtete.
 

„Ich hoffe, es geht dir wieder besser nachdem du von einer sehr heftigen Übelkeit heimgesucht wurdest?“
 

Sie räusperte sich: „Ich muss mich wirklich in aller Form bei dir für mein Verhalten entschuldigen. Mittlerweile frage ich mich, was an jenem Abend in mich gefahren ist. Ich meine, da sitze ich mit euch zusammen in der Schenke während mein kleiner Bruder allein daheim ist und auf mich wartet. Und dann habe ich auch nichts Besseres zu tun als mich zu betrinken. Du musst mich förmlich hinter dir her schleifen, weil Dwalin ebenfalls viel zu viel intus hatte. Dann springt Ári anscheinend munter durch die Stube und staunt nicht schlecht als ich mich vor eurer beider Augen mehrfach übergebe. Und zu guter Letzt halte ich dich mit meinem Fehlverhalten auch noch davon ab selbst heimzukehren...“
 

Thorin hatte sie während ihrer Worte mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitgefühl angeschaut. Er wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie schrecklich man sich fühlen konnte, wenn man zu tief in Bierkrüge geschaut hatte. Doch wollte er es ihr nicht sagen. Nicht jetzt in diesem Moment. Und die Anerkennung in seinem Blick galt Lenjas Aufrichtigkeit. Es war ihr durchaus anzurechnen, dass sie sich für ihr Verhalten erklären, ja sogar entschuldigen wollte. Doch sah der Zwerg keinesfalls eine alleinige Schuld oder dergleichen bei der jungen Frau. Es war wohl vielmehr eine Verkettung der Ereignisse, die sie in ihren Zustand befördert hatte. Ihre Verantwortung für den Bruder brachte sie sicherlich zu dieser Einschätzung.
 

Wie sehr sie sich um Ári sorgte, war dem Zwerg nicht verborgen geblieben. Nicht nur aus Dwalins oder Balins Erzählungen wusste er, wie sehr ihr Herz für den Kleinen schlug. Auch Ári hatte ihm die eine oder andere Anekdote über seine Schwester erzählt als er den Zwergenjungen hütete.
 

Thorin konnte nicht genau sagen, was es war. Aber eins war klar: in jener Nacht hatte ihn etwas tief in seiner Seele berührt. Er konnte es nicht lokalisieren, nicht ausfindig machen. Doch er kannte dieses Gefühl nicht. Es war so unbekannt, so unbeschreiblich. Nie zuvor hatte er dieses Kribbeln, dieses warme Ziehen in seiner Magengegend gespürt, wenn er nur an Lenja dachte. Und nun, da sie direkt vor ihm saß und ihn mit ihren grünen Augen erwartungsvoll anblickte, hatte er das Gefühl von diesem warmen Schauer übermannt zu werden. Sein Herz klopfte in einem Rhythmus, welcher ihn Angst und Faszination zugleich bescherte.
 

Er versuchte tiefer ein und aus zu atmen. Die Kontrolle über seinen Körper wiedergewinnen, das war sein Ziel. Er war sich nicht sicher, aber er ahnte, was mit ihm passiert war. Sollte es wirklich wahr sein? Spielte sein Verstand ihm nur einen Streich? Sollte es wahrhaftig bedeuten, dass er sich in Lenja verliebt hatte? Es erschien ihm so sicher und doch genauso unwirklich zugleich.
 

Er kannte sie nicht. Er hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Hatte sie nie gefragt, wie sie die Welt um sich herum betrachtete. Wie sie lebte, wie sie sich selbst und ihre Zukunft sah. Nichts davon wusste der Zwerg. Woher auch? Er hatte sie nie über ihre Wünsche, ihre Ängste oder über ihre Ziele und Hoffnungen sprechen gehört. Niemals hatte er sie lachen oder weinen gesehen. Sie erlebt, wenn die Gefühle mit ihr durchgegangen sind. Wenn sie am liebsten nicht nur mit Worten um sich geschlagen hätte. Er kannte Lenja nicht. Und doch hatte er das Gefühl sie schon ewig zu kennen.
 

Natürlich kannte er nur zu gut ihre schwere Vergangenheit. Er hatte sie vor sich stehen gesehen. Das Mädchen, was am Vorabend um ihr eigenes und um das Leben ihres Bruders gerannt war. Er hatte den unbändigen Willen, das Verlangen nach Gerechtigkeit und die Verletzlichkeit gespürt, die sie umgaben. Er hatte beobachtet, wie sie sich von anderen Kindern nichts gefallen ließ, wie sie Dwalin um ihren Finger wickelte. Er wusste nicht zuletzt dank Ári, dass sie eine starke Frau war. Das sollte nicht bedeuten, dass andere Zwerginnen weniger aushielten. Doch sie war in der Hinsicht wohl einzigartig. Er hatte noch nie in seinem Leben eine faszinierendere Frau getroffen. Sie war so natürlich, so normal. Und doch war sie anders.
 

Wie sie bereits schon sehr jung in ihrem Leben kämpfen musste, so wollte sie das auch mit Waffen können. Er kannte keine Frau, die freiwillig ein Schwert oder eine Axt in die Hand nahm. Es wollte ihm auch kein weibliches Wesen einfallen, das mehr als einen Krug Met in sich gegossen hatte. Und es sollte ihm auch keine Frau einfallen, die zugleich so stark und zerbrechlich auf ihn wirkte, wie Lenja.

Auch schien sie ihn nicht anders als alle anderen behandeln zu wollen. Er hatte die leidliche Erfahrung machen müssen, dass er durch seine Stellung, seine Herkunft von vielen besser behandelt wurde als Zwerge mit einer ursprünglichen Abstammung. Viele junge Zwerginnen versuchten bereits ihr Glück bei ihm. Sie wollten den Prinzen bezirzen, ihn umgarnen, um ihn dann an sich zu binden. Ihnen lag es nicht an ihm als Person. Die spätere Krone und mit ihr sein Reichtum schien ihre Herzen höher schlagen zu lassen.
 

Ein Räuspern holte Thorin zurück in die Gegenwart.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir, Thorin?“, fragte Lenja mit einem besorgten Blick auf den Zwergenprinz.
 

„Ja. Entschuldige mich bitte. Ich habe dir noch gar nicht erklärt, was mich zu dir geführt hat.“
 

„Ich hatte mir schon gedacht, dass es nicht nur meine Gesundheit war, die dich interessierte“, bemerkte die Zwergin und schenkte ihm ein Lächeln.
 

„Nicht nur“, antwortete Thorin. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Um ehrlich zu sein, ist es eher ein Auftrag. Eine Aufgabe, die dir liegen würde und ich glaube auch, dass sie in deinen Händen in den aufrichtigsten wäre.“
 

„Ich höre“, entgegnete Lenja und konnte kaum ihren Ohren trauen als sie den genauen Auftrag vernahm.

Der Auftrag

Lenja schüttelte seit mehreren Minuten mit kurzen Unterbrechungen ihren Kopf. Wie immer, wenn sie nachdenken musste, lief sie ihren imaginären Weg auf und ab.
 

Sie wusste nicht, was sie von Thorins Bitte halten sollte. Sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war, das zu tun, was er ihr offerierte. Sie konnte nicht sagen, warum er mit diesem Auftrag überhaupt an sie herangetreten war. Es gab einige fähige Goldschmiede in Thrórs Königreich und doch kam er zu ihr.
 

Woher wollte er wissen, dass sie mit dem Druck umgehen konnte? Er hatte doch keine ihrer Anfertigungen je zu Gesicht bekommen. Vom Hörensagen schien ihr der Entschluss des Prinzen doch zu riskant. Die Möglichkeit des Scheitern lang zu hoch. Der Fall würde tief sein, wenn sie den Auftrag nicht erfüllen konnte. Ihr Fall innerhalb der Gemeinschaft würde eine furchtbare Zukunft für sie bereithalten. Es würde sie ruinieren; für immer und ewig.
 

Nach minutenlangem Auf und Ab blieb Lenja stehen und sah zu Thorin hinüber, der wenig königlich auf ihren Holzschemel Platz genommen hatte. Er hatte jede ihrer Bewegungen schweigend verfolgt. Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Doch er verlangte viel von der Frau. Vielleicht zu viel.
 

„Auch auf die Gefahr hin zu scheitern, werde ich es mit deiner Unterstützung wagen. Noch ist nichts entschieden. Doch du musst verstehen, dass mir eine Entscheidung in diesem Umfang beim besten Willen nicht so frei von der Seele kommt. Das Risiko muss kalkuliert werden. Und wenn ich scheitere, dann scheitere ich in der Gemeinschaft für alle Ewigkeit“, sprach Lenja immer noch leicht gequält von ihren eigenen Gedanken.
 

„Wenn du scheiterst, dann scheitere auch ich. Das sollte dir bewusst sein. Wenn ich nicht überzeugt von deinen Fähigkeiten wäre, dann würde ich dich auch nicht für einen derartigen Auftrag gewinnen wollen. Ich habe vollstes Vertrauen zu dir, Lenja“, erwiderte Thorin und suchte ihren Blick.
 

Doch sie wich ihm aus: „Ich hoffe, du hast Recht. Wir werden es versuchen. Ich begleite dich, wir versuchen unser Glück und dann werden wir wissen, wie und ob es überhaupt weitergeht.“
 

**
 

Mit langsamen, aber ihr Ziel nicht verfehlenden Schritten trat Lenja an Thorins Seite in den Thronsaal ein.
 

Unweigerlich kamen Erinnerungen an jenen Tag aus ihrem Inneren an die Oberfläche, die sie nur zu oft versucht hatte aus ihrer Seele zu entfernen. Sie sah sich selbst an jenem Ort vor einem Jahrzehnt stehen. Wie sie ihren Vater an Balins und Dwalins Seite gegenüber getreten war. Wie sie sich seine Lügen anhören musste. Wie sie das Gefühl hatte selbst auf die Anklagebank geraten zu sein. Wie sie den Schmerz schilderte, den sie erleiden musste. Wie sie auf Gerechtigkeit hoffte. Wie Ásgrímur verurteilt wurde. Wie er sich aus seiner Verhaftung wand. Wie er versuchte sie mit in das Unglück zu reißen, das er selbst erschaffen hatte. Wie Dwalin sie beschützte. Wie sich die Männer bekämpften. Und wie Balin sie schließlich aus dem Saal zog, um dem Kind noch mehr Schmerz zu ersparen.

Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, Lenja hätte geglaubt, dass das die Vergangenheit einer anderen Person gewesen war. Zu glücklich kamen ihr die letzten Jahre bei ihren Onkeln vor. Doch leider gehörten diese leidlichen Szenen aus vergangener Zeit zu ihrem Leben und damit unweigerlich auch zu ihrer Zukunft.
 

Gemeinsam blieben die beiden Zwerge mit gebührend Abstand vor dem Thron des Zwergenkönigs stehen. Gleichzeitig würdigten sie ihn indem sich Thorin verbeugte und Lenja an seiner Rechten zu einem Knicks ansetzte.
 

Mit einem interessierten Blick begutachtete Thrór das ungleiche Paar.
 

Lenja wurde just in diesem Moment bewusst, dass ihr grüner Umhang über dem schlichten Kleid auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Es handelte sich nicht um die günstigste Kleidung, wenn man vor den König zu treten gedachte.
 

„So sprich, Thorin. Wie können Wir dir und deiner Begleitung weiterhelfen?“, fragte Thrór wissbegierig.
 

„Vor Euch steht Lenja, einst Ásgrímurs Tochter, nun Nichte des Balin. Ich habe sie zu Euch gebracht, da ich sie für eine sehr fähige Goldschmiedin halte. Im Vergleich zu Euren vertrauten Schmieden möchte ich trotz allem behaupten, dass sie sie in ihrer eigenen Zunft übertrifft. Gerade weil sie eine Frau ist, bin ich mir sicher, dass sie mit ihrer langen Erfahrung die richtige Person für Euren Auftrag ist. Für dieses Unterfangen sind die zarten Hände einer Frau besser als männliche Grobheit. Lenja genießt mein vollstes Vertrauen. Und nur deshalb erlaube ich mir mit der Bitte an Euch heran zu treten ihr den Auftrag zu übergeben, Eure Majestät“, sprach Thorin.
 

Thrór schienen die Worte seines Enkels nachdenklich zu stimmen.
 

Er überlegte im Stillen, ob diese Frau wirklich über eine solche Kenntnis verfügte, die für seinen Wunsch notwendig war. Eigentlich hatte er ihn einen seiner Hofschmiede übergeben wollen. An einen erfahrenen Zwerg, dem er sein Vertrauen bereits seit Jahrzehnten schenkte. Immer war er zu seiner vollsten Zufriedenheit mit den Meisterwerken Déndins gewesen. Nie wäre Thrór auch nur ansatzweise auf den Gedanken gekommen dem Zwerg seinen Auftrag zu entziehen.
 

Doch er kannte auch seinen Enkel und wusste, dass dieser ihn nicht enttäuschen würde und jede seiner Überlegungen gut durchdacht war.

Er selbst hatte seit Thorins Geburt dafür gesorgt, dass aus dem Jungen eines Tages auch ein würdiger Erbe Durins wurde. Und aufgrund dessen wollte er ihm und seiner jungen Begleiterin in der Hinsicht sein Vertrauen schenken. Vorläufig sollten sie es jedenfalls innehalten. Er wollte wissen, was sich hinter der Ankündigung seines Enkels verbarg. Und das konnte er nur durch einen gewitzten Zug herausfinden.
 

Mit einem Wink wurde ein Diener heran bestellt. Lenja konnte nicht hören, was Thrór im befahl. Doch der Zwerg in seinen Diensten schien genau verstanden zu haben und eilte davon.
 

Der König richtete sich auf seinem Thron auf bevor er seine Worte an Lenja richtete:
 

„Wie Uns scheint, habt Ihr, junges Fräulein, Unseren Enkel von Eurem Handwerk überzeugt. Es fällt Uns nicht sehr leicht, fremdem Personal diesen Auftrag zu übergeben. Ihr sollt die Möglichkeit haben Uns zu überzeugen, dass Ihr die richtige Person für Unser Anliegen seid. Wir werden Euch zeigen, um welche Kostbarkeit es sich handelt. Ihr werdet dann die Zeit bekommen einen Entwurf zu erarbeiten. Wir werden im Beisein unserer Vertrauten dann einen Entschluss fällen an welchen Schmied Wir den Auftrag vergeben. Jeder eingegangene Entwurf wird strengstens durch Unsere Hand geprüft, schönes Kind.

Sollte Euer Entwurf Unserer Vorstellung entsprechen, so werdet Ihr den Zuschlag erhalten und Uns mit Eurer Kunst erfreuen.

Und damit Ihr auch wisst, um welchen Schatz es sich handelt, lassen Wir Euch nun den Stein zeigen.“
 

Kaum hatte der Zwerg seine letzten Worte ausgesprochen, trat der Diener von eben vor die Zwergin. Er trug einen Gegenstand in Händen, der von einem sehr feinen Leinentuch bedeckt war.

Auf ein Nicken des Königs schlug er den Stoff zurück.
 

Lenja stockte der Atem. Sie hatte einen solchen Edelstein noch nie in ihrem Leben zuvor erblickt. Er war noch unbearbeitet, dementsprechend unförmig für ein Schmuckstück seiner Größe. Doch auch ohne diesen handwerklichen Aufwand konnte sie sich nicht daran erinnern jemals einen Rohstoff von einer vergleichbaren Schönheit erblickt zu haben.
 

Es war ein großer, massiver weißer Edelstein. Unter seiner feinen ursprünglichen Oberflächenstruktur verbarg sich ein milchiger Schein. Licht schien sich in ihm zu brechen, obwohl noch kein Schmied Hand an ihn gelegt hatte. Ein Schimmer schien aus seinem Inneren an die Oberfläche gelangen zu wollen, was sie nur von Mondsteinen her kannte. Doch eine solche Intensität hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen.
 

Lenja schluckte. Eine Faszination ging von diesem unbehandelten Edelstein aus, die im Begriff war sie gefangen zu nehmen. Und es machte der Zwergin Angst. Obwohl sie nichts vergleichbares, nichts Schöneres kannte, ahnte sie den Wert den der König seinem Juwel bereits in diesem unbehandelten Zustand entgegen brachte.
 

Thorin hatte ihr berichtet, wie man diesen Edelstein gefunden hatte. Tief in den Minen, die sich in den Gewölben des Erebors befanden, war er einem Arbeiter auf der Suche nach weiteren Goldadern förmlich in die Hände gefallen. Thrór hatte erfahrene Goldschmiede zu sich gerufen. Sie hatten Stunde um Stunde über seinen Ursprung gerätselt und diskutiert. Keiner konnte ihm auch nur eine plausible Herkunft zuordnen. Am Ende kamen sie überein, dass der Edelstein in den Tiefen des Einsamen Berges auf seinen wahren Besitzer seit Entstehung der Zeit warten musste.

Und da der König unter dem Berge nun einmal Thrór war, lag es nun in seiner Hand über den Stein und das dazugehörige Schicksal zu entscheiden.
 

Und wie das Schicksal dieses speziellen Stoffes lautete, wusste Lenja bereits. Er sollte behandelt werden und dann als Symbol der Macht und der Stärke des Geschlecht Durins über den König wachen. Thrór wollte ihn in seinen Thron einfassen lassen.

Für jeden sollte auf einen Blick sichtbar sein, wer der Herr in diesem Reich war und wem die Ländereien der Menschen ihren Reichtum und ihren gut funktionierenden Handel verdankten.

Dies waren keinesfalls die Worte Thorins oder seines Großvaters. Es waren Lenjas Schlussfolgerungen, die dieses Bild ihres Königs zeichneten. Und auch nur der kleinste Gedanke bereitete der Frau ein bisher kaum gekanntes Unbehagen.
 

Nachdem die Zwergin ausreichend Zeit hatte, den Edelstein zu begutachten, wurde das Leinentuch wieder vorsichtig geschlossen. Der Diener verschwand mit dem Bündel genauso eilig, wie er es einst für die Goldschmiedin geholt hatte.
 

Hinter Lenjas Stirn hatten die Gedanken von vor wenigen Stunden wieder ihren mühseligen Gang aufgenommen. Thorin hatte Recht behalten. Seine Schönheit konnte sie dem Stein nicht absprechen. Auch wusste sie, dass sie in der Lage war ihn vorsichtig zu bearbeiten, seine obere Schicht fein zu entfernen und ihm durch einen bestimmten Schliff einen noch ausdrucksstärkeren Anblick bescheren konnte. Doch war sie sich nicht sicher, ob es wirklich in ihrem Interesse war.

Sie konnte es sich nicht erklären. Es umgab den Stein etwas unbeschreiblich Unnatürliches. Sie wusste, dass dieser Eindruck falsch war. Schließlich hatte man ihn direkt neben einer Goldader ausfindig gemacht. Es war ein natürliches Produkt aus den Minen. Aber ihn umgab eine Aura, die sie nicht zuordnen vermochte.
 

Es war wie bei den Kostbarkeiten, die sie sonst auf Wunsch herstellte. Umso schöner und kostbarer etwas wurde, umso mehr bereitete es Lenja Kopfzerbrechen. Und beim Anblick dieses Steines lief ihr unwillkürlich ein Schauer den Rücken herunter.

Immer mehr zweifelte sie daran, ob es eine gute Idee gewesen war Thorins Bitte nachzukommen. Selbst wäre sie niemals auf die Idee gekommen dem König ihre Dienste anzubieten. Doch nun stand sie hier und auch wenn sie zusehends unsicherer wurde, lag es nun an ihr einen Entwurf für Thrór zu erarbeiten. Still verfluchte sie den Moment an dem sie Thorin versprach ihn hierher zu begleiten. Sie musste unbedingt mit ihm reden. Am besten sofort in diesem Moment. Doch darauf musste sie noch warten. Noch standen beide vor ihrem König.
 

„Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Eure Hoheit. Einen Entwurf werde ich Euren Sekretär zukommen lassen“, sprach Lenja als sie endlich ihre Worte wiedergefunden hatte. Sie musste so schnell es ging aus dem Thronsaal heraus.
 

„Wir freuen Uns auf Eure Ideen, wertes Kind“, entgegnete der König.
 

Mit diesen Worten konnte sie gehen. Ein rascher Blick in Thorins Richtung wies ihn an ihr zu folgen. Kaum waren die beiden außer Hörweite der königlichen Wachen konnte Lenja ihre Anspannung nicht mehr an sich halten.
 

Mit einem sie selbst überraschenden Ruck griff sie ihren Begleiter an den Kragen und drückte ihn in einen dunkleren Gang. Ihr Körper bebte. Sie wusste nicht, ob es vor Anspannung oder vor Wut war. Was ihr jedoch bewusst war, war, dass sie die Situation kaum als auszuhaltend empfand.
 

Mit einem Blick der Verwunderung in seinen Augen, ließ Lenja von Thorins Kragen ab. Sie senkte den Kopf und rutschte mit dem Rücken die steinerne Wand herunter. Mit den Händen im Schoß blieb sie knapp über dem Boden in der Hocke sitzen. Thorin tat es ihr gleich. Wieder auf einer Augenhöhe suchte sie den direkten Zugang zu seinen Augen.

Ahnte er überhaupt in welches Schlamassel er sie eben gestürzt hatte? Verzweifelt strich sie sich durch ihre Haare und seufzte schwer auf.
 

„Was habe ich getan, dass dich so sehr in Rage bringt?“, durchbrach Thorin die Stille.
 

Wenn sie das nur wirklich wüsste, durchfuhr es ihre Gedanken.
 

„Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Thorin. Der Stein, er ist wirklich wunderschön. Bereits jetzt in seinem natürlichen Zustand. Doch bereitet mir diese Schönheit auch große Zweifel. Vielleicht ist es auch Angst“, entgegnete Lenja und hielt selbst bei ihrem letzten Eingeständnis seinem Blick stand.
 

„Nichts lag mir ferner als dich in Bedrängnis zu bringen“, sprach der Zwerg und berührte vorsichtig ihre rechte Hand.
 

Überrascht von dieser Berührung zog Lenja ihre Hand abrupt zurück. Sie wusste, dass Thorin ihr nichts Böses wollte. Ihr war klar, dass er sie für die richtige, geeignete Person hielt. Doch wollte sie sich nicht dieser enormen Verantwortung aussetzen.

Leider war es zu spät. Sie musste dem König einen Entwurf vorlegen. Ob sie wollte oder nicht. Ihre berufliche Zukunft hing davon ab. Würde sie dem nicht nachkommen, konnte sich die Neuigkeit schneller im gesamten Erebor und seinen umliegenden Ländereien verbreiten als ihr lieb war. Sie würde als unfähig gelten. Als ängstlich und unschlüssig dem König nicht die eigenen Ideen unterbreitet zu haben.
 

In was hatte Thorin sie da nur hinein geritten?

Zweifel

Lenja hatte in den vergangenen Tagen kaum mehr ein Auge zu getan. Sie war mit ihren Nerven am Ende. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um das, was Thrór als Arkenstein bezeichnete. Ein Entwurf musste her, ob sie es wollte oder nicht. Und dieser unbändige Druck tat ihrer Seele nicht gut.
 

Sie hatte es zugleich bemerkt. Eine innere Unruhe suchte sie heim und brachte sie in immer kürzer werdenden Intervallen zu Gefühlsausbrüchen. Es tat ihr Leid. Kaum waren ihre Zweifel und Ängste in einem heftigen Wutausbruch über sie ergangen, fühlte sie sich schlecht. Es schmerzte sie zu sehen, wie sie Ári für die kleinsten Dinge anherrschte. Kleinigkeiten über die sie sich im Normalfall niemals in der Intensität aufgeregt hätte. Manchmal reichte schon seine bloße Anwesenheit, um das seelische Fass zum Überlauf zu bringen.
 

Auch Balin und Dwalin blieben von Lenjas Gefühlsschwankungen nicht unberührt. Sie fühlte sich in ihrer Situation allein gelassen. Die beiden brachten ihr kein Verständnis entgegen. Jedenfalls nicht ein solches, welches sie sich erhofft hatte. Sie konnten es nicht nachvollziehen, warum ihre Nichte so sehr zu leiden schien. Balin versuchte es immerhin noch mit einem halbherzigen Versuch an Diplomatie und Verständnis. Doch auch das konnte Lenja in ihrer Unruhe nicht besänftigen. Dwalin hingegen machte keinen Hehl daraus sein Unverständnis ihr so umfangreich und präzise wie möglich an den Kopf zu werfen. Er kannte seine Nichte nicht mehr. Er hatte das Gefühl, dass sie sich von Minute zu Minute veränderte. Und es bereitete ihm Bauchschmerzen. Er wusste nicht, was in sie gefahren war. Sie sprach noch nie sehr viel über das, was sie bewegte. Sehr selten gewährte sie ihm nur einen kurzen Blick in ihre Seele. So war Lenja. Das wusste er. Doch es machte ihn schier verrückt zu sehen, wie sehr sie unter der Situation litt in die sie sich selbst gebracht hatte.
 

Doch am meisten musste ein anderer Zwerg spüren, was es hieß Lenjas Seele in Aufruhr gebracht zu haben. Nach einem anfänglichen Versuch sich ihm gegenüber etwas mehr im Zaun zu halten, stürzte das Konstrukt dieser Fassade schneller ein als die Frau gedacht hatte. Ihre Zurückhaltung Thorin gegenüber verschwand somit schneller als ihr lieb war.

Für Lenja war er der Grund ihres Leidens. Er allein war es gewesen, der sie über den Arkenstein informierte. Er war es gewesen, der sie förmlich bekniete den Auftrag seiner Bearbeitung zu übernehmen. Er war es auch gewesen, der sie überhaupt erst in diese missliche Situation gebracht hatte. Und warum auch immer, schien er nun ohne Unterlass in ihrer direkten Nähe zu sein.
 

Lenja wusste nicht, warum er bald täglich mehrere Stunden bei ihr in der Arbeitsstube verbrachte. Es war ihr mittlerweile auch ziemlich egal. Vielleicht war es das schlechte Gewissen, was den Zwerg umtrieb. Vielleicht auch seine Neugier über den Fortbestand von ihrem zu erstellenden Entwurf. Und damit auch seine eigenen Blöße, die er sich vor dem König, seinem eigenen Großvater, nicht geben wollte? Sie konnte es sich nicht erklären. Sie hatte ihn auch noch nicht danach gefragt. Sie wusste auch nicht, ob sie wirklich danach strebte. Viel zu groß war ihre Angst, dass er doch nur bei ihr war, um sie zu überwachen.
 

Sie ließ wie nur allzu oft in der letzten Zeit ihren Kohlestift mit einem Krachen auf das Pergament fallen. Wieder hatte sie sich bei ihrem Entwurf verzeichnet. Sie schnaubte auf. Mit den Ellenbogen auf der Werkbank abgestützt, ließ sie ihren Kopf in ihre Hände gleiten. Ihr von Gedanken geplagtes Haupt schien heute noch schwerer zu sein als sie es gebrauchen konnte. Mit zwei Fingern massierte sie ihre Schläfen. Ein kurzer, heftiger Schmerz durchfuhr sie. Immerhin war sie noch am Leben. Sie fühlte sich so dumpf, so leer. Sie hatte das letzte Fünkchen Hoffnung verloren.

Dieser dumme Entwurf! Konnte sie nicht einfach einen schlechten einreichen und damit war dann das Problem gelöst? Eine leise innere Stimme schalt sie für diesen Gedanken. Auch schlecht durchdachte Ideen würden schneller die Runde machen als es ihr lieb war. Keiner würde sich von ihr, Lenja, die unkreativste Goldschmiedin in ganz Mittelerde, auch noch eine Brosche herstellen lassen, wenn sie dem König keinen vertretbaren Entwurf vor die Nase legte.
 

Mit einem Krachen ließ Lenja den Holzschemel auf dem sie eben noch gesessen hatte hinter sich fallen. Es war wieder so weit. Ihre Zweifel waren im Begriff sie zu überlaufen. Und das passende Opfer war bereits ausgemacht. Thorin hob mit wohl wissendem Blick seinen Kopf. Er schien bereit für das, was ihn sogleich wie bereits so oft heimsuchen würde.

Und wie auf das Stichwort wartend, begann die Frau ihren seelischen Druck freien Lauf zu lassen.
 

„Wie konnte ich nur auf dich hören? Warum habe ich nicht auf meine Vernunft geachtet und dieses Unterfangen von Anbeginn bereits nicht zugelassen? Aber nein! Ich bin viel zu gutmütig. Zu glaubwürdig. Kaum beredet man mich, folge ich auch schon wie ein Schoßhündchen aufs Wort. Wie konnte ich nur so dumm sein und dir helfen wollen? Du hast selbst gesagt, dass dieser Stein, dieser Arkenstein, dir bei jedem Blick Kummer bereitet. Und warum sollte dann ausgerechnet ich etwas anderes aus ihm herausholen? Du weißt genauso wie ich, dass an ihm etwas ist, was nicht glücklich machen kann! Es ist eine unbeschreibliche Kälte, die ihn umgibt. Wenn dein Großvater nicht aufpasst, wird er seine Seele schneller gefangen nehmen als euch allen lieb sein wird. Als uns, dem normalen Volk, lieb sein wird. Dieser Edelstein wird uns alle ins Verderben reißen! Und dabei interessiert es keinen, ob Déndin oder ich ihn bearbeite. Es wird an seinem Wesen nichts ändern. Thorin, die Situation ist ausweglos! Dieser mistige Stein hätte auf ewig in den Tiefen des Erebors schlummern sollen. Oder immerhin solange, bis es dich und mich nicht mehr auf dieser Welt geben wird. Hätten doch nur andere Generationen nach uns dieses Problem an ihrer Seite und nicht wir.“
 

Thorin konnte nicht anders. Ein Lächeln auf seinen Lippen wollte sich einfach nicht unterdrücken lassen. Lenja, diese kleine Schwarzseherin!
 

Er musste zugeben, dass sie in der Hinsicht Recht hatte, was seine eigenen Bedenken betraf. Auch er hatte nicht die besten Gefühle, wenn er den Blick seines Großvaters schon jetzt den Stein fixierend sah. Er wusste, dass dieser besondere Edelstein eine sehr spezielle Anziehungskraft auf Thrór besaß. Um ehrlich zu sein, besaß er das auf jeden, der ihn bereits zu Gesicht bekommen hatte. Und gerade weil den Arkenstein eine derartige Aura umgab, sah er in Lenjas unschuldigen, aufrichtigen Händen den richtigen Platz diese Magie ins Positive umzuleiten. Das dieses Unterfangen nicht einfach werden würde, war ihm bewusst. Doch dass die Zwergin ein solches Temperament an den Tag legen würde, überraschte Thorin dann doch.
 

Nicht, dass es ihm nicht gefiel, wenn Lenja im Begriff war sich um Kopf und Kragen in ihrer Rage zu reden. Doch er hatte noch nie in seinem Leben eine Frau derlei Ausdrückte über ihre zarten Lippen kommen gehört, die diese Zwergin ihm in ihrem Gefühlschaos an den Kopf warf. Andere hätten es wahrscheinlich als wenig weiblich empfunden, wenn sie eine Frau fluchen hörten oder sie ihnen vorwarf ein Idiot zu sein. Es waren unfreundliche Dinge, die diesen lieblichen Mund verließen. Und doch gaben sie Thorin einen Weg in Lenjas Inneres preis von dem die Frau gedacht hatte, ihn vor allen Augen gut verschlossen zu haben.
 

„Was grinst du so dümmlich? Machst du dich wieder über mich lustig? Wenn du das witzig findest, solltest du vielleicht deinem Großvater einen Entwurf kreieren!“, schimpfte Lenja als sie Thorins Mundwinkel zucken sah.
 

Ihre Lautstärke erschrak keinen mehr. Auch Hungstarri ließ sich seit Beginn ihrer rasenden Emotionen nur im höchsten Notfall noch in ihrer Arbeitsstube blicken. Mit einem mitleidigen Blick hatte er den Prinzen bedacht, der dieses Theater, warum auch immer, auszuhalten schien.
 

„Nein, gewiss nicht. Wie könnte ich mich nur über deine Gefühle belustigen. Es steht mir nicht zu über deine Zweifel und Ängste in der Hinsicht zu urteilen.“
 

„Und warum hast dann so einen Schalk in deinen Zügen? Erzähl das doch deinen Dienern, die nichts Besseres zu tun haben als dir jeden deiner noch so dümmlichen Wünsche innerhalb von Sekunden zu erfüllen! Ich glaube dir kein Wort! Warum bist du eigentlich immer hier bei mir? Willst du mich überwachen? Vertraust du dem Weib hier nicht?“, brachte Lenja ihm vor Wut entgegen und wandte ihm kurz darauf den Rücken zu.
 

Hatte Thorin das eben richtig gesehen? Lief ihr eine Träne über die rechte Wange?
 

Er erhob sich von seinem Platz und trat auf die Zwergin zu. Ihre Hände hatte sie fest um ihren Oberkörper geschlungen. Ihr Körper schien unter ihrer schweren Atmung zu beben.

Was war es, das sie so sehr quälte? Waren es wirklich nur Zweifel an dem möglichen Auftrag? Oder war es doch etwas ganz anderes, was ihre sonst so helle Seele immer dunkler zu färben schien?
 

