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Laterna Magica

von

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Das Urteil des Paris

Tonight you will see things you won’t believe,

Don’t trust your eyes or minds for they’re about to be deceived.

Don’t search for the white rabbit, he ain’t got time for you,

The Great Barzoni’s got him up his sleeve.
 

„Weißt du, was seltsam ist?“, flüsterte eine verstohlene Stimme in ihrem Ohr. „Obwohl Paris den Apfel der schönsten Frau versprochen hat, bist du nicht so schön, wie ich gedacht habe. Nein, du bist genau wie dieser Apfel, die Unsterblichkeit hat dich faulen lassen. Nur die Schale ist geblieben, eine lächerliche goldene Schale, aus der die Dunkelheit langsam herauswelkt. Merkst du nicht, wie du von Innen verfaulst? Tut das nicht weh?“ Ein groteskes Lachen durchschnitt die Stille, das Jodie an einen jaulenden Hund erinnerte, es war gleichsam bedrohlich und leidend, als wäre ihrem Gegenüber gerade eine schmerzliche Wahrheit bewusst geworden.

Die Art von Wahrheit, die dich nie wieder umkehren lässt.

Schaudernd öffnete sie die Augen und strich sich über die viel zu kalten Arme. Die Härchen hatten sich aufgestellt und kitzelten unangenehm die Wunden an ihren Fingern. Sie hatte sich die vielen Schürfwunden zugezogen, als sie stundenlang verzweifelt versucht hatte, ihre Fesseln zu lösen, die nun auf wundersame Weise verschwunden waren. Trotz dieser durchaus erfreulichen Entwicklung, die sie sogar in ihrem dämmerigen Zustand zur Kenntnis nahm, musste sie schlucken. Sie war vollkommen allein in ihrer dunklen Zelle, weder wusste sie, wie lange das der Fall gewesen war, noch ob die unheimlichen Worte ihrem Unterbewusstsein entsprungen waren oder ob sie diese Konversation tatsächlich einmal gehabt hatte. Dunkel erinnerte sie sich an schnarrende Schritte, an Augen, die kurz in der Schwärze aufblitzten, an…

Warum musste es nur so dunkel sein?

Und warum sind meine Augen nur so schwer?

Damit sie nicht einfach herauskullern, weißt du…?

Jodie blinzelte irritiert, da war wieder diese Stimme. Eine Stimme die wie aus einer anderen Welt wirkte, fern und doch deutlich, irgendwie schnarrend, als würde das Lachen ihr immer noch im Halse stecken. Vermutlich hing das mit dem Geruch zusammen. Ihr Gefängnis war stets mit einem unglaublich süßlichen schweren Geruch wie von Tee und frischem Gebäck erfüllt, der wie große schwarze Katzen um sie zu schleichen schien, sich auf ihrer Brust niederlegte und ihr langsam aber sicher die Luft abzudrücken drohte.

Oder bilde ich mir das nur ein? Werde ich langsam verrückt?

Wir sind hier alle verrückt, das weißt du doch Alice…

Lachen.

Los, nimm deinen Tee mit uns ein. Wir alle sind nur hier um mit dir zu feiern.

Eine ganz besondere Party…
 

Die Stimmung auf der Feier war ausgelassen. Überall unterhielten sich Leute, manche fast schon so laut, dass es die Schwelle der angemessenen Diskretion zu überschreiten drohte. Das das mochte an den alkoholischen Erfrischungen liegen, die das Personal zu bringen nicht müde wurde. Obwohl Shuichi solche Veranstaltungen hasste, musste er schmunzeln. „Ganz schön nobel für eine Studentenfeier.“

Akemi, die ihren zarten Arm um seinen geschlungen hatte, lachte vergnügt. „Ja, ich weiß, es ist furchtbar übertrieben. In meinem Jahrgang haben einige reiche Unternehmer als Eltern, die sich bei sowas als Sponsoren nicht lumpen lassen.“

Trotzdem verblassen sie alle neben dir, dachte er seltsam fasziniert.

Akemis Kleid wirkte, als wäre es nur für sie und diesen Abend gemacht worden, es saß an ihr wie eine zweite Haut. Sie war makellos.

Alles ist perfekt, nicht wahr?

Sie zwinkerte ihm zu, als sie seinen Blick bemerkte. „Soll ich uns etwas zu trinken besorgen?“

Shuichi nickte, froh um einen Moment der Ruhe. Zwar genoss er die Zeit, die er mit Akemi fernab der Organisation verbringen konnte sehr, allerdings wich die Anspannung, die von seiner Mission ausging, nie völlig von ihm. Wie ein Damoklesschwert hing die Furcht über ihm und begleitete ihn auf Schritt und Tritt wie ein zweiter Schatten.

Was wenn sie die Wahrheit herausfinden?

Was wenn sie alle töten, die ich liebe?

