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Die Hungerspiele des Lynn Irving
von

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6. The Messiah

Für eine Ewigkeit stand sie einfach da. Das Schwert in der einen Hand, den Rucksack, mit dem sie mehr als nur einen Hieb abgewehrt hatte, in der anderen. Blue erwiderte ihren Blick, skeptisch. Die Hände, mit denen er einen Speer hielt, waren so rot, wie sein Haar.

Dann, wie auf ein stummes Kommando, ließen sie die Waffen sinken.

Einen Herzschlag später ertönte der erste Kanonenschuss. Ein Zweiter folgte. Stamm begann Annie zu zählen.

Sieben, dann Stille.

Das Blutbad war vorbei und sieben von vierundzwanzig Tribute waren bereits tot. Sie konnte die Namen derer, die bereits gefallen waren, nicht nennen, doch sie sah das Mädchen aus Distrikt 12 immer noch vor sich. Das dunkle Haar, dessen kurze Frisur nicht zu ihrem runden Gesicht passte. Der grüne Rucksack in ihren Händen. Die grauen Augen, die sich weiteten, als sie rücklings ins Wasser fiel.

Annie hätte es schnell beenden können. Stattdessen …

Sie konnte nicht schwimmen.

Im Nachhinein fühlte Annie sich schlecht, weil sie sich ihren Namen während der Interviews nicht gemerkt hatte, doch insgeheim war sie froh darüber.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Lynns Stimme klang unendlich weit weg. Sie nickte langsam. Die Augen verschwanden nicht. Warum hatte Yara ihr nichts davon gesagt? Oder Finnick?

Annie spürte, wie jemand – Lynn – eine Hand auf ihre Schulter legte, doch die Geste machte es nicht besser. Ausgerechnet Lynn. Alexander Irvings Urenkel. Maris Irvings Sohn. Ihr Mitschüler, ihr Mittribut, ihr … Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen.

„Ich hab dich gesehen“, sagte sie leise. „Kämpfen, meine ich. Du warst echt gut. Du auch, Blue. Und ähm, danke, für …“

… für die Sache mit dem Jungen aus 5.

Blue zuckte nur mit den Achseln.

„Kein Ding.“

Dem Blut an seinen Händen zum Trotz war sein lächeln ansteckend, ansteckend genug, um es dünn zu erwidern. Dabei mochte Annie Blues Lächeln nicht einmal. Vermutlich würde es noch zu Problemen führen, wenn die Anzahl der Tribute abnahm … Doch für den Moment war sie froh über sein Lächeln und darüber, dass das Blutbad vorbei war.

„Hey! Wo bleibt ihr? Denkt ihr, der ganze Krempel schleppt sich von allein?“

Wobei. Vielleicht auch nicht.
 


 

* * *
 

Die Spiele liefen gerade einmal ein paar Stunden und Annie hätte gerne behauptet, dass sie sich endlich beruhigt hatte, doch das wäre eine Lüge gewesen.

Ihre Emotionen hatten sich nur verschoben.

Der Adrenalinrausch war längst abgeklungen und hatte erst Müdigkeit und dann, mit jedem von Vityas Befehlen, Frustration Platz gemacht. Erschöpft ließ sie schließlich den letzten Rucksack fallen und setze sich daneben. Hoffentlich überlegte sich ihr Anführer es sich nicht noch einmal anders, wo sie die Vorräte stapeln sollte.

Erst jetzt erlaubte sie es sich, die Arena mit mehr als einem flüchtigen Blick zu mustern. Anscheinend hatten die Spielemacher das Distrikt-Motto wieder aufgegriffen. Hätte man Annie gefragt, wie sie sich Distrikt 7 vorstellte – möglicherweise hätte sie diese Arena beschrieben. Zu ihrer Linken ragte eine Felswand mit einem riesigen, hölzernen Staudamm auf. Zu allen anderen Seiten erstreckte sich längst nachtschwarzer Nadelwald und quer hindurch schnitt sich ein reißender Fluss. Die letzten Sonnenstrahlen, die über den Damm hinweg glitten, ließen das Füllhorn auf seinem riesigen Floß aus zusammengekeilten Stämmen glänzen. Die dunklen Stege, die sie noch vor kurzem hinauf und hinunter geschlittert war, verschwammen mit der Dunkelheit.

Was zuvor diversen Tributen erlaubt hatte, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, würde sie nicht noch einmal retten.

Sie würden das ganze Ding verbrennen.

In der Abenddämmerung konnte sie die Silhouetten von Sienna und Lynn sehen, die das Benzin verteilten, welches sie im Füllhorn gefunden hatten. Wären die beiden Schatten über das Holz glitten und die Kanister leerten, sammelten sich die anderen Mitglieder ihrer Allianz am Ufer. Ihr Anführer, Vitya, beobachtete die Arbeit der beiden, doch die Anderen pausierten, wie sie selbst. Sie konnte Nolan und Trinity dabei beobachten, wie sie die Waffen kontrollierten, und Blue und Georgia, wie sie mit Speer und Bogen den Wald hinter ihnen im Auge behielten. Dafür, dass sie sich mitten in den Hungerspielen befanden, fühlte sie sich erstaunlich friedlich.

Bis sie den Feuerschein bemerkte.

Sofort flackerte ihr Blick zum Floß. Sienna hatte das Ufer augenscheinlich erreicht. Es musste Sienna sein – sie war diejenige mit dem Feuerstarter. Die Flammen zu ihren Füßen loderte längst den Steg entlang, den sie gekommen war. Doch etwas war seltsam. Falsch.

Dann sah Annie auch, was.