Der Zwerg trat an Lenja heran. Wenige Zentimeter trennte sie von einander. Er war kaum größer als sie. Neben allen anderen ungewöhnlichen Dingen, die diese Zwergin umgaben, gehörte ihre Körpergröße zu jenen, die sie noch einzigartiger machten. Eine Hünin unter den Zwerginnen, durchfuhr es seine Gedanken.

Er blieb stehen und zögerte einen Moment. Sollte er es wirklich wagen? Sollte er das Risiko eingehen und von Lenja, der Frau, die ihn dermaßen faszinierte, abgewiesen werden?
 

Er atmete tief durch. Um das herauszufinden, musste er es einfach tun.

Mit einem Ruck nahm er Lenja in die Arme und zog sie fest an sich heran. Seinen Kopf bettete er zärtlich auf ihrer rechten Schulter.
 

„Sag mir jetzt bitte endlich, was dich wirklich umtreibt, Lenja“, flüsterte Thorin in ihr Ohr.
 

Die Frau wusste im ersten Augenblick nicht, wie ihr geschah. Was sollte das werden? Er sollte sie gefälligst wieder loslassen! Was erlaubte er sich überhaupt? Dachte er wirklich, er könne sich alles erlauben, sich alles nehmen, nur weil er zum Geschlecht Durins gehörte?

Sie lehnte sich gegen die Umklammerung. Sie versuchte sich aus ihr herauszuwinden. Mit voller Kraft wollte sie sich aus seinem Armen lösen. Doch so sehr sie sich wehrte, so sehr schien auch sein Griff an Enge zu zunehmen. Sie lag sprichwörtlich in seinen Armen und konnte sich keinen Millimeter rühren.
 

„Was soll das, Thorin? Was willst du von mir?“, zischte Lenja in die Richtung aus der sie zuvor seine tiefe Stimme vernommen hatte.
 

„Du sollst mir endlich sagen, was da noch in dir brodelt! Du kannst es nicht länger vor mir verheimlichen! Ich sehe doch, dass dich etwas umtreibt, was nichts mit dem Stein und mir zu tun hat! Lass deine Wut ruhig an mir aus. Aber mach endlich deinen Mund auf!“, raunte er ihr nun ebenfalls in Rage entgegen.
 

Diese Frau brachte ihn noch um den Verstand! Er fragte sich just in dem Moment, ob es überhaupt eine gute Entscheidung gewesen war so nah bei ihr zu sein. Nichts hatte er in der letzten Zeit mehr ersehnt als einen solchen Moment. Doch war ihm klar, dass seine Gefühle für sie ihn noch in Schwierigkeiten bringen konnten, wenn er sich nicht vorsah.
 

Lenja entspannte sich für einen kurzen Moment in seiner Berührung. Er hatte ja Recht. Es gab etwas, dass ihr noch mehr Angst bereitete als der Edelstein. Nur wusste sie nicht, wie sie darüber sprechen sollte. Sie vertraute dem Zwerg zwar, aber es war ein sehr intimes Eingeständnis, dass sie sich zu machen hatte.
 

Er spürte, wie die Anspannung in dem Körper vor ihm wieder ihren Weg zurückfand. Er merkte, wie ihr Atem wieder unruhiger wurde, wie selbst ihr Herz anfing in einem Takt zu schlagen, der auf Dauer nicht gesund sein konnte. Sie atmete tief durch bevor er zaghaft ihre Stimme vernahm.
 

„Ich habe Angst so zu werden, wie er.“
 

„Von wem sprichst du?“
 

„Von Ásgrímur“, entgegnete Lenja und darauf entfuhr ihren Lippen ein Wimmern.
 

Ohne es bewusst zu wollen, zog Thorin sie noch tiefer in die Umarmung.
 

„Ist es das? Du hast Angst, dass der Stein dich verändert? Zum Schlechten verändert?“
 

Sie nickte.
 

„Ich habe mich kaum mehr unter Kontrolle. Ich herrsche Ári für Kleinigkeiten an. Balin, Dwalin und selbst dich drangsaliere ich mit meinen unbeschreiblichen Launen. Ich habe Angst so zu werden, wie dieses Monster.“
 

Die Intensität war aus der Umarmung verschwunden. Es wurde ihm nun klar. Die Umstände hatten in Lenjas Seele eine Art Kettenreaktion verursacht, die einmal Fahrt aufgenommen, nicht mehr zu bremsen war.
 

„Habe keine Angst. Es lässt dich keiner allein. Und du wirst auch nicht zudem, was er einst war.“
 

„Doch... es liegt fest verankert in meinen Genen. Keiner kann mich retten“, wimmerte Lenja bis sie etwas stutzig wurde. „Was meinst du eigentlich mit 'war'?“
 

„Du weißt es nicht?“
 

„Was sollte ich wissen?“, kam es nun wieder eine Spur härter über ihre Lippen.
 

„Was mit ihm geschah. Damals als Dwalin ihm gegenüber stand?“
 

Mit einem Ruck hatte sie sich nun doch aus Thorins Umklammerung befreit. Sie drehte sich zu ihm um und schaute in seine blauen Augen, die mit einer Überraschung ihren grünen entgegen blickten.
 

„Was ist passiert? Wie ist es ausgegangen? Mir hat nie jemand etwas über seinen Verbleib berichtet.“
 

„Dann ist es vielleicht auch besser, wenn wir es dabei belassen“, Thorin wollte sich von Lenja abwenden.
 

Sie hielt ihm am Arm fest: „Nein! Du kannst mich jetzt nicht auch noch im Dunkeln tappen lassen! Sag es mir! Bitte!“
 

Der Zwerg atmete kurz durch bevor er zum Sprechen ansetzte: „Er hat es nicht lange überlebt. Noch bevor er über die Grenzen des Königreiches in die Verbannung gebracht werden konnte, hatte er sein Leben ausgehaucht.“
 

Lenja schluckte. Er war also tot. Und das durch Dwalins Hand. Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Er hatte sie beschützt. Das Monster, was einst ihr Vater gewesen war, musste die Konsequenzen für sein schändliches Leben tragen. Doch eine Frage brannte auf ihrer Seele. Vielleicht konnte Thorin sie ihr beantworten.
 

„Warum hat mir keiner etwas gesagt? Warum haben sie geschwiegen? Vielleicht hätte ich dann niemals damit angefangen Dwalin mit meinen Wünschen zu drangsalieren.“
 

„Ich kann es dir nicht sagen. Wahrscheinlich hatten sie Angst dich in deinem jungen Alter zu verlieren, wenn sie dir die Wahrheit sagten. Du hast das Kämpfen wirklich nur angefangen, um stark genug zu sein falls er dich wieder aufsuchen sollte?“
 

Sie nickte und blickte ihm direkt in sein Gesicht.
 

„Ich bin froh, dass du das gemacht hat. Sonst wärst du nicht die Person, die nun vor mir steht“, sprach der Zwerg und versiegelte ihr mit einem zarten Kuss die Lippen.
 

Lenja wusste nicht, wie ihr geschah. Mit vielem hätte sie gerechnet. Aber mit einem Kuss? Ihre Blicke hatten sich während Thorins Annäherungsmanöver nicht getrennt. Nur hatten ihre Augen mehrmals von einem Entsetzen zur puren Neugier gewechselt.
 

Ihre Lippen lösten sich so schnell wie sie sich einst fanden. Lenja blinzelte verwirrt auf. Thorin direkt vor ihr schien ebenfalls etwas verwirrt über sein eigenes Verhalten.
 

„Es tut mir Leid...ich wollte dich nicht bedrängen...du bist mir nur so wichtig Lenja, dass ich...“
 

Der Zwerg konnte nicht weitersprechen. Lenja hatte ihm im Eifer des Gefechts als Antwort ihre Lippen auf seinen Mund gedrückt. Vorsichtig berührten sie sich. Erst unsicher, dann immer fordernder. Es gefiel der jungen Frau als die zarten Berührungen leidenschaftlicher wurden. Sein Bart kitzelte an ihrem Kinn, sie zog seinen Geruch bei jedem Atemzug in sich ein.
 

Sie wusste es nicht. Sie konnte nicht sagen, ob es die pure Neugier war, die sie in diesem Kuss zu suchen schien. Ob es die Situation gewesen war, die sie so handeln ließ oder ob es nicht doch ein Verlangen aus ihrem tiefsten Innern war.
 

Was sie aber wusste, war, dass sie diesen, ihren ersten Kuss, immer gut in Erinnerung behalten würde.

Veränderungen

Immer noch war Lenja wie elektrisiert.
 

Der Kuss hatte seine Spuren auf ihrer Seele hinterlassen. Auch hatte sie das Gefühl den sanften Druck seiner Lippen auf den ihren zu fühlen, obwohl dieser Moment schon Stunden her gewesen war. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch weitere Zeit damit verbringen können Thorin zu küssen. Es war eine so neue Erfahrung, ein unbekanntes Gefühl.

In Gedanken vertieft, drückte sie unweigerlich ihre Lippen aufeinander. Sie hätte ihn stundenlang weiter geküsst. Bis sie Krämpfe in ihrer Gesichtsmuskulatur gespürt hätte; vielleicht sogar darüber hinaus.

Es war so aufregend, so aufwühlend. Einfach anders. Er war der erste Mann, den sie auf diese Weise geküsst hatte. Ihre Onkel und Ári zählten in der Hinsicht nicht. Sie liebte die drei zweifellos. Doch das von vorhin war so intim, so schön und zerbrechlich zugleich.
 

Tief in ihren Gedanken versunken, bemerkte die Zwergin gar nicht, dass Ári sie schon eine geraume Zeit beobachtete.
 

Er hatte seine Schwester genauestens in Augenschein genommen. Als sie aus der Schmiede kam, wirkte sie irgendwie anders. Verändert. Ruhiger als noch zuvor. Ausgeglichener als in den letzten Tagen. Sie wirkte glücklicher auf ihn. Doch schien sie weiterhin sehr nachdenklich. Seit bereits fünf Minuten hielt sie eine Mohrrübe in Händen, die eigentlich mit in den Eintopf sollte. Seine Schwester wirkte so verträumt, ein bisschen geistesabwesend.
 

Der Kleine wusste damit nichts anzufangen. Er freute sich, dass Lenja wieder glücklicher wirkte, doch wenn ihr dies auf den Verstand schlug, dann sollte sie ihn lieber wieder ankeifen. Immerhin wüsste er dann, dass seine Schwester noch klar denken konnte. Er war sich im Moment nicht sicher, ob sie dies noch tat. Weiterhin verträumt schälte sie nun ein paar Wurzeln.

Zugegeben Lenja bewegte sich noch. Er hatte schon überlegt, ob sie ein böser Zauber heimgesucht hatte. Doch aus Balins Erzählungen wusste er, dass Zwerge in der Hinsicht vor solchen magischen Dingen geschützt waren. Sie verrieten keinem Fremden ihren wahren Namen und konnten dadurch auch nicht verzaubert werden. Er konnte sich auch nicht erinnern in letzter Zeit einen Magier in der Nähe von Lenjas Arbeitsstätte gesehen zu haben. Eigentlich hatte er noch nie einen Zauberer gesehen.

Was auch immer in seine Schwester gefahren war, es bereitete ihm Sorgen.
 

So entschloss er sich seinen Onkel aufzusuchen.
 

Balin saß an seinem Schreibtisch über einem Berg von Pergament als der Zwergenjunge nach kurzem Anklopfen die Tür öffnete. Langsam kam der Kleine mit nachdenklicher Miene auf seinen Onkel zu. Balin ließ von seiner Arbeit ab und nickte Ári freundlich zu.
 

„Was gibt es denn, das dich so drein blicken lässt, mein Neffe?“, fragte der Ältere interessiert.
 

„Kann ich auf deinen Schoß, Onkel Balin?“, wollte der Junge wissen und tippelte unentschlossen von links nach rechts.
 

„Aber natürlich“, entgegnete er ihm und Ári kletterte auf seine Knie.
 

„Hat deine Schwester wieder so schlimm mit dir geschimpft, Kleiner? Ich habe nicht gehört, wie sie dich zusammen gestaucht hat“, bemerkte Balin mit ein wenig Belustigung in der Stimme.
 

Ári schüttelte den Kopf: „Nein, das hat sie nicht. Dafür ist sie so anders.“
 

„Wie meinst du das, anders? Anders als noch gestern, wo sie dir und Dwalin am liebsten die Eisenpfanne über den Kopf gezogen hätte, dieses Anders? Oder anders als sie sonst gewesen war bevor sie den Entwurf für den König anfertigen sollte?“
 

„Beides passt. Sie ist so verträumt. Eben hat sie ganze fünf Minuten eine geschälte Mohrrübe in den Händen gehalten und sich keinen Millimeter bewegt. Ich glaube, Lenja hat ihren Verstand verloren. Oder sie wurde verhext. Onkel Balin, du musst sie dir mal angucken, wie sie da in der Küche sitzt und arbeitet. Sie ist dabei so unglaublich ruhig und abwesend“, meinte Ári.
 

Balin spürte, dass es seinem Neffen sehr wichtig war.

Er selbst hatte Lenja zwar gehört als sie von ihrer Arbeit heimgekommen war. Doch da er keinen Laut von ihr, wie in den letzten Tagen vernahm, beließ er es dabei und blieb in seinem Arbeitszimmer. Er wollte ihr und ihrem Gemütszustand aus dem Weg gehen. Seine Taktik war eine andere als die seines jüngeren Bruders, der mit seiner Nichte die offene Konfrontation suchte. Dwalin und Lenja waren sich in der Hinsicht sehr ähnlich, was sehr oft zu Streitigkeiten führte. Und gerade jetzt seitdem sich etwas deutlich in ihrer Seele umtrieb, hätte er seinen Bruder am liebsten für sein Verhalten geohrfeigt. Er schien ja nur förmlich den Konflikt mit ihrer Nichte zu suchen. Und Lenja stieg jedes Mal auch gleich darauf mit ein. Nur Ári konnte nichts dafür, wenn mit seiner großen Schwester die Pferde durchgingen und sie ihn nur aufgrund seiner bloßen Anwesenheit ausschimpfte.
 

So entschloss er sich Ári zu folgen und sich einmal anzuschauen, was sein Neffe genau meinte. Gemeinsam schlichen die beiden über den Flur und blieben etwas versteckt in der Diele stehen, um das Szenario in der Küche unbemerkt zu beobachten.
 

Lenja saß immer noch an ihrem Schneidbrett. Immerhin waren jetzt alle Mohrrüben und Wurzeln für den Eintopf geschält. Doch schnitt sie sie in Zeitlupe.

Balin ahnte nun, was Ári ihm sagen wollte. Seine Nichte wirkte wirklich abwesend. Manchmal schloss sie kurze Zeit ihre Augen und atmete tief durch, um dann im nächsten Moment heftig auszuatmen. Etwas trieb sie um. Doch schien es nicht das altbekannte Thema Arkenstein zu sein. Es war etwas anderes. Der Zwerg konnte eine Mischung aus Zufriedenheit und Unsicherheit auf den Zügen der jungen Frau lesen. Es schien sie weniger zu belasten als die andere Sache, aber genauso sehr zu beschäftigen.

Wieder tief in Gedanken versunken, umspielte nun ein Lächeln ihre Lippen.
 

Ári zupfte ganz aufgeregt am Ärmel seines Onkels: „Siehst du nun, was ich meine? Das ist doch richtig gruselig, oder nicht?“
 

„Komisch ist es schon, aber gruselig... Du brauchst dir keine Gedanken machen, Ári. Auf mich wirkt Lenja jedenfalls nicht verzaubert oder verwunschen“, meinte Balin zum Jungen.
 

Doch er ahnte, was für eine Art von Zauber auf Lenja lag. Nur er konnte es seinem jungen Neffen nicht als Magie verkaufen. Der Kleine würde sofort versuchen seine Schwester davon zu befreien. Er würde es noch nicht verstehen können, welcher Zauber über sie gekommen war.
 

Gerade fragte er sich im Stillen, wann Lenja eigentlich erwachsen geworden war als er hinter sich die schweren Schritte seines Bruders vernahm. Ári reagierte als erstes indem er Dwalin entgegen huschte und mit einem Zeigefinger gefolgt von einem „Pssst“ zur Ruhe aufforderte. Der Zwerg staunte nicht schlecht als er seinen älteren Bruder im Halbdunkeln vor der offenen Küchentür entdeckte.
 

„Was macht ihr hier für einen Quatsch? Ich dachte schon, sie hätte euch beide in einem ihrer neusten Anfälle niedergestreckt. Stattdessen schleicht ihr im Dunkeln vor der Küche herum. Was soll das denn?“, flüsterte Dwalin aufgebracht.
 

„Guck doch“, forderte Ári ihn so leise wie möglich auf und deutete in Lenjas Richtung.
 

Der Zwerg staunte nicht schlecht. Um ehrlich zu sein, hatte er seine Nichte gar nicht in der Küche bemerkt gehabt. Sie war so leise. Sie rührte sich kaum. Und wenn sie den Holzlöffel nun über der Feuerstelle kreisen ließ, dann waren dies sehr langsame Bewegungen. Er musste kurz nachdenken. Spielte sein Verstand ihm just einen Streich? War das wirklich Lenja? Die Lenja, die ihm gestern Abend für einen lapidaren Kommentar fast die Eisenpfanne über den Schädel gezogen hätte? Die Lenja, die in den letzten Tagen immer auf Krawall aus war?
 

„Seit wann ist sie so?“, fragte Dwalin leise.
 

„Sie kam so aus der Schmiede“, meinte Ári als Entdecker von Lenjas Krankheit.
 

Dwalin fuhr sich durch seinen Bart und überlegte, was ihm der Anblick seiner Nichte sagen sollte. Auch in ihm drang sich ein Gedanke auf. Entsetzt fuhr es in ihm zusammen. Das könnte doch nicht möglich sein. Seine kleine Lenja! Nein, wann sollte sie denn erwachsen geworden sein? Sie hatte doch gestern erst das Laufen erlernt. Er war der stolzeste Onkel gewesen als sie ihm das erste Mal auf ihren kurzen Beinchen ohne Hilfe entgegen schwankte. Das konnte doch noch gar nicht so lange her sein! Und nun das hier? Er rang innerlich nach Fassung. Das konnte einfach nicht wahr sein.
 

Hilfesuchend wandte er einen Blick zu seinem Bruder. Auch in seinem Kopf schien der Anblick Lenjas eine Kette an Überlegungen zu Tage befördert zu haben.
 

Dwalin nahm allen Mut zusammen: „Spinne ich, oder hat es sie wirklich erwischt?“
 

Balin nickte: „Ich glaube schon. Was erwartest du denn? Sie ist zwar noch jung, aber wir müssen uns eingestehen, dass sie erwachsen ist. Wir beide haben gewusst, dass dieser Tag kommen wird.“
 

„Das kann doch nicht sein. Sie hat doch eben erst das Laufen erlernt und mit dem Sprechen angefangen! Was will sie sich denn jetzt damit? Sie ist doch noch viel zu jung, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen“, zischte der Jüngere.
 

„Du kannst sie nicht ewig beschützen, mein Bruder. Auch wenn es dir schwer fällt. Ihr Herz scheint bereits jemanden erwählt zu haben. Und du weißt ganz genau, dass es bei jedem unterschiedlich ist. Guck uns beide an. Wie lange warten wir schon, dass das mit uns passiert, was unserer Lenja widerfahren ist. Wir können glücklich sein, dass sie anscheinend ihr Glück bereits jetzt gefunden hat.“
 

„Ich breche dem Kerl alle Knochen! Sollte er sich auch nur einen Scherz mit ihr erlauben, dann...dann...“
 

„Was macht ihr drei hier überhaupt?“, Lenja stand in der offenen Tür.
 

Die Zwerge wirkten ertappt. Wieder einmal war es Ári, der seinen vorlauten Mund nicht halten konnte.
 

„Ich verstehe das auch nicht. Die beiden unterhalten sich schon die gesamte Zeit darüber, dass es dich erwischt hat. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Aber es muss unglaublich mächtig sein. Du bist irgendwie so anders...“
 

„Bitte? Was habt ihr für Probleme? Was soll mit mir sein?“, fragte Lenja gleichzeitig verwirrt und verärgert.
 

„Kind, du brauchst dich dafür nicht zu schämen. Das ist völlig normal. Nur bist du eben ein wenig früh dran, wenn man den Schnitt unter uns Zwergen vergleicht“, begann Balin.
 

Sie riss ihre Augen auf. „Was wollt ihr denn nun von mir?“
 

„Lenja, es ist doch offensichtlich. Du hast dich verliebt und ich freue mich für dich.“
 

„WAS!? WAS SOLL DAS? IHR SPINNT DOCH ALLE ZUSAMMEN!“, schrie die junge Frau und rannte schneller als die drei Zwerge gucken konnten an ihnen vorbei.
 

Mit einem lauten Knall fiel ihre Kammertür ins Schloss.
 

„Wunderbar, Balin. Ganz toll gemacht. Jetzt haben wir hier einen kleinen Hausdrachen sitzen...“, meinte Dwalin.
 

„Sei bloß still! Wer wollte eben dem Zwerg noch die Knochen brechen, der Lenja den Kopf verdreht hat?“
 

**
 

Lenja ließ sich auf ihr Bett fallen.
 

Sollte Balin Recht haben? War sie wirklich in Thorin verliebt?

Sie schloss ihre Augen. Kaum in ruhiger Dunkelheit angelangt, erschien sein Gesicht wieder vor ihrem geistigen Auge. Sie konnte seinen Geruch wieder in ihrer Nase spüren. Den Geschmack seiner Lippen schmecken. Seinen Bart auf ihrem Gesicht spüren. Seine Wärme an ihrem eigenen Körper fühlen.
 

Ein Schauer durchfuhr ihren Körper. Er war so unbekannt und doch so schön. Alle noch so kleinen Härchen stellten sich rasant auf als sie an Thorin dachte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie ertappte sich bei dem Gedanken herausfinden zu wollen, wie er wohl unter seinem Hemd aussehen musste. Röte schoss ihr sofort ins Gesicht. Sie schämte sich ein wenig für diese unkeuschen Gedanken. Bis zum heutigen Tag hatte sie immer gedacht, dass sie noch zu jung für die Liebe war. Selbst das Küssen schien für sie meilenweit entfernt zu sein. Und doch wurde alles innerhalb von wenigen Sekunden revidiert.
 

Wahrscheinlich hatte Balin Recht. Sie hatte sich in den dunkelhaarigen Zwerg Hals über Kopf verliebt. Doch empfand er genauso für sie? Er war ein Prinz. Ihm lagen die Frauen scharenweise zu Füßen. Er konnte sich nehmen, was und wann er es wollte. Kaum ein Mädchen hätte ihm wohl eine Abfuhr erteilt. War auch sie ihm verfallen ohne es zu wissen?
 

Ein Gefühl der Traurigkeit machte sich in ihrem Herzen breit. So war es wohl. Sie war ihm auf dem Leim gegangen. Sie war kein Deut besser als die anderen Frauen. Auch sie hatte ihn willig an sich heran gelassen. Der Kuss war wohl der Beginn eines perfiden Spiels. Er wollte sie nur in sein Bett zerren, um sie nachdem er bekommen hatte, was er wollte, wieder fallen zu lassen.
 

Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Warum sollte ausgerechnet Thorin sie lieben? Eine Frau, wie sie?

Klärungsbedarf

Überrumpelt von ihren eigenen Gefühlen war Lenja nur körperlich bei der Arbeit anwesend. In Gedanken war sie abwechselnd bei ihrem Entwurf für den Arkenstein und den Ereignissen des gestrigen Nachmittags.

Die Arbeit ging ihr dankenswerter Weise schneller und einfacher von der Hand als noch zuvor. Ihre trüben Gedanken über den Stein hatten sich zum größten Teil verflüchtigt. Zwar wollte sie ihm immer noch nicht einen solchen Wert wie Thrór zuordnen, doch sollte das auf Dauer nicht ihr Problem sein. Falls er sie für den Auftrag auswählen würde, dann sollte es eben so sein. Und was auch immer das Juwel für einen Einfluss auf ihn nehmen würde, das lag bereits jetzt schon nicht mehr in ihrer Hand. Hauptsache sie würde nach vollbrachter Tat endlich ihre Ruhe wiederfinden.

Die andere Sache in ihrem Kopf ließ Lenja leider weniger Ruhe.
 

Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, dass Thorin sie noch nicht in ihrer Arbeitsstube aufgesucht hatte. Um ehrlich zu sein, wusste sie auch nicht, wie sie ihm gegenüber treten sollte. Sie hatten sich zwar am Vortag geküsst, doch ihre trüben Gedanken über den Grund seines Verhaltens spielten eine gewaltige Rolle in ihrem Gefühlsstrudel. Mittlerweile war sich die Frau fast sicher, dass das tägliche Erscheinen des Prinzen nur ein einziges Ziel hatte. Und das hieß mit ihr zu spielen.

Was sollte Thorin sonst für einen Grund gehabt haben täglich bei ihr mehrere Stunden zu verbringen, wenn nicht das? Es gab eindeutig spannendere und unterhaltsamere Dinge als einer Goldschmiedin bei der Arbeit zu zuschauen und sich von ihren Wutausbrüchen heimsuchen zu lassen. Er nahm viel auf sich nur um sie eines baldigen Tages auf sein Lager zu ziehen, durchfuhr es immer wieder ihre stürmischen Gedanken. Und um sich ihr immer weiter zu nähern, hatte er versucht ihr den Auftrag beim König schmackhaft zu machen. Dummerweise war sie auch noch direkt in seine Falle getappt! Nun besaß er einen halbwegs plausiblen Grund ihre Nähe zu suchen. Er konnte immerhin den Entwurf für das Juwel vorschieben, um bei ihr zu sein.
 

Als Lenja wieder von ihren Skizzen aufsah, musste sie feststellen, dass ihre wilden Gedankengänge leider dafür gesorgt hatten, dass sie den Besucher in ihrer Arbeitsstube nicht eher wahrgenommen hatte. Mit ihren grünen Augen blickte sie direkt in die tief blauen ihres Gegenüber, der sich etwas über den Tisch gebeugt hatte und ihr mit einem Lächeln auf den Lippen entgegenblickte.
 

Sofort senkte sie wieder ihren Blick. Sie wollte ihn dafür strafen, dass er es immer noch fertigbrachte sie an diesem Ort zu bedrängen. Sie versuchte so vertieft wie nur möglich in ihre Arbeit auszusehen. Natürlich wusste er nun, dass sie ihn bemerkt hatte. Dennoch wollte sie immerhin so tun als ob sie sehr beschäftigt war, um ihn auch ohne Worte die kalte Schulter zu zeigen. Sie sah keinen Bedarf über das zu sprechen, was sie wirklich bewegte.
 

Lenja fühlte, das Thorin immer noch vor ihr stand. Bei Aule, war das ein hartnäckiger Zwerg! Es musste ihm ja unheimlich wichtig sein, sie in sein Bett zu zerren. Er machte keine Anstalten sich von ihr zu entfernen. Wahrscheinlich überlegte er, wie er dem Dummerchen nun entgegentreten sollte.
 

„Du sprichst also nicht mehr mit mir?“, fragte Thorin mit einem nie zuvor dagewesenen Zögern in der Stimme.
 

Keine Antwort von Lenja.
 

„Und warum, wenn ich fragen darf?“
 

Was wollte er überhaupt damit erreichen? Was sollte dieses Fragespiel? Er merkte doch, dass die Zwergin nicht im Geringsten daran dachte ihren Mund aufzumachen.
 

Lenja vernahm ein Seufzen. Da es nicht ihr eigenes gewesen war, musste es von Thorin stammen. Sollte er doch in seinem Elend schmoren bis in alle Ewigkeit. Sie bekam er jedenfalls nicht in seine Kammer. Da konnte er es noch so sehr versuchen wie er wollte. Sie wollte sich ihre Unschuld nicht von so einem dahergelaufenen Zwerg nehmen lassen.
 

Mit einem Ruck war das Pergament zwischen ihren Händen verschwunden. Lenja kniff unweigerlich ihre Augen zusammen. Dieser hohle Zwerg! Hatte er ihr doch nun wirklich den Entwurf aus den Händen entrissen nur damit sie ihn ansah. Er wollte sie dazu zwingen mit ihm zu sprechen. Ganz seiner eingebläuten königlichen Natur entsprechend wollte er ihr seine Macht demonstrieren. Aber sie wollte ihm diesen Gefallen nicht tun. Wenn er es für die richtige Idee hielt, dann sollte er doch tun, was er wollte. Sie würde ihn weiterhin mit ihrer kalten Schulter strafen.

Wer zu diesem niederträchtigen Spiel rief, sollte nun sehen, was er davon hatte.
 

Lenja stand von ihrem Stuhl auf, sah Thorin, der das Pergament in Händen hielt direkt in die Augen, hob ihre linke Augenbraue etwas an, ging in die rechte Ecke des Raumes nahm ihren grünen Umhang in die Hand, warf ihn sich über ihre Schultern, nahm einen Holzkorb und trat auf den verwirrt drein blickenden Zwerg zu.
 

„Wenn ich zurückkomme, dann bist du weg“, sprach sie bevor sie die Türe hinter sich schloss.
 

Kaum war die Zwergin vor die Schmiede getreten, stellte sie bereits fest, dass dieser Fluchtversuch keine gute Idee gewesen war. Es regnete vor den Toren des Erebors und das leider nicht zu knapp. Wenn sie sich nun auch noch unterkühlte, dann hatte Thorin das ebenfalls zu verantworten. Aber immerhin war sie ihm nicht im Liebesrausch um den Hals gefallen. Diese Blöße hatte sie sich nicht gegeben. Andere Frauen wären da wahrscheinlich nicht sehr zimperlich gewesen.
 

Also gut, dann auf hinunter nach Thal. Sie musste sowieso noch ein paar Besorgungen für den nächsten Tag machen. Warum also nicht gleich? Sollte der hochwohlgeborene Prinz doch machen was er wollte. Sie hatte keine Lust mit ihm über ihre echten Gefühle zu sprechen, wenn dem Herrn nur nach spielen mit ihr war.
 

Auf dem Marktplatz war durch den Regen weniger Treiben als sonst. Bude um Bude reihte sich aneinander. Die verschiedenfarbigen Baldachine gaben sonst immer ein fröhliches Farbenspiel ab. Heute wirkten sie wenig freundlich. Passend zu Lenjas Laune wirkte der Platz rau, traurig und verlassen. Vielleicht würden die Gemüsehändler ihr bei dem schlechten Umsatz wenigstens einen guten Preis machen. Immerhin war sie eine willige Kundin, die ihre Vorräte aufzufüllen hatte und momentan nicht sofort in ihre Arbeitsstube zurückkonnte. Beim Gedanken an den Grund verzog sie unweigerlich das Gesicht.
 

Von einer Bäuerin hatte sie soeben Kartoffeln und einen Kohl erstanden. Die Menschenfrau war sichtlich erleichtert, dass sie trotz des schlechten Wetters immerhin noch ein paar ihrer Güter verkaufen konnte.

Als die Zwergin sich zum Gehen umdrehte, hätte sie fast vor Schreck ihren Korb fallen gelassen. Sie verdrehte die Augen. Warum war er ihr nur gefolgt?
 

„Ein vortreffliche Wahl, wenn du mich fragst“, begann Thorin sein einseitiges Gespräch.
 

„Dich fragt aber keiner“, durchbrach Lenja für einen kurzen Moment ihr Schweigen bevor sie ihre kalte Miene von vorhin wieder aufsetzte.
 

„Ob du es glaubst oder nicht, ich kann genauso hartnäckig sein, wie du es bist. Ich lasse dich solange nicht in Ruhe bis du mir nicht gesagt hast, was wieder einmal in deinem hübschen Kopf vorgeht.“
 

Allein für das „hübsch“ hätte Lenja ihm eine Ohrfeige verpassen können. Sie atmete tief ein und aus bevor sie unbeirrt den Weg zurück zur Schmiede einschlug.
 

Der Regen hatte zugenommen. Ihre Kleider waren bereits auf halber Strecke durchtränkt. Und immer noch nicht hatte sie Thorin abschütteln können. Es wurde langsam aber sich zur Zerreißprobe. Seine und ihre Sturheit waren einander ebenbürtig. Seine Anwesenheit und dieses abscheuliche Nass von oben sorgten für eine ungemütliche Gesamtmischung in ihrem Inneren. Er regte sie auf, der Regen regte sie auf, alles regte sie auf! Ihre Schmerzgrenze war eindeutig überschritten worden. Mit einem Ruck blieb Lenja stehen und sah in das triumphierende Gesicht des Prinzen.
 

„Verschwinde und lass mich endlich in Ruhe! Spiel deine Spiele mit Zwerginnen, die es kaum erwarten können, dass sie ihre Schenkel für dich öffnen können! Damit du eins weißt: meine bleiben bis in alle Ewigkeit für dich geschlossen! Such dir eine andere Dumme!“, schimpfte die Zwergin und stapfte kurz darauf davon.
 