Was wenn…

Wenn sie es längst wissen…

Er seufzte und ließ seinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Keines der tanzenden Paare oder den herumstehenden Grüppchen dort wäre in der Lage, seine Gemütslage zu erraten. Shuichis Innenleben blieb stets ein gut verborgener Schatz, eine geheime Tür die nur ein geübtes Auge erkennen konnte. Manchmal, wenn Akemi ihn mit ihren großen Augen ansah, glaubte er, zu spüren, wie sie vor dieser Tür stand, wie sie nach der Klinke griff und es nur noch Sekunden dauern würde, bis sie alles erkennen würde, jeden Herzschlag, jeden Atemzug, jeden Gedanken.

Er fürchtete diesen Moment fast noch mehr als die Organisation.

Vielleicht weil er langsam spürte, dass sie ihn ebenso gefangen nahm. Vielleicht weil sie ebenso unaufhaltsam nach ihm griff und ihn in ihre Welt zog, eine pechschwarze und eine leuchtend bunte Welt die nebeneinander schwebten und miteinander konkurrierten wie zwei überehrgeizige Schwestern.

Vielleicht, weil es sich falsch anfühlt, flüsterte es irgendwo tief in ihm. Eine Stimme, aus einer dritten, längst vergessenen Welt, die einmal die seine gewesen war und ihm nun aus der Ferne ein trauriges Lächeln zuwarf.

Es tut mir so…

„Bitteschön! Ich hoffe du magst Bowle.“ Er nickte und erwiderte ihr Lächeln so freundlich, wie es ihm möglich war.

Akemi stutzte. „Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so abwesend.“

Und ihre Hand greift nach der Klinke…

„Ich weiß, du redest nicht gern über solche Dinge, aber von mir aus müssen wir nicht hier sein. Wir können einfach irgendwohin gehen und reden. Über diese Sache, die dich so sehr belastet, dass ein Teil von dir immer woanders ist. Was quält dich so, Dai?“

Sie ruckelt daran, wieder und wieder. Mach sie auf, flüstert es, macht sie auf und lass Licht herein.

Es ist so dunkel hier.
 

„Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist?“

Sie wurde gegen ihren Willen rot. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen cool zu bleiben. Die Lässige zu spielen. Was eben in den Filmen immer großartig funktioniert, im wahren Leben aber furchtbar albern rüberkommt. Nicht, dass sie sich mit ihrem schrecklich unangemessenen Kleid nicht schon lächerlich genug gemacht hatte, sie war noch nie gut darin gewesen, einzuschätzen, wann etwas angemessen und wann es absolut overdressed war.

Er lachte. „Und so clever, eine gute Idee, die Hautfarbe dem Kleid anzupassen.“

„Hey!“, schnaubte sie, während sie ertappt das Gesicht wegdrehte. „Das liegt nur am Licht.“

Heimlich strich sie über ihre Wangen und ärgerte sich über die Hitze, die sie erfüllte.

Wie alt bin ich bitte, vierzehn? Schluss mit dem albernen Teenagergehabe, Jodie!

„Schon gut, ich mache nur Spaß.“ Er griff nach ihrer Hand. „Ich freue mich wirklich heute mit dir hier zu sein.“

Seine grünen Augen streiften für einen kurzen Moment ihren Blick, dann zog er sie sanft in den Saal.

Jodie erinnerte sich später noch lange an diesen Augenblick, weil er ihr zum ersten Mal das Gefühl gegeben hatte, dass sie und Shuichi etwas verband. Selbst, wenn es nur dieser lächerliche Blick war, ein gemeinsamer Tanz, ein Lachen, es gab etwas wie eine Brücke zwischen ihnen, einen Faden, der zwischen ihren Herzen gespannt war und die aufgeregten Schläge synchronisierte. Dort wo immer diese Stille gewesen war, dieses Fragende, die Geheimnisse, die sich wie kaltgraue Mauern zwischen ihnen aufgetürmt hatten, war nun etwas Neues, aufregend Lebendiges.

Vielleicht kann es doch funktionieren, dachte sie bei sich. Vielleicht sind wir füreinander geschaffen.

Oder wenigstens für diesen einen Tanz.
 

„Möchtest du tanzen?“

Akemis Blick blieb besorgt. „Ganz sicher?“

Er nickte. „Ich bin hier um Zeit mit dir zu verbringen, nicht um über alles Mögliche nachzugrübeln.“

Am allerwenigsten die Vergangenheit.

Als hätte die Musik geahnt, dass die beiden sich nun auf die Tanzfläche wagen würden, schwenkte sie ein getragenes Stück um, das den unbeholfenen Tänzern gnädig war. Immer wieder drehten sie sich sanft während die sanften Klänge wie Wassertropfen an ihnen herabliefen und immer wieder neue Melodien zu formen schienen.

Letzten Endes können wir nicht kontrollieren wer wir sind. Wir können uns wünschen jemand zu sein, darauf hinarbeiten, uns so entscheiden, wie diese Person sich entscheiden würde. Aber die Gleichung wird niemals aufgehen, wenn wir nicht alle Faktoren kontrollieren können. Es gibt immer dieses X, die große Unbekannte, die dich in den Abgrund reißt oder in den Himmel ziehen kann.