Lynn war immer noch auf dem Floß. Für einen unendlich langen Augenblick wirkte er wie erstarrt. Längst warf das Feuer einen gleißenden Lichtschein und Rauch. Annie reagierte, ohne darüber nachzudenken. Sie war auf den Beinen, bevor sie es überhaupt wusste. Sie hörte sich selbst schreien.

„Lynn! Lynn! Sienna, was tust du da? Sienna!“

Ihr Weg endete in Blues ausgestreckten Armen. Es war kein sanfter Aufprall, doch sie ignorierte die Nachricht der Geste. Statt innezuhalten, schlug sie nach ihm. Ein Tritt traf seine Wade, ein Schlag seine Brust, ein anderer seine Wange, alles, was sie erreichen konnte.

Er war widerstandsfähiger, als sein ständiges Lächeln vermuten ließ.

Irgendwann schrie sie frustriert.

„Lass mich – Blue –“

„Du willst dich da nicht einmischen, Annie.“

Erst jetzt sah sie zu ihm auf. Er lächelte nicht und plötzlich wusste sie, was das bedeutete. Sie war nicht dumm. Sie war ein Career. Und das hier waren keine einfachen Streitigkeiten – sondern die Allianz. Annies geballte Faust erlahmte in der Bewegung. Seine Arme schlossen sich um sie und waren für einen Moment das Einzige, das ihre Knie davon abhielt, nachzugeben.

Direkt nach dem Blutbad. Viel zu früh.

Hinter Blue erreichte Lynn das Ufer und kletterte die Böschung hinauf. Annie wollte ihn warnen, doch die Erkenntnis lähmte sie noch immer. Ihr war klar – es war längst zu spät. Mittlerweile war nicht nur Sienna beim Ufer, sondern auch ihr Distriktpartner. Vitya.

„Warum lässt du das zu?“

Blue antwortete nicht. Vielleicht übertönte Lynns Wutschrei aber auch nur, was er sagte.

„Was sollte das?“

Zitternd äugte sie über Blues Schulter.

„Was wohl?“, antwortete Vitya, unangenehm begeistert. „Wir testen, ob du schwimmen kannst, 4.“

„Ja“, ertönte jetzt auch Siennas Stimme. „Und was sollen wir sagen?“

„Sieht aus, als hättest du den Test bestanden. Nur das mit der Richtung, das solltest du noch üben.“

Annie zwang sich dazu, von Lynn zurück in Blues Gesicht zu sehen.

Mittlerweile lächelte er wieder, aber es war ein schmales Lächeln, das nichts mit dem zu tun hatte, das sie von ihm gewohnt war. Jetzt, wo das Feuer die einzige, direkte Lichtquelle war, wirkten die Strähnen, die in sein Gesicht fielen, beinahe schwarz. Das war es also, das das glänzende Distrikt 1-Geplänkel verbarg. Sie konnte über die Ironie weder lachen noch weinen. Stattdessen versuchte sie es erneut.

„Blue“, fragte sie. „Warum jetzt? Das Blutbad ist gerade erst vorbei –“

Dieses Mal reagierte er, doch die Antwort war keine, die sie sich erhofft hatte.

„Ich will Lynn nicht töten“, gestand er, über den Lärm des Gerangels hinter ihm hinweg. In seiner Umarmung spürte Annie, wie er mit den Achseln zuckte. „Du kannst ihn nicht töten.“

Sie presste die Lippen aufeinander, den Blick starr auf seine Augen gerichtet, die die Geste nicht erwiderten. Wie einfach wäre es für ihn, ihr jetzt das Genick zu brechen? Was auch immer ihn davon abhielt, vermutlich war es kein Mitleid.

„Nimm dir ein Schwert und einen Rucksack. Es ist besser, wenn du gehst.“

Jetzt flackerte ihr Blick doch zurück zu Lynn und Vitya, die längst nicht mehr waren, als ein Knäul auf dem Boden. Vielleicht konnte er Vitya besiegen. Vielleicht – nein, sie wusste es besser. Es war nicht nur Lynn gegen Vitya – Sienna stand bei ihnen und johlte. Auch die anderen waren näher gekommen, nur Georgia starrte mit gespanntem Bogen in die Nacht. Selbst wenn Vitya fiel, blieb immer noch Sienna und nach ihr die anderen. Nolan, Trinity, Georgia … und Blue.

Was auch immer er zu dir gesagt hat – ich glaube, es ist besser, wenn du es ignorierst.

Die Worte hallten in ihrer Erinnerung.

Die Augen von Distrikt 12 weiteten sich. Sie konnte nicht schwimmen. Ertrank, wie der Junge aus 5 …

Annie nickte schwach.

Augenblicklich entließ Blue sie aus seinem Griff. Für einen Moment war sie versucht, an ihm vorbei zu stürmen. Er würde sie aufhalten. Selbst wenn nicht – sie hatte keine Chance gegen sechs andere Tribute. Stattdessen wirbelte sie herum und rannte. Im Lauf griff sie nach dem Rucksack, aber nicht nach dem Schwert.

Es war der feige Weg, das war ihr klar. Er würde sie Sponsoren kosten und den Rückhalt ihres Distrikts. Doch sie wollte nicht enden, wie das Mädchen aus Distrikt 12. Nicht jetzt. Nicht hier.

Erst als sie den Waldrand erreichte, drehte sie ein letztes Mal um. Sie hörte noch immer die Rufe der anderen und Lynns Schreie, doch sie verstand sie nicht mehr. Das letzte, das sie sah, war eine erhobene Axt im Feuerschein.

Eine Kanone beendete die Hungerspiele des Lynn Irving.



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