Es regnete nun wirklich in Strömen. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich irgendwo unterstellen. Sie besaß zwar keine allzu große Wasserphobie wie Dwalin, doch hasste sie es von Regen durchnässt zu werden. Mittlerweile war sie bald nass bis auf die Haut. Eigentlich sollte es dann auch keinen Unterschied mehr machen auf direktem Weg ins Warme zu gelangen, oder nicht? Oder sollte sie nicht vielleicht doch die direkte Heimreise antreten? Immerhin hätte sie dort Wäsche zum Wechseln und würde einer Verkühlung entgegenwirken.
 

Lenja kam an einem Waldstück vorbei; ein ihr allzu bekanntes Stücken vor den Toren des Erebors. Sie musste unwillkürlich an die schreckliche Nacht denken als sie dort mit Ári auf dem Arm Schutz vor ihrem Vater suchte. Tauriel. Was wohl aus dem Elbenmädchen geworden war? Hatte es sie überhaupt in Realität gegeben oder hatte ihr geschundenes Herz diese Person nur erfunden, um das damalige nächtliche Martyrium zu überstehen?
 

Ein kräftiger Griff packte die junge Frau an ihrem linken Handgelenk und zog sie unter den Schutz der Laubbäume. Der Korb fiel ihr aus der Hand als sie sich kaum später mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gepresst wiederfand. Thorin stand vor ihr. Seine blauen Augen hatten einen dunkleren Ton angenommen. Sie funkelten sie scharf an. Sein Körper wenige Zentimeter von ihrem entfernt, bebte vor Anspannung. Sein Griff schmerzte. Sie wusste nicht, was er mit ihr vorhatte. Er schien wenig darüber erfreut zu sein über das, was sie ihm noch eben an den Kopf geworfen hatte. Seine Atmung beschleunigte sich. Er schien selbst für einen kurzen Augenblick zu zögern. Doch dann drückte er Lenja stärker gegen die Borke ohne, das diese sich aus seinem Griff winden konnte. Blitzschnell drückte er ihr seinen Mund auf ihre Lippen. Unweigerlich drückte die Frau ihre Oberschenkel enger zusammen. Sie hatte Angst, dass er ihr nach dieser ersten Ankündigung auch noch mehr antun würde. Was hatte er nur vor? War das die Retourkutsche für ihre lautstarke Entscheidung ihn nicht an sich heran zu lassen?
 

Fordernd suchte seine Zunge Einlass in Lenjas Mund. So gut sie konnte, versuchte sie sich dagegen zu wehren und ihren Kopf weg zu drehen. Aufgrund des geringen Erfolges ließ Thorin von ihrem Mund ab und widmete sich nun einer delikateren Region: Lenjas Ohrmuscheln. Ihr Herz rutschte ihr fast in die Hose als ihr Gewahr wurde, wohin sich sein Mund bewegte. Sein warmer Atem ließ sie unweigerlich erschaudern und als sich seine Lippen dem höchsten Punkt näherten, wäre sie vor Entzücken fast in die Knie gegangen. Ohne sich selbst unter Kontrolle halten zu können, entfuhr der Zwergin ein Seufzen. Kaum ihrem Mund entkommen, erschrak sie selbst über ihre Reaktion. Ihr Körper verlangte automatisch mehr von dem, was Thorin dort mit ihr veranstaltete, doch ihr Verstand schien sich aus der Reserve nun zu Wort melden zu wollen.

Der Zwerg küsste ihren Hals abwärts und bewegte sich gefährlich auf ihren kaum vorhandenen Ausschnitt zu. Doch mit einem unvorhersehbaren Ruck von einer auf die andere Sekunde ging er mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Lenjas Verstand hatte dafür gesorgt, dass sie dem Prinzen ihr Knie in den Unterleib gerammt hatte.
 

Thorin krümmte sich vor Schmerz auf dem weichen Waldboden. Mit einem verzweifelten Blick traf er den nun wieder zur Entschlossenheit zurückgekehrten Lenjas.
 

„Falls du es wirklich ernst mit mir meinen solltest und mich nicht nur an einem Ort wie diesem hier ins Gebüsch reißt, um dich an mir zu vergehen, dann nimm all deinen Mut zusammen und bitte noch am heutigen Abend Balin und Dwalin um die Erlaubnis mir den Hof zu machen“, sprach die Zwergin, atmete kurz durch und ging dann schnellen Schrittes mit ihrem Korb durch den strömenden Regen heim.
 

Sie hätte nach dieser Situation keine ruhige Minute bei der Arbeit gehabt. Sie konnte auch daheim an ihrem Entwurf weiterarbeiten. Und bei Einem war sie sich mehr als sicher: Thorin würde nicht kommen.

Vier Zwerge ist genau einer zu viel

„Ári! Sitz jetzt endlich still und iss deine Suppe auf!“, schimpfte Lenja und drückte bereits zum vierten Mal ihren Bruder wieder runter auf seinen Platz.
 

Der Kleine legte am heutigen Tag eine ungeahnte Energie an den Tag mit der kaum jemand im Raum umgehen konnte. Dwalin hatte vor dem Essen noch versucht den Jungen mit einem herzlichen Gerangel in der Stube klein zu kriegen, doch auch das hatte nicht seinen gewünschten Effekt gehabt. Eher das Gegenteil war das Resultat.

Während des gesamten Essens rutschte Ári ständig unruhig auf seinem Stuhl hin und her, spielte mit dem Brot, drehte kleine Kügelchen aus den Scheiben, die er dann entweder Lenja oder seinem Onkel Dwalin an den Kopf oder wahlweise in deren Suppenteller warf. Bei Balin hatte er sich nicht getraut. Im Gegensatz zu den anderen beiden hatte er vor diesem Zwerg noch den meisten Respekt.
 

Der Kleine schnaufte verächtlich auf und starrte böse auf seinen Suppenteller. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre die Brühe unter höllischen Schmerzen ihrem Ende entgegen getreten.
 

„Immerhin bist du jetzt wieder so fies, wie sonst auch. Ich glaube, dass der Zauber von gestern ein ganz schlechter war. So als ob der, der dich verzaubern wollte, das erste Mal überhaupt den Zauber angewandt hat“, sprach Lenjas Bruder eher zur Suppe, obwohl er seine Schwester meinte.
 

Die Zwergin verdrehte ihre Augen und löffelte den Rest Suppe von ihrem Teller als es an der Tür klopfte. Ohne dass sie hätte reagieren können, war Ári von seinem Platz aufgesprungen und aus der Küche geeilt. Ein willkommener Grund für den Kleinen den verhassten Suppenteller zu verlassen und neugierig an die Tür zu laufen.
 

In Lenjas Kopf begannen die Gedanken zu rasen. Wer hatte da soeben geklopft? War er es? Oder doch nur der Zufall und jemand anders wollte zu ihren Onkeln?

Auch Balin sah seinen Bruder verdutzt über möglichen Besuch zu dieser Uhrzeit an. „Erwartet jemand von euch noch Besuch?“, fragte er seinen Bruder und seine Nichte. Allgemeines Kopfschütteln bekam er als Antwort.
 

Vom Flur her hörten sie noch einen aufgeregteren Ári als zuvor. Er schien nicht allein zu sein und den unangekündigten Besuch mit in die Küche zu bringen, denn er plapperte fröhlich über seine strenge Schwester und die durchaus bestehende Möglichkeit einen Teller voll Suppe vom „Hausdrachen“ bekommen zu können. Ohne die Möglichkeit zu besitzen länger über den Gast überlegen zu können, wurde die Küchentür bereits geöffnet.
 

Lenjas Herz setzte einen Moment lang aus. Neben ihrem kleinen Bruder erschien Thorin in der Küche. Balin und Dwalin sahen ihn überrascht und besorgt an.
 

„Ist etwas passiert? Stimmt etwas nicht?“, fragte Balin als Erster.
 

„Wie man es nimmt“, antwortete der Gast und sah zu Lenja hinüber, die verzweifelt versuchte nicht rot zu werden.
 

Balin war dem Blick von Thorin gefolgt und hatte aus der Reaktion seiner Nichte eine erste Erkenntnis gewonnen. Es lag etwas in der Luft, was ihn sofort an den gestrigen Gemütszustand der jungen Frau erinnerte. Wenn dem wirklich so war, dann würde das hier nicht der beste Ort für Kinderohren sein.
 

„Ári, tust du mir einen Gefallen und gehst in deine Kammer ein bisschen spielen?“, bat Balin seinen Neffen.
 

Der Kleine stampfte auf dem Boden auf: „Das ist unfair! Immer wenn es spannend wird, muss ich gehen! Du bist gemein, Onkel Balin!“
 

„Von mir aus kannst du dann aber auch so lange aufbleiben, wie du willst“, sprach der Zwerg weiter und erreichte damit sein Ziel, denn sein Neffe verließ ohne ein weiteres Wort des Aufbegehrens den Raum.
 

„So, nun bin ich aber höchst gespannt über den Grund deines Besuchs, Thorin. Setz dich ruhig zu uns.“
 

Dwalin nickte zustimmend: „Ich bin gespannt.“
 

Und ich erst, kam Lenja der Gedanke.
 

Der schwarzhaarige Zwerg setzte sich mit Bedacht zu den drei Zwergen mit an den Tisch. Er holte kurz Luft bevor er zu sprechen begann: „Ich bin hier um euch um etwas sehr wichtiges zu bitten. Um etwas sehr kostbares, dass mir mehr wert ist als die Schätze, die in den Schatzkammern des Erebors schlummern.“
 

Lenja schluckte schwer. Meinte er es wirklich so ernst? Natürlich, sonst wäre er wohl nicht hierhergekommen. Oder wie sollte sie seinen Besuch nun deuten?
 

„Jetzt bin ich aber ganz Ohr“, sagte Dwalin interessiert und setzte sich aufrechter auf seinem Stuhl auf.
 

„Ich bin hier um von euch beiden das Recht zu erwerben eurer Nichte den Hof zu machen.“
 

Thorins sanfter Blick berührte Lenjas. Er hatte es wirklich ausgesprochen. Er war das Risiko eingegangen ihren Onkeln gegenüber zu treten. Er wollte sie offiziell zu seiner Gefährtin machen. Er wollte ihr sich nun mit dem nötigen Respekt und der Erlaubnis ihrer Familie nähern dürfen. Der Moment hatte etwas Unbeschreibliches, etwas Unvergängliches.
 

Dwalin begann zu blinzeln. Er wusste nicht, ob er sich da eben verhört hatte. Spielte sein Verstand ihm einen Streich? Wollte Thorin Lenja wirklich den Hof machen? Seiner Lenja? Wie kam er überhaupt auf die Idee?

Wie Schuppen fiel es ihm nun vor Augen: er musste der Grund sein, warum Lenja gestern so geistesabwesend gewesen war! Aber wie konnten sie sich so schnell so nah gekommen sein? Nein! Hatte er selbst das Schlamassel zu verantworten? Er, der an seinem eigenen Geburtstag seine Nichte zum Trinken animiert hatte und sie dann mit Thorin heim schickte? Durinsbart, das konnte doch nicht wahr sein!
 

„Habe ich mich da eben verhört oder willst du meine Nichte wirklich zu deinem Weib machen?“, fragte Dwalin mit einer für Lenja unbekannten Schärfe in der Stimme.
 

„Du hast dich nicht verhört. Ich liebe Lenja so sehr, dass es schmerzt“, sprach Thorin ruhig.
 

„Was da schmerzt, kann ich mir vorstellen. Und das ist eindeutig weiter unten und bringt dich dazu nun solch einen Stuss hier zu reden“, Dwalin hatte sich kaum noch unter Kontrolle.
 

„Für wen hältst du mich? Glaubst du, ich will deine Nichte nur auf mein Lager zerren und sie dann wieder fallen lassen, kaum, dass ich das bekommen habe wonach ich mich deiner Meinung nach sehne?“, Thorins Stimme hatte ebenfalls an Anspannung zugenommen.
 

„Was willst du mit ihr denn sonst tun? Sie ist viel zu jung für dich! Kaum aus dem Gröbsten raus und du willst sie zu deinem Weib machen! Weiß dein Vater oder der König überhaupt schon davon, dass du Lenja ehelichen willst? Ist sie ihnen überhaupt gut genug? Eine einfache Goldschmiedin, die nur Unfug im Kopf hat und mehr abkann als so mancher Zwerg?“, Dwalin war nun von seinem Stuhl aufgesprungen, der mit einem Krachen nach hinten über gekippt war.
 

Lenja und Balin blickten mit gemischten Gefühlen zwischen den beiden dunkelhaarigen Zwergen hin und her. Es wunderte die Frau, dass Balin noch nicht beschwichtigend zwischen die beiden Streithammel gegangen war.
 

Auch Thorin ließ es sich nicht nehmen und war ebenfalls von seinem Platz aufgestanden. Nur mit dem Holztisch als Trennung funkelten sich die Zwerge an.
 

„Du hast doch keine Ahnung! Weißt du überhaupt, was du mir da vorwirfst? Man wird meine Entscheidung für Lenja akzeptieren! Falls es dir nicht bekannt sein sollte, fragt die Liebe nicht bevor sie dich erwischt! Aber ich bin froh, dass ich mein Herz an deine Nichte verloren habe und an keine andere! Sie ist das schönste, stärkste und zugleich zerbrechlichste Wesen, was mir je zu Augen gekommen ist! Und wenn du nicht erkennst, was für ein Schmuckstück Lenja hier direkt vor deiner Nase ist, dann kann ich dir auch nicht helfen! Teilweise kann ich verstehen, dass du meine wahren Intentionen prüfen musst und willst. Aber ich weiß nicht, warum du dich so sehr dagegen stellst, dass es auch einen anderen Mann gibt, der Lenja liebt außer dir selbst! Und du musst dir auch eingestehen, dass sie einen anderen Mann lieben wird außer dir. Du bist ihr ein vorbildlicher Onkel. Aber du bist nicht ihr Partner.

Es ist die Wahrheit, die mein Herz dir hier zu Füßen legt. Also lass mich bitte deiner Nichte den Hof machen. Du wirst dein Leben lang keinen anderen Zwerg finden, der es so ernst mit ihr meint, der lieber sterben würde bevor er ihr Leid zufügt und alles Mögliche und Unmögliche auf dieser Welt in Bewegung setzt, nur um deine Nichte glücklich zu sehen!“
 

Lenja schloss die Augen. Sie hatte Thorin so Unrecht getan. Ihre Worte taten ihr Leid. Sie schämte sich dafür an seiner Liebe zu ihr gezweifelt zu haben. Aber woher hätte sie es auch wissen sollen? Sie hatte doch keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Und sein Verlangen nach ihr hatte ihr eher Angst gemacht. Sie hatte es fehlinterpretiert. Seine Küsse, seine Berührungen. All diese Zärtlichkeiten und auch leidenschaftlichen Gefühlsausbrüche gehörten zu seiner Liebe. Sie fühlte sich etwas unsicher. Auf der einen Seite gefiel es ihr bei ihm solche Gefühle auszulösen. Auf der anderen Seite ging es ihr nicht viel anders. Sie liebte ihn. Das war ihr bereits bewusst geworden. Sie sehnte sich nach ihm. Auch wenn sie niemals mit einer solchen Heftigkeit der Gefühle gerechnet hätte.
 

Dwalin sah Thorin etwas ruhiger an. Er schien zu überlegen. Konnte er seinen Worten vertrauen? Wollte er ihm überhaupt vertrauen? Oder wollte er nicht doch vielmehr Lenja vor allen Männer schützen? Hatte sein Gegenüber Recht? Wollte er seine Nichte nur für sich behalten? Eine Entscheidung musste her. Und die durfte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
 

„Wenn Lenja genauso für dich empfindet, dann sollt ihr beide meinen Segen haben“, versuchte der Zwerg sein Gemüt wieder zu beruhigen.
 

Sein Blick wanderte zu seiner Nichte. War das eine Aufforderung an sie? Sollte sie nun dazu Stellung beziehen und über ihre Gefühle Thorin gegenüber sprechen?
 

Lenja nickte und sah Dwalin so gut es ging in seine Augen: „Ich kann mir keinen anderen Mann an meiner Seite vorstellen.“
 

„Dann soll es so sein“, er durchfuhr mit einer Hand seinen Bart. „Aber wenn du mir Lenja auch nur ansatzweise unglücklich machst, dann wird dir nichts auf dieser Welt deinen Hintern retten können. Mir ist egal von welchem Blute du bist, wenn du ihr wehtust. Ich werde dir jeden deiner Knochen brechen, so wahr, wie die Kurze hier meine Nichte ist.“
 

Mit einem finsteren Blick bedachte er Thorin bevor er die Küche verließ. Ári schien vom Lärm im Raum aus seiner Kammer gekommen zu sein und fragte seinen Onkel, wohin er denn nun gehen wollte.
 

„Holzhacken“ vernahmen auch die drei erwachsenen Zwerge, die sich noch in der Küche befanden.

Gefühlsleben

Seine Hand in ihrer fühlte sich gut an. Sie strich mit ihrem Daumen vorsichtig über eine kleine Narbe und überlegte, woher sie stammen konnte. Eine Verbrennung, wie ihr schien. Vielleicht war sie ein wenig rau, aber Lenja machte das nichts aus.
 

Ihr Herz schlug bereits seit Stunden in einem neuen Takt. Er war so unbekannt und doch so schön. In dem Moment, wo Thorin Dwalin förmlich sein Herz vor die Füße legte, begann dieser geheimnisvolle Rhythmus den Körper und Geist der jungen Frau zu beherrschen. Es klopfte schneller, intensiver, aber auch faszinierend gleichmäßig. Es trommelte nur so in ihrer Brust und immer wenn sie ihren Blick in seine Richtung warf, hatte sie das Gefühl einen zusätzlichen Stoß zu vernehmen. Sie liebte dieses Gefühl, dieses kurze Ziehen in ihrer Brust. Sie wusste, wem sie diese neuen Eindrücke zu verdanken hatte und sie war glücklich.

Glücklich darüber, dass er sie liebte. Glücklich darüber, dass sie ihn liebte. Und besonders glücklich darüber, dass er sie so wollte, wie sie war und kein bisschen anders. Wieder fühlte sie dieses zusätzliche kurze Klopfen, welches ihr gleichzeitig einen wohligen Schauer über ihren Rücken jagte.

Ja, sie war höchst zufrieden mit der aktuellen Lage. Auch wenn sie nur erahnen konnte, wie die Liebe sein würde, fühlte sie sich an Thorins Seite rundum wohl.
 

Bald hatten sie ihr Ziel erreicht zu dem sie nach Dwalins Abgang gemeinsam aufgebrochen waren.
 

**
 

„Ich bin froh, dass die Liebe euch zusammen geführt hat“, hatte Balin gesagt als die beiden immer noch verdutzt zur Küchentür starrten aus der kurz zuvor Lenjas zweiter Onkel verschwunden war.
 

„Es gibt nichts Schöneres und Kostbares als die wahre Liebe. Hütet und bewahrt sie gut! Sie soll ja schließlich ein Leben lang halten“, fügte er mit einem Zwinkern an.
 

Ári war in die Küche gekommen und wollte nun endlich wissen, was Dwalin so sehr aufgeregt hatte. Zwar waren ihm Wörter wie „Liebe“ und „Hof machen“ nicht verborgen geblieben, nur konnte er so recht nicht viel damit anfangen. Hilfesuchend ließ er seinen Blick von einem auf den nächsten Erwachsenen wandern, bis schließlich Lenja sich überwand und ihrem kleinen Bruder kindgerecht Rede stehen wollte.
 

Mit einer Handbewegung gab sie dem Jungen zu verstehen zu ihr zu kommen. Sie nahm ihn auf den Schoß, atmete kurz durch bevor sie ihm die Situation erklären versuchte: „Du erinnerst dich doch bestimmt daran als du mich gefragt hast, warum wir beide keine Tante haben, nicht wahr?“
 

Ári nickte: „Du hast gesagt, dass Balin und Dwalin noch nicht ihre Liebe gefunden haben und wir deshalb noch warten müssen bis sie eines Tages ihre Partnerin finden.“
 

„Genau, mein Kleiner. Und die Liebe hat nun dafür gesorgt, dass ich mich verliebt habe“, sprach Lenja weiter und strich ihrem Bruder zärtlich eine seiner dunklen Strähnen aus dem Gesicht hinter das Ohr.
 

Der Junge machte große Augen und schaute intuitiv zu Thorin herüber bevor er wieder seiner Schwester in die Augen schaute: „Du liebst den Prinzen? Und er liebt dich?“
 

„Beides Mal ein Volltreffer, mein Süßer“, lächelte Lenja.
 

„Und Dwalin findet das nicht schön? Möchte er nicht, dass du eines Tages Königin wird?“, fragte das Kind ungläubig.
 

„Na ja, sagen wir mal so, er war etwas überrascht, dass ich mich jetzt schon verliebt habe, dass ich jetzt schon meinen Seelenpartner gefunden habe...“, sprach die Zwergin als ihr kleiner Bruder sie direkt anstrahlte.
 

„Ich freue mich für dich. Für mich warst du immer schon eine Prinzessin. Und das wusste ich auch schon vor Thorin“, flüsterte er ihr entgegen.
 

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn bevor sie sich an Thorin wandte.
 

„Ich möchte dir etwas zeigen und würde mich freuen, wenn du mich dahin begleiten würdest.“
 

**
 

Und dort waren sie in wenigen Momenten angelangt. Während ihres ganzen Weges hatten sie nicht ein Wort miteinander gewechselt. Sie genossen die Stille. Einzig und allein durch ihre Hände waren sie verbunden. Thorins warme Hand spendete ihr allein durch diese kleine zärtliche Geste wohltuende Schauer.
 

Die Sonne war im Begriff über den Ländereien, die den Erebor umgaben, unterzugehen als sie den gewünschten Ort erreichten. Es war das Waldstück, wo Thorin sie noch am selben Morgen so spannungsgeladen gegen den Baum gedrückt hatte. Der Ort, an dem Lenja seit der Nacht, wo sie Tauriel getroffen hatte, immer wieder zurückkehrte, wenn sie nachdenken musste, Zeit für sich brauchte oder insgeheim doch auf der Suche nach der Freundin aus Kindheitstagen war. Hier wollte sie mit ihm hin. Nur hier wollte sie ihm etwas sehr Kostbares zeigen und geben. An diesem Ort wollte sie ihm einen tiefen Blick in ihre Seele schenken. Ihm, dem Zwerg, der ihr Seelenpartner war. Ihm, auf den sie insgeheim schon immer gewartet hatte.
 

Thorin wusste nicht, was er davon halten sollte an den Ort zurückgekehrt zu sein, wo er am Vormittag noch die Kontrolle über sich und seinem Verlagen auf Lenja verloren hatte. Ihre Worte hatten ihn hart getroffen. Genauso hart waren sie, wie die Reaktion seiner Geliebten, die ihn schmerzlich im Unterleib traf. Wollte die Zwergin ihn dafür immer noch strafen? Es wollte keinen Sinn ergeben, denn schließlich wusste sie ja nun endlich, dass er keine Spielchen mit ihr trieb, sondern sie aus tiefsten Herzen liebte.
 

Lenja fühlte sein Zögern und seine Anspannung. Sie strich zärtlich über seine Hand: „Ich will dich nicht für das strafen, was sich heute Vormittag hier zwischen uns ereignete. Ich möchte dir diesen Ort zeigen an dem ich mich so gern aufhalte und möchte mich für das entschuldigen, was ich zu dir gesagt habe.“
 

Er blinzelte sie ein wenig überrascht an.
 

Sie nickte: „Doch, doch. Es muss sein. Lass uns ein Plätzchen suchen. Vielleicht dort auf dem umgekippten Baumstamm? Es wird ein wenig länger dauern, glaube ich.“
 

„Von mir aus die ganze Nacht“, flüsterte Thorin als sie sich nebeneinander auf den angewiesenen Platz setzten.
 

Ohne Umschweife begann Lenja: „Hör mir bitte zu, es tut mir so unendlich leid, dass ich dir nicht glauben wollte. Ich hatte nach unseren Küssen gestern erst gedacht, dass du mich liebst, aber kaum darauf war ich der festen Überzeugung, dass du mich nur wolltest, um... na ja, deinem männlichen Trieb nachzukommen. Dass du mich nur wolltest, um mich zu nehmen, mir meine Unschuld zu rauben und mich nach vollzogenem Akt fallen zu lassen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass du mich liebst. Dass du mich attraktiv findest, wenn ich fast genauso spreche, wie Dwalin, wenn ich schimpfe, fluche oder mich einfach nicht so benehme, wie eine Dame. Ich bin nun einmal anders. Und ich dachte, dass du dieses „Anderssein“ spannend findest und nur deshalb ein Auge auf mich geworfen hattest, um mich in deine Sammlung von erlegten Frauen aufzunehmen, die bereits durch dein Bett gegangen waren.“
 

Die Zwergin holte tief Luft. Es tat gut endlich über das zu sprechen, was sie fühlte. Dieses Hinunterschlucken war nicht intelligent gewesen und das spürte sie nun deutlich an ihrem leichter werdenden Herzen. Thorin strich ihr zärtlich durchs Haar bevor er sie näher an sich heran zog.
 

„Es ist schon gut“, hörte sie seine melodische Stimme über ihrem Kopf als er zärtlich ihren Rücken kraulte.
 

„Als Frau hätte ich mir wohl auch nicht so ohne Weiteres über den Weg getraut. Ich meine, kaum wirfst du mir das an den Kopf, was dich so sehr quält, habe ich nichts besseres zu tun als dich ins Gebüsch zu reißen und dich zu bedrängen. Es ist verständlich, dass du mich mit der Wucht wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen musstest, die du meinem Unterleib entgegen gebracht hast. Ich wollte dir keine Angst machen. Es war nur...ist jetzt auch egal...“
 

„Nein, nein. Sprich nur weiter. Ich möchte das wirklich wissen. Schließlich willst du mich ja zu deinem Weib machen und da sind Geheimnisse voreinander nicht wirklich hilfreich, meinst du nicht auch?“, fragte Lenja mittlerweile mit ihrem Kopf an seiner Halsbeuge.
 

„Nun gut. Aber bitte sei nun nicht schockiert oder belustigt“, ein warnender Blick ging auf sie herab.
 

„Es ist nur so, na ja, ich glaube, dir geht es wahrscheinlich ähnlich... ich liebe dich nicht nur mit der Gesamtheit meiner Seele, sondern mein Körper verzerrt sich genauso sehr nach deinem. Vielleicht hast du es bereits selbst festgestellt oder man hat es dir durch die Blume erzählt, was geschieht, wenn Zwerge sich lieben. Wenn nicht, dann lass dir gesagt sein, dass wenn es zu solch emotionalen Situationen wie von heute Morgen kommt, die Leidenschaft nur noch schwer zu bremsen ist. Du hattest mich sehr tief mit deinen Worten getroffen. Und aus dieser Verzweiflung wurde dann eine ziemlich unkontrollierbare Energie, die dir zeigen wollte, wie sehr ich dich liebe... das soll jetzt aber nicht bedeuten, dass ich dich nicht auch in diesem ruhigen Moment begehre. Nur sind wir Zwerge eben etwas heißblütiger, was die körperliche Liebe angeht...“, er hauchte ihr einen Kuss auf ihren rotbraunen Schopf.
 

Lenja hatte zu überlegen begonnen. Es machte wirklich Sinn! Auch gestern als sie sich geküsst hatten, lag bereits eine emotionale Schwere im Raum. Sie hatte sich aufgeregt, Thorin hatte sich ein wenig darüber entrüstet, was sie bewegte und schon hatten sich ihre Lippen in einem Kuss vereinigt. Auch hatte es ihr dann für einen kurzen Moment gefallen als Thorin ihre empfindliche Stelle an diesem Ort in seinem Drang liebkoste. Es machte wirklich Sinn!
 

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Zwerge! Von Natur aus war ihre Körpertemperatur bereits höher als bei allen anderen Lebewesen in Mittelerde. Doch dass sie auch so heißblütige Liebhaber waren, war Lenja neu. Doch die Vorstellung gefiel ihr.
 

„So so. Dann weiß ich ja, wie ich mich in Zukunft vor dir retten oder dich um den Verstand bringen kann, Liebster“, grinste die Zwergin.
 

„Du bist schon wieder auf dem besten Weg dich in eine solche Situation zu befördern“, knurrte Thorin eher belustigt als böse.
 

„Versprich mir aber bitte eins: auch wenn wir uns unweigerlich in großen Schritten immer näher kommen, was ich wirklich schön finde, dann lass mir aber bitte auch die Zeit mich an alles zu gewöhnen. Ich meine, ich habe noch nie einen Mann geliebt. Weder seelisch, noch körperlich“, die letzten Worte kamen kaum über ihre Lippen.
 

Es war ihr ein wenig unangenehm bereits am heutigen Abend über dieses Thema zu sprechen. Doch spätestens in der Hochzeitsnacht würde sie zu ihren ehelichen Pflichten bereit sein müssen.
 

„Hab keine Angst, mein Flöckchen. Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst. Und den Notgriff kennst du ja bereits, wie du mich ansonsten noch stoppen kannst“, sprach er und strich zärtlich über ihren Rücken.
 

„Flöckchen?“, fragte Lenja überrascht.
 

„Hat dich noch nie jemand so genannt? Dann wir es aber höchste Zeit. Schließlich heißt du ja genauso wie ein Schneesturm. Und genauso schnell scheint sich auch deine Laune verändern zu können, mein Flöckchen“, sprach Thorin weiter und berührte mit einem Finger zärtlich die Lippen der Zwergin.
 

„Da warte“, drohte diese und schmiss sich auf ihren Gegenüber.
 

Die kleine Rauferei endete in einem nicht enden wollenden Kuss zwischen den beiden Zwergen.
 

Lenja genoss jene dieser Berührungen und seufzte schließlich in den Kuss hinein als sich ihre Zungen im wilden Kampf berührten. Allein durch dieses Gefühl war sie der Überzeugung, dass ihr gesamter Körper in Flammen stand.
 

So wie in diesem Moment durfte ihr Leben gern weiter bleiben.

Den Stein ins Rollen bringen

Der Entwurf war eingereicht. Dieses Stück der Arbeit war getan. Alles andere lag nun nicht mehr in Lenjas Händen. Ob sie den königlichen Auftrag erhalten wollte, wusste sie nicht. Etwas viel Wichtigeres war ihr jedoch Gewahr. Und dies war ein kleiner, aber feiner positiver Nebeneffekt des Ganzen gewesen. Sie liebte dank des Enkels, der sie in ihrer Arbeitsstube aufgesucht hatte. Das Juwel interessierte die Zwergin nicht mehr; es war der Zwerg, der ihr das Angebot unterbreitet hatte, den sie begehrte.
 

In den vergangenen Wochen konnte sie es kaum erwarten, wenn er sie bei der Arbeit besuchte. Sie freute sich über seine Anwesenheit und über die liebevollen Zärtlichkeiten, die die beiden miteinander austauschten. Für Lenja gab es bald nichts Schöneres auf dieser Welt als das Küssen. Sie musste sich immer wieder daran erinnern das Luftholen nicht zu vernachlässigen. Wenn sich ihr Herz überschlug und Thorins Nähe suchte, vergaß sie die Welt um sich herum. Sie fühlte nur noch seine Wärme und die kleinen elektrisierenden Stöße, die ihre Küsse in ihrem Körper auslösten. Sie liebte es seinen Geruch einzuatmen, seinen Bart auf ihren Wangen zu spüren, wie er ihre weiche Haut neckte, seine Lippen mit ihren eigenen zu berühren, ihn zu schmecken, wenn ihre Zungen sich im wilden Kampf berührten und dabei gedankenverloren mit seinen dunklen Zöpfen zu spielen.
 

Das Küssen war ihre höchste Motivation. Sehr zu ihrer beider Freude konnten sie es zu einem schönen Teil in Lenjas Arbeit machen. Eine gute Mischung aus Arbeit und Vergnügen sollte es sein und das war es auch. Nach einer weiteren erfolgreichen Etappe in ihrem Handwerk bekam die Zwergin als kleine Motivationshilfe den süßen Geschmack der Liebe zu kosten.
 

Thorin besuchte sie auch weiterhin nachdem sie ihm den fertigen Entwurf für das Arkenjuwel eines Tages in die Hände gedrückt hatte.

Er blieb unterschiedlich lang bei Lenja. Je nachdem, wie es um seine Verpflichtungen stand, bestimmte dies ihre gemeinsame Zeit. Eher selten kam er sie bei sich zu Hause besuchen, wenn er tagsüber keine freie Minute für seine „Flocke“ finden konnte.

Er hatte ihr auch erklärt, warum er es nicht tat. Er wollte Dwalin nicht noch zusätzlich provozieren. Er wollte ihm Zeit gönnen zuallererst mit sich und der neuen Situation ins Reine zu kommen. Erst dann wollte er der Zwergin auch vor den Augen ihres Onkels so begegnen, wie es ihre gemeinsame Liebe verlangte.
 

Lenja tippte zwar auch darauf, dass Ári ein wenig dazu beitrug, dass Thorin sie nicht zu oft daheim besuchen wollte, doch behielt sie ihren Gedanken für sich.