Und drei Welten sind nun mal zwei zu viel.

Selbst für einen einzigen Augenblick.
 

„Oh nein!“, erschrocken blickte Jodie auf den Fleck, der sich langsam auf seinem Hemd ausbreitete. Wie konnte es nur möglich sein, dass der Bruchteil einer Sekunde einen ganzen Abend ruinierte?

Ganz toll, kurz angetäuscht und voll versenkt, die Menge applaudiert dir.

Zerknirscht blickte sie zu ihm auf und machte sich bereit, einen Wutanfall oder schlimmer, peinliche Floskeln und dann endlose Stille zu ertragen.

Doch nichts dergleichen geschah. Shuichi Akai lachte. Es war ein volles, lautes Lachen und das Wundervollste, das sie jemals gehört hatte. Unerwartet und frisch wie das Plätschern von Wasser in der Trockenheit, ein belangloses, banales Geräusch, das in nur auf einer besonderen Bühne seine wahre Magie entfaltet.

„Mit dir wird es auch nie langweilig, oder?“

„E-es tut mir leid.“, stammelte Jodie immer noch etwas verlegen. „Ich kann das Hemd morgen in die Reinigung bringen, die bekommen eigentlich alles wieder hin – und glaub mir, da spreche ich aus Erfahrung.“

„Ach, ehrlich? Darauf wäre ich gar nicht gekommen.“

Nun musste auch sie lachen.

„Und jetzt?“

Anstatt zu antworten ergriff er ihre Hand erneut und wirbelte sie so schwungvoll herum, dass Jodie für einen Moment die Luft wegblieb und ihre Füße kaum noch den Boden zu berühren schienen.

„Was schon? Wir tanzen solange weiter, bis der blöde Fleck getrocknet ist.“

Während Drehung um Drehung folgte, verschwamm die Welt um sie herum. Jodie blinzelte. Sie war sich sicher, dass sie es sich nur einbildete, nein, das konnte nicht stimmen, das wäre doch zu absurd. Die Tische um sie herum erschienen auf einmal unnatürlich groß – oder war sie unnatürlich klein geworden? – und wie Wände wölbten sich in grotesken Fischaugenformen nach außen.

Was passiert hier?

„Du kommst zu spät! viel zu spät!“

Ein weißes Kaninchen mit tiefroten Augen hüpfte vorbei, die kleinen Vorderpfoten fest um eine goldene Taschenuhr geschlossen. Deutlich konnte sie die blutigen Nähte an seinem Bauch erkennen.

Die Laterna Magica, flüsterte es in ihr. Uns läuft die Zeit davon.

„Tick-Tack, Alice, Tick-Tack, schau wen der Hutmacher dir mitgebracht hat… Die Herzkönigin besucht uns zum Tee, möchtest du ihr nicht die Hand schütteln?“

Sei ein braves Mädchen, Alice…
 

„Ah, ich sehe, du bist wach.“

Erschrocken fuhr Jodie herum. Der Ballsaal vor ihren Augen explodierte und ließ sie erneut auf eine flimmernd schwarze Zelle blicken, die wie eine Bildstörung immer wieder kurz aufblitzte und dann wieder in der Dunkelheit verschwand. Deutlicher denn je spürte sie den Drang, sich zu übergeben, ob all der Süße, die in der Luft lag. Jodie würgte.

„Keine Sorge, das ist nur der Tee. Seine beruhigende Wirkung kann zunächst auch etwas… beunruhigend sein.“ Er lachte gackernd.

„Ich war auch schon sehr besorgt, dass du dich hier fürchten musst, so ganz allein, wo doch alles dunkel ist, meine Hübsche. Deshalb habe ich mir erlaubt, noch jemanden zu unserer Tee-Party einzuladen, es geht doch nichts über gute Gesellschaft, nicht wahr?“

Ihre schweren Augenlider hoben sich, das Bild vor ihr schien immer noch zittrig und unscharf, aber es brannte auf ihrer Netzhaut wie Zitronensäure. Das Letzte, was sie sah, bevor sie sich auf den rauen Steinboden erbrach war ein skurril gekleideter Mann, der einer jungen Frau den Mund zu hielt, deren vor Schrecken geweitete Augen direkt in ihre starrten.

Tick-Tack, Alice, die Zeit läuft ab…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Varlet
2016-01-04T11:54:49+00:00 04.01.2016 12:54
Dieser Wechsel zwischen Shu+Akemi zu Shu+Jodie ist dir sehr gut gelungen.
man bemerkt eine gewisse Zerrissenheit von Shu. Aber auch, dass Jodie gerade an ihren Freund denkt und nicht weiß, dass er gerade viel mehr mit einer anderen Person unternimmt.

Natürlich baust du die Spannung nur noch weiter auf, indem du den Part von Jodie beim Hutmacher kurz hältst und noch nicht zum Abschluss kommst. Ich bin gesannt, wie Jodie aus ihrer misslichen Lage entkommen will.


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