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Laterna Magica

von

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Dissonanz

We´ve got the fire who´s got the matches?

take a look around at the sea of masks

and come one come all welcome to the grand ball

when the strong run for cover and the weak stand tall
 

„Ach, wen sehe ich denn da?“ Ein aufmunterndes Grinsen huschte über Camels kantiges Gesicht, als er ihr einen angenehm warmen Kaffeebecher reichte. „Hat man sich etwa dazu entschieden, dich endlich aus der Quarantäne zu entlassen?“

Jodie schnaubte nur und trank einen großen Schluck. Ihr Kreislauf hatte einen kleinen Push-Up jetzt bitter nötig. „Anscheinend war das Treffen mit Mrs. Sanders ein Test, dem Mel und Black mich unterzogen haben. Sie wollten sehen, ob ich noch einsatzfähig bin, nach allem, was bisher in diesem Fall etwas… unglücklich verlaufen ist.“ Obwohl sie sich bemühte, konnte Jodie nicht allen Trotz aus ihrer Stimme nehmen, sie lächelte entschuldigend.

„Hey, ich weiß, wie du dich fühlst. Niemand war begeistert, von der Art, wie Mel den Fall übernommen hat, aber Black scheint ihr blind zu vertrauen und ich habe zumindest gehört, dass sie eigentlich sehr fähig sein soll. Sie hat eine ausgezeichnete Quote und…“

„Ich weiß, ich kenne sie.“, schnaubte Jodie nun doch etwas ungehalten. „Ich weiß auch, dass ich mich nicht korrekt verhalten habe, aber ich war schon auf dem Weg der Besserung! Es kamen einfach ungünstige Umstände zusammen, das hatte nichts damit zu tun, dass ich nicht in der Lage bin, für das FBI zu arbeiten.“

Es waren nur die Bilder, diese gottverdammten Bilder, die direkt aus einem Gruselkabinett zu stammen scheinen. Einer kleinen, horrormäßigen Freakshow, die so lange in meinem Gehirn aufgeführt wird, bis ich den Verstand verliere. Wir bitten um Applaus!

„Jodie…?“

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Ja? Entschuldige.“

Seufzend warf sie den leeren Kaffeebecher in einen bereits bedrohlich überfüllten Mülleimer, wo er gerade so auf einem Haufen Fast-Food-Tüten liegen blieb.

„Du bist echt ganz schön durch den Wind, oder?“

Erschrocken sah sie ihn an. „Andre, wenn du-“

„Keine Panik, ich renne nicht gleich zum Chef deswegen.“ Er lächelte wieder. „Mel und Black mögen recht damit haben, dass bei dir gerade nicht alles glatt läuft und du dir einige Schnitzer geleistet hast – vielleicht solltest du zu einem Psychologen gehen, wenn das hier vorbei ist – aber wir jagen Serienkiller, keine Kleinkriminellen, sondern Menschen, für die selbst die schrecklichsten Albträume noch nicht schlimm genug sind und deren Existenz uns alle am liebsten zu Trinkern und Zynikern machen würde. Aber wir sind auch nur Menschen und wir können eben nur ein gewisses Maß an Schrecklichkeit ertragen, vor allem, wenn man noch nicht lange dabei ist, ist das ganz normal. Du hast bislang ja noch nicht viel in dieser Abteilung gearbeitet, oder?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. Sie war schon von klein auf besessen von der Idee gewesen, zum FBI zu gehen, nicht zuletzt, um Mörder zu jagen und ihren Vater zu rächen. Ein dummer, kindischer Grund, aber auch ein tröstlicher Gedanke, der sie stark machte und ihr den Willen gab, das College und ein Kriminologie-Studium zu meistern. Mit knapp über zwanzig hatte sie sich dann beim FBI beworben und mit mehr als zusammengebissenen Zähnen die Ausbildung eher durchlitten als durchlebt. Zwar versuchte man, fortschrittlicher zu denken, aber dass Frauen es viel leichter in so einem Beruf hatten als früher, war immer noch ein Irrglauben.

