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Bora - Stein der Winde

von

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Bora

»Sei gegrüßt, Weltenretter«, erklang eine Stimme hinter Justin.

Noch bevor er sich umgedreht hatte, wusste er, dass es sein Engel war. Anura. Und er