Der Kleine war immer höchst neugierig, wenn seine Schwester männlichen Besuch hatte und ständig in ihrer Nähe. Sie wusste nicht, ob sie sich das einbildete. Sie wusste auch nicht, woher sein starkes Interesse kam. Sie konnte es sich aber denken, denn eines Abends als Ári nach einem kurzen Besuch Thorins bereits in seinem Bett schlummern sollte, hörte sie seine Stimme leise mit Dwalin sprechen. Wahrscheinlich hatte ihr Onkel dem Jungen eingebläut seine Schwester gut im Auge zu haben, wenn sie nicht allein war. Ein kleiner Spion im Dienste des besorgten Onkels kam ihr der Gedanke und sie musste lächeln. So viele Männer, die sich um den Platz in ihrem Herzen zu streiten schienen. Doch hätte den vier Zwergen, ihren Männern, eigentlich klar sein sollen, dass keiner den anderen auch nur ansatzweise verdrängen konnte.
 

Die Tür zu ihrer Arbeitsstube wurde quietschend geöffnet und Thorin stand strahlend im Eingang: „Wirf dir etwas über, geliebtes Flöckchen! Thrór verkündet bald wer den Auftrag erhält. Nimm deine Sachen und komm mit in den Thronsaal.“
 

„Wie stellst du dir das vor? Ich muss das Collier hier heute noch fertigstellen. Da kann ich nicht einfach zwischendurch kurz beim König vorstellig werden und meine Arbeit unterlassen. Egal, wer er ist, ob König oder nicht, ich kann nicht hier weg“, entgegnete Lenja.
 

Es entsprach ja wirklich der Wahrheit. Sicherlich war sie neugierig, wie ihr Entwurf aufgenommen worden war. Doch hing von diesem realen, direkt vor ihren Augen liegenden Schmuck ihr Lohn ab.

Typisch König! Einfach alles stehen und liegen lassen, nur um zu schauen, was in dessen königlichen Oberstübchen vorging. Nein, das widersprach ihrer Natur. Keiner sollte von ihr besser behandelt werden, nur weil er eine andere Abstammung besaß.
 

Thorin kam näher an ihre Werkbank heran. Er schüttelte leicht den Kopf und grinste sie keck an bevor er hinter sie trat. Dort verweilte er nur kurz. Kaum war er hinter sie getreten, spürte sie auch schon seine Lippen an ihrem Ohr.
 

„Lass das sein!“, schimpfte sie.
 

Doch er hörte nicht auf ihre Einwände. Er wusste, wie er sie an dieser Körperstelle zum Schnurren wie ein Kätzchen bringen konnte. Und er wollte sich dies auch zu Nutze machen. Er küsste sich einen imaginären Weg von ihrem Ohr hinunter über ihren Hals, nur um den direkten Weg wieder nach oben zurück zunehmen. Lenja kniff ihre Augen zusammen. Das war wirklich eine süße Folter! Sie hatte sich auf die Lippen gebissen, nur um ihr leises Stöhnen direkt im Boden ersticken zu können. Eine unbekannte Hitze, die sich immer mehr in die Richtung ihres Unterleibs schlich, ließ sie aufschrecken.
 

„Worum folterst du mich? Meinst du mich dadurch mit zu deinem Großvater schleifen zu können?“, fragte die Zwergin hörbar mit ihrer Selbstbeherrschung kämpfen.
 

„Erfasst, mein kleines Flöckchen. Wenn nicht mache ich hier solange weiter bis du mir unter den Augen vor Wonne wegschmilzt“, flüsterte er ihr ins rechte Ohr.
 

„Das ist Erpressung!“, begehrte sie belustigt auf.
 

„Ich weiß“, entgegnete Thorin und hauchte ihr einen zarten Kuss direkt auf ihre Ohrmuschel.
 

„Gut, gut! Du hast gewonnen! Ich ergebe mich, Eure Schmusität“, lachte Lenja auf.

„Vielleicht hätte ich mir ja doch eher einen Kesselflicker als einen Prinzen suchen sollen“, sprach sie weiter als sie sich ihren Umhang über die Schultern warf und als Quittung einen verärgerten Blick erntete.
 

**
 

Es herrschte reges Treiben als die beiden Zwerge durch die Gänge des Erebors immer näher in die Nähe des Thronsaals schritten. Lenja war so als ob sie ab und an Getuschel hinter sich vernahm. Doch jedes Mal, wenn sie sich in die Richtung dieses vermeintlichen Geräusches drehte, vernahm sie nur noch Stille. Hatte sie sich das eingebildet? Spielte ihr Verstand ihr Streiche? Hilfesuchend wandte sie ihren Blick an Thorin. An seiner Reaktion konnte sie ablesen, dass auch er etwas hinter ihrer beider Rücken vernommen hatte und nicht richtig zuordnen konnte.
 

Tuschelte man in den dunklen Gängen über sie? Zerriss man sich das Maul, weil der Prinz händchenhaltend mit einer einfachen jungen Frau aus dem Volk daherkam? Wollte man ihnen ihr Glück nicht gönnen? Spottete man über sie? Hatte es bereits die Runde gemacht, dass diese Zwergin auch noch sich erdreistete und einen Entwurf für den Arkenstein an den König gerichtet hatte? Das schien doch eindeutig Bevorzugung gewesen zu sein, wenn sie jetzt auch noch ausgerechnet den Auftrag erhielt, oder etwa nicht? Hatte diese Göre denn überhaupt Ahnung von dieser Schmiedekunst oder reichte es allein aus, dass sie dem Prinzen seine Lenden wärmte?
 

Lenja fühlte sich unwohl. Normalerweise freute sie sich, wenn Thorin an ihrer Seite war, doch in diesem Augenblick wäre sie lieber allein diesen Weg gegangen. Seine Hand drückte ihre noch ein letztes festes Mal bevor er sie in die Freiheit entließ und sie gemeinsam in den Thronsaal eintraten.
 

Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Thronsaal jemals so gefüllt gesehen zu haben.

Sie erkannte Déndin, der ebenfalls auf die Verkündung des Auftrags zu warten schien, im Gespräch mit Thráin und einem ihr unbekannten Zwerg vertieft.
 

In der Nähe der Wachen konnte sie Dwalin und Balin sehen, die sie mit einem schüchternen Lächeln bedachte. Lenja war ein bisschen mit der Situation überfordert. Am liebsten wäre sie ihren Onkeln um den Hals gefallen und hätte sich ihre Unruhe von der Seele geredet, aber das schien ihr in dieser Atmosphäre einfach als unpassend. Sie wusste, dass die beiden ihr Lächeln wahrgenommen hatten, denn als Antwort erhielt sie prompt vom Älteren ein Nicken und vom Größeren ein Zwinkern.
 

Etwas weiter von ihnen entfernt, nahm sie eine Gruppe von Zwergen war, die feine Stoffe trugen. Sie wirkten dadurch wichtiger als alle anderen Anwesenden im Raum; ausgenommen von Thorin und seinem Vater. Lenja nahm an, dass das wahrscheinlich die Berater des Königs gewesen sein mussten. Doch im selben Moment fühlte sie sich abermals unpassend in ihrer eigenen Kleidung. Warum hatte er ihr denn nicht einfach schon vorher gegenüber erwähnt, dass der Tag der Verkündung immer näher rückte? In der Hinsicht war sie dann doch eine typische Frau und fühlte sich in diesem pompösen Raum wenig repräsentativ.

Sie schüttelte ihren Kopf. Nein, sie musste sich am Riemen reißen! Schließlich ging es hier nicht um sie, ihre Kleidung, ihre Frisur oder sonst für welche Äußerlichkeiten. Hier ging es einzig und allein um ihr Handwerk. Und das war nur von ihrem Entwurf abhängig und von nichts anderem.
 

Das allgemeine Getuschel wurde durchbrochen als Thrór den Raum unter dem Klang von Fanfaren betrat. In den feinsten Gewändern gehüllt und mit der Krone auf dem Kopf nahm er auf dem Thron Platz. Alle Anwesenden im Saal verneigten sich vor dem Zwergenkönig und sein Sohn, sowie sein Enkel traten nach vorn und nahmen stehend zu seiner Linken und Rechten neben ihm ihren Platz ein.

Stille beherrschte den Raum. Alles wartete gespannt auf die ersten Worte seiner Hoheit.
 

„Wir haben Uns zusammen mit Unseren Beratern nach reiflicher Überlegung für einen der eingereichten Entwürfe entschieden. Zur Auswahl standen der unseres getreuen Hofschmieds Meister Déndins, der uns bis jetzt immer sehr zur vollsten Zufriedenheit mit seinen Fertigungen erfreut hat und der einer jungen Zwergin, die als einzige Frau in diesem Handwerk ihre Kunst unter Beweis stellen konnte. Die Ideen Unserer beiden Künstler hätten nicht unterschiedlicher sein können. Dennoch haben Wir sie eingehend geprüft und ihre Persönlichkeit auf Uns wirken lassen.

So sind Wir denn auch zu einem Entschluss gekommen.

Mögen die beiden Schmiede nun vor und etwas näher an uns herantreten.“
 

Lenja und Déndin taten wie ihnen geheißen. Alle Augen waren auf die beiden und den König unter dem Berge direkt vor ihnen gerichtet.
 

„Wir vergeben den Auftrag Uns das schönste Juwel zu fertigen an den Schmied mit den passendsten Ideen für Unser Vorhaben und dies ist Lenja, einst Schülerin des werten Hungstarri und nun angesehene Goldschmiedin in Unserem Reich. Wir gratulieren Euch und freuen Uns Euch den Auftrag zu übergeben und in Euren Händen sicher zu wissen.“
 

Stille erfüllte den Raum.
 

Lenja schluckte. Sie hatte den Auftrag bekommen, ohne es je darauf angelegt zu haben. Ihr Kopf war leer und sie ahnte noch nicht, was nun alles auf sie zukommen würde. Nun war ihre Welt nicht mehr ganz wie einst zuvor. Sie wusste schlagartig, dass ihre „normale“ Arbeit in der nächsten Zeit ruhen musste und sie nur noch für den Arkenstein dazu sein hatte. Doch wie genau dies alles aussehen würde, war ihr noch unbekannt und musste sich erst noch herausstellen.
 

Déndin neben ihr wirkte gleichzeitig gefasst, aber dennoch erzürnt. Er hatte es wohl nicht für möglich gehalten, dass eine Frau ihn aus seinem sicheren Terrain verdrängen konnte. Dennoch wollte er sich wahrscheinlich auch nicht die Blöße geben und vor aller Welt einen erzürnten Aufstand proben. Es wäre lächerlich gewesen gegen die königliche Entscheidung zu protestieren. Er hätte es sowieso nicht ändern können.

Stattdessen gab er Lenja die Hand und wünschte ihr viel Erfolg und gutes Gelingen für ihren Auftrag. Sie hätte es ihm gleichgetan, wenn sie an seiner Stelle leer ausgegangen wäre. Es hatte eine gewisse Form von Höflichkeit und Etikette, die Zwerge allgemein zu schätzen wussten.
 

Lenja konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen als sie Balin und Dwalin sichtlich mit stolzgeschwellter Brust erblickte. Die beiden schienen glücklich über ihre bisherige Leistung zu sein und sich für ihr Talent sowie ihre Überzeugungskraft zu freuen.

Zu Thorin traute sie sich in diesem Moment nicht zu blicken. Sie ahnte, dass er sich mit ihr freute. Schließlich war ja er es, der ihr den Auftrag unterbreitet hatte. Sie brauchte ihn gar nicht erst anzuschauen, um zu wissen, dass sein Herz mit ihrem am schnellsten im Saal hier schlug.
 

„Wir möchten Euch bitten, liebes Kind, Uns zugleich zu folgen und gemeinsam mit Uns zusammen über den Fortlauf des Auftrags unter vier Augen zu sprechen. So folgt Uns denn in Unser Arbeitszimmer“, sprach Thrór und schritt auf das Portal zu, aus dem er erst erschienen war.
 

Lenja folgte ihm. Sie musste an Thorin vorbei, der wie bereits erwartet, sie anstrahlte. Doch sie konnte nicht bei ihm verweilen. Sie musste dem König folgen und so trennten sich ihre Blicke so rasch, wie sie sich einst getroffen hatten.

Sie schritt an Thráin vorbei und konnte dessen Blick nicht deuten. Sie hatte das Gefühl, dass er nicht mit dem Ausgang zufrieden war. Etwas an ihm ließ sie erschaudern. Sie fühlte, wie sich sein Blick auch weiterhin in ihren Rücken bohrte als sie durch das Portal ging und die Türen sich hinter ihr auch denn zugleich wieder schlossen.
 

Das Gefühl der Kälte begleitete sie weiterhin als sie sich der offenen Tür des königlichen Arbeitszimmers näherte.

Das Juwel

Lenja wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte. Sie war, wie ihr von Thrór geheißen, ihm in sein Arbeitszimmer gefolgt und nun saß sie in einem durchaus komfortablen Sessel vor seinem Schreibtisch. Sie und der König unter dem Berge waren nun auf gleicher Augenhöhe und keiner hatte ihr je verraten, wie man sich in einer solchen Situation verhalten sollte. Es passierte ja nicht alle Tage, dass man allein mit dem König in seiner Arbeitsstube saß. Und dies schon gar nicht als Zwergin. Außer natürlich, wenn man zur königlichen Familie gehörte. Doch Lenja gehörte nicht, noch nicht, zur letzteren Kategorie.

So saß die junge Frau vor dem König wachsamen Augen und hoffte, dass er nun endlich zum Sprechen ansetzte und sie aus der ihr unangenehmen Situation erlöste.
 

Mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen erhörte Thrór Lenjas Gedanken: „Wisst Ihr, dass die Bescheidenheit eine der unterschätzten Tugenden auf der Welt ist?“
 

Die Zwergin war sich nicht sicher, ob sie nun antworten sollte oder ob dies eher eine Feststellung als eine Frage war. Ihr Blick traf den des Königs. Sie schluckte. Er erwartete wirklich eine Antwort. Zögerlich räusperte sie sich.
 

„Ihr habt Recht, dass dies eine der wenigen Tugenden ist, die nicht sofort den Geist eines jeden zu Tage befördert. Doch kann ich Euch nicht ganz folgen, Eure Majestät“, antwortete Lenja wahrheitsgemäß.
 

Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde breiter. Nun spiegelten auch seine Augen eine Freundlichkeit wieder, die die Zwergin niemals einem König zugetraut hätte. Lachfalten bildeten sich um sie und Lenja wusste nun absolut nicht mehr in welche Richtung dieses Gespräch gehen sollte.
 

„Wenn Wir Euch betrachten, dann müssen Wir an Euren Großvater denken, schönes Kind. Nicht nur die Haarfarbe stimmt überein, sondern auch die Augen zeugen vom selben Geiste.“
 

Unweigerlich gingen ihre Gedanken an ihren Großvater. Fundin. Sie hatte den Vater ihrer Mutter immer sehr gemocht, auch wenn er zu anderen Erziehungsmethoden griff als Balin und Dwalin es je getan hätten. Auch er lebte im Erebor, doch sie hatten beide kein sonderlich enges Verhältnis. Schließlich war sie bei ihren Onkeln groß geworden und nur ab und zu bei ihm zu Besuch gewesen. Sie hatte oft das Gefühl, dass Fundin es nicht sonderlich gut hieß, wenn sie wieder Dwalin um den Finger wickelte oder Ári Dinge erlaubte, die es „früher“ nie gegeben hätte. Aber trotz allem wusste sie, dass ihr Großvater viel von ihrem Intellekt und ihrem Willen an das fast Unmögliche zu glauben und danach greifen zu wollen, hielt.

Als sie noch jünger war, hatte sie oft gedacht, dass sie ihre Augenfarbe ihrem Vater verdankte und sich dafür selbst nicht gemocht. Immer, wenn sie in den Spiegel schaute, dachte sie das Monster würde sie direkt durch ihre eigenen Augen anstarren. Doch später, bei genauer Betrachtung fiel ihr auf, dass Fundin dasselbe Grün sein Eigen nannte und ihr Herz machte einen Sprung. Der alte, mürrische Knochen war ein herzlicher Zwerg, der durch sein Wesen bei vielen sehr beliebt war. Das nun der König sie mit Fundin verglich, schmeichelte ihr. Doch hatte sie keine genaue Vorstellung, in welcher Verbindung die beiden standen. Den Worten Thrórs nach musste es aber eine persönliche Bekanntschaft sein, denn ansonsten hätte er nicht so herzlich von ihrem Großvater zu sprechen gewusst.
 

„Ihr ahnt nicht im Geringsten, wie sehr Wir Uns darüber erfreut haben Euren Entwurf in Händen zu halten. Er zeugt von einer Präzision, aber auch gleichzeitig von einer unschuldigen Reinheit, die Wir Uns kaum erträumt hätten. Wir sind davon überzeugt, dass Eure Arbeit die richtige sein wird. Ihr habt den Kern Unseres Juwels erkannt und werdet seinen wahren Charakter und seine Schönheit dadurch noch ausdrucksfähiger machen können als es bereits jetzt schon der Fall ist. Habt Dank für Euren Mut Euch der Prüfung zu unterziehen. Wir können Uns vorstellen, dass es nicht einfach für Euch gewesen sein mag als einzige Frau in Eurer Zunft vor Unseren Augen vorstellig geworden zu sein, um mit der Unterstützung Unseres Enkels für den Auftrag zu plädieren“, sprach der König weiter und riss Lenja damit aus ihren Gedanken.
 

Thorin. Ob der König bereits von ihr und seinem Enkel wusste? Und wenn ja, wie stand er dieser Liaison gegenüber? Hatte der Prinz den Mut gehabt und seinem Großvater selbst berichtet, was er für die rothaarige Zwergin empfand? Hatte er um sein Einverständnis gebeten und ihn in Kenntnis über seine Gefühle gesetzt? Oder ahnte er nichts davon, dass die junge Frau vor ihm die Frau seines Enkels werden sollte?

Lenja sah ein wenig unschlüssig bei diesen Gedankengängen zum König hinüber.
 

„Für die Arbeit an dem Juwel werdet Ihr hier bei Uns arbeiten. Es ist nichts gegen Euch, liebes Kind, aber Wir wollen den Stein bei Uns sicher wissen. Ihr werdet Eure nötige Ruhe bei der Arbeit bekommen. Ihr werdet allein arbeiten können. Nur die Wachen vor der Tür werden Euch an den etwas anderen Umstand erinnern“, führte Thrór fort.
 

Lenja nickte. Sie hatte sich etwas Ähnliches bereits gedacht. Es hätte sie durchaus gewundert, wenn er seinen Schatz aus den königlichen Korridoren gegeben hätte. Nicht bei dem Blick, den er jetzt schon dem Edelstein entgegenbrachte, hätte er es zugelassen, dass das Juwel den Erebor auch nur für einen Bruchteil der Sekunde verlässt.
 

„Schön, dass Ihr einverstanden seid. Wir freuen Uns auf Eure Arbeit und sind bereits jetzt schon höchst gespannt über den Fortschritt“, und mit einem Schmunzeln fügte der König hinzu, „und vielleicht stattet Euch Unser Enkel auch den ein oder anderen Besuch ab.“
 

Lenja wurde zugleich heiß und kalt. Wusste der König also von ihnen? Das konnte doch kein dummer Zufall sein, dass Thrór nun von Thorin im Zusammenhang mit Lenja sprach! Oder etwa doch? Aber das Lächeln deutete auf mehr hin. Doch wie sollte sie sich nun verhalten? Einfach stumm bleiben und nicken? Beschämt zu Boden gucken und hoffen, dass sie bald die königlichen Räume verlassen konnte? Oder sollte sie es riskieren und dem König etwas zu seinem pikanten Vorschlag entgegnen? Sie hatte das Gefühl, dass sie bereits seit Stunden überlegte, wie es nun weitergehen sollte.
 

Die wachsamen, aber dennoch gütigen Augen Thrórs ruhten auf ihr. Er wartete eindeutig auf etwas. Sie sollte sich äußern. Wenn sie dieses Gespräch hier auch nur ansatzweise heil überstehen würde, dann sollte Thorin sich aber auf eine heftige Standpauke gefasst machen. Sie einfach ohne Vorwarnung zum König schicken, obwohl er als dessen Enkel doch eigentlich an der Informationsquelle sitzen und es gewusst haben müsste, dass sie den Auftrag bekommt. Einfach ohne ein Wort ins Messer laufen lassen. Das sollte der feine Prinz ihr büßen. Sie musste sich nur noch eine passende Strafe für ihn ausdenken. Doch alles, was ihr etwas später nach dem hiesigen Gespräch einfallen sollte, traf auch sie gleichermaßen. Vom Kussverbot bis hin zur Kontaktsperre, bei alledem hätte Lenja auch gelitten. Sie sollte sich eines Besseren belehren und ihm immerhin für zwei Tage den Geschmack ihrer Lippen verweigern. Aber das ist ein anderes Thema und half ihr im Moment des Wartens leider nicht weiter.
 

„Ihr wisst von uns?“, fragte die Zwergin so selbstbewusst, wie sie nur konnte.
 

Thrórs Lächeln wurde breiter: „Aber natürlich. Und obwohl Ihr aus keiner direkt adeligen Blutlinie entstammt, wollen Wir Unserem Enkel bei der Wahl seines getreuen Weibs nicht im Wege stehen. Obwohl er erst später zu Uns gekommen ist, haben Wir doch schon bei dem ersten Zusammentreffen mit Euch gemerkt, dass dort noch eine andere Verbindung zwischen euch Jungen ist. Doch waren Wir Uns noch bis zu dem Zeitpunkt unschlüssig als Unser Enkel dann zu Uns kam und um die Erlaubnis bat, frei ein Weib wählen zu dürfen. Wir waren nicht gänzlich überrascht, dass Euer Name fiel. Fundins Enkeltochter sollte also die Liebe seines Lebens sein. So bekam er dann auch Unsere Zustimmung. Und wie Uns scheint, seid ihr beiden dann auch ein glückliches Paar.“
 

Sie hatte es erhofft, doch war sie sich der Reaktion des Königs nicht sicher gewesen. Sie war gleichzeitig überrascht und glücklich über seinen Segen. Ihre Achtung vor Thorin stieg in diesem Moment. Er hatte also nicht nur von Balin und Dwalin um Erlaubnis gebeten. Eine ehrliche Bindung sollte ihre Liebe von Grund auf sein. Und dies schien er erreicht zu haben.
 

„Ich danke Euch, Eure Majestät“, kam es über Lenjas Lippen.
 

„Dankt nicht Uns, junge Dame, sondern Unserem Enkel. Schließlich ist er es dessen Herz nur noch für Euch schlägt. Natürlich solltet Ihr Euch bewusst sein, dass es einige Neider auch unter Unserem Volk geben wird, die der Bindung kritisch gegenüber stehen. Doch wissen Wir aus eigener Erfahrung nur zu gut, was es bedeutet sich immer überdeutlich an das strenge Protokoll zu halten. Die Liebe bleibt bei einer solchen Prozedere leider auf der Strecke. Und so freut es Uns umso mehr, dass Unser Enkel das Glück hatte seiner Liebe in Eurer Gestalt zu begegnen. Wir können Uns kein passenderes Weib an seiner Seite vorstellen. Durch Meister Balins Erziehung verfügt Ihr über ein passables Wissen. Und Euer Handwerk scheint Euch auch die nötige Selbstständigkeit zu geben, die Wir Uns für eine potentielle Kandidatin für Unseren Enkel immer vorgestellt haben. Dass Ihr einen starken Willen Euer Eigen nennt, ist Uns seit dem Ableben Eures Vaters bekannt. Zumal Unser Enkel kürzlich einen schmerzhaften Vorfall erwähnte bei dem Ihr ihm seine Grenzen aufgezeigt habt.“
 

Lenja schluckte. Wunderbar! Was erzählten sich Thorin und sein Großvater eigentlich noch so alles, wenn er von ihr wieder heim in seine Gemächer kam? Aber eigentlich hatte er ja dann doch selbst schuld, wenn er Thrór freiwillig vom Tritt in den Unterleib erzählte. Männer! Zwerge! Wer konnte sie bloß verstehen?
 

„Eine Prinzessin aus dem Volk wird Durins Dynastie wieder beleben, seid Euch dessen sicher. Doch eine Liebe muss gepflegt werden. Gebt Acht zusammen mit Thorin auf das, was zwischen euch im Begriff ist zu wachsen. Ihr seid sein Juwel und nur mit der richtigen Technik kommt der passende Schliff hinein. Aber wem erzählen Wir das überhaupt? Schließlich seid Ihr doch des Fachs, junge Dame.“

Abschaum

Tag ein, Tag aus verbrachte Lenja nun in ihrer provisorischen Werkstube. Seit Wochen hatte sie kaum viel anderes gesehen als diesen Raum in den königlichen Korridoren. Sie hatte das Gefühl nur noch für das Arkenjuwel zu leben. Es dominierte ihr Leben. Kaum war sie am Morgen erwacht und hatte sich um das Wichtigste im Haushalt und um Ári gekümmert, verließ sie das traute Heim in Richtung ihrer vorübergehenden Arbeitsstätte.

Viele Stunden hatte sie bereits den Edelstein bearbeitet. Er nahm neue Formen an und wie Thrór bereits vermutet hatte, gaben sie ihm neuen Glanz. Das Juwel strahlte nun eine Schönheit aus, die seinem Betrachter fast Angst einflößen konnte.

Bald würde Lenjas Arbeit vollbracht sein. Sie konnte dann endlich wieder zurück in ihre eigentliche Arbeitsstube treten, welche sie schmerzlich vermisste.
 

Es war doch etwas anderes. Sie fühlte sich ständig unter Beobachtung. Nicht nur die königlichen Wachen vor der Tür erinnerten die Zwergin daran, dass dies keine normale Arbeit war. Umso weiter und schneller sie ihre Aufgabe erfüllte und der Edelstein tiefer aus seinem Inneren zu strahlen begann, bekam sie immer mehr ungebetene Gäste.
 

Thrór suchte sie nun täglich auf. Jedes Mal konnte er seinen Blick kaum vom Stein lösen. Er wurde langsam aber sicher ungeduldig, was sich nicht nur an seinen regelmäßigen Besuchen zeigen sollte. Er wollte das Juwel nun auch immer öfter in die eigenen Hände nehmen. Dort verweilte es dann auch sobald immer längere Zeit. Zeit, die Lenja eigentlich für ihren Fortschritt benötigt hätte. Zeit, die sie nutzen wollte, um endlich wieder frei zu sein und das mysteriöse Juwel nie wieder in ihre Hände nehmen zu müssen.

Die Zwergin glaubte zu wissen, was den König dort zu verzaubern schien und es machte ihr Angst. Die Reinheit, die Schönheit dieses Edelsteins war im Begriff den Verstand des Zwergen langsam aber sicher zu vernebeln. Wie sie es schon zu oft gesehen hatte, schien auch ihn ein derartiges Schicksal nicht erspart zu bleiben. Da half auch seine Abstammung nichts. Die Gier nach diesem besonderen Stein hatte ihn eingenommen und würde ihn wohl auch nicht so schnell wieder freigeben. Da war sich Lenja sicher.
 

Sie hatte diese Beobachtung auch Thorin mitgeteilt.

Er war wirklich öfter in ihrer momentanen Arbeitsstube anwesend. Doch nicht so oft, wie zuvor bei ihr und Hungstarri. Dafür besuchte er sie nun bei sich daheim. Dwalin hatte sich mittlerweile auch wieder etwas beruhigt und schien jedenfalls öffentlich nichts gegen Thorins Anwesenheit einwenden zu wollen. Nur Ári war immer noch höchst aufgeregt und neugierig, wenn sich die Liebenden zu einem bestimmten Zeitpunkt in Lenjas Kammer zurückzogen. Der Kleine musste unweigerlich an Dwalins seltsame Erklärung von der Herkunft der Zwergenkinder denken und hätte zu gern gewusst, ob seine Schwester und ihr Verlobter bereits fleißig daran probten Eltern zu werden. Doch das taten sie nicht. Im Moment genügte es Lenja Thorins Anwesenheit zu genießen, ihn zu küssen und in seinen Armen zu liegen. Mehr brauchte und wollte die Zwergin noch nicht.
 

„Du meinst wirklich, dass er dem Stein verfällt?“, fragte Thorin Lenja eines Abends als die beiden aneinander geschmiegt auf ihrem Bett lagen.
 

Die Zwergin nickte: „Er ist ständig bei mir und hat nur noch Augen für dieses abscheuliche Ding. Sein Blick ist immer mehr abwesend. Wenn ich ihn mir dann betrachte, scheint er meine Anwesenheit immer weniger wahrzunehmen. Er scheint alles andere um sich herum zu vergessen, wenn er den Arkenstein in Händen hält.“
 

Ihre Blicke trafen sich.
 

„Du machst dir ernsthafte Gedanken. Das ist löblich. Ich werde versuchen ihn darauf anzusprechen. Wenn ich es recht überlege, hat er kaum noch ein anderes Thema als dieses Juwel. Hab Dank für deine Beobachtungsgabe, mein geliebtes Flöckchen“, sprach der Zwerg und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
 

Die Zwergin schloss die Augen. Flöckchen. Es hatte kaum jemand vor Thorin gewagt sie bei diesem Namen zu rufen. Er tat es zwar auch nur, wenn die beiden allein waren, doch sie wusste nicht, ob sie sich je daran gewöhnen würde, wie er sie aus purer Zuneigung nannte.

Lenja. Ihr Name bedeutete nichts anderes als Nassschneesturm. Balin hatte ihr einst erzählt, dass ihre Mutter ihr den Namen gab, um an die Umstände ihrer Geburt zu erinnern. Als Láfa nieder kam, herrschte ein gewaltiger Schneesturm. Ásgrímur konnte sich von einer königlichen Mission nicht zurück in den Erebor aufmachen und erblickte seine Tochter erst wenige Tage nach ihrer Geburt. Und nun war es Thorin, der sie bei diesem Namen rief und sie zu seinem „Flöckchen“ auserkoren hatte.
 

Mit einem Ruck lag Lenja auf dem Zwerg. Überraschung spiegelte sich in seinen Zügen wieder.
 

„Thorin, der Tapfere. Du kannst nun zeigen, wie mutig du bist, wenn dein versprochenes Weib versucht dir den Verstand aus deiner Seele zu küssen“, sprach sie und versiegelte ihm im Nu seine Lippen in einem kaum enden wollenden Kuss.
 

Die Tür zu Lenjas königlicher Arbeitsstätte wurde geöffnet. Sie hob ihren Blick, um nicht nur zu schauen, wer sich ihr dort zu nähern schien, sondern auch um dem erwarteten König die passende Ehrerbietung entgegen zu bringen. Doch als sie ihren Kopf von ihrer Arbeit erhob und in die Richtung des Besuchers blickte, konnte sie nicht anders als zu schlucken. Es war weder Thrór noch Thorin, die dort vor ihr standen. Kein geringerer als Thráin war soeben in ihre Stube eingetreten.
 

Die junge Frau konnte es nicht mit einer genauen Bestimmtheit sagen, doch etwas war an dem Kronprinzen, was sie nicht einzuschätzen vermochte. Sein düsterer Blick und die Kälte, die ihm nach der Auftragsverkündung vor einigen Wochen umgaben, hatte sie nicht vergessen. Und nun, ohne in der Zwischenzeit den Vater ihres Geliebten näher kennenlernen zu können, war er bei ihr. Sie wurde ohne es beeinflussen zu können unsicher. Seine Anwesenheit bereitete ihr unweigerlich Kummer, ohne dass sie wusste, warum er sie aufgesucht hatte.
 

„Willst du dem Vater deines Geliebten nicht mit dem nötigen Respekt behandeln oder hat mein werter Sohn dir bereits den Verstand aus deinem Körper gestoßen, wenn er dich abends aufsucht?“, wollte der Zwerg von ihr wissen als er näher auf sie zu trat.
 

Lenja traute ihren Ohren nicht. Dieser Mann sprach von Respekt und Anstand? Er beleidigte nicht nur sie, sondern auch seinen abwesenden Sohn auf das Schändlichste! Abstammung hin oder her. Dieser Zwerg vor ihr verhielt sich gegen die zwergischen Tugenden. Was auch immer er von ihr wollte, es dürfte wohl ein sehr unangenehmes Gespräch werden. Sie biss sich auf die Zunge. Sollte sie etwas entgegnen? Und wenn ja, was?
 

„So so, wie ich sehe, hast du dich entschlossen sitzen zu bleiben und mir den Gruß zu verweigern. Ein ganz ungezogenes Ding scheinst du mir zu sein. Das erklärt natürlich auch, wieso mein Bastard von Sohn so wild hinter dir her ist“, sprach er unverfroren weiter.
 

„Was wollt Ihr überhaupt von mir? Falls Ihr nicht anderes vorhabt als mich zu beleidigen, dann verlasst auf der Stelle diesen Raum“, begehrte Lenja auf.
 

Thráin legte den Kopf etwas schief. Die Frau vor ihm schien doch wirklich sich gegen ihn zur Wehr setzen zu wollen. Ein Lächeln machte sich breit, was der Zwergin einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ.
 

„Na na, wer will denn da gleich so böse zu seinem künftigen Schwiegervater sein? Eine kleine Furie bist du wohl. Wie magst du es am liebsten, wenn er dich stößt, hm? Mit oder ohne zärtlichem Geplänkel? Ich vermute ja, dass du es brauchst, wenn er dich ohne viel Worte sogleich besteigt.“
 

Verdammt! Dieses miese Schwein! Was sollte dieses Gespräch überhaupt? Ihr wurde schlecht. Er bedrängte sie allein durch seine schändlichen Worte, wie es Ásgrímur einst selbst nicht besser vermocht hätte.
 

„Wenn Ihr abscheuliches Ungetüm nicht sofort diesen Raum wieder verlasst, rufe ich nach den Wachen!“, versuchte Lenja Thráin aus dem Zimmer zu bekommen.
 

Sein widerwärtiges Lächeln wurde breiter.
 

„Für wie dumm hältst du mich? Glaubst du, ich hätte sie nicht weggeschickt, wenn ich mit dir über die wirklich wichtigen Dinge sprechen will. Dir scheint nicht verborgen zu sein, dass ich es nicht gutheiße, dass du den Auftrag bekommen hast. Nicht nur meinem Sohn vernebelst du den Verstand, nun bevorzugt dich auch noch mein eigener Erzeuger. Die beiden scheinen an dir einen Narren gefressen zu haben. Jeder auf seine eigene Art, wie mir scheint. Und das, obwohl du von unnützem Blut bist. Dein Erzeuger war und deine Onkel sind zwar im königlichen Dienst, aber sich gleich den Enkel des Königs auf das eigene Lager zu reißen, ist dann doch etwas frivol, findest du nicht?“
 

„Wer hier frivol ist, das bist du!“, rief Lenja aus.
 

„Nicht gleich so aggressiv, meine Liebe. Eine kleine Wildkatze bist du anscheinend auch noch. Oder wolltest du dich einfach nicht von deinem Stuhl erheben, weil du es nicht konntest? Schmerzt dein Unterleib noch so sehr von der letzten Nacht als mein Sohn dich bestieg? Wenigstens das scheint er ja mit einer genauen Präzision erfüllen zu können.“
 

„Mein Unterleib geht dich einen feuchten Dreck an! Und wenn du kein Weib zum Stoßen hast, dann such dir eine andere der du solche Schweinereien an den Kopf werfen kannst!“, schimpfte Lenja als sie sich so schnell es nur möglich war in Richtung der Türen zubewegte.
 

Doch Thráin versperrte ihr den Fluchtweg. Ein Schmerz durchfuhr ihre Handgelenke als sie gegen die Wand gedrückt wurde. Sie schrie auf. Doch keiner kam ihr zur Hilfe. Die Wachen waren wirklich nicht an ihrem Platz. Sie war mutterseelenallein mit diesem Verrückten. Und er machte keine Anstalten sie loszulassen. Sie roch seinen Körperduft. Ihr wurde übel. Was auch immer er mit ihr nun vorhatte, sie musste versuchen so schnell es ging aus dieser Situation zu entkommen.
 

Triumphierend blickte er ihr ins Gesicht. Die Handgelenke nun mit einer Hand über ihren Kopf fixiert, ließ er seinen Blick über ihren Körper gleiten. Lenja ahnte schlimmes. Mit aller Kraft versuchte sie sich aus seinem Griff zu wenden als plötzlich seine freie Hand an ihren Busen griff.
 

„Und? Gefällt dir das? Macht Thorin es genauso?“, raunte er ihr entgegen während er ungestüm die Brust knetete. Es schmerzte und sie konnte sich ein Keuchen nicht verkneifen.
 

„Eine Genießerin. Du hast doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich dich hier auf der Stelle nehme, oder? Schließlich bleibt es in der Familie und ich kann dann besten Gewissens behaupten, dass mein Sohn eine gute Wahl getroffen hat, wenn du auch mir den Beischlaf gewährst.“
 

Er zerriss ihr die Bänder ihres Mieders. Verzweifelt trat sie nach ihm. Doch er bemerkte ihre Versuche und lachte auf: „Was hast du vor? Du willst mich niederstrecken?“
 

Ein anderer Plan musste her. Und das aber schnell. Fieberhaft überlegte Lenja, wie sie sich aus dieser Situation retten sollte.
 

„Wenn du mich besteigen willst, dann musst du mir aber auch die Möglichkeit geben dich näher an mich zudrücken, wenn es mir oder dir kommt“, begann sie so verführerisch wie nur möglich zu sprechen.
 

Thráin schien zu überlegen. Die Gier nach ihrem Körper, nach dem Verbotenem ließ ihn schwach werden. Er ließ ihre Hände los. Und im selben Moment bereute er seine Dummheit. Lenja hatte das Messer aus ihrem Stiefel gezogen, was sie aus Schutz immer bei sich trug. Ohne Vorwarnung stieß sie auf den perplexen Zwerg ein und traf ihn an seinem linken Auge. Blut rann über sein Gesicht. Benebelt trat er einige Schritte zurück und tastete mit einer Hand nach der brennenden Stelle. Die Zwergin ergriff ihre Chance und lief so schnell ihre Beine sie trugen aus der Türe hinaus in die Freiheit.
 

Sie musste weg. Schnellstens musste sie diesen Ort verlassen. Sie musste Thorin davon berichten. Und sie hoffte, dass er ihr glauben würde.

Kindheitserinnerungen

Lenja rannte so schnell ihre Beine sie trugen durch die Korridore. Sie musste Thorin finden noch ehe Thráin ihr auf den Fersen war. Sie wusste nicht, ob er ihr nach dem blutigen Zwischenfall folgen würde. Ob er nun nur noch mehr seinen widerlichen Plan verfolgte und ihr abscheuliche Dinge antun würde. Ob er sie doch in Frieden ließe. Oder wie auch immer diese Situation ausgehen sollte. Sie wollte nicht daran denken, dass man ihr vielleicht keinen Glauben schenkte. Sie, die Zwergin, die sich Thorin nahm und anscheinend nicht genug davon bekam und zugleich auch mit seinem Vater anbandelte. Eine Dirne würde sie sein. Nichts weiter als ein Weib, dass mehrere Männer gleichzeitig bediente.

Tränen stiegen in ihren Augen auf. Was sollte ihr Leben wert sein, wenn er ihr nicht glauben würde? Blut war bekanntlich dicker als Wasser. Und wenn sie nun seinen Vater der versuchten Vergewaltigung bezichtigte, würde dies nicht die Vorstellungskraft eines jeden Sohnes sprengen?
 

Die Zwergin war verzweifelt. Sie wusste nicht in welche Richtung sie gelaufen war. Niemand war ihr auf den dunklen Gängen begegnet. Sie kannte sich nicht in ihnen aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit erblickte sie am Ende des Korridors einen Schatten. Ohne zu wissen, wer es war oder ob es überhaupt eine gute Idee sein konnte, rief sie lautstark nach Hilfe. Die Verzweiflung ließ ihr keine Zeit mehr zur Überlegung.
 

Der Schatten blieb stehen und wandte sich schnell in ihre Richtung. Ohne es geahnt zu haben, war sie in die absolut richtige Richtung gelaufen. Thorin stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihr. Die pure Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben als er Lenja schützend in die Arme nahm.
 

„Was in Durins Namen ist passiert? Wie siehst du überhaupt aus?“, rang er nach Worten als er sie bei sich sicher wusste.
 

Heiße Tränen liefen der Frau über das Gesicht. Ihr gesamter Körper schmerzte und sie rang nach Luft. Sie hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal in ihrem Leben, genauso wie nach Ásgrímurs Taten, so schnell ihre Beine in die Hand nehmen musste.
 

„Bring mich in Sicherheit“, war alles was sie unter großem Aufwand über ihre Lippen brachte.
 

Sogleich fand sie sich auch in einem großen Raum wieder. Wie sich herausstellte, waren dies Thorins Gemächer. Sie hatte diesen Ort noch nie zuvor betreten und wünschte sich nichts Sehnlicheres als ihn unter anderen Umständen hätte kennenlernen dürfen.

Immer noch mit ihrem Gesicht an seiner Brust vergraben, ließen sich die beiden zusammen auf einem gepolsterten Sofa nieder. Vorsichtig strich Thorin ihr über den Rücken. Lenja begann erneut zu schluchzen und wollte nicht aufsehen. Seine warme Hand berührte ihre Wange.
 

„Lenja, mein Herz, was ist denn mit dir geschehen? Du bist so durcheinander und deine Kleidung scheint auch nicht mehr ganz heil zu sein. Wer oder was hat dir derart Angst eingeflößt, dass du allein durch die Gänge gelaufen bist?“, wollte der Zwerg wissen.
 

Er vernahm ein Wimmern an seiner Brust. Die Feuchtigkeit ihrer Tränen hatte bereits sein blaues Hemd an einigen Stellen durchnässt.
 

„Thráin“, war alles, was sie sagen konnte bevor sie sich fester an ihr Gegenüber klammerte.
 

Thorin versteifte sich sofort. Lenja hatte das Gefühl, dass seine Atmung kurz aussetzte. Seine Anspannung nahm sekündlich zu.
 

„Thráin?“, wiederholte er scharf.
 

„Ja“, machte Lenja.
 

„Mein Vater hat dir etwas angetan, das dich kreuz und quer durch die Gänge trieb?“, fragte er und zog die Zwergin unter leisen Protest von seiner Brust, um ihr direkt in die Augen zu blicken.
 

„Er wollte sich an mir vergehen, Thorin! Kaum hatte er den Raum betreten, beleidigte er mich aufs Schändlichste. So obszön, so verwerflich. Bis es mir dann zu viel wurde und ich ihn einfach stehen lassen wollte. Doch er hat mich aufgehalten, mich unter Gewalt an die Wand gepresst, um sich dann mit mir gegen meinen Willen vereinigen zu wollen. Er wollte mich schänden“, sprach Lenja atemlos.
 

Der Zwerg blickte düster drein und sprang wie von einem Tier gestochen von seinem Platz auf. Mit dem Rücken zu ihr gewandt, schritt er hastig auf und ab. Mehrere Male durchfuhr er mit einer Hand seinen schwarzen Schopf. Die Frau betrachtete ihn mit verweinten Augen. Seine Reaktion ließ sie erzittern. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr glaubte. Ob er überhaupt verstand, was passiert war. Ob er es überhaupt in Betracht zog, dass sein Vater zu so einer Tat fähig sein konnte.
 

„Glaubst du mir?“, fragte Lenja zögerlich und durchbrach damit die Stille.
 

Thorin blieb abrupt stehen. Er drehte sich zu ihr um und als sie seinen Blick sah, blieb ihr Herz fast stehen. Sie hatte ihn noch nie mit einem solchen Gesichtsausdruck gesehen. Sie hatte das Gefühl jeden Augenblick sterben zu müssen bei dem Hass, der dort auf seinen Zügen lag.
 

„Dir glauben?“, fragte er scharf.
 

Lenja schluckte. Nein, das tat er nicht. Sie war sich sicher, dass alle Liebe in diesem Moment aus seinem Geist verschwunden war. Wenn nicht er ihr vertraute, brauchte sie es gar nicht erst bei Balin oder Dwalin versuchen. Eine Dirne, wie sie, interessierte niemanden.
 

Doch plötzlich durchfuhr er mit seiner Hand seine Haare und ließ sich neben ihr auf dem Sofa nieder. Er schaute sie wieder freundlicher an und nahm dann zögernd ihre Hand in die Seine. Er hielt sie fest als er versuchte ihr ein Lächeln zu schenken.
 

„Natürlich glaube ich dir. Du weißt nicht, was er sich bereits alles geleistet hat. Ich habe immer gehofft, dass er es sich nicht trauen würde mir in die Quere zu kommen. Doch wie es scheint, weiß er nicht, wo die Grenzen sind. Es tut mir leid, dass du mit diesem Abschaum nur knapp einem Unglück entkommen bist."
 

Er streichelte ihre Hand und hauchte ihr ein Kuss auf die Stirn.
 

Lenja sah Thorin fassungslos an: „Ich verstehe nicht recht. Was willst du mir damit sagen? Ich dachte, ein Vater würde seinem Sohn so etwas nicht antun und du deutest etwas an, was nicht in das Bild eines liebenden Vaters passt.“
 

Thorin lachte verächtlich auf: „Väter. Du müsstest eigentlich nur zu gut wissen, was es heißt sich seinen Erzeuger nicht aussuchen zu können. Glaubst du, du bist die einzige Person, die sich lieber einen anderen Vater gewünscht hätte? Nein. Auch ich musste mit ansehen, wie Thráin alles kaputt machte. Er hat weder meine Mutter, Dis, Frerin oder mich geliebt. Alles, was er wollte, war uns alle zu peinigen und für etwas zu bestrafen, für das wir nichts konnten.“
 

Die Zwergin musste blinzeln. Was kam da soeben zu Tage?
 

„Er hat meine Mutter geehelicht und mit ihr drei Kinder gezeugt, nur weil mein Großvater es so wollte. Eine Zwergin aus adeligem Hause sollte es sein. Sie sollte den Fortbestand Durins sichern. Keiner konnte von einer Liebeshochzeit sprechen. Mit meiner Geburt hatte er bereits seine Pflicht getan, doch er quälte sie weiter. Er nahm sich jedes Weib, was nicht schnell genug entkam. Viele kamen jedoch freiwillig auf sein Lager. Und meine Mutter musste alles still erdulden.

Ich kann mich noch genau an die Situation erinnern als sie mit meiner Schwester in den Wehen lag. Ich sollte ihn darüber in Kenntnis setzen, dass er im Begriff war erneut Vater zu werden. Ich suchte ihn überall. In seinem Arbeitszimmer, unten in den Stallungen, in den Waffenkammern. Doch ich konnte ihn nirgends erblicken. Schließlich kam ich unverrichteter Dinge an den Kammern der Zofen meiner Mutter vorbei als ich seine Stimme vernahm. Ich blieb stehen und lauschte, ob ich mich nicht geirrt hatte. Doch eindeutig! Ich erkannte ihn. So öffnete ich in meinem kindlichen Eifer ohne nachzudenken die Tür und mir blieb fast das Herz stehen. Er lag keuchend und schwitzend über einer Vertrauten meiner Mutter und hatte nichts Besseres zu tun als sie wie ein Tier zu nehmen während sein Weib im Begriff war ihm ein Kind zu gebären! Die Zwergin erblickte mich recht schnell, wie ich vom Donner gerührt in der offenen Tür stand und meinen Blick nicht von dem wenden konnte, was ich dort sah. Sie versuchte Thráin darüber in Kenntnis zu setzen, was nicht einfach war. Doch als auch er meine Anwesenheit vernahm, schwor ich mir mit dieser Person nie wieder ein Wort zu wechseln. Er hielt kurz inne, während er immer noch mit der Zwergin vereint blieb, und forderte mich auf zuzusehen, wie man es einer Frau richtig besorgte. Als ob dies nicht schon für eine junge Seele genügen würde den eigenen Vater mit einer anderen Frau als der eigenen Mutter zu erwischen, fügte er noch hinzu, dass meine Mutter sich immer unmöglich anstellen würde, wenn er sie härter nehmen wollte.“
 

Lenja öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch so schnell er offen stand, schloss sie ihn auch wieder. Sie war sprachlos. Und das passierte nicht sonderlich oft in ihrem Leben. Selbst ihrem eigenen Erzeuger hatte sie einiges zugetraut. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ásgrímur je außerehelich aktiv gewesen war. Er war ein Monster, aber Láfa hatte ein solches Drama zum Glück nicht zu ihren Lebzeiten erdulden müssen.
 

„Und nun wollte er sich dich nehmen, um mir eins auszuwischen. Es ist der pure Neid und Hass auf unser Glück, dass ihn dazu treibt. Und er hat es eindeutig übertrieben! Die Grenzen sind überschritten worden. Dieser Abschaum wird noch sehen, was er davon hat dich schänden zu wollen. Er wird den Tag verfluchen als er mich in die Welt setzte!“, Hass leuchtete in seinen Augen.
 

Die beiden Zwerge schreckten auf. An der Tür vernahmen sie lautstarkes Gepolter. Jemand hämmerte vermutlich mit beiden Fäusten dagegen.
 

„Jetzt nicht“, rief Thorin.
 

Doch der ungebetene Gast vor dem Portal schien sich nicht abwimmeln zu lassen. Es hämmerte weiter. Entnervt kniff der Zwerg die Augen zusammen. Mit einem Schwung war er auf den Beinen und stampfte auf die Tür zu.

Lenja hatte bereits Mitleid mit der armen Person, die nicht wusste, wie sehr Thorin vor Wut schäumte. Wer auch immer dort stand, würde seinen Kopf unter dem königlichen Donnerwetter einziehen müssen. Der Zwerg riss die Tür auf und erstarrte.

Vor ihm stand Thráin, der sich ein blutdurchtränktes Tuch auf sein linkes Auge hielt.
 

„Ist sie hier bei dir? Wo versteckt sich die kleine Dirne?“, polterte der Kronprinz und wollte in die Gemächer eintreten.
 

Sein Sohn versperrte ihm den Weg: „Verschwinde bevor ich mich vergesse! Du bist nicht mehr wert als ein Stück Dreck! Wenn du dich ihr noch einmal nähern solltest, dann kannst du deinen Kopf unter dem Arm tragen!“
 

„Spricht man so mit seinem Vater? Was hat sie dir für Lügen erzählt?“, fauchte Thráin.
 

„Ein Vater willst du sein? Das fällt dir ja früh ein! Nimm deine Beine in die Hand und verschwinde! Welcher Vater würde sich das Weib seines Sohnes nehmen wollen? Du bist Abschaum und eine Schande für Durins Erben!“
 

„Was weißt du schon? Bevorzugt von Thrór führst du ein Leben ohne Sorgen. Da kannst du deinem Vater auch ein paar Freuden zugestehen.“
 

Und schon schoss Thráin die rechte Faust seines Sohnes entgegen. Er traf ihn direkt unterhalb seines verletzten Auges. Er taumelte zurück und starrte den Jüngeren verwirrt an.
 

„Ich hätte das schon viel eher machen sollen. Und wenn du noch nicht genug hast, dann lass es mich wissen“, brüllte Thorin ihm entgegen.
 

So schnell der ungebetene Gast gekommen war, verschwand er auch wieder.
 

Lenja atmete auf. Doch ein gewisses Quäntchen Unbehagen blieb

Ári

Nach dem abscheulichen Vorfall in ihrer Arbeitsstube wollte Lenja nicht mehr allein dort verweilen. Zu groß war ihre Angst, dass Thráin ihr wieder auflauern könnte. Sie wusste nicht, ob er sich hatte abschrecken lassen sich ihr zu nähern. Thorins Schlag gegen die väterliche Gewalt hatte natürlich gesessen. Doch in wieweit sich dies auch als klare Grenze zeigen sollte, konnte die junge Frau nicht ahnen. So blieb nicht mehr viel übrig als die letzte verbliebene Zeit für die Fertigstellung des Arkenjuwels so zu gestalten, dass die Furcht nicht Überhand nehmen konnte. Auf die Wachen war kein Verlass mehr und deshalb übernahm Thorin persönlich den Schutz seiner Liebe.
 

Gut eine Woche sollte es noch dauern bis die beiden Zwerge dieses Spiel beenden konnten und Lenja ihren Auftrag erfüllt hatte. Sie legte keinen Wert darauf beim feierlichen Zeremoniell des Steins dabei zu sein. Sie wollte dem Abschaum in Gestalt von Thorins Vater nicht begegnen. Mit einer Entschuldigung blieb sie dem ganzen Spektakel fern.
 

Viel lieber verbrachte sie den freien Tag mit ihrem kleinen Bruder.
 

Ári. Viel zu selten war ihre gemeinsame Zeit in den Wochen des Auftrags gewesen. Es tat ihr im Herzen weh, wie wenig sie sich um ihn in der vergangenen Zeit gekümmert hatte. Meistens stand sie morgens mit ihm gemeinsam auf und dann sah sie ihn erst abends zum Essen wieder, kurz bevor er ins Bett musste. Ihre Onkel übernahmen ihre Aufgaben und Pflichten so gut sie konnten. Dwalin machte eine gute Figur als Ärgerersatz. Doch sie hatte trotz der kaum verbliebenen gemeinsamen Zeit gemerkt, wie sehr sie ihrem Bruder fehlte.
 

Und das sollte sich ab dem heutigen Tag wieder ändern. Balin und Dwalin hatten sie außer Haus geschickt, um ungestört die geschwisterliche Zweisamkeit zu genießen. Gern hatten die beiden diese willkommene Einladung angenommen und wollten entfernte Verwandte in den Eisenbergen besuchen gehen. Und das bedeutete wunderbare Tage nur für sich allein, ohne Aufpasser. Und Ári freute sich bereits seit Wochen auf diesen Zeitpunkt.
 

Leise Schritte tapsten durch die offene Kammertür und schlichen auf Lenjas weiches Bett zu. Sie hörte die kleine Gestalt näher auf sich zukommen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Obwohl sie gerade erst erwacht war, wusste sie wer sich auf sie zu bewegte. Sie schob die Decke beiseite und ihr kleiner Bruder schlüpfte zu ihr ins Bett. Erwartungsvolle große Kinderaugen blickten sie im Halbdunkeln an. Auf der Seite liegend ließ sie eine Hand durch Áris dunklen Schopf gleiten und zog ihn näher an sich. Kinderarme schlangen sich um ihren Hals. Er schmiegte sich an seine Schwester. Lenja hatte das Gefühl, die Welt würde in diesem Moment stehen bleiben. Sie schloss die Augen und genoss die Stille, die die beiden Geschwister umgab.
 

Sie hatte seit ihrer Mutter Tod immer versucht ihm Láfa so gut es ging zu ersetzen. Sie hatte es ihr noch auf dem Sterbebett versprochen. Und so sollte es dann auch sein. Durch die fehlende Erfahrung in ihrem jungen Alter konnte sie ihm keine Mutter sein, doch eine liebende Schwester allemal. So gab sie Ári seit seiner Geburt alle Liebe, die sie besaß. So oft es möglich war, legte sie sich den Säugling auf ihre Brust, wie sie es bei richtigen Müttern beobachtet hatte. Sie hielt das Kind in den Armen, strich ihm zärtlich über das feine Haar, gab ihm Küsse und machte sich Sorgen, wann immer der Kleine unruhig war oder nicht schlafen wollte. Wenn man die kleine Lenja mit ihrem Brüderchen sah, hätte man denken können, sie hatte eine Puppe auf ihrem Schoß. Doch sie war sich durchaus bewusst, dass Ári ein lebendiger kleiner Zwerg war, der sie ordentlich auf Trab hielt. Die Jahre zogen ins Land und gemeinsam mit Balins und Dwalins Hilfe wurde ihr Bruder nicht nur größer und munterer, sondern sie selbst auch erwachsen.
 

Doch die intensive Liebe der beiden Kinder blieb bestehen. Sie wuchs stetig weiter und erneuerte sich auf ihre eigene Art. Mittlerweile hatte Lenja wirklich das Gefühl ihrem Bruder eher eine Mutter als eine Schwester zu sein. Auch wenn die beiden sich wie alle anderen Geschwister auch herrlich streiten konnten und ihre Onkel dann nur noch erahnen konnten, wer von den beiden eigentlich die ältere Person war, liebte Lenja Ári wie ihr eigenes Kind. Sie stellte sich jedenfalls vor, dass es sich bei ihrer Mutter genauso angefühlt haben musste, als sie ihre Tochter das erste Mal erblickte. Und deshalb genoss die Zwergin auch jeden Moment, den sie mit ihrem Bruder in inniger Zweisamkeit verbringen konnte.

Und heute war wieder ein solcher Tag. Ári sollte ihre volle Aufmerksamkeit bekommen. Jede Minute sollte ihm gehören.
 

Die Kuschelstunde der beiden Geschwister trat langsam aber sicher ihrem vorerstigen Ende entgegen. Mittlerweile lag Lenja auf dem Rücken und ihr Bruder auf ihr. Den Kopf auf ihrer Brust gebettet, wie einst als Säugling, war er zwischendurch für wenige Minute wieder eingeschlafen. Die Wärme seiner Schwester ließ unbewusst die einstige Sicherheit aus frühkindlicher Zeit wieder aufleben.
 

„Lenjalinchen?“, flüsterte Ári immer noch immer an sie geschmiegt.
 

„Hm?“, hörte er seine Schwester.
 

„Wenn du mich in den Zuber steckst, weil Onkel Balin meinte, dass ich wie eine ganze Orkhorde stinke, kommst du dann mit ins Wasser?“
 

„Möchtest du das gern?“, fragte die Zwergin und strich ihrem Bruder durchs Haar.
 

„Ja, und außerdem kommst du jetzt nicht mehr drumherum. Dank mir riechst du jetzt bestimmt auch nicht besser. Und stell dir mal vor, Thorin steht plötzlich vor der Tür und wir beide müffeln, wie Orks“, kicherte der Kleine.
 

Lenja begann ihn für diesen Witz in die Seiten zu piksen. Ári begann freudig zu quietschen und kullerte von seiner Schwester herunter. Strampelnd und lachend lag er neben ihr und versuchte ihr Kitzelmanöver so gut es ging auszuhalten. Mit hochrotem Kopf entließ sie ihren Bruder aus der süßen Folter. Er schnappte glücklich nach Luft.
 

„Vielleicht sollten wir Thorin dann auch einladen uns in die Wanne zu begleiten, wenn er schon da wäre“, sprach der Kleine aus, sprang vom Bett und rannte so schnell er konnte aus Lenjas Kammer.
 

„Na warte“, hörte er seine Schwester hinter sich, die sich in schnellen Schritten näherte bevor sie ihn fröhlich johlend hochhob.
 

**
 

„Meinst du nicht, dass du bald Schwimmhäute zwischen den Zehen bekommst, Ári?“, fragte Lenja.
 

Ihr kleiner Bruder vor ihr im großen Zuber plantschte seit fast einer Stunde im warmen Wasser, dass sie zwischendurch bereits mehrere Male mit neu aufgewärmten Wasser erneuert hatte. Er legte eine Begeisterung für das frische Nass an den Tag, die Dwalin immer mit einem Augenrollen quittierte. Seltsamerweise war der kleine Zwerg nicht der erste, wenn es hieß, dass ein Bad wieder einmal fällig sei. Viel zu gern tobte er mit den anderen Zwergenkindern durch den gesamten Erebor, was auf Dauer nicht ohne Konsequenzen blieb und nicht nur die Kleidung leiden ließ, sondern auch den Jungen nicht sauberer machte.

Doch wenn er dann unter Protest erst einmal im Nass Platz genommen hatte, dann bekam ihm niemand so schnell wieder hinaus. Vielleicht erhoffte er, dass das nächste Bad dann auf sich warten ließ. Vielleicht mochte er auch einfach das Gefühl der Wärme an seiner Haut.
 

Wie dem auch war, Lenja hatte jedenfalls genug vom Wasser und erhob sich aus der gemeinsamen Wanne. Tropfen liefen an ihrem Körper herunter. Von ihren Haaren tropfe es. In kleinen Rinnsalen lief das Wasser über ihren Rücken. Schnell warf sie sich gegen die Frische ein großes Handtuch um und begann sich abzutrocknen während Ári ihr für einen kurzen Moment zuschaute.

Sie legte den Kopf schief und schaute zu ihm hinüber. Abrupt wandte er seinen Blick von ihr ab.
 

„Hast du was, Ári?“, wollte sie wissen.
 

Der Kleine schaute erneut zu ihr rüber. „Du bist schön, Lenja“, flüsterte er und stierte dann wieder auf die Wasseroberfläche.
 

„Du brauchst dich doch nicht zu schämen, wenn du mich schön findest“, schmunzelte die Zwergin und klemmte das Tuch unter ihrem Arm fest, um sich zu ihrem badenden Bruder hinunter zu bücken. Zärtlich strich sie ihm durch sein nasses Haar.
 

„Ich möchte später auch so eine tolle Frau haben wie dich“, erklärte Ári und blickte seine Schwester wieder an. „Thorin kann so froh sein, dass er dich hat. Auch wenn du manchmal ein wilder Hausdrache sein kannst.“
 

Und da war ihr kleiner Bruder wieder, wie er im Buche stand. Kichernd ließ er sich in den Zuber zurückfallen und tauchte seinen Kopf unter Wasser. Kaum das er wieder aufgetaucht war, schüttelte er sich wie ein nasser Hund und die Tropfen flogen nur so durch die Luft.
 

Lenja trat einen Schritt zurück, um nicht vom Wasser getroffen zu werden. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Eine Frau wie sie also. Obwohl sie ein Hausdrache war? Sie ertappte sich, wie sie in Gedanken an jenen Zeitpunkt zurückgekehrte an dem sie Dwalin ein ähnliches Liebesgeständnis gemacht hatte. Damals war sie im selben Alter, wie ihr kleiner Bruder. Und doch war Thorin keine Kopie ihres Onkels.

Überraschungsgast

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kinder der Nacht

Im Halbschlaf schmiegte sie sich an seine behaarte Brust. Verträumt fuhr sie mit der linken Hand durch die dunkle Behaarung, zog seinen Duft ein und wünschte sich, sie müssten sich nie wieder aus dem Bett erheben.
 

Auf den ersten Liebesakt war ein zweiter, leidenschaftlicherer gefolgt. Erschöpft war sie danach an seiner Brust eingeschlafen. Er hatte ihr die Unschuld geraubt und das noch vor der gemeinsamen Hochzeitsnacht. Doch es scherte Lenja kein bisschen. Sie hatte das Gefühl alles richtig gemacht zu haben und genoss diese neue Zweisamkeit in vollen Zügen.
 

Thorin hatte seinen linken Arm um ihren Körper gelegt. Zärtlich fuhr er mit leichten Bewegungen über ihren Oberarm. Die Zwergin schnurrte fast wie ein Kätzchen als sie die Realität mit einem Schlag wieder einholte.
 

Ári stand neben ihrem Bett und betrachtete die beiden. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er dort schon stand. Wahrscheinlich hatte sie ihn einfach nicht wahrgenommen als er in ihre Kammer getapst war. Die letzte Nacht hatte ihre Sinne vernebelt. Und nun stand ihr kleiner Bruder neben ihr und schien angespannt zu überlegen. Er machte große Augen, blinzelte öfter als normal und hinter seiner Stirn schien einiges in Bewegung zu sein.

Lenja unterbrach ihre Liebkosungen kaum, dass sie seine Gestalt wahrgenommen hatte. Sie schluckte. Von Thorin vernahm sie ein enttäuschtes Schnauben ehe er seinen Kopf hob und den Grund für den Liebesentzug sah.
 

Der Zwergenjunge hatte wohl fertig überlegt, denn sein Gesicht entspannte sich wieder. Lenja wollte etwas sagen, doch noch ehe sie ihren Mund öffnen konnte, übernahm diese Aufgabe ihr Bruder.
 

„Habt ihr letzte Nacht Liebe miteinander gemacht?“, fragte der Kleine mit einem neugierigen Grinsen.
 

„Wie...wie...was?“, war alles was Lenja stammelte.
 

„Na ja, habt ihr an einem kleinen Zwerg geübt?“, hakte der Junge freundlich nach.
 

„Wie kommst du denn auf diese Idee?“, seine Schwester war eindeutig überfordert.
 

„Lenjalinchen, ich habe ganz genau aufgepasst als Dwalin mir das mit dem Zwergenkindern erzählt hat. Und Balin hat mir das danach auch nochmal etwas anders erklärt als ich ihn gefragt habe, wann ich denn Onkel werde. Also, habt ihr euch einfach nur aus Spaß nackig ins Bett gelegt oder habt ihr an einem Zwergenbaby gewerkelt?“, sprach er und stemmte die kleinen Hände in die schmalen Hüften.
 

Jetzt erst wurde Lenja bewusst, dass sie und Thorin immer noch unbekleidet waren. Um das Bett verteilt, lagen ihre Sachen auf dem Fußboden. Leicht beschämt zog sie die Decke um ihren Körper ein wenig höher. Was sollte sie ihm denn jetzt antworten?
 

„Du bist ein schlaues Kerlchen, Ári“, hörte sie Thorin hinter sich sagen.
 

Sie verdrehte die Augen. Bitte, sag jetzt nichts Falsches!
 

„Ich weiß“, verkündete ihr Bruder stolz.
 

„Und um deine Frage zu beantworten: ja, wir haben in der Nacht Liebe miteinander gemacht“, sprach der Zwerg weiter.
 

Danke! Gut gemacht. Wollte er ihm noch mehr Details liefern?
 

„Habe ich es mir doch gedacht! Und wart ihr erfolgreich? Wann kommt denn das Kind? Wann werde ich denn nun Onkel?“, Ári sprang freudig auf und ab.
 

Lenja riss panisch die Augen auf.
 

„Falls es geklappt haben sollte, dann musst du dich noch neun Monate gedulden. Aber nicht bei jedem Liebemachen entsteht ein kleiner Zwerg. Am besten ist, du behältst diesen kleinen Vorfall hier erst einmal für dich. Lenja wird dir als erstes mitteilen, wenn sie einen kleinen Zwerg erwartet. Aber bis dahin musst du schweigen“, sagte Thorin.
 

Ári nickte eifrig: „Wird gemacht! Ich lasse euch Turteltäubchen nun wieder allein. Vielleicht wollt ihr ja noch einmal versuchen ein Baby zu machen. Hoffentlich klappt es dann auch sehr bald!“
 

Krachend fiel die Kammertür ins Schloss.
 

Hinter sich hörte sie Thorin leise lachen.
 

„Das ist nicht lustig!“, zischte Lenja aufgebracht.
 

„Doch. Ári scheint völlig vernarrt in die Idee zu sein, dass wir ihn bald zum Onkel machen.“
 

„Und wenn er recht hat? Ich meine, wenn ich bereits ein Kind erwarte? Was ist dann? Wir haben nicht aufgepasst. Jeder, der rechnen kann, wird feststellen, dass unser Kind dann vor der Eheschließung entstanden sein muss.“
 

„Wir sind nicht die ersten und auch nicht die letzten, denen das passiert. Und wenn dem so sein sollte, dann machst du mich zum glücklichsten Mann in ganz Mittelerde. Man überlege sich nur die Quote. Zweimal miteinander vereint und bereits wäre ein Kind unterwegs.“
 

„Du weißt aber schon, dass dafür auch nur ein einziges Mal reicht?“
 

„Natürlich. Aber falls bereits ein kleiner Zwerg in deinem Schoß sein Lager aufgeschlagen hat, dann können wir es sowieso nicht mehr ändern. Oder bereust du, dass du dich mir hingegeben hast?“
 

Zärtlich strich er über ihren Bauch.
 

„Selbstverständlich nicht. Ich stehe immer zu dem, was ich aus purer Überzeugung gemacht habe“, sprach sie und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen.
 

**
 

„Dwalin!!!!“, Ári rüttelte an seinem Onkel.
 

„Verdammt, was gibt es denn, dass du mich so aus dem Schlaf reißt?“, schimpfte der Zwerg müde, aber gleichzeitig besorgt.
 

Sein Neffe würde ihn niemals mit einem solchen Ton aus dem Bett zerren wollen, wenn es nicht wirklich höchst wichtig wäre.
 

„Lenja! Du musst kommen! Ihr geht es nicht gut. Sie übergibt sich schon seit Tagen kaum, dass sie morgens die Augen aufmacht. Und dann spielt sie immer die Starke. Auch ihr Frühstück kann sie nicht bei sich behalten. Nur wenn ich sie dann am späten Nachmittag wiedersehe, dann hat sie wieder eine normale Gesichtsfarbe und Appetit. Aber jeden Morgen passiert das! Mir macht das Angst! Du musst was tun, Onkel Dwalin!“, flehte der Junge.
 

Dwalin konnte in den Kinderaugen Angst lesen. Mit einem Ruck saß er aufrecht im Bett.

Das konnte doch nicht sein! Es musste eine andere Erklärung für Lenjas Übelkeit geben. Er schloss kurz die Augen und betete zu den Göttern, dass mit seiner Nichte nicht das passiert war, was er durch Áris Schilderungen dachte.
 

„Ári, du bleibst hier. Ich gehe zu deiner Schwester und schaue nach ihr, einverstanden?“
 

„Hm, am liebsten würde ich ja mitkommen. Aber ist in Ordnung. Hauptsache du kannst Lenja helfen“, stimmte der kleine Zwerg zu.
 

Lenja saß erschöpft auf ihrem Bett. Wie in Trance ließ sie ihre Hand über ihren Bauch gleiten. Sechs Wochen waren seit der gemeinsamen Nacht mit Thorin vergangen. In zwei Wochen würden die beiden den gemeinsamen Bund eingehen. Und doch trug sie bereits jetzt einen kleinen Schatz unter ihrem Herzen. Sie war schwanger. Und sie wusste es schon seit fast drei Wochen. Ihr Zyklus war ausgeblieben. Sie konnte sonst die Uhr danach stellen. Dazu gesellten sich bereits erste Vorläufer von Stimmungsschwankungen und eine heftige Morgenübelkeit. So gut sie es konnte, versuchte sie ihren Zustand vor ihren Onkeln und Ári zu verstecken. Doch ihr Bruder hatte bereits ihre Übelkeit entdeckt. Auch Thorin hatte sie noch nichts von seinem Glück erzählt. Auf der einen Seite freute sie sich über den Zuwachs, über den Beweis ihrer Liebe, auf der anderen Seite schämte sie sich ein wenig vor der Reaktion ihrer Onkel, wenn sie die Wahrheit herausfinden würden.

Und als ob ihre Übelkeit nicht schon Strafe genug gewesen wäre, betrat ein müder Dwalin ihre Kammer und ließ sich auf einen Stuhl neben ihr nieder.
 

Nach einem kurzen Schweigen durchbrach Dwalins besorgte Stimme die Stille: „Möchtest du mir etwas erzählen?“
 

Ihre Blicke trafen sich kurz, ehe Lenja schnell wieder wegblickte. Ahnte er etwas?
 

„Nein? Ári meinte, dass dir morgens immer so übel sei? Hast du einen Grund dafür, dass dir schlecht ist?“
 

Betretenes Schweigen.
 

„Verdammt, Lenja! Bist du nun schwanger oder nicht?“, Dwalin konnte sich nicht beherrschen.
 

„Ja“, flüsterte die Zwergin ohne den Blick zu heben.
 

„Was? Sag das nochmal!“
 

„JA, VERDAMMT! Ich bin schwanger! Zufrieden?“, schrie sie ihm entgegen.
 

Abrupte Stille. Lenja blickte zu Dwalin, der sich eine Hand auf die Brust drückte. Bei Mahal! Hatte sie durch ihre unkeusche Tat dafür gesorgt, dass ihr Onkel nun einen Herzinfarkt bekommen würde? Doch als sie losstürmen wollte, um ihm zu Hilfe zu eilen, sprang er von seinem Platz auf.

Er schritt ohne sie anzuschauen durch die Kammer.
 

„Wann?“
 

„Vor sechs Wochen.“
 

„Sechs Wochen? Ist euch beiden nichts Besseres eingefallen als unsere Abwesenheit schamlos auszunutzen? Von wegen, Zeit für dich und Ári! Schweinereien wolltet ihr ungestört miteinander treiben!“
 

„Spinnst du! Es war nicht geplant! Es ist einfach so passiert.“
 

„Wäre ja noch schöner, wenn ihr bereits geplant hättet uns loszuwerden. Er hat dich besudelt!“
 

„Hat er nicht! Ich wollte es auch!“
 

„Und wie er das hat! Auch wenn er dich in zwei Wochen zum Weib nimmt, hätte er solange noch seine Gier ausschwitzen können!“
 

„Und was machst du, wenn dich die Gier überkommt?“
 

„Was? Das spielt doch hier keine Rolle! Jedenfalls hättet ihr in eurem Eifer aufpassen müssen! Von wegen, du bist aufgeklärt!“
 

„Passt du denn immer auf? Kannst du noch klar denken, wenn ein nacktes Weib vor dir liegt?“
 

„Wir reden hier nicht von mir! DU bist schwanger! Weiß er überhaupt schon von seinem Glück?“
 

„Nein, weiß er nicht.“
 

„Und warum nicht?“
 

„Weil ich noch keinen richtigen Moment gefunden habe.“
 

„Du sprichst noch bevor die Sonne untergeht mit ihm, hast du mich verstanden? Es ist eine Sache ein uneheliches Kind zu ferkeln. Wenn es dann aber passiert ist, sollte man auch zu seiner Tat stehen!“
 

Der wütende Vortrag war beendet. So schnell Dwalin in Lenjas Kammer gekommen war, verschwand er auch wieder.

Sie hörte ihn nach Ári rufen: „Alles wieder gut. Lass uns Holz hacken gehen!“
 

**
 

Seit Stunden überlegte sie schon, wie sie es Thorin sagen sollte. Natürlich hatte er ihr gesagt, dass er sich über das mögliche Kind freue, aber trotzdem fühlte sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut.

Es hatte sie gewundert, dass Dwalin nicht noch mehr an die Decke gegangen war. Sie hatte ihm den Vortrag über ihre verschwundene Keuschheit nicht übel genommen. Er liebte sie wie sein eigenes Kind und da gehörte es auch dazu, dass er sich um sie sorgte. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn er sich nicht aufgeregt hätte.

Dwalin hatte recht! Sie musste so schnell wie möglich mit Thorin sprechen. Er musste es wissen. Schließlich wurde er bald Vater.

Lenja seufzte. Es war nun nicht mehr zu ändern. Das Leben hatte manchmal seine eigenen Ideen, wie es weitergehen sollte. Und das kleine Geschöpf in ihrem Schoß gehörte nun dazu.
 

Die Tür zu ihrer Werkstube wurde quietschend geöffnet und schloss sich kurz darauf wieder. Die Zwergin war froh, dass sich jemand erbarmte sie aus ihren schweren Gedankengängen zu holen. Ihr Blick wandte sich von dem halbfertigen Armband in Richtung der Eingangstür. Doch nicht im Traum hätte sie damit gerechnet, dass sie diese Person dort erblickte. Ihr Herz setzte kurz aus bevor es zu rasen begann. Diese Gestalt. Diese Haare. Diese Augen. Zitternd erhob sie sich von ihrem Platz und ging auf die Person zu. Kurz vor ihr blieb sie stehen. Sie war unsicher, was sie machen sollte. Sie schüttelte leicht den Kopf. Ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ihr Gegenüber tat es ihr gleich. Und mit einem Schwung nahm sie die größere Person in ihre Arme. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Warme Hände legten sich auf ihren Rücken. Niemand sprach. Ruhe umgab die beiden, ehe sie sich wieder anschauten. In beiden Blicken lag Freude und doch ein Quäntchen Unglaube. Unglaube sich wiedergefunden zu haben.
 

„Tauriel! Bei Mahal, was machst du denn hier? Ich war mir fast nicht sicher, ob es dich jemals gegeben hat und ob es mein geschundener Verstand war, der mir in der verhängnisvollen Nacht dein Spiegelbild vorgaukeln wollte!“, Lenja stand immer noch ungläubig vor der Elbin.
 

„Was machst du überhaupt in Feindesland? Also, nicht, dass ich deine Feindin bin. Aber wie kommst du hierher? Zu Zwergen?“, fügte sie schnell hinzu.
 

„Thranduil, unser König, kam zusammen mit einer Delegation um den viel beschriebenen Stein eures Königs zu huldigen. Als Teil seiner Gefolgschaft brachte der Weg uns hierher. Und was hörten meine Ohren da? Eine Zwergin, Lenja ihr Name, hatte dieses Juwel in seiner Schönheit bearbeitet, was nun über dem Haupt des Zwergenkönigs prangte. Ich muss gestehen, sicher war ich mir nicht, wie viele Frauen deines Volkes denselben Vornamen wie du tragen. Ich wollte herausfinden, ob du es bist, die so wunderschöne Dingen einen noch tieferen Glanz gibt. Also führte mich mein Weg in deine Stube. Und du kannst kaum ahnen, wie sehr mein Herz vor der Türe schlug. Und dann sehe ich dich. Und ich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben. Ich kann kaum beschreiben, was ich im Moment fühle. Wir haben uns nach all den Jahren wiedergefunden. Und es ist als ob es erst gestern war als wir beide uns in den Wäldern begegneten“, antwortete Tauriel.
 

Lenja nahm ihre Hand in die ihre: „Lass uns nicht in der alten Zeit verharren. Eine größere Überraschung kann es gar nicht geben als dich bei mir zu wissen. Aber, vermisst dein König dich nicht?“
 

„Er weiß, dass ich bei dir bin. Doch habe ich ihm nicht gesagt, dass wir uns kennen. Ich gab vor nach einer Frau zu suchen, die mir meine Gürtelschnalle reparieren kann. Und er hat sofort angebissen. Es tut mir leid, wenn ich mich dafür aus den Klischees unserer Völker bedienen musste. Er hält euch Zwerge für nicht mehr als geldgierige Handwerker“, traurig blickte die Elbin zu Boden.
 

„Ist schon gut. Ich freue mich, dass du hier bist. Es ist einiges passiert seitdem wir uns das letzte Mal sahen.“
 

„Ich weiß. Ich fühle, dass Leben in dir heranwächst. Wie ich am Hofe hören konnte, steht sehr bald eine Hochzeit an. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann steht direkt vor mir die glückliche Braut.“
 

„Woher weißt du das?“, Lenja war verwirrt.
 

„Wir Elben haben sehr gute Ohren. Und was das Kind unter deinem Herzen angeht: nennen wir es einfach eine elbische Gabe zu übernatürlichen Dingen“, Tauriel lächelte.
 

Die Zwergin lachte. Obwohl die beiden Frauen nicht mehr als eine gemeinsame Nacht in der Finsternis verband, fühlte sie wieder das Gefühl einer unbeschreiblichen Nähe; wie einst. Schwestern im Geiste. Kinder der Nacht. Ihr war bewusst, dass dieser Besuch nicht von langer Dauer sein konnte. Doch wollte sie ihre Freundin, Tauriel, nicht enttäuschen. Sie schloss die Türe ab und bat die Elbin sich zu setzen.
 

Tief in Gespräche vertieft, verflog die Zeit schneller als es beiden Frauen lieb war. Keine wusste, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Seit dem letzten Treffen waren zehn Jahre vergangen. Und nun rückte der Abschied wieder näher. Es schmerzte. Lenja sah es ebenfalls in Tauriels Augen. Eine Freundschaft, die nicht sein konnte und nicht sein sollte. Zwischen Völkern, die sich nicht über den Weg trauten.
 

„Pass auf euch auf“, flüsterte die Elbin als sich beide Frauen zum Abschied fest in die Arme nahmen.

Und die Welt geht in Flammen auf

Noch am selben Abend hatte Lenja Thorin aufgesucht. Sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Er war wie so oft in einer der Schmieden direkt am Fuße des Einsamen Bergs.
 

Männer. Zwerge. Sollte sie doch einer verstehen. Immer waren sie mit ihren Waffen am Gange. Manch einem hätte doch fast eine Liebesbeziehung zu seiner Axt nachgesagt werden können, wenn man es nicht besser gewusst hätte.
 

So betrat die Zwergin also die Schmiede in der sie Thorin auch gleich ausmachen konnte. Er schien an etwas anderem zu werkeln, was nicht wie eine Axt oder ein Schwert aussah. Auch herrschte eine kaum bekannte Ruhe. Normalerweise dröhnte es nur so, wenn Zwerge mit harten Schlägen auf die Metalle schlugen. Es war dann sehr schwierig auf sich aufmerksam zu machen, wenn man einem Schmied bei seiner Arbeit unterbrechen wollte. Dieses Problem blieb Lenja somit heute erspart.
 

Kaum, dass sie den Raum betreten hatte, drehte der Zwerg auch schon seinen Kopf in ihre Richtung.

Mit einem erschrockenen Blick versuchte er so unauffällig wie nur möglich seine Arbeit vor der Frau zu verstecken. Doch sie hatte es mitbekommen und ihre Neugier war nun geweckt. Der wahre Grund ihres Besuches konnte noch ein wenig warten.
 

„Was hast du da?“, fragte sie neugierig.
 

„Nichts. Was meinst du?“, versuchte Thorin so ruhig wie nur möglich zu klingen.
 

„Das metallische Etwas hinter deinem Rücken“, sie versuchte einen Blick über seine Schulter zu erhaschen.
 

„Nicht so neugierig, junge Dame. Es ist eine Überraschung. Ein Geschenk. Für dich.“
 

„Und warum schenkst du mir es dann nicht?“
 

„Weil es ein Hochzeitsgeschenk ist. Du musst dich also noch zwei Wochen gedulden.“
 

„Gedulden. Da wären wir bereits beim eigentlichen Thema“, begann Lenja und nahm seine rauen Hände in die ihren.
 

Sein Blick verriet ihr, dass er nicht verstand. Wahrscheinlich dachte er jetzt, sie hätte kalte Füße bekommen und wollte ihn nun nicht mehr so schnell wie möglich ehelichen. Sie musste seine Unruhe wieder beseitigen.
 

Sie lächelte ihn an: „Ich muss dir etwas sagen. Etwas wirklich Wunderschönes. Nur hatte ich bis jetzt irgendwie nicht gewusst, wie ich es machen sollte. Also, unterbrich mich jetzt einfach nicht und hör mir aufmerksam zu, ja?“
 

Er nickte nur still und in seinem Blick herrschte immer noch große Unwissenheit.
 

Lenja holte Luft: „Gut, dann los. Du wirst Vater. Ich erwarte ein Kind, unser Kind.“
 

Thorin blinzelte kurz, schluckte, bevor er eine überforderte Lenja vor Freude in seine Arme riss. Kurz darauf ließ er ihr wieder den nötigen Raum zum Atmen und sah ihr tief in ihre grünen Augen. Seine Augen glitzerten. Sie wischte ihm eine Freudenträne aus dem Augenwinkel. Beide strahlten sich an.
 

„Du machst mich zum glücklichsten Mann in ganz Mittelerde, Lenja. Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich freue. Mein Herz rast. Meine Knie werden weich. Ich kann es kaum erwarten, dass unser Kind das Licht der Welt erblickt. Du wirst eine fantastische Mutter werden, da bin ich mir ganz sicher“, sprach er bevor er sie zärtlich küsste.
 

Die Welt schien stehengeblieben zu sein. Die beiden Zwerge strahlten sich wieder an. Thorin griff hinter seinen Rücken. Er hob das gut gehütete Geschenk von der Werkbank und reichte es Lenja. Ein Armband aus Mithril hielt er in Händen.
 

„Eigentlich wollte ich es dir ja erst in zwei Wochen schenken. Aber da du mich bereits jetzt schon zum glücklichsten Zwerg weit und breit machst, möchte ich, dass du es schon heute trägst. Bei jedem weiterem Kind, was du mir schenkst, werde ich es um ein Detail ergänzen. Und ich hoffe, dass dem ersten noch ganz viele Geschwister folgen werden.“
 

Lenja lachte: „Jetzt klingst du aber stark nach Ári! Bis zur Geburt des ersten bleibt noch ein wenig Zeit und dann sehen wir weiter. Im Moment bin ich aber erst einmal glücklich.“
 

Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und betrachtete das feine Armband an ihrem linken Handgelenk.
 

„Und ich erst. Ein sehr fruchtbarer Boden, wenn du mich fragst. Vor Freude könnte ich dir gleich noch ein zweites Kind machen“, gab der Zwerg mit einem Lachen zu.
 

„Thorin!“, schalt Lenja ihrer Liebe, zog an einem seiner Zöpfe und stimmte mit einem Lachen ein.
 

**
 

All dies ereignete sich vor einer Woche.
 

Ári hatte ihr es zu Beginn ein wenig übel genommen, dass er doch nicht der erste war, dem sie die Neuigkeit unterbreitete. Aber er freute sich dann doch sehr schnell, bald Onkel zu werden. Der kleine Springzinsfeld erzählte den ganzen Tag, was er dem Zwergenbaby alles beibringen wollte sobald es erst einmal auf der Welt sei. Lenja konnte nur lächelnd den Kopf darüber schütteln. Dass sie bald nicht mehr daheim bei ihm sein werden würde, war dem Kleinen nicht bewusst. Sie hatte oft versucht mit ihm darüber zu sprechen. Doch irgendwie schien Ári nicht richtig begreifen zu können oder zu wollen. Sie wusste auch nicht, wie sie selbst es verkraften würde, ohne ihn zu leben. Ihn nicht jeden Tag um sich zu haben. Da sie ihren Beruf ab nächster Woche wohl aufgeben müsste, da es sich nicht schickte als Prinzessin zu arbeiten, hätte sie viel Zeit für ihren kleinen Bruder übrig gehabt. Sie hatte bereits mit Thorin geredet, ob es nicht besser sei Ári bei ihnen großzuziehen. Zu einem genauen Ergebnis waren sie noch nicht gekommen. Er befürwortete es, doch die letzte Instanz war wohl Thrór. Und der hatte sich eben noch nicht geäußert.
 

Nachdenklich saß Lenja über einer Brosche. Die Zukunft würde viele Veränderungen bringen, da war sie sich sicher. Sowohl positive als auch negative. Sie konnte ihrem Schicksal nicht entrinnen. Es bedeutete für sie alle eine Umstellung. Und doch würde sie ihre Familie nicht verlieren. Sie waren alle im Erebor. Dennoch blieb eine gewisse Unruhe. Die Angst, die Furcht vor dem neuen Leben. Dies war normal, doch es fiel ihr schwer sich von diesen Gedanken zu lösen. Sie musste sich auf ihre geliebte Arbeit konzentrieren. Solange sie noch Goldschmiedin war, sollte sie ihre Zunft auch richtig ausführen.
 

Lenja zuckte zusammen. Hungstarri war soeben in ihre Werkstube gerannt und rang nach Atem. Dass dieser alte Zwerg überhaupt noch so schnell laufen konnte, überraschte sie. Doch sein Gesichtsausdruck versetzte ihr einen Stich ins Herz. Er rang nach Luft und Fassung.

Draußen vor ihrem Fenster herrschte helle Aufregung. Sie konnte Schreie hören. Wildes Durcheinander. Menschen, Zwerge alle liefen sie vor etwas davon. Noch bevor der Zwerg sich verständlich machen konnte, hörte die Frau den langgezogenen Laut der Hörner. Sie sprang von ihrem Platz auf. Es wurde zum Alarm gerufen! Der Wind ließ die Fensterscheiben erzittern. Ein Heulen, wie es nur ein schwerer Sturm verursachen kann, ließ sie zusammenfahren. Doch der Blick zum Himmel ließ keine Wolken erkennen. Was bei Mahal ging hier vor?
 

„Drache, keuchte Hungstarri, sie sagen, ein Drache greift den Erebor an!“
 

„Ári!“, stieß Lenja heraus.
 

Der Zwerg hielt sie am Arm fest als sie aus der Tür heraus sturmen wollte.
 

„Geh nicht! Wenn es wirklich ein Drache ist, sind sie alle verloren“, er klang flehend.
 

„Ich muss. Ich muss ihn finden“, war alles, was der alte Zwerg von ihr vernahm bevor sie sich panisch losriss.
 

Lenja rannte. Sie musste ihren Bruder finden. Sie musste in den Erebor. Sie hatte den Kleinen am Morgen zu Rimma gebracht. Die Zwergin war eigentlich Hebamme. Doch da sich in der letzten Zeit eher wenige kleine Zwerge ankündigten, half sie Lenja gern mit der einen oder anderen Kinderbetreuung aus. Die Zwergin war seit Kurzem mit Glóin liiert und neben ihrer Schönheit eine herzliche Seele. Ári mochte sie. Sie wusste ihren Bruder bei der anderen Frau sicher. Doch die jetzige Situation ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
 

Ihr Herz schlug wild. Es hämmerte. Eine Hitze lag in der Luft. Es war zwar Sommer, doch dies war keine normale Wärme. Rauch stieg aus dem Einsamen Berg auf. Zwerge liefen ihr entgegen. Keiner schien sie zu bemerken. Alle waren sie mit sich selbst beschäftigt. Frauen mit Kindern. Männer. Alte. Junge. Alle waren sie dabei um ihr Leben zu laufen. Sie war die Einzige, die in eine andere Richtung lief. Schwefelgeruch lag in der Luft. Die imposanten Tore des Erebors waren aus den Angeln gehoben. Ein Drache! Es musste wirklich ein Drache sein. Kinder riefen verzweifelt nach ihren Eltern. Leblose Körper lagen auf ihrem Weg. Zwerge mit starken Verbrennungen krochen der Frau entgegen. Sie alle zeugten von einem schrecklichen Geschehnis. Doch nirgends konnte sie Ári oder Rimma sehen. Geröll lag ihr im Weg als sie in den Erebor rannte. Auch von Thorin war keine Spur zu finden. Dwalin, Balin! Wo waren sie alle?
 

Tränen der Angst und des Schmerzes liefen heiß über Lenjas Wangen. Sie durfte sie nicht verlieren. Sie konnte sie nicht an dieses Ungeheuer verloren haben!

Sie kletterte über heißes Geröll. Sie wollte in den rechten Gang laufen. In die Richtung, wo Rimma wohnte. Totenstille lag in der einst so glorreichen Zwergenstadt. Tod und Verderben hielt sie nun fest in der Hand. Krachend fielen Steine aus der Decke zu Boden. Lenja konnte noch im letzten Moment ausweichen. Sie rief in Panik Áris Namen. Sie musste ihren Bruder finden. Er durfte nicht tot sein. Er musste hier doch noch irgendwo sein. Sie schrie ihre Verzweiflung aus sich heraus. Ihre Angst halte von den Wänden wieder. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Der Weg vor ihr war versperrt. Geröll hatte sich aufgetürmt. Wieder überkam sie der Schmerz der Verzweiflung. Völlig entkräftet rief sie Áris Namen und sackte unter heftigen Tränen zusammen. Sie kniete am Boden. Sie hatte das Gefühl den Halt unter ihren Füßen verloren zu haben. Sie würde ihn nie wiedersehen. Nie wieder sein Lachen hören. Ihn nie wieder in ihre Arme schließen können.
 

Doch dann hörte sie etwas. Zuerst dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet. Doch dann war es erneut zu hören. Jemand rief ihren Namen! Es war seine Stimme! Ári rief nach ihr. Ganz leise und dumpf hörte es sich an. Er war hinter dem Geröll! Die Tränen nahmen ihr fast die Sicht. Sie begann ihren verzweifelten Kampf gegen das Gestein. Schon nach kurzer Zeit bluteten ihre Hände. Die Kanten hatten sie rissig gemacht. Doch sie spürte keinen Schmerz. Sie musste ihren Bruder retten. Sie musste Ári freibekommen! Nach einer Ewigkeit hatte sie genügend Platz geschafft. An der rechten Seite des Gangs war das Loch im Schutt nun groß genug, dass sie ihn sehen konnte. Ruß verschmierte sein Gesicht. Doch er schien unverletzt. Hinter ihm konnte sie Rimma sehen. Sie hielt sich mit schmerzendem Blick den Knöchel. Als sie Lenja erblickte, liefen auch ihr die Tränen der Freude über das Gesicht.
 

„Kommt schnell!“, forderte die Zwergin die beiden Verschütteten auf.
 

Ári war schnurstracks durch das Loch geschlüpft. Nur Rimma hatte sich den Knöchel verstaucht oder gebrochen. Doch mit ein wenig Mühe hatte Lenja sie auch aus ihrem Gefängnis befreit. Sie hakte sie unter und so schnell es mit der Verletzten möglich war flohen die drei Zwerge aus dem Ort des Grauens.
 

Lenja zitterte. Ob vor Schwäche oder vor Anspannung wusste sie nicht. Sie hörte nichts mehr. Ári stand vor ihr und deutete in eine Richtung. Doch sie konnte ihn nicht verstehen. Sie folgte seinem Fingerzeig. In naher Ferne sah sie Thorin und etwas weiter vor ihm den König. Sie vernahm immer noch nichts. Sie hatte das Gefühl jeden Moment mit Rimma im Arm zu stolpern. Und dann sah sie hoch. Auf dem Felsen zu ihrer Rechten sah sie Elben. Die Waldelben waren gekommen. Thranduil saß auf einem Hirsch und um ihn herum standen seine Soldaten. Doch sie bewegten sich nicht. Keiner kam ihnen zu Hilfe. Keiner schien den Erebor-Zwergen helfen zu wollen. Stattdessen gab der König den Befehl zur Umkehr. Lenja war als ob sie rote Haare gesehen hatte.

Tauriel war das letzte an das sie dachte bevor ein heftiger Schmerz ihren Unterleib durchfuhr und sie in Ohnmacht zu Boden fiel.
 

**
 

Unter Schmerzen öffnete Lenja ihre Augen. Wo war sie? War das wirklich geschehen? Ein vorsichtiger Blick zur Seite holte sie wieder in die Realität. Sie lag in einem provisorischen Zelt, welches zu zwei Seiten offen war und mitten in freier Natur stand. Am Stand der Sonne konnte sie festmachen, dass es bereits zum Abend dämmerte. Wieder durchfuhr sie ein Schmerz und ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Ihr Unterleib! Jetzt erst bemerkte sie den zusätzlichen Stoff zwischen ihren Schenkeln. Tränen rannen über ihr Gesicht als sie die Farbe wahrnahm. Blutrot. Nein, das konnte nicht wahr sein!
 

Rimma hatte bemerkt, dass Lenja wieder bei Bewusstsein war. Langsam schritt sie selbst unter Schmerzen auf die aufgelöste Zwergin zu. Auch sie hatte Tränen in den Augen. Sie setzte sich zu ihr und nahm den Kopf der Anderen in ihre Arme. Sie sprach nicht. Das brauchte sie auch nicht. Lenja wusste was die Situation bedeutete. Sie wurde erneut und immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Wie ein Kind hielt Rimma Lenja im Arm und strich ihr über den Rücken in der Hoffnung sie beruhigen zu können. Doch niemand konnte sie beruhigen. Sie hatte ihr Kind verloren. Das Geschöpf ,was sie jeden Morgen mit Übelkeit bedachte. Das Wunder, welches sie in inniger Liebe mit Thorin gezeugt hatte. Warum? Warum hatte Mahal es ihr genommen? Warum wurde sie bestraft? Sie hatte doch niemandem etwas getan!
 

Durch den Schleier der Tränen hatte sie Thorin nicht wahrgenommen als er unter die Plane trat. Rimma stand wacklig auf und ließ die beiden allein.
 

Der Zwerg setzte sich zu ihr nieder. Seine Augen waren bereits rot umrandet. Sein Kinn begann zu wackeln bevor auch er zusammen mit Lenja in Tränen den frühen Verlust des gemeinsamen Kindes betrauerte. Sie wusste nicht, was ihr mehr Schmerzen bereitete. Ihr verlorenes Kind zu betrauern oder den Mann, den sie liebte so außer sich zu sehen. Sie hatte noch nie einen Zwerg weinen sehen. So bitterlich, so voller Schmerz. Sie wusste, dass nach dem Tod ihrer Mutter Balin und Dwalin auch gerötete Augen hatten, doch nie hatte sie die beiden Brüder mit Tränen des Verlustes auf den Gesichtern erblickt. Und nun saß Thorin neben ihr und weinte. Er weinte, wie ein kleiner Junge. Und sie beweinte ihren Verlust mit ihm.
 

Nach vielen Minuten hatten sie sich vorübergehend wieder etwas gefangen. Ganz in ihrer Nähe hörte sie Dwalin mit Balin sprechen. Auch Áris Stimme vernahm sie. Doch keiner ihrer drei Lieben klang glücklich. Thorin schien gemerkt zu haben, dass Lenja an ihre Familie dachte und rang sich zu einem kleinen Lächeln durch.
 

„Ihnen geht es allen den Umständen gut. Neben ein paar Kratzern ist ihnen nichts passiert“, bemerkte er während er mit zitternder Hand durch ihre Haare fuhr.
 

„Gut“, flüsterte Lenja.
 

„Rimma meint, du kannst bereits wieder aufstehen, wenn du dich stark genug fühlst“, versuchte er so normal wie nur möglich zu klingen.
 

„Es tut mir so leid“, überkam es sie wieder.
 

Thorin gab ihr mit Tränen in den Augen einen Kuss: „Es ist nicht deine Schuld. Mahals Wege sind manchmal unergründlich und furchtbar schmerzhaft.“
 

Er atmete tief durch bevor er Lenja zurückließ.
 

**
 

Wenig später hatte sich Lenja erhoben. Die Blutung war versiegt. Rimma hatte sich davon noch einmal persönlich überzeugt. Dennoch fühlte sie sich immer noch nicht gut. Sie musste erst einmal verarbeiten, dass sie ihr Kind verloren hatte. Das Kind der Liebe, das nicht das Licht der Welt erblicken durfte. Vorsichtig schnürte sie sich ihre Stiefel als mit einem Schlag ein tobender Thorin vor ihr stand. Ohne reagieren zu können, hatte er seine Hände um ihren Hals gelegt und ihr damit fast jegliche Luft zum Atmen abgeschnürt.
 

„Was hast du gemacht?“, knurrte er und in seinen Augen stand nur noch purer Hass.
 

Lenja röchelte. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihm unter diesen Umständen niemals antworten können.
 

Balin war hinter dem wild gewordenen Zwerg in das Zelt gestürmt und riss ihn von seiner Nichte los, die sich in Panik über den Hals fasste. Er hätte sie fast erstickt! Warum?
 

Angst stand auf ihrem Gesicht geschrieben. Angst vor dem Mann, den sie so liebte. Doch was war geschehen? Der Hass blickte ihr entgegen als Thorin zu ihr rüber sah. Er bebte vor Wut.
 

„Er hatte recht! Du bist nichts weiter als eine miese kleine Dirne! Lässt dich von ihm besteigen und willst mir dann das Balg auch noch unterjubeln! Zum Glück ist es verreckt!“
 

„Wie sprichst mit mir? Was soll das?“, Lenja hatte ihre Stimme trotz der Verzweiflung wiedergefunden.
 

„Wie ich mit dir spreche? Wie soll ich sonst mit einer Professionellen reden? Woher kennt Thráin wohl dein Muttermal auf deiner linken Brust? Hast du eine Idee? Und wieso hast du nicht geblutet als ich dich entjungfert habe? Richtig! Du hast dich auch mit ihm vergnügt! Du bist nichts weiter als Dreck!“
 

Die Zwergin hatte das Gefühl jeden Augenblick dem Erstickungstod nahe zu sein.
 

„Woher er das weiß? Wenn du dich richtig erinnerst, hat er mich fast geschändet! Und wenn du mich dermaßen erregst, sodass ich nicht unter Schmerzen bluten muss, wie ein Schwein auf der Schlachtbank, dann weiß ich auch nicht, was dich daran zweifeln lässt mich eigenhändig entjungfert zu haben!“
 

Balin zwischen den beiden Zwergen wusste nicht, was geschehen war. Hasserfüllt blickten sich die ehemals Liebenden entgegen. Thráin hatte zuvor Lenjas Fehlgeburt unter den schändlichsten Bemerkungen kommentiert. Und was danach geschah, war eben passiert.
 

„Wenn du so sehr an meiner Liebe zu dir zweifelst, dann helfe ich dir gerne nach“, Lenja griff nach dem Armband aus Mithril. Sie riss es von ihrem Handgelenk und warf es vor Thorins Füße. Blitzschnell drehte sie sich um und griff nach einem Messer. Ehe jemand reagieren konnte, hatte sie sich die langen Haare schulterlang abgeschnitten.
 

Sie schmiss sie ihm mit den folgenden Worten ebenfalls vor die Füße: „Ich enthebe dich deinem Versprechen, was du mir gegeben hast. Du bist wieder frei. Ich werde meinen eigenen Weg ohne dich gehen. Wenn du eines Tages wieder zur Besinnung kommen wirst, ist es bereits zu spät. Den Fehler wirst du nie wieder korrigieren können. Möge das Geschlecht Durins in Qualen untergehen.“
 

Ohne ein weiteres Wort ging Lenja unter der Plane hinaus an die kühle Luft. Sie sah Dwalin mit Ári. Beim Anblick ihrer kurzen Haare klappte ihm der Mund auf. Sie hatte es getan. Sie hatte sich gegen das Eheversprechen entschlossen. Und wie es im Brauch üblich war, zeigte sie nun jedem Zwerg, dass sie ihre Liebe noch vor Eheschließung schmerzhaft verloren hatte und auch nie wieder an einer neuen interessiert sei. Er schluckte als er seine Nichte zu sich kommen sah.
 

„Gib mir Ári“, war alles, was sie sagte.
 

Wie in Trance gehorchte ihr Onkel. Sie nahm ihren Bruder auf den Arm, nahm sich eine Decke und steckte sich ein kurzes Schwert an den Gürtel.
 

Sie drehte sich ein letztes Mal um: „Pass gut auf dich und Balin auf. Möge Mahal euch in Zukunft auch weiterhin gnädig sein!“
 

**
 

Schon sehr bald vernahm Lenja nur noch Dunkelheit und Stille um sich und Ári. Sie hatte das provisorische Lager der heimatlosen Zwerge verlassen. Wohin sie ihr Weg führen würde, wusste sie nicht. Doch was sie wusste, war, dass sie an diesem Tag nicht nur ihre Heimat sondern auch die Liebe ihres Lebens verloren hatte.

Auf der Suche

„Halt jetzt endlich still, Ári!“
 

Lenja war kurz davor ihre Geduld zu verlieren.

Bereits zum dritten Mal begann sie ihrem Bruder die Haare zu flechten. Es war sehr aufwändig. Schließlich heiratet man als Zwerg in der Regel eher nur einmal im Leben und da sollten auch bei den Herren die Haare vernünftig sitzen. Doch Ári hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters von über 100 Jahren nichts von seiner kindlichen Unruhe verloren.
 

**
 

Der Schmerz saß tief als sich die Zwergin mit ihrem kleinen Bruder im Arm auf den Weg in ein neues Leben machte. Sie wusste nicht, was die Zukunft für sie bereithalten würde und wo sie eine neue Heimat finden sollten. Ebenso wenig wusste sie, was in Thorin gefahren war. Jeder Gedanke drehte sich um den Hass in seinen kalten blauen Augen.
 

Wie konnte aus Liebe so schnell Verachtung geworden sein? Wieso konnte er sich auch nur im Geringsten vorstellen, dass Lenja ihn betrogen hatte? Und dann auch noch mit seinem eigenen Vater? Diesem Widerling? Warum schenkte er diesem überhaupt sein Vertrauen, obgleich er doch eigentlich hätte wissen müssen, dass dieser nur auf Zerstörung aus sein konnte? Wie konnte er überhaupt an ihrer Liebe zweifeln?

Diese Gedanken trieben sie immer weiter von ihrer ehemaligen Heimat fort.
 

Dwalin war ihr und Ári noch in derselben Nacht gefolgt, doch auch er konnte seine Nichte nicht zur Umkehr bewegen.
 

„Du hast doch gesagt, wenn er mir wehtut, dann brichst du ihm alle Knochen?!“, verzweifelte sie.
 

„Meinst du nicht, dass du ein wenig überreagierst? Vielleicht ist er auch einfach mit der Situation überfordert“, versuchte es der Zwerg diplomatisch.
 

„Überfordert!? Ich kann immer noch seine Hände an meinem Hals spüren, wie sie zudrücken und mir die Luft abschneiden! Lieber sterbe ich allein auf meinem Weg bevor ich mich noch einmal in die Nähe dieses Zwergen begebe! Wie kann er nur an mir zweifeln!“
 

Und sie ließ ihren Onkel stehen und ging.

Es war ja nicht so als ob sie keinen Kontakt in all den vielen Jahren mit Dwalin und Balin hatte. Dennoch konnte sie nicht verstehen, wieso sie Durins Linie auch weiterhin die Treue hielten.
 

Irgendwann hatte Lenja für sich beschlossen nicht mehr über die Vergangenheit nachzudenken. Zu Beginn fiel es ihr schwer. Zu tief saß der Schmerz. Sie hatte das Gefühl ihr Herz war an jenem Tag in viele abertausende Bruchstücke geborsten. Als ob jemand mit einem Hammer auf einen zierlichen Edelstein geschlagen hätte und niemand die Teile wieder zueinander fügen konnte.
 

Manchmal konnte sie ihre dunklen Gedanken doch nicht völlig abschütteln. Im Nachhinein wusste sie, dass es ihre beste Entscheidung gewesen war, Ári mit sich zu nehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich in ihrer Verzweiflung und ihrem Schmerz etwas angetan hätte. Doch dank ihres Bruders war sie gezwungen zu funktionieren. Und das tat sie auch.
 

Viele Jahre durchstreiften die Geschwister das Land. Oft blieben sie nur wenige Zeit am selben Ort. Lenja versuchte sich in den Städten der Menschen als Goldschmiedin, doch nur allzu oft mussten sie ihre Zelte früher als erwartet abbrechen. Neid, Missgunst, Vorurteile, Hass - sie waren lange verdammt ohne neue Heimat zu bleiben. Die erzwungene Wanderschaft zerrte an den Kräften. Oftmals betrat die Zwergin mit ihrem Bruder Ortschaften und musste sich die schlimmsten Beschimpfungen anhören. Wie nutzloses Gesindel wurden sie behandelt. Schmarotzer. Sie wollte doch arbeiten. Sie wollte keine Almosen. Doch keiner brachte ihr ein Fünkchen Vertrauen entgegen.
 

Auch Zwerge, Mitglieder der eigenen Rasse, waren leider keine Ausnahme. Lenja konnte nicht sagen, warum man sie auch unter Ihresgleichen so schlecht behandelte. Kaum war sie als Erebor-Zwerg enttarnt, traten ihr Spott und Hohn entgegen. Ein Weib mit einem Kind auf der Flucht. Sie sagt, es sei ihr Bruder. Doch wahrscheinlich ist es eher ihr Bastard. Hat der Vater die eigene Tochter wohl im Kindesalter, kaum das ihr Körper den Reifeprozess signalisierte, genommen. Da braucht sich auch keiner zu fragen, wieso die glorreiche Stadt unter dem Berg untergegangen ist, wenn bei denen solche Sitten herrschen. Und dann will sie auch noch ein Handwerk erlernt haben. Ein Weib das eine Zunft ausübt? Lächerlich! Vielleicht sollte sie eher als Dirne arbeiten. Schließlich scheint sie ja Erfahrung mit unkeuschen Praktiken zu haben.
 

Am liebsten hätte Lenja allen Spöttern ihr Schwert in den Leib gerammt. Doch was sollte sie denn schon gegen diese Masse an Unwissenden ausrichten? So entschloss sie sich wie nur allbekannt weiter zu ziehen und die Hoffnung nach einem neuen Zuhause nicht aufzugeben.
 

Und sie fand es auch. Nach zehn Jahren auf der Flucht hatte sie einen Ort gefunden, den sie ihre neue Heimat nennen konnte. In einer Kleinstadt ganz in der Nähe des Flusses Baranduin konnte sich Lenja als Goldschmiedin zusammen mit Ári niederlassen. Gemeinsam führten die beiden sehr bald ein Geschäft. Als Meisterin ihres Fachs machte sie ihren Bruder zu ihrem Gesellen. Über mangelnde Aufträge konnten sie sich schon bald nicht mehr beschweren. Wenn das Städtchen auch nicht der Ort gewesen war an dem die beiden Geschwister das Licht der Welt erblickt hatten, war er nach der langen Zerreißprobe endlich ihr neuer Lebensmittelpunkt.

Auch andere Zwerge lebten dort. Zwar waren sie in einer Menschenstadt in Zahlen gemessen kaum von großer Bedeutung. Doch die Mehrheit ihrer Artgenossen war wie Lenja auch ohne Herrscher.
 

Im Normalfall gehörte jeder Zwerg von Geburt an zu einem bestimmten Zwergenvolk und somit auch zu einem bestimmten Herrscher an. Lenja hatte sich in der Nacht ihres Verlustes von Durins Erben befreit indem sie die schmerzlichen Worte über den Untergang Thorins Sippe gesprochen hatte. Auch andere Zwerge waren ihren Königen davon gelaufen. Andere stammten wie Ári und sie aus den grauen Bergen und wollten nicht zusammen mit allen anderen Erebor-Zwergen in den Ered Luin eine neue Heimat finden. Wieder andere gaben ihre Herkunft nicht Preis. Wie dem auch war, Lenja fand Gleichgesinnte. Und in dieser neuen Gemeinschaft fühlte sie sich wohl.
 

Die kurzen Haare blieben. Sie schnitt sie auch weiterhin in regelmäßigen Abständen auf die ungewöhnliche Länge. Sie wollte und brauchte keinen neuen Mann an ihrer Seite. Sie allein genügte sich voll und ganz. Auch trug sie seit jenem Verlust der Heimat und ihrer Liebe nur noch Hosen. Diese beiden Umstände wirkte auf die Männerwelt wohl abschreckend genug. Keiner hatte es auch nur gewagt in Lenjas Nähe zu kommen. Natürlich hatte sie auch freundschaftlichen Umgang mit Zwergen, doch war dies respektvoll und keinesfalls frivol. Für anstößige Dinge waren genügend andere Frauen vorhanden.
 

Nur Stúfur, der Schmied im Ort, hatte sich im angetrunkenen Zustand leichte Hoffnungen auf einen Kuss gemacht, die er bitter bereute. Er hatte sich nach einer Hochzeit zusammen mit Lenja auf den Heimweg gemacht. Doch anstatt sie einfach in ihre Stube treten zu lassen, wollte er noch einen Abschiedskuss als Wegzoll haben. Ohne, dass die Zwergin reagieren konnte, hatte der Zwerg bereits eine saftige Ohrfeige von einer anderen Person erhalten. Dwalin, der regelmäßig über das Jahr verteilt seine Nichte und seinen Neffen für etwas längere Zeit besuchte, hatte dem selbsternannten Casanova eine Schelle verpasst.
 

„Verschwinde du Hurenbock! Die Zwergin hat bereits einen Kerl!“, hatte der Hüne noch seine Aktion kommentiert, woraufhin ihm die Frau hinter geschlossener Tür eine Szene machte und ihn für verrückt hielt immer noch daran zu glauben, dass sie zu einem Mann, besser noch zu Thorin, gehörte.

Sie war keines Zwergen Eigentum!
 

Erst später stellte sich heraus, dass Stúfur der felsenfesten Überzeugung war, Dwalin sei Lenjas Liebhaber. Allein diese groteske Vorstellung brachte die Zwergin hingegen zum Lachen.
 

Lachen. Trotz der neuen Heimat, trotz des lang gesuchten und ersehnten Glücks, das sie nun besaß, war der Zwergin schon lange nicht mehr zum Spaßen. Obwohl sie noch immer einigermaßen jung war, fühlte sie sich unglaublich alt. Zu viel Leid hatte sie bereits in jungen Jahren erfahren müssen. Die, die ihr Halt gegeben hatten, waren nach und nach wieder aus ihrem Leben getreten. Dwalin und Balin sah sie zwar regelmäßig, doch vermieden alle das schwere Thema der Vergangenheit. Nie hatte sie auch nur ein Wort in ihrer Gegenwart über Thorin oder die Umstände seines Angriffs verloren. Nur Ári hatte sie sich etwas geöffnet.
 

„Warum bist du so traurig? Freust du dich denn nicht mehr ein Kind zu bekommen?“, fragte der kleine Junge noch in derselben dunklen Nacht als die Zwergin sich eine Pause vom Marsch gönnte.
 

Tapfer versuchte Lenja damals zu lächeln: „Ich bekomme kein Baby mehr, mein Schatz. Mahal hat es wohl für besser empfunden es mir bereits noch vor seiner Geburt zu nehmen. Das ist der Grund für meine Traurigkeit.“
 

„Und warum sind wir dann nicht bei Thorin und den anderen geblieben?“, sprach die kindliche Neugier.
 

„Thorin ist im Moment auch traurig, sehr traurig. Vielleicht kommt er uns besuchen, wenn es ihm wieder besser geht“, antwortete die Zwergin und jedes dieser Worte gab ihr einen Stich in das ohnehin gebrochene Herz.
 

„Hm, solange er aber nicht da ist, passe ich auf dich auf. Versprochen! Und bis du ein Kind bekommst, werde ich solange dein Baby sein. Ein Riesenbaby!“, lachte ihr Bruder bei seinen letzten Worten auf.
 

Lenja konnte nicht anders als mit unterdrückten Tränen über den Versuch der Aufmunterung zu lachen.
 

Doch die Jahre zogen weiterhin ins Land ohne, dass sich Thorin auch nur blicken ließ. Bis zum heutigen Tag hatte sie ihn nie wieder gesehen. Und das wollte sie auch nicht.
 

**
 

„Ein Glück, dass Mjöll sich ab morgen um deine widerspenstige Haarpracht kümmern kann“, schimpfte Lenja als sie endlich ihr Werk vollendet hatte und ihren Bruder mit einem prüfenden Blick betrachtete.
 

„Lenjalinchen, du wirst immer die erste Frau in meinem Herzen bleiben. Keine kann dir auch nur das Wasser reichen“, zwinkerte Ári.
 

„Lass das mal lieber nicht deine Auserwählte hören, sonst lässt sie dich doch noch im letzten Moment alleine stehen und macht sich aus dem Staub“, spottete seine Schwester.
 

„Das wird sie schon nicht, keine Angst“, Ári lächelte als er sich im Spiegel betrachtete.
 

„Mutter wäre stolz dich so zu sehen“, stimmte Lenja mit einem Lächeln ein.
 

Ihr Bruder wandte sich von seinem Spiegelbild ab und blickte seine große Schwester ein wenig wehmütig an: „Eigentlich hattest du das Glück verdient, das mir nun zuteil geworden ist.“
 

Bevor die Zwergin auch nur etwas darauf erwidern konnte, klopfte es an die Tür.

Szenen einer Ehe

Lenja wies ihren Bruder an, seine Kleidung noch einmal zu Recht zu rücken bevor sie die Tür öffnete. Ein sichtlich erschöpfter und dennoch glücklicher Dwalin stand vor ihr.
 

„Und ich hatte schon gedacht, es käme niemand mehr. Wo hast du eigentlich Balin gelassen?“, sprach die Zwergin und versuchte ihren anderen Onkel ausfindig zu machen.
 

„Er kommt nach. Ich sollte schon einmal vorgehen. Er hatte irgendetwas Spannendes auf dem Markt hier bei euch gesehen. Egal. Er wird wohl bald hier sein. Wo ist denn der glückliche Bräutigam?“, fragte ihr Onkel als er die Wohnstube betrat.
 

Die Frau wies nur in Áris Richtung: „Bis jetzt hat er das Atmen nicht vergessen und ist mir auch noch nicht in Ohnmacht vor Aufregung gefallen. Ich glaube, Mjöll würde mich einen Kopf kürzer machen, wenn ich ihren Áriputzi auch nur einen kurzen Moment aus den Augen lasse. Man könnte sich ja fragen, wer hier eigentlich wen ehelicht.“
 

Dwalins Lachen dröhnte im Raum: „Komm her du Herzensbrecher! Schmeißen wir deine Schwester aus dem Haus damit wir ungestört noch einmal deine Freiheit genießen und uns an den Geschichten deines Onkels mit den unzüchtigen Weibern erfreuen können.“
 

„Da gehe ich freiwillig, Dwalin. Deine Weibergeschichten will ich mir dann doch nicht anhören. Ich gehe zu Mjöll und gucke wieweit die Vorbereitungen dort sind. Falls ihr mich sucht, wisst ihr ja nun wo ihr mich findet“, sprach die Frau und schloss fluchtartig die Tür hinter sich als Dwalin bereits von der Zungenfertigkeit einer Schankmaid zu schwärmen begann.
 

Zu Mjöll hatte es Lenja nicht weit. Sie musste nur einmal die schmale Gasse durchqueren und fand die nervöse Braut bereits umringt von zwei anderen Zwerginnen. Ihre noch sehr jungen Nichten hatten es sich zur Aufgabe gemacht aus dem Nervenbündel eine Schönheit zu machen, die es weit und breit noch nie gegeben hatte. Als sie die kurzhaarige Frau bemerkte, schickte sie die beiden anderen hinaus.
 

Lenja trat hinter ihre zukünftige Schwägerin und legte mit letzten gezielten Handgriffen ihr ein Kollier um. Das satte Blau der vielen Steine passte zu den Augen der jungen Frau. Mjöll war eine Pracht. Nicht nur an diesem besonderen Tag strahlte sie mit einer Schönheit. Auch sonst war sie eine Augenweide. Sie war kleiner als Lenja, hatte lange lockige blonde Haare, die sie immer kunstvoll drapierte. Ihre Augen waren so blau, wie das Meer. Ihre Lippen waren voll und sie besaß einen Körper, der wohl einigen Herren den Schlaf rauben konnte. Gemäß dem zwergischen Schönheitsideal war sie eher stämmig, mit einem breiten gebärfreudigen Becken und einer prallen Oberweite. Aber sie war trotz ihrer Rundungen nicht unansehnlich. Wohl proportioniert, hieß es schon bald aus Áris Mund.
 

Er liebte Mjöll abgöttisch. Vielleicht war es ihre ähnliche Herkunft, das ähnliche Schicksal, dass die beiden Zwerge verband. Auch die Zwergin hatte ohne Mutter aufwachsen müssen. Sie war zwar nicht wie Láfa im Kindbett gestorben. Dennoch fehlte ihr eine weibliche Bezugsperson schon bald in der Pubertät. Da ihr Vater sich allein um das jüngste seiner Kinder kümmerte und als Handwerker oft genug dazu veranlasst war den Ort für einige Aufträge auch verlassen zu müssen, ließ er Mjöll bald in Lenjas Obhut. Und still und leise entwickelte sich zwischen der blonden Schönheit und dem dunkelhaarigen Ári ein zartes Band der Liebe.
 

Ihren Segen hatten die beiden Liebenden ohne zu zögern erhalten. Sie gönnte ihnen das junge Glück. Sie konnte sehen, dass die beiden sich gut taten und dass ihr Bruder seine Auserwählte über alles liebte. Liebe wie sie sein sollte. Auch wenn sie es nicht vermeiden konnte, dass ihr in der ein oder anderen Minute der Schwäche nicht auch der Gedanke kam, warum sie dieses dauerhafte Glück niemals erfahren hatte, gönnte Lenja den beiden alles. Sie war nicht eifersüchtig oder neidisch auf deren Freude und Zuversicht. Nein, das konnte man wirklich nicht sagen.
 

Doch ein anderes Gefühl nahm ohne ihr Zutun unweigerlich zu. Und das hieß Wut. Wut gepaart mit Verzweiflung. Sie hätte nicht gewusst, wie sie Thorin gegenüber getreten wäre, wenn er sie gesucht, gefunden und um Verzeihung gebeten hätte. Sie war sich bis zum heutigen Tag nicht sicher, ob sie ihm verziehen hätte. Ob sie einen Neuanfang im Exil mit ihm gewagt hätte.

Doch diese Fragen konnten sich nicht beantworten lassen, da er nicht zu ihr gekommen war. Über 100 Jahre waren ins Land gezogen ohne eine Nachricht.
 

„So, das war der letzte Handgriff, Mjöll. Nun müssen wir nur noch deinen Bräutigam unfallfrei nach draußen bugsieren und eurem Versprechen steht nichts mehr im Weg“, bemerkte Lenja mit einem Lächeln als sich die Braut zufrieden im Spiegel betrachtete.
 

„Danke. Danke, dass du das für mich gemacht hast“, sagte Mjöll.
 

Die Größere von beiden war etwas überrascht: „Das ist doch ganz normal. Schließlich gehörst du ab heute auch offiziell zur Familie.“
 

„Nein, das meine ich nicht, unterbrach sie die andere, ich meine das Kleid. Das Kleid, was du heute trägst. Ich habe dich noch nie in einem Kleid gesehen. Ich fühle mich geehrt, dass du mir die Freude machst und vor meiner buckligen Verwandtschaft die brave Zwergin mimst. Es muss dir schwer fallen nach all den Jahren...“
 

Lenja schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie hatte recht. Eigentlich wollte sie nie wieder ein Kleid tragen. Sie wollte nicht als Frau wahrgenommen werden. Doch nach all den vielen Jahrzehnten war dies heute das erste Mal. Sie wollte ihrer Schwägerin eine Freude bereiten. Auch wenn sie sich dafür selbst ein wenig verriet, waren es nur wenige Stunden, die sie in ihrem grünen Kleid ausharren musste. Was waren Stunden schon im Vergleich zu Streit und Häme auf der Hochzeit ihres Bruders und seiner zukünftigen Frau? Es war wirklich ein kleines Geschenk, was sie Mjöll machte indem sie trotz der kurzen Haare eine halbwegs normale Zwergin für den heutigen Tag spielen wollte.
 

„Ist schon gut“, bemerkte Lenja trocken.
 

Sie zupfte ihrer Schwägerin in spe noch schnell eine lose Strähne aus dem hübschen Gesicht bevor sie mit ihr zusammen den Weg zur großen Eiche im Ort einschlug.
 

Die Sonne schien. Kein Wölkchen zu viel verdeckte den blauen Himmel. Es war wirklich ein wunderbarer Tag. Das schönste Wetter um eine Hochzeit abzuhalten. Schon von Weitem konnten die beiden Frauen ein freudiges Stimmengewirr wahrnehmen. Mjöll drückte vor Aufregung Lenjas Hand ein wenig fester. Die Zwerginnen lachten sich an.

Wie musste es erst Ári gehen, wenn bereits seine ansonsten fest entschlossene Braut mit flatternden Nerven zu tun hatte? Hoffentlich hatten Dwalins Geschichten ein wenig für Ablenkung gesorgt. Dass Ári schon seit Tagen vor Aufregung kaum ein Auge zu tat, war seiner Schwester nicht entgangen.
 

In raschen Schritten kamen die Frauen näher. Mjölls große Verwandtschaft schien bereits vollzählig zu sein. Bei ihrer eigenen Familie konnte man die Mitglieder leider mit einer Hand abzählen. Es blieben neben ihr, Lenja selbst, nur Dwalin und Balin. Ihr Großvater Fundin hatte sein Leben bereits auf dem Schlachtfeld bei der Schlacht von Azanulbizar ausgehaucht. So war die ohnehin bereits kleine Familie noch weiter geschrumpft.
 

Umso näher sie kamen, umso klarer konnten sie die Gäste erkennen. Mjölls Vater unterhielt sich mit seiner Schwester. Ihre Nichten schäkerten mit jungen Zwergen aus dem Ort. Stúfur rückte mit seinem Bruder noch ein paar Holzbänke an ihren richtigen Platz. Und Ári stand neben Dwalin, währenddessen sich Balin mit einem dunkelhaarigen Zwerg zu unterhalten schien.

Nein! Bei Aule! Das konnte doch nicht wahr sein!
 

Lenja blieb wie angewurzelt stehen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie wahrscheinlich auf die Idee gekommen, dass sie einen ganz schlechten Traum hatte. Mjöll war nun auch stehengeblieben und folgte verwirrt den Blick der anderen Frau. Sie schien den Grund für Lenjas Aussetzer gefunden zu haben.
 

„Ist er das? Der Dunkle da neben eurem Onkel Balin?“, fragte sie vorsichtig.
 

Die Andere nickte wie in Trance.
 

„Was will er hier? Hat Ári ihn eingeladen?“, forschte sie weiter.
 

„Wenn ich das wüsste“, nuschelte Lenja.
 

Sie hatte das Gefühl, jemand würde ihr einen ganz üblen Streich spielen. Verdammt noch mal! Was wollte er hier? Was sollte das werden? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ári ihn hinter ihrem Rücken zu seiner eigenen Hochzeit eingeladen hatte. Warum auch? Er wusste, dass er seiner Schwester damit keinen Gefallen machen und die Stimmung auf der Feier erheblich gefährden würde.
 

„Lenja, wir müssen weiter. Wenn wir noch länger hier stehenbleiben, dann hat er seinen Triumph. Lass uns weitergehen. Meinst du, du hast dich soweit unter Kontrolle, dass du weiter kannst?“
 

„Wahrscheinlich. Ich versuche, euch beiden die Hochzeit nicht zu ruinieren. Doch ich kann für nichts garantieren, Mjöll.“
 

Sie waren kaum mehr als zehn Meter von den anderen entfernt. Ihre Augen hatten Lenja keinen Streich gespielt. Er war wirklich da. Als Áris Blick ihren eigenen traf, konnte sie ebenfalls eine Fassungslosigkeit in ihm erkennen. Nein, er hatte ihn nicht eingeladen. Sie hatte da aber bereits einen Verdacht, wer ihm von dem Fest berichtet hatte. Doch musste diese Klärung noch ein wenig auf sich warten lassen.
 

Mjölls Hand umschloss Áris als beide unter die Eiche traten und den gemeinsamen Schwur für ewige Liebe und Treue sprachen. Lenja hatte sich demonstrativ zu Mjölls Vater gestellt. Kein einziger Blick sollte ihren Onkeln und deren besondere Überraschung gelten. Sie wollte sich diesen schönen Moment in ihres Bruders Leben nicht von den drei Hornochsen kaputt machen lassen. Leider war dieser Schwur viel schneller wieder vorbei als es der Zwergin lieb war. Sie gratulierte den beiden Verheirateten mit dem stolzen Brautvater als erstes. Und schon begann die Musik zu spielen. Essen wurde aufgetischt. Es sollte an diesem Tag der Freude niemanden an etwas fehlen. Lenja hatte lange dafür gespart. Zusammen mit den Ersparnissen des Brautvaters konnten sie sich dieses rauschende Fest nun auch endlich leisten.
 

Als alle Gäste einer Beschäftigung nachgingen, sah Lenja den Moment gekommen. Sie ging auf die Dreiergruppe zu und mit einem „Mitkommen, aber sofort!“ folgte auch der Richtige hinter den mächtigen Baum.
 

Ohne Vorwarnung drehte sie sich zu ihm um: „Was bei Mahal willst du verdammt nochmal hier!?“
 

„Ich freue mich auch dich zu sehen, Lenja. Wie ich sehe, bist du immer noch so impulsiv, wie einst. Die Zeit hat dich nicht verändert.“
 

„Dich schon! Du bist ziemlich grau geworden! Aber hörst du mir nicht zu? Ich habe dich etwas gefragt! Antworte gefälligst!“
 

„Deinem Bruder zu seinem Glück gratulieren?“
 

„Das hast du ja eben getan. Dann kannst du auch wieder gehen. Den Weg in die Ered Luin kennst du ja. Auf nimmer wiedersehen!“
 

„Lenja, pass auf, wie du mit mir sprichst!“
 

„Wie ich mit dir spreche? Wer lässt sich denn über hundert Jahre nicht bei mir blicken? Wer hat mich auf das Übelste beschimpft? Wer ist überhaupt auf die kranke Idee gekommen, dass ich mich von diesem Schwein auch noch anfassen lasse? Wer? Wer? Wer, wenn nicht du? Und jetzt kommst du hierher als ob nie etwas geschehen war und willst einfach so mir nichts dir nichts meinem Bruder zur Hochzeit gratulieren? Erzähl das, wem du willst! Nur verschwinde dahin, wo du hergekommen bist!“
 

Sie bebte vor Wut. Wut, die sie all die Jahre unterdrücken musste. Die sie mit sich allein ausmachen musste. Und nun stand der Grund ihres Schmerzes vor ihr und tat so als ob nie etwas vorgefallen war.
 

„Meinst du wirklich, ich bin hierhergekommen, um mir dein Gejammer anzuhören? Ich habe einen anderen Grund! Wenn ich darauf aus gewesen wäre, dann hätte ich dich schon eher aufgesucht“, zischte der Zwerg und sein kalter Blick traf die Frau.
 

„Gejammer? Du hast dich keinen Deut geändert! Du bist immer noch dieses Monster aus jener Nacht! Kein Deut besser als dein eigener Erzeuger, der dich belogen hat und dir nach deinem eigenen Kind auch noch dein Weib genommen hat! Ich hoffe, er ist wenigstens an seinem Wahnsinn elendig verreckt, wenn ich dem glauben kann, was ich von Balin und Dwalin gehört habe!“, sie wandte sich um zum Gehen.
 

Er hielt sie fest und drückte sie gegen die Eiche. Sein stechender Blick traf sie als sich eine gierige Hand unter ihren Rock schob.
 

„Ist es das, was du willst? Soll ich dir ein zweites Kind machen, damit du den ersten Schmerz vergisst? Glaubst du, du kannst mich mit dem weibischen Geschwätz klein bekommen? Du jammerst mir die Ohren voll! Du gibst mir die Schuld? Hast du dich auch nur einmal gefragt, wie ich mich gefühlt habe? Wie leer ich war als ich erfahren habe, was du mir angetan hast? Nein, das hast du nicht!“
 

„Lass mich los, du Idiot!“
 

Sein Griff lockerte sich, doch seine Augen blickte sie ohne jede Emotion an.

„Idiot, nennst du mich? Für diese Worte müsste ich dir eigentlich die Zunge herausschneiden! So spricht niemand mit seinem König! Selbst in Ungnade gefallene Mätressen nicht.“
 

Und so traf Thorin Lenjas rechte Hand. Sie konnte nicht anders als ihn dafür zu ohrfeigen. Erstaunt über ihre Reaktion blickte er sie an. Eiseskälte herrschte zwischen ihnen.

Pläne

Überrascht von ihrer eigenen Tat stand Lenja immer noch vor Thorin. Sie bebte wie zuvor vor Wut und Schmerz über seine kalten Worte. Auch er schien nicht minder erstaunt. Verwunderung stand beiden förmlich auf den Gesichtern geschrieben.
 

„Schäm dich für deine Worte! Geh einfach wieder! Und nimm die beiden Hornochsen mit, die sich meine Onkel nennen“, wandte sich die Zwergin um.
 

„Ich gehe, wann es mir gefällt“, brummte er hinter ihr.
 

„Mach was du willst. Etwas anderes hast du sowieso nie in deinem Leben gelernt. Wenn der vornehme Herr etwas will, dann nimmt er sich ja immer, was ihm beliebt.“
 

Sie ließ ihn stehen. Sie wollte nicht noch mehr die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich lenken. Sie wollte ihrem Bruder und seiner Frau den Ehrentag nicht mit ihren eigenen Problemen vermiesen. Sie wunderte sich über Thorins kaum vorhandene Reaktion. Er hätte allen Grund gehabt sich zu wehren nachdem sie ihn für seine Worte geohrfeigt hatte. Doch er tat es nicht. Er hatte gar nichts getan. Sie nur für einen Bruchteil der Sekunde etwas weicher angestarrt bevor sein stehender Blick wieder Oberhand nahm.

Ob er sich selbst für seine Worte schämen konnte? Sie wusste es nicht. Um ehrlich zu sein, wollte sie es auch nicht wissen. Dieser Zwerg war es eindeutig nicht wert, dass sie sich weiterhin über ihn Gedanken machte.
 

Wütend stapfte sie auf ihre Onkel zu. Dwalin konnte ihren Blick sofort deuten, denn er zog bereits den Kopf ein bevor sie sie erreicht hatte. Auch Balin schien nicht mehr so zuversichtlich zu sein, wie zu Beginn der Feier.
 

„Wenn ihr beiden auch nur eine Minute länger mit diesem Idioten in meiner Stadt bleibt als nötig, dann muss ich mir genau überlegen, was ich für Konsequenzen aus der Sache hier ziehe. Falls dies ein seltsamer Versuch sein sollte diesen selbstverliebten Gockel und mich wieder zusammenzubringen, dann weiß ich wirklich nicht, was bei euch beiden in den Oberstübchen vorgeht! Ihr habt doch alle einen Knall!“, zischte sie so leise, wie möglich.
 

„Und für eure Übernachtung könnt ihr euch auch noch einen anderen Schlafplatz suchen. Von wegen, wir lieben dich und Ári wie unsere eigenen Kinder. Einen Dreck habt ihr euch darum gekümmert als meine gesamte Welt in Flammen stand! Ihr seid bei diesem Durinpack geblieben und habt eure eigene Familie ohne weiteres gehen lassen. Vielen Dank!“
 

Lenja musste gehen. Sie musste ihre Wut in die Beine weiterleiten. Wie schon so oft in ihrem Leben musste Bewegung dafür sorgen, dass sie nicht ihren Verstand verlor.
 

Was hatten sie sich überhaupt dabei gedacht? Als ob eine Hochzeit der beste Ort gewesen wäre alte Wunden wieder aufzureißen! Was ging diesen Dreien überhaupt in ihren hohlen Schädeln vor? Was wollte Thorin denn? Wenn er nicht mit Lenja über die schmerzliche Zeit sprechen wollte, was sollte dann dieser Auftritt? Wollte er sie nach all den Jahrzehnten erneut quälen? Sie genauso quälen, wie sein Erzeuger seine eigene Mutter gequält hatte? Er war wirklich kein Deut besser als Thráin. So sehr er einst in purer Abscheu von ihm gesprochen hatte, war er seiner nun immer ähnlicher als ihm vielleicht bewusst war. Doch was ging ihr sein Schicksal an? Er hatte ihr doch soeben eindeutig gezeigt, was er von ihr zu halten schien.
 

Wütend schmiss sie einen Stein in den Weiher. Sollte er doch so schnell wieder aus ihrem neuen Leben verschwinden, wie dieser Stein vor ihren Augen untergegangen war.
 

**
 

Trotz des rauschenden Fests war Lenja am darauffolgenden Morgen wieder früh auf den Beinen.
 

Sie hatte am gestrigen Tag versucht so unauffällig wie nur möglich auf der Feier ihres Bruders und Mjölls zu wirken. Es war ihr dank Stúfur dann doch schneller gelungen als sie gedacht hatte. Normalerweise gefiel es ihr nicht unbedingt, wenn der Schmied sie im Stillen anschmachtete. Doch in ihrem Zustand konnte sie sich bald keine bessere Ablenkung wünschen. Er schaffte es sogar, dass sie ihre trüben Gedanken für eine gewisse Zeit verlor. Selbst das Lachen war für wenige Momente zurück in ihr Leben gekehrt. Sie tanzten, sie lachten und alles unter Thorins düsteren Blick. Vielleicht tat Lenja auch all dies, nur um ihn eventuell immer noch ein wenig zu treffen. Sie wollte ihm auch Schmerzen zufügen, genauso wie er sie quälte. Nur tat sie dies nicht mehr allein durch Worte sondern eher durch ihre Taten.
 

Letztendlich war sie dem Schmied mit in sein Zuhause gefolgt. Ein wenig beschwipst, wollte sie an diesem Abend nicht allein heimgehen. Ári hatte nun Mjöll. Nur wen hatte sie? Vielleicht war es doch die beste Idee nicht ihr restliches Leben allein zubleiben? Stúfur zeigte bereits seit Jahrzehnten starkes Interesse an ihr. Warum sollte sie sich immer noch seinem stillen Werben entziehen?

So folgte sie ihm in dieser Nacht in seine Kammer. Sie wollte Liebe spüren. Sie wollte begehrt werden. Sie wollte spüren, was es hieß eine Frau zu sein. Nach so langer Zeit wollte sie das Begehren eines Mannes wecken. Sie wollte warme, nackte Haut an der ihren fühlen. Die Hitze der Lust wieder in sich aufsteigen fühlen. All dies fand sie auch im Liebesspiel. Für Stúfur war sie in jener Nacht die Göttin seines ersehnten Verlangens. Auch wenn sie ihn nötigte ein Tierdarm über sein Glied zu ziehen, befand der Zwerg sich im Himmel seiner Wünsche. Lenja wollte die Nacht mit ihm nicht missen. Doch war sie bereits im Morgengrauen aus seinem Lager geschlüpft und heimgekehrt.
 

Ári und Mjöll hatten somit ihre Ruhe genießen können. Mit seiner Frau würde ihr Bruder nun im gemeinsamen Haus wohnen, was Lenja nicht sonderlich störte. Doch vielleicht war es dem frischgebackenen Ehemann doch ganz lieb in seiner Hochzeitsnacht ungestört sein Weib in die Kunst der körperlichen Liebe einzuführen. Nicht, dass seine Schwester vorgehabt hätte, wie einst er, am frühen Morgen neben dem Bett zu stehen und zu fragen, ob denn die letzte Liebesnacht auch erfolgreich gewesen war.
 

Bei diesem Gedanken konnte Lenja ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Sie blies den Dampf von ihrem Tee und blickte von der Fensterbank aus hinaus in den Hof. Sogleich wünschte sie sich, dass sie dies lieber unterlassen hätten. Denn ohne einen Hintergedanken sah sie dort ihre beiden Onkel zusammen mit Thorin auf ihre Haustür zu schreiten. Wunderbar! Schon am frühen Morgen sollte es wieder hoch hergehen.
 

Es klopfte bereits.
 

Lenja erhob sich gequält von ihrem Platz und öffnete mit ihrem unfreundlichsten Gesichtsausdruck.
 

„Wir müssen mit Ári reden“, verkündete Balin.
 

„Der ist noch nicht wach. Ihr müsst später wiederkommen, wenn es denn so wichtig ist“, entgegnete die Zwergin und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
 

„Dann warten wir in deiner Stube.“
 

„Das tut ihr nicht. Niemand von euch betritt auch nur noch einmal mein Haus.“
 

„Nun stell dich nicht so an, Lenja. Was soll das denn? Du verhältst dich wie ein kleines Kind!“, schimpfte ihr ergrauter Onkel.
 

„Wie ein Kind? Was wollt ihr überhaupt mit dem Spinner hier? Wollt ihr mich zusammen mit ihm quälen?“, polterte Lenja.
 

„Was ist denn los? Was streitet ihr euch in der offenen Tür?“, fragte ein zerknautschter Ári im Morgenmantel.
 

Lenja trat den drei anderen Zwergen aus dem Weg. Hatten die ein Glück, dass ihr Bruder just in dem Moment erwacht war. Sie hätten ihnen sonst ohne ein weiteres Wort die Tür vor der Nase zugeschlagen.
 

Sie nahmen in ihrer Wohnstube Platz. Ári stellte eine Teekanne auf den Tisch, goss sich ein und bot den anderen auch etwas an.
 

„Was gibt es also nun so wichtiges, das ihr euch bereits am frühen Morgen streiten müsst?“, wollte der junge Mann wissen.
 

„Wir brauchen dich“, begann Thorin.
 

„Mich brauchen? Wofür denn das?“
 

Der schwarzhaarige Zwerg sah kurz zur Seite, wo Lenja Platz genommen hatte bevor er weitersprach: „Wir wollen unsere Heimat zurückerobern. Und für dieses Unternehmen möchte ich dich gewinnen. Wir brauchen einen dritten Fundin in unseren Reihen, wenn wir diesen Drachen aus dem Erebor verjagen.“
 

„Warte. Bitte nochmal. Ihr wollt den Erebor nach all den Jahren zurückerobern? Wie viele folgen dir? Kommt dir dein Vetter aus den Eisenbergen zu Hilfe? Stellt er ein Heer?“, fragte Ári verwirrt.
 

„Noch steht nicht fest, ob Dáin uns folgen wird. Doch auch ohne ihn, werden wir Smaug besiegen können. Balin, gib Ári den Vertrag!“
 

Balin reichte seinem überforderten Neffen ein Manuskript. Zugleich begann er zu lesen. Er weitete seine Augen und schüttelte geistesabwesend den Kopf.
 

Lenja konnte ihren Mund nicht mehr halten. Waren sie nun alle vollkommen geisteskrank?
 

„Wenn ihr euch umbringen lassen wollt, dann geht. Doch was soll Ári dabei? Was soll er zusammen mit einem Haufen durchgedrehter Zwerge gegen einen Drachen ausrichten? Oder soll ich euch daran erinnern, dass dieses Ungeheuer ein ganzes Volk von Zwergen aus dem Berg verjagt hat, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten? Und nun? Was soll das? Kannst du nicht einmal mit dem glücklich sein, was du hast Thorin? Was willst du dort? Du bist doch bereits König! Auch wenn es nicht der Erebor ist, solltest du nicht immer nach Höherem streben!“
 

„Halt deinen Mund! Du weißt nicht, wovon du redest! Was weißt du denn von solchen Dingen? Du bist ein Weib und verstehst nichts von Krieg!“, Thorin war von seinem Platz aufgesprungen und funkelte sie an.
 

„Vielleicht hast du recht! Doch Ári versteht genauso wenig von dem! Du bist weder mein noch sein König! Willst du dafür verantwortlich sein, wenn Mjöll ihren Mann verliert? Willst du ihr erklären, dass ihr Gatte bei deinem irrwitzigen Unternehmen sein Leben für nichts und wieder nichts verloren hat? Willst du, dass sich die Fehler der Vergangenheit wiederholen und Unglück über Liebende kommt?“, Lenja war ebenfalls auf den Beinen und beide Zwerge funkelten sich bedrohlich an.
 

Die Luft knisterte förmlich vor Anspannung. Keiner rührte sich. Niemand wusste, was er sagen sollte. Balin und Dwalin tauschten Blicke aus. Doch Lenja sah dies nicht. Alles, was sie erblickte war der kalte Blick ihres Gegenübers.
 

Dann durchbrach Áris Stimme die Stille: „Hier Balin, nimm den Vertrag. Ich habe unterschrieben. Was auch immer du sagst, Lenja, ich werde ihnen folgen.“

Thorin & Co.

Die Sonne war bereits untergegangen. Das kleine Dorf zu ihren Füßen lag schlummernd zwischen den Hügeln. Hobbiton. Wenn man ihr gesagt hätte, dass es diese Siedlung wirklich gab, hätte sie nur den Kopf geschüttelt. Von Hobbits hatte sie schon gehört. Daran konnte ihr Unglaube nicht liegen. Nur hätte sie niemals für möglich gehalten, dass sie in einer solchen Gemeinschaft leben. Seit dem späten Nachmittag beobachtete sie die Umgebung aus ihrem Versteck heraus.
 

Hobbits waren klein. Um einiges kleiner als Zwerge. Sie gingen barfuß, warum auch immer. Aber es schien sie alle nicht zu stören. Auch konnte man gut Frauen und Männer voneinander unterscheiden. Wie in vielen anderen Völkern in Mittelerde üblich, trugen die Damen Kleider. Sie wirkten beinahe ähnlich stämmig wie Zwerginnen. Insgesamt machten alle Mitglieder dieser höchst speziellen Rasse einen freundlichen und ausgeglichenen Eindruck. Sie hörte keine lauten Stimmen. Nur die Kinder, sie nahm es an, denn diese Hobbits waren noch kleiner als die anderen, quietschten vergnügt in ihrem Spiel. Was für eine Idylle. Und hier sollte ein Mitglied von Thorins Gemeinschaft wohnen? Hier? Ein ähnlich friedfertiger Geselle, wie all die anderen Hobbits? Sie konnte es sich nicht recht vorstellen, dass hier jemand hausen sollte, der sich freiwillig einem Haufen Zwerge anschloss. Auch wenn sie nach den wenigen Stunden der Beobachtung nun wirklich keine Hobbitexpertin war, schien ihr diese Vorstellung doch ein wenig grotesk. Doch was blieb ihr übrig? Sie würde es bald herausfinden müssen. Ob es ihr oder Thorin recht war, zählte nicht.
 

Ári würde nicht kommen. Sie würden alle vergeblich auf ihn warten.
 

Nach dem Auftritt ihrer Onkel und Thorin hatte Lenja getobt. Sie hatte sie alle drei aus dem Haus geschmissen. Ohne ein weiteres Wort hatte sie ihnen die Nase vor der Tür zugeschlagen. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass man Ári in sein Unglück reißen wollte. Und genauso wenig, dass dieser Holzkopf den Vertrag auch noch gleich ohne mit Mjöll zu sprechen unterschrieben hatte. In nicht mehr ganz zwei Monaten sollte die hirnrissige Unternehmung Thorins beginnen. Es blieb also noch Zeit ihrem Bruder ins Gewissen zu sprechen. Was auch immer bei ihm im Oberstübchen vorging, es machte Lenja ähnlich rasend, wie der Umstand der Besucher. So schnell sie gekommen waren, sah man auch keine Spur mehr von ihnen.
 

Es zerriss Mjöll fast das Herz als Ári ihr noch am selben Morgen beichtete, was er soeben unterschrieben hatte. Sie verstand ihn nicht. Um ehrlich zu sein, wusste er selbst nicht genau, warum er den Vertrag gegengezeichnet hatte. Es war wohl der Umstand, der Zufall, die Bitte an ihn, ausgerechnet an ihn, ein Erbe Fundins, der ihn auf dieses dünne Eis getrieben hatte. Lenja konnte nicht genau sagen, ob er seine Entscheidung schon kurz darauf wieder bereute.
 

Was aber eindeutig war, waren Mjölls Versuche ihren frischgebackenen Ehemann bei sich zu halten. Nach anfänglichen Diskussionen, die in den ersten Ehestreitigkeiten endeten, kam der blonden Zwergin ein Einfall, den man eventuell moralisch verwerflich bewerten kann. Sie hatte eine Idee, wie sie ihre große Liebe von seinem Unglück abhalten konnte. Und sie sollte auch Erfolg mit dieser Theorie haben. Sie setzte alles daran so schnell wie nur irgend möglich schwanger zu werden. Sie ahnte, dass sie Ári mit dieser Neuigkeit zum Bleiben zwingen konnte. Ihm die Entscheidung abnahm in sein Verderben zu laufen. Mjöll war richtig versessen darauf, mit ihrem Mann so oft wie nur möglich das Lager zu teilen. Dieser ahnte nicht, was sein Weib vorhatte und fühlte sich in seinem Stolz als Liebhaber bestätigt. Und wie es Mahal wollte, ging Mjölls Vorhaben auch auf. Ihr Zyklus blieb aus. Ein Kind war unterwegs. Sie wusste aus Gesprächen zwischen ihnen, dass Ári unter Lenjas einstigen Verlust des Kindes auch gelitten hatte. Somit stand für sie außer Frage, dass er sie unter diesen neuen Umständen allein lassen würde.

Und sie behielt recht.
 

Ári freute sich wie ein Kind, als er erfuhr bald Vater zu werden. Nur kam ihm sogleich auch der Gedanke, dass er den Vertrag unterschrieben hatte. Er hatte sich an Thorins Unternehmen gebunden. Er musste ihm folgen. Er hatte es selbst mit seiner Unterschrift erklärt. Wie sollte er nur wieder aus dem Schlamassel herauskommen? Einfach nicht erscheinen? So tun als ob nie etwas gewesen war? All dies würde auf Balin und Dwalin zurückfallen. Sie würden ihr Gesicht verlieren, wenn er nicht käme. Nur er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Die Vergangenheit sollte sich nicht noch einmal wiederholen dürfen. Er wollte Mjöll einen ähnlichen Schmerz, wie Lenja einst, ersparen.
 

Und dann kam seiner Schwester ein Gedanke. Thorin wollte einen dritten Fundin. Den konnte er doch immer noch bekommen. Nicht nur Ári war ein Erbe Fundins, auch sie. Sie wollte ihrem Bruder und seiner Frau helfen. Auch wenn dies im schlimmsten Falle ihr eigener Tod bedeutete. Was hatte sie im Leben? Die einzigen, an denen ihr Herz hing, waren Ári und Mjöll. Und das es diesen durch ihr Zutun gut gehen würde, war Motivation genug die Vertragsschuld zu übernehmen. Sie hatten einen weiteren Vertrag geschlossen. Nur sie und ihr Bruder. Aus ihm ging hervor, dass sie seine Schuld begleichen würde. Thorin musste sie mitnehmen. Ob er wollte oder nicht, war sie rechtlich dazu verpflichtet ihm zu folgen. Für das Glück ihres Bruders wollte sie diesen Schritt gehen. Nur wusste bis jetzt niemand von diesen neuen Ereignissen. Niemand. Selbst Balin und Dwalin nicht.
 

Und wie auf das Stichwort schritt Dwalin als erster auf eine Hobbitbehausung zu. Dort wohnte also das fünfzehnte Mitglied ihrer Unternehmung. Vierzehn Zwerge und ein Hobbit. So konnten in Zukunft vielleicht schlechte Witze beginnen. Sie konnte nicht genau erkennen, was der kleine Wicht für ein Gesicht machte als ihr Onkel in seine Höhle trat.
 

Der Erste war also da. Es blieben somit noch zwölf andere Zwerge, die vor ihr den Treffpunkt betreten sollten. Sie würde ihnen erst folgen, wenn bereits alle versammelt waren. Nicht, dass man doch noch auf die dumme Idee kam, Ári gegen seinen Willen hierher zu schleifen.
 

Es wurde langsam frischer. Obwohl es immer noch Sommer war, blies ein kühler Wind an diesem Abend.
 

Balin schritt auf die Hobbithöhle zu. Blieben also noch elf.
 

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ihr älterer Onkel als erster erschienen wäre. Sie war sich nicht sicher, aber sie konnte sich vorstellen, dass Balin doch etwas freundlicher auf Fremde wirkte als Dwalin. Aber wer mit Zwergen in ein unheilvolles Abenteuer aufbrechen wollte, den erwarteten noch ganz andere Dinge als tätowierte Schädel.
 

Kaum, dass Balin eingetreten war, erblickte Lenja auch schon die Gestalten von zwei anderen Zwergen in etwas weiterer Entfernung. Sie kannte sie nicht. Sie wirkten beide aus dieser Entfernung noch sehr jung. Jünger als Ari auf jeden Fall. Sie lachten über irgendetwas und feixten. Wer auch immer sie waren, sie hatten immerhin sehr gute Laune. Trotz der Umstände. Anhand ihrer Kleidung gehörten sie allem Anschein nach zu Thorin. Waren diese beiden Burschen dort wirklich seine Neffen? Sie hatte einiges über sie erfahren als Dwalin bei ihr zu Besuch war. Immer Unfug im Sinne. Eine Plage in den Ered Luin. Allein der Gedanke, dass diese beiden Spaßvögel Thorin das ein oder andere graue Haar beschert hatten, ließ Lenja ein Lächeln auf den Lippen erscheinen. Blieb herauszufinden, ob die beiden wirklich ein Duo des Schabernacks waren oder ob doch Mumm in ihren Knochen steckte.
 

Fehlten nur noch neun andere Zwerge.
 

Eine wirklich seltsame Gruppe erblickte sie bald darauf. Sie erkannte einen Menschen, gefolgt von acht Zwergen. Glóin war dabei. Sein feuerrotes Haar leuchtete auch durch die Dunkelheit. Óin, sein älterer Bruder, schritt an seiner Seite. Da sah sie auch Dori. Die anderen fünf Zwerge kannte sie nicht. Alle machten sie sich zusammen auf, um an der Pforte zur Hobbithöhle zu klopfen.

Sie hätte fast laut losgelacht. Die Tür war geöffnet worden und alle waren wie ein Kartenhaus in einander gefallen. Nun lagen sie im Flur des armen Hobbits. Ein herrlicher Anblick.
 

Nur wo war Thorin? Sie hatte ihn nicht verpasst. Nein, das konnte nicht sein. Schließlich harrte sie bereits seit Stunden an diesem Platz aus.
 

Sie musste warten. Wenn es sein musste auch bis in die finstere Nacht hinein. Sie zog ihren Umhang enger um die Schultern. Er würde kommen. Er musste noch kommen.
 

Und nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie ihn. Thorin schritt über die schmalen Wege zwischen den Wiesen und Weiden. Er wirkte zornig, ein wenig ungehalten. Hatte dieser Zwerg denn seit jener furchtbaren Nacht immer eine solch schlechte Laune? Oder kam sein königliches Erbe noch hinzu und machte ihn deshalb so ungenießbar? Auf jeden Fall waren dies schon einmal die besten Voraussetzungen, um ein größeres Donnerwetter hervorzurufen als sowieso schon.

Wo wollte er hin? Männer. Thorin. Es ist ja auch so schwer den Weg zu finden.

Sicherlich. Um diese Uhrzeit war weit und breit niemand mehr unterwegs den man nach dem Weg fragen konnte. Doch eine bläulich leuchtende Rune an der Haustür zu finden, das war dann doch keine Zauberei. Also doch. Endlich hatte er sie gefunden.
 

Lenja atmete tief ein. Noch ein wenig würde sie warten. Er sollte sich erst einmal setzen bevor ihm sein Essen im Hals stecken blieb. Sie ahnte bereits, dass ihr Erscheinen nach all den bösen Worten nicht erwünscht war. Würde überhaupt jemand damit rechnen eine Frau in der Türe stehen zu sehen als einen jungen kernigen Mann? Wahrscheinlich eher nicht.

Und doch war ihre Zeit nun gekommen.
 

Sie schulterte ihre Ausrüstung. Um den körperlichen Nachteil auszugleichen, hatte sie sich aus Leder eine Halterung gefertigt, die es ihr erlaubte den Rücken etwas zu entlasten und somit die Schwere besser verteilen und aushalten zu können. Sie war nicht verrückt. Sie wusste, dass sie keine Kriegerin war. Anders als sie als junges Mädchen auf Gleichberechtigung gepocht hatte, wurde ihr bereits auf der Reise nach Hobbiton bewusst, was es hieß mit Waffen und Verpflegung zu Fuß unterwegs sein zu müssen. Doch sie konnte kämpfen, wenn es sein musste. Wahrscheinlich besser als Ári. Schließlich hatte Dwalin ihr vieles beigebracht. Nur sie selbst war ihrem Bruder keine große Lehrerin gewesen, was diesen Bereich anging.

Sie hätte kein Auge mehr zugetan, wenn er diese Reise angetreten wäre. Der Gedanke an ihn und Mjöll schmerzte. Niemand wollte sie so recht gehen lassen. Doch alle wussten sie, dass es nicht anders ging. Ári durfte seine schwangere Frau nicht verlassen. Das wollte Lenja nicht verantworten.
 

Da stand sie nun. Die Rune am unteren Bereich der Tür schimmerte immer noch bläulich. Es fehlte noch ein Zwerg. Und hier war sie. Bereit sich erkennen zu geben. Sie holte tief Luft als sie an die Tür klopfte. Die grüne Kapuze hatte sie über ihren Kopf gezogen. Sie wollte nicht sofort erkannt werden. Sie wusste nicht, wer ihr die Tür öffnete und ob es dann jemand war, den sie kannte. Ohne ein Wort die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen, schien ihr wenig erstrebenswert.
 

Sie hörte Schritte hinter der Tür. Sie konnten nicht von einem Zwerg stammen. Es war viel zu leise. Die schweren Stiefel hätten es nicht erlaubt so leichtfüßig unterwegs zu sein. Die Tür öffnete sich und ein Hobbit erschien. Er hatte dunkelblondes, lockiges Haar. Seine blauen Augen leuchteten ihr entgegen. Der Kleine wirkte überfordert und fertig mit der Welt. Sie schmunzelte. Nein, er konnte ihr leid tun. Wer wollte denn auch schon von dreizehn, nun von vierzehn, Zwergen des Nachts heimgesucht werden?
 

Er schaute sie mit einem Stirnrunzeln an. Ahnte er etwas?
 

„Seid gegrüßt, Meister Hobbit, sprach sie ohne ihre Kapuze abzunehmen, ich werde bereits erwartet.“
 

Sie trat ohne auf ein Wort seinerseits zu warten ein. Sie sah, wie er seine Stirn in Falten legte und kurz darauf sein Unterkiefer aufklappte. Wahrscheinlich kannte er nicht allzu viele Zwerge. Doch anhand ihrer Stimme war wohl auch ihm klar, dass sie kein normaler Zwerg sein konnte. Sie lächelte. Einen Mann hatte sie bereits zum Staunen gebracht.
 

Ohne, dass er ihr den Weg weisen musste, wusste sie, wo die anderen Zwerge waren. Sie konnte sie hören. Sie legte kurz ihr Gepäck ab und schritt in die Richtung, von wo sie Gemurmel vernahm. Es gab kein Zurück mehr. Man erwartete sie, oder vielmehr Ári.
 

Sie trat in den Türbogen. Das Geschwätz erstarb. Alle wandten sich ihr zu. Thorin, der am Kopfende ihr am nächsten saß, verschluckte sich an seiner Suppe. Auch Dwalin und Balin rissen die Augen ungläubig auf. Etwas weiter hinten im Raum sahen sich Glóin, Óin und Dori verwirrt an. Sie hatten sie also auch mit Kapuze erkannt.
 

Die Ruhe nutzte Lenja aus. Sie trat auf ihren Onkel Balin zu und reichte ihm den neuen Vertrag. Ihren eigenen den sie mit Ári geschlossen hatte. Es herrschte betretenes Schweigen. Sie fühlte die Blicke der anderen auf sich ruhen. Auch der Mensch schien zu überlegen, wer dort soeben in die Stube getreten war.
 

Balin las. Sein Blick verhieß nichts Gutes als er zu Thorin aufsah.
 

„Er wird nicht kommen. Sie ist hier um seine Schuld bei dir einzulösen“, sprach der Zwerg zu seinem König.
 

Lenja hörte ein irritiertes „Sie?“ im hinteren Bereich des Raumes zischen. Sie sah zu Thorin hinüber. Er schien seine Zähne aufeinander zu mahlen. Er sagte nichts. Er schien zu überlegen. Sie war hier. Gegen seinen Willen. Und wie auch immer hatte sie es geschafft, Ári von der Gemeinschaft fern zu halten. Sie hörte ihn schwer aufatmen bevor er sich schließlich seinem Schicksal ergab und vorsichtig nickte.
 

Der Moment war gekommen sich auch den anderen Zwergen preiszugeben. Ihre Hände umfassten an beiden Seiten ihre Kapuze und mit einem Ruck war ihr Geheimnis gelüftet.

Die unwissenden Zwerge zogen die Luft ein. Alles starrte sie an. Nein, mit einer Frau hatten sie wohl nicht gerechnet. Nur Óin schlug seinem Bruder anerkennend mit der flachen Hand auf die Schulter. Hatte Glóin wohl richtig bei ihrem Anblick getippt gehabt.
 

Als erstes fanden die beiden jungen Zwerge von vorhin ihre Worte wieder. Bei Licht waren sie eindeutig an den Ornamenten ihrer Kleidung als Durins Erben zu erkennen.
 

„Eine Frau?“, fragte der Blonde.
 

„In Hosen?“, fügte der Braune hinzu.
 

„Wie geht das denn?“, sprachen sie wie aus einem Munde.
 

„Kann die auch kämpfen?“, fragte der Braune seinen Bruder.
 

„Oder wirft die Orks Strickzeug hinterher?“, konnte sich der Blonde kaum noch vor Lachen halten und sein Bruder stimmte mit ein.
 

Niemand sagte etwas. Keiner der anderen stimmte in das Gelächter mit ein. Lenja sah zu Thorin. Als sich ihre Blicke trafen, schaute er weg. Es lag an ihr sich Respekt zu verschaffen.
 

„Wie ich sehe, dürfen auch Kinder an dieser Unternehmung teilnehmen. Warum dann also nicht auch eine Frau?“, begann die Zwergin und die beiden Lachmöwen verschluckten sich an ihrem eigenen Gelächter.
 

„Kinder? Hast du uns gerade Kinder genannt?“, der Braune regte sich künstlich auf.
 

„Genau, Kinder. Grünschnäbel, Hosenscheißer, Bettnässer, Weicheier. Such dir etwas aus, Kleiner. Nur zeige einer Frau mehr Respekt, die deine Mutter sein könnte und zudem auch mehr Bartwuchs besitzt als du.“
 

Der Braune schnappte nach Luft.

Sein blonder Bruder hatte Mühe sich unter seinem Lachanfall auf dem Stuhl zu halten. Er rang nach Luft. Auch die anderen konnten sich bald ein Lachen nicht mehr verkneifen. Alle waren sie bester Laune. Das erste Eis war gebrochen. Nur der kleine Braune sah sie an als ob sie ihm gerade sein Kuscheltier gestohlen hatte.
 

Neben sich hörte sie im freudigen Trubel Thorins Stimme: „Wir müssen reden."


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo!
Das sind jetzt die ersten Kapitel von Lenjas Geschichte. Ich würde mich freuen, wenn ihr mir vielleicht ein kleines Review dalasst. ;)Eure Meinung interessiert mich brennend!
Ich habe bereits einige Kapitel auf Vorrat und kann somit in nächster Zeit auch immer regelmäßig Neues hochladen.
Viele Grüße,
eure LenjaKa Komplett anzeigen

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Von:  Manu19
2016-04-15T17:40:25+00:00 15.04.2016 19:40
Hallöchen,
hach ich wusste es Lenja hat sich in ihm getäuscht. Er hat nun die erlaubnis von ihren Onkels ihr den Hof zu machen. Jetzt kann sie sich sicher sein das er es ernst meint, denn wenn nicht wird Dwalin ihn sich vornehmen.

Was für ein schönes Kapitel. Ich wünsch dir noch ein schönes Wochenende.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-15T17:14:46+00:00 15.04.2016 19:14
Huhu,
ja, so muss ei Mädchen reagieren. Wenn der werte Herr nur seinen Spaß haben will dann ist er an der falschen Adresse. Aber ich glaube dass Lenja falsch liegt was Thorins absichten angeht. Ich glaub sie wird sehr überrascht werden.

War ein schönes Kapitel.


LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-15T16:42:14+00:00 15.04.2016 18:42
Huhu,
oh weh, da hat es aber jemanden so richtig erwischt. Ihre Gedanken sind ja nicht ganz abwegig, Thorin ist ein Prinz und dessen Familie wird wohl nicht so begeistert sein von der wahl des Prinzen. Mal schauen wie es weiter geht.

War wieder mal ein schönes Kapitel

LG MANU19
Von:  Manu19
2016-04-15T11:58:59+00:00 15.04.2016 13:58
Huhu,
auweia, da hat der stein schon begonnen sie zu verändern, ob sie der schönheit und tücke des steines wiederstehen kann?
Was bitte war das denn? Er küsst einfach Lenja nachdem er ihr gesagt hat was mit ihrem Vater passiert war? Na gut das hat dazu geführt dass Lenja ihn sich geschnapt hat und ihn nun küsst. Wenn das mal nicht der anfang einer Beziehung werden kann.

Prima Kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-15T11:32:23+00:00 15.04.2016 13:32
Huhu,
ja das frage ich mich auch, was hat Thorin sich dabei gedacht? Oh ich ahne schon dass ihr dieser Auftrag alles andere als leicht fallen wird. Ich kann nur hoffen das sie nicht dem stein verfällt.

Klasse Kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-15T10:50:14+00:00 15.04.2016 12:50
Huhu,
na da hat es aber jemanden voll erwischt, aber ob er sich auch traut es sich selbst einzugestehen? Und was für ein auftrag soll das sein? Hat es was mit ihrer arbeit zutun?

War ein schönes kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-11T12:48:08+00:00 11.04.2016 14:48
Huhu,
na da hat Dwalin ja mal was angesrellt, erst macht er seine Nichte betrunken und lässt sie in der obhut eines anderen nach hause gehen und dann erzählt er seinem Neffen auch noch wie Zwerglinge entstehen und dass alles weil er Lenja ärgern will.
Na ob Balin so ruhig geblieben wäre wenn er das alles wüsste wage ich zu bezweifeln.

War ein lustiges Kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-03T21:57:53+00:00 03.04.2016 23:57
Huhu,
ach du heilige ...... Thorin hat sie ins Bett verfrachtet? und ihr auch noch den Eimer vor den Mund gehalten? Oh Oh gar nicht gut. Oder vielleicht doch weil Balin noch nicht wieder zurück war. Na da kann sich Dwalin aber was von Lenja anhören nehme ich mal an.
War wieder ein lustiges Kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-03T21:10:53+00:00 03.04.2016 23:10
Hallo nochmal,
na das gibt schöne Kopfschmerzen und sie hat einen schönen Filmriss. Schläft an der Schulter des Prinzen ein und dann wacht sie auf und ist in ihrem Bett.
Ich hoffe doch das Dwalin sie dorthin verfrachtet hat.
Oder war Balin da. Na das wird ein Donnerwetter geben.
Klasse Kapitel.

LG Manu19
Von:  Manu19
2016-04-03T20:26:04+00:00 03.04.2016 22:26
Huhu,
toll, das sie jetzt Goldschmiedin werden kann und auch noch so erfolgreich ihre Lehre abschließen kann. Ja ich nehme auch an das sie das Kämpfen nur deshalb erlernen will wegen ihrem Vater.

Na ob das gut geht? Lenja weiß sich ja zu wehren, aber ob sie ihren Onkel einfach so aus der Schenke raus bekommt das bezweifle ich sehr.
War wieder ein Klasse Kapitel.

LG Manu19


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