Vermutlich hätte ich es ohne meinen Vater nicht geschafft. Hätte mich nicht diese wütende, eiskalte Lust auf Rache angetrieben, wäre ich wohl gescheitert.

Sie versuchte nicht daran zu denken, was für ein trauriger Grund das war, doch man sah Camel an, dass ihre Augen es deutlich zeigten.

Schäme ich mich dafür?

„Ich habe neben Kriminologie auch ein umfangreiches Sprach-, Journalismus und Rhetorikstudium absolviert, weshalb man mich erst mal in die Öffentlichkeitsarbeit steckte. Erst, als ich ein paar Kontakte knüpfen konnte, kam ich zu Entführungs- und Sexualdelikten und dann schließlich zu den Serienmorden. Aber auch, wenn ich erst seit kurzem hier arbeite, habe ich schon viel Schlimmes gesehen, glaub mir.“, fuhr sie hastig fort, um das peinliche Schweigen zu überspielen.

Sein Lächeln verlor jede Freude. „Ich weiß, manchmal wünscht man sich sogar, die Opfer wären gestorben. Dann müssten sie nicht länger mit der Wahrheit leben.“

Wenn ich stark genug gewesen wäre, damit zu leben, wäre ich dann hier? Kann ich es nicht loslassen, weil es das einzige ist, das mich am Leben hält?

Einen Moment lang verfielen sie erneut in Schweigen, dann zuckte Jodie mit den Schultern. „Wir sollten reingehen.“

Camel nickte und sah sie noch einmal schief an. „Denkt nicht so viel nach, okay? Du bist verdammt stark, Jodie, du packst das.“

Sie lächelte, während in ihrem Kopf dieselben Gedanken unaufhörlich wie ein Jahrmarkt-Karussell rotierten.

Wäre ich beim FBI, wenn mein Vater noch am Leben wäre?
 

„Agent Starling, Agent Camel.“, ein hochgewachsener, aber dennoch recht unscheinbarer Beamter nickte ihnen zu. „Gut, dass sie da sind.“

Sie folgten dem hageren Mann durch das protzige Foyer des Costa Blanca, das mit so viel Zierrat und Falschgold ausgestattet war, das man glauben konnte, das Hotel würde nur hohe Staatsgäste empfangen. Die elegant zurecht gemachte Empfangsdame musterte sie ein paar Augenblicke lang prüfend, widmete sich dann aber wieder irgendwelchen Unterlagen. Jodie schluckte, als sie den Aufzug betraten. Nach dem Gespräch mit Mrs. Sanders schien der Gedanke auf einmal unerträglich, den Ort zu betreten, an dem man ihren Mann regelrecht abgeschlachtet hatte. Jetzt war Sanders nicht nur ein gesichtsloses Opfer für sie, auf einmal hatte er die Züge eines Menschen bekommen, eines Menschen, der nicht perfekt war und Fehler hatte, aber wie sie alle darum gekämpft hatte, das Richtige zu tun.

Zumindest bis man ihn umgebracht hat.

Allerdings machte gerade diese Unerträglichkeit es unmöglich für sie wegzusehen. Als sie das geschmacklose Zimmer betraten, spürte Jodie regelrecht, wie ihr Jagdtrieb geweckt wurde und ihre Augen suchend durch den Raum huschten und alles abspeicherten, was sie sahen.

Blut. Weiße Markierungen. Die Laterna Magica. So viel Blut.

Man konnte einem Täter kaum näher kommen als durch den Tatort, den Ort des Verbrechens. Man sah, was er gesehen hatte, schmeckte die gleiche Luft, fühlte vielleicht sogar eine ähnliche Anspannung. Solche Orte trugen die Signatur eines Mörders, vielleicht auch seine Unachtsamkeit, seine Fehler, die ihm schließlich das Genick brechen würden. Jodie bereute es sehr, nicht an den vorherigen Tatorten gewesen sein zu können, immerhin bestand ein gewaltiger Unterschied dazwischen, Bilder anzusehen und Berichte zu lesen und selbst dort zu sein, wo der Mord begangen wurde. Sie fragte sich unwillkürlich, ob sie vielleicht mehr wissen würde, wenn James sie früher hinzugezogen hätte. Andererseits dürfte der Fall zunächst im Zuständigkeitsbereich des LAPD gelegen haben, bevor man herausgefunden hatte, dass es sich um einen Serientäter handelte. Vermutlich spielte es keine große Rolle, dass James ihr nicht früher vertraut hatte, wichtig war nur, dass sie ihm jetzt zeigen konnte, dass er sich voll auf sie verlassen konnte.

Na los, du hast deinen Tatort. Jetzt beweise ihnen, dass du immer noch eine Agentin bist.

Zusammen mit Camel ging sie hinüber zur Markierung – Jeff Sanders hatte auf dem Rücken gelegen, der beige Teppich war hier immer noch blutgetränkt.

„Können Sie mir ein paar Einzelheiten verraten?“, wandte sie sich an den Forensiker, der sich als Peter Rhodes vorgestellt hatte.

„Nun, Sanders ist vor zwei Tagen ermordet worden. Die Kugel stammte aus einer Glock 37, weder die Waffe noch irgendwelche Fingerabdrücke konnten sichergestellt werden. Unser Täter war auch hier wieder sehr gründlich. Alles, was einen Anhaltspunkt bietet, ist diese seltsame Maschine, die er an jedem Tatort aufstellt, wir gehen davon aus, dass er sie selbst baut, da es keine vergleichbaren Modelle zu kaufen gibt – höchstens in Museen, aber die sind in der Regel gut gesichert.“

Camel nickte. „Das stimmt. Wir sind mittlerweile auch mit der Analyse seiner Einkäufe durch und haben festgestellt, dass er gestohlene Kreditkarten verwendet hat. Wir überprüfen die Besitzer gerade.“

„Wunderbar.“ Rhodes lächelte freundlich. „Sie können sich hier aber gerne umsehen, die Berichte müssten sie zwar schon vorliegen haben, aber es schadet sicher nicht, sich den Tatort noch einmal genauer anzusehen, um mit dem Modus Operandi des Täters vertrauter zu werden.“
 

Während Camel weiter mit Rhodes über die anderen Tatorte sprach, begann Jodie damit, sich den Raum genauer anzuschauen. Für ein Einzelzimmer war der Raum relativ groß, allerdings nicht übertrieben geräumig. Dass er sich bewusst für ein Einzelbett und kein Doppelbett entschieden hatte, sprach für ihn, es zeigte, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, seine Frau zu betrügen. Die etwa quadratisch angeordneten Wände waren mit einer kitschigen Tapete überzogen und von der Decke hing ein kleiner Kronleuchter. Während die Möbel in dunklen Holztönen gehalten waren, lag über dem Bett eine beige Überdecke. Die gleiche Farbe fand sich auch in dem großen, teuer wirkenden Teppich wieder, der nun über und über mit dunkelroten und braunen Flecken überzogen war wie ein groteskes Kunstwerk. An sich zeigte der Raum keinerlei Auffälligkeiten, es war ein gewöhnliches Zimmer, wie man es in Hotels fand, in denen vor allem die obere Mittelschicht und bisweilen auch die Oberschicht logierte. Auch der Blick auf die großen Fenster brachte keine neuen Erkenntnisse, die schweren Brokatvorhänge waren zum Zeitpunkt des Verbrechens zugezogen gewesen, sodass es auch von draußen unmöglich gewesen war, einen Blick ins Zimmer zu erhaschen und eventuelle Zeugen ausfielen. Was den Täter anging, bestand die Möglichkeit, dass er selbst im Hotel eingemietet gewesen war, weshalb man bereits mit der Überprüfung der Gäste begonnen hatte. Leider gestaltete sich dieser Teil der Ermittlung etwas zäh, da das Hotel sehr viel Wert auf seinen nun ohnehin schon angekratzten guten Ruf und den Schutz der Daten seiner Gäste legte. Das war natürlich nichts Ungewöhnliches, aber durchaus lästig, da ein Gerichtsbeschluss die Ermittlungen unnötig verzögern würde. Jodies Blick glitt erneut über die Stelle, an der man Sanders Leiche nachgezeichnet hatte. Auch hier wirkte auf den ersten Blick nichts eigenartig, alles passte wunderbar ins Bild. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen.

Komm schon Jodie, denk nach. Es ist alles zu gewöhnlich, zu perfekt. Dieser Typ ist ein Irrer, seine Nachricht zeigt, dass er Aufmerksamkeit will. Er spielt mit uns. Würde so jemand tatsächlich einen sauberen Tatort hinterlassen?

Zwar war die Laterna Magica für sich schon etwas sehr Persönliches, aber irgendwie konnte sie nicht glauben, dass das alles sein sollte. Es war inzwischen alltäglich für den Täter geworden, eine spöttische Signatur zweifellos, aber etwas, dass er immer hinterließ.

Und trotzdem schreibt er einen Brief. Das reicht ihm nicht.

Hatte er sich nicht am Tatort, sondern an der Leiche zu schaffen gemacht? Gerade wollte sie ich erneut an Rhodes wenden, um ihn über die pathologischen Einzelheiten zu befragen, als ihr etwas ins Auge sprang. Direkt gegenüber der Stelle, an der Sanders gestorben war, entdeckte sie ein kleines Tischchen an der Wand, auf dem ein unscheinbares Kästchen stand. Neugierig trat sie näher heran, zunächst war es ihr nicht aufgefallen, doch je länger sie es betrachtete, desto unpassender kam es ihr vor. Im Vergleich zu der übergroßen Laterna Magica verschwand es zwar beinahe, aber man konnte nicht leugnen, dass es nicht zur Einrichtung des Hotels passte. Im Gegensatz zu den Hochglanz-Möbeln wirkte das Holz beinahe morsch und zerfressen. Als sie vorsichtig Handschuhe überzog und es aufhob, entdeckte sie, dass es sich eigentlich um eine Spieluhr handelte.

Manchmal schickte er mir auch Pakete mit Kleinigkeiten von dem Ort, an dem er war, gab mir kleine Rätsel auf oder erzählte mir Geschichte, er war ein wundervoller, aufrichtiger Mann.

Behutsam öffnete sie die Spieluhr. Drinnen tanzte eine grobgeschnitzte Figur, die offensichtlich eine Ballerina in einem furchtbar kitschig, der amerikanischen Flagge nachempfundenen, Kostüm darstellen sollte. Die Melodie, die ertönte, war eine leicht dissonante Version von „…And a song for Los Angeles“ von She Wants Revenge. Jodie lächelte.

Ein kleines Geschenk. Aber für wen? Für Mrs. Sanders oder für uns?

Von den Klängen aufgeschreckt, traten Camel und Rhodes zu ihr.

„Was gibt es Jodie?“

„Guckt euch das mal an, kommt euch diese Spieluhr hier nicht verdächtig vor?“

Camel musterte sie nachdenklich. „Sie gehört zu Sanders persönlichen Gegenständen, wir haben im Papierkorb einen Beleg gefunden, dass er sie hier in L.A. gekauft hat.“

Jodie nickte. „Ja, als Mitbringsel für seine Frau.“

„Das nahmen wir an.“

„Aber warum steht sie hier so offen rum? Er hat alle seine Gegenstände längst verpackt.“

Sie deutete auf den vollen Koffer, der immer noch unschuldig in einer Ecke des Raumes stand und auf eine Reise wartete, die er niemals antreten würde. „Die Spieluhr sieht zerbrechlich aus, wäre es nicht ratsam, sie unter oder zwischen die Kleidung zu packen, um sie zu schützen? Stattdessen steht sie hier offen rum und fürs Handgepäck scheint sie mir zu groß zu sein.“

„Vielleicht hat er sie einfach vergessen?“

„Das könnte natürlich sein, aber seine Frau hat mir erzählt, wie wichtig es ihm war, sie an seinen Reisen teilhaben zu lassen. So etwas würde er nicht einfach liegen lassen. Außerdem beschäftigt mich, dass der Tatort bislang einfach zu perfekt war. Die Spieluhr passt so sehr nicht ins Bild, dass mehr dahinter stecken könnte.“

Die Anspannung in den Gesichtern der beiden wuchs augenblicklich, als sie ihren Gedankengängen folgten.

„Lasst uns das Ding sofort überprüfen.“

Jodie begann damit, den Deckel abzuheben, der sich überraschend leicht lösen lies. Als sich hier nichts fand, entfernte sie die Platte, auf der die eigenartige Ballerina munter ihre Kreise drehte. Sofort verstummte die Melodie und ließ eine beinahe bedrückende Stille zurück. Unter der Platte fanden sich ein kleiner Antrieb und ein Hohlraum, allerdings keine Spur von einer Botschaft oder einem fremden Gegenstand.

„Hmm…“, machte Rhodes und beugte sich vor. Plötzlich stutzte er und deutete mit dem Finger auf eine kleine Stelle am Rande es Holzbodens. „Schaut mal da, könnt ihr die Kratzspuren sehen? Es könnte sein, dass man das Kästchen hier geöffnet hat. Vielleicht gibt es einen doppelten Boden.“

„Ein Klassiker.“, spottete Camel, wurde aber sofort wieder ernst, als Jodie versuchte, den Boden abzuheben. Tatsächlich ging auch dieser nach einigem Ruckeln ab und offenbarte ein schmales Fach knapp über dem Sockel der Schatulle. Wie gebannt starrten die drei auf einen kleinen, unscheinbaren Zettel, der mit Sicherheit nicht Teil der Spieluhr war.

„Oh mein Gott.“, entfuhr es Jodie, als ihre Augen hastig über den Text flogen.

Eine weitere Botschaft des Hutmachers.
 

Schwarz. Rabenschwarz. Nachtschwarz. Pechschwarz.

Je mehr Zeit Shuichi in der Organisation verbrachte, desto elektrisierter fühlte er sich. Obwohl er die Dunkelheit gewohnt war und sich in ihr ebenso leicht, wie ein Schatten bewegte, kam er nicht umhin, zuzugeben, dass sie durchaus etwas Bedrohliches hatte. Er fühlte sich wie ein Fisch, der weit unten in der Dämmerzone lebte, er war ein Geschöpf der Nacht, aber die Tiefsee mit all ihren Schrecken verkörperte nun einmal eine vollkommen andere Art von Dunkelheit. Ohne jedes Streulicht war sie endgültig. Nachdem alle notwendigen Formalitäten geklärt waren, hatte Vermouth ihn in eine Basis der Organisation gebracht. Mittlerweile war man nach Überprüfung seiner falschen Identität – Dai Moroboshi – zu dem Schluss gekommen, dass er vertrauenswürdig war. Die erste Hürde seines Undercover-Einsatzes war also bereits geschafft. Er wusste nicht genau, wie viele Basen die Organisation innerhalb von Japan oder vielleicht auch im Ausland besaß, aber er wagte es nicht, innerhalb der düsteren Betonmauern danach zu fragen, da man vermutlich alles überwachte. Anokata schien äußert gründlich zu sein, was die Auswahl seiner Untergebenen anging, es wäre also nicht verwunderlich, wenn er auch nach ihrer Aufnahme nicht damit aufhörte, sie immer und immer wieder zu überprüfen und zu testen.

So sind die Raubfische hier unten. Schwimmst zu tief in die Dunkelheit, fressen sie dich.

Bei dieser Basis handelte es sich um Räumlichkeiten unter einem großen Bürokomplex, die wohl einst eine Tiefgarage gewesen waren. Shuichi vermutete, dass sie das Gebäude gekauft hatten und es pro forma als Unternehmen weiterlaufen ließen, während die Räume hier unten von allen Karten verschwunden waren. Was genau sich hier unten befand, konnte er selbst nicht sagen, vermutlich gab es neben Verhör- und Besprechungsräumen, Waffenlagern und Computeranlagen noch weitaus schrecklichere Dinge. Unwillkürlich musste er an Akemis Schwester denken, die irgendwo in einem kalten Labor eingesperrt war und die Aufträge dieser finsteren Haie ausführen musste.

„Nett hier, nicht wahr?“ Vermouth zwinkerte ihm amüsiert zu. Anscheinend war sein Gesicht bei diesen Gedanken nicht ganz so ausdruckslos geblieben wie sonst.

„Ja, durchaus.“ Einen Hauch von Ironie konnte er sich einfach nicht verkneifen.

Bitte vergib mir, Anokata.

Vermouth lächelte immer noch. „Na schön, jetzt bist du also hier. Um dich ein wenig zu testen, wirst du fürs erste kleinere Aufgaben bekommen, das hier ist auch nur ein bedeutungsloser Stützpunkt, keine Sorge, nahezu gar nichts hier unten lässt sich tatsächlich mit uns in Verbindung bringen. Die Geheimhaltung erfolgt, lässt man Anokatas Paranoia beiseite, eigentlich nur aus Platzgründen.“

Er nickte nur.

„Du wirst ein kleines Büro bekommen und die Aufgabe bekommen, Dinge für uns zu überprüfen. Treffpunkte mit Händlern, Leute, die für uns interessant sein könnten, Profile erstellen und so weiter und so fort. Alles klar soweit?“

„Keine Sorge, ich bin sicher, ich bin qualifiziert genug für diesen Job.“

Vermouth lachte. „Glaub mir, wenn es nach mir ginge, würdest du sicher andere Aufgaben kriegen.“

Er hob die Augenbrauen. „War das ein Flirtversuch?“

„Nur nicht so abgehoben, du bist hier immer noch der kleine Handlanger.“

Sie führte ihn einen anonym wirkenden Gang entlang, der von schmalen Stahltüren gesäumt war. Als sie bei der vorletzten Tür angelangt waren, öffnete sie sie mit einer Karte, von der er selbst bereits am Morgen eine Version erhalten hatte und führte ihn in ein fensterloses Büro, das den Charme einer Gefängniszelle versprühte.

„Bitteschön. Ich wünsche dir einen erfolgreichen ersten Arbeitstag.“
 

Kaum war Vermouth gegangen, fuhr Shuichi den PC hoch und gab die Anmeldedaten ein, die man ihm übermittelt hatte. Es erschien augenblicklich ein Desktop mit einigen Ordnern, die mit Zahlencodes von Daten und Orten beziffert waren. Im Geiste zählte er ein paar Minuten ab, dann stand er auf und schlich sich aus dem Büro. Es war nicht zu vermeiden, dass die Kameras ihn aufnahmen, allerdings würde er sich dadurch erklären können, dass er eine Toilette gesucht hatte. Außerdem hatte er ja Vermouths Schutz, solange ihr etwas daran lag, aus der Organisation rauszukommen, würde sie ihn sicher nicht einfach ans Messer liefern. Die Gänge glichen sich alle wie ein Ei dem anderen, sodass es ihm schwer fiel, nachzuvollziehen, in welche Richtung Vermouth gegangen war. Jeder Tür war mit einer Tafel und einem Kartenschloss versehen, wie zu erwarten funktionierte seine Karte nur für seine eigene Bürotür und die allgemeinen Eingänge. Aber das spielte erst einmal keine Rolle, wichtig war nur, dass er ein Bild des unterirdischen Labyrinths bekam, um sich im Notfall schnell zurechtzufinden. Gerade wollte er in einen weiteren Gang abbiegen, als er irgendwo eine Tür quietschen hörte. Neugierig folgte er dem Geräusch und sah gerade noch einen blonden Haarschopf verschwinden, während sich der automatische Mechanismus die Tür langsam schloss. Geistesgegenwärtig packte er die Tür und zog sie selbst soweit zu, bis nur noch ein winziger Spalt übrig blieb. Der Raum einigermaßen gut beleuchtet, allerdings hatte sich Vermouth ihrem Computer zugewandt und bemerkte nicht, dass sich die Tür nicht ganz geschlossen hatte. Shuichi wusste nicht genau, wohin das führen sollte, aber es konnte nicht schaden, sich ein wenig hier umzusehen. Offenbar war es eines von Vermouths Büros und offenbarte womöglich einen Hinweis auf Anokatas Identität. Immerhin schien Vermouth näher an ihm dran zu sein, als jeder andere. Das Zimmer war ebenso spärlich eingerichtet wie sein kleines Reich, es gab lediglich einen Schreibtisch und ein paar metallene Aktenschränke.

Wäre ja auch zu schön gewesen.

Gerade als er sich zurückziehen wollte, entdeckte er jedoch etwas in einer Ecke des Zimmers, das ihn stutzig machte. Das Objekt wirkte auf den ersten Moment befremdlich, wie ein Apparat aus einem Kinofilm oder einem Museum. Er konnte sich nicht erinnern etwas dergleichen schon einmal gesehen zu haben, doch plötzlich kam es ihm seltsam vertraut vor.

Die Organisation die du beschattest, der Killer mit seinen mystischen Apparaten, die nicht nur aus der Vergangenheit, sondern aus einer vollkommen fremden Welt zu stammen scheinen, zwischen ihnen besteht eine Verbindung.

Konnte es möglich sein?

Fassungslos starrte er auf den Apparat, dessen Zweck ihm schlagartig klargeworden war.

Man kann damit Bildfolgen abspielen, früher wurde es genutzt, um kleine Filmchen zu erzeugen, jetzt benutzt es der Mörder, um dem FBI einen Teil seines Horrorkabinetts zu präsentieren.

Wieso zur Hölle fand sich so etwas in Vermouths Besitz? Bedeutete das etwa…?

„Tut mir leid, falls dir das Teil gefällt, es ist unverkäuflich.“

Als er seine Augen erschrocken von der Laterna Magica abwandte, blickte er direkt in den Lauf einer Waffe, hinter der Vermouths blaue Augen angriffslustig funkelten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Varlet
2016-01-04T11:29:35+00:00 04.01.2016 12:29
Yay, wenigstens Camel ist auf Jodies Seite und unterstützt sie. Das find ich schön. Ich mag s auch in den aktuellen Files, wenn Camel zusammen mit Jodie ermitteln darf und sich wieder zeigt, wie gut sie auf beruflicher Ebene zusammen arbeiten.
Und dann gelingt Jodie auch noch ein weiterer Durchbruch als sie die Spieluhr und die versteckte Botschaft dahinter findet. Komisch, dass es zwar die anderen bemerkten, aber einfach die Botschaft nicht fanden. Umso froher bin ich, dass es Jodie schaffte.

Shu in einem Büro? Das ist eine interessante Vorstellung. Bin gespannt, wie er sich weiter hoch arbeitet. Es muss wirklich ein Zufall sein, dass er gerade bei der Organisation die Laterna Magica gefunden hat. Mal sehn, wie er sich aus Vermouths Waffenlauf befreien will. Auf jedenfall war das ein sehr spannendes Ende für das Kapitel und würde es gleich nicht weiter gehen, hätte ich sicherlich schon gequängelt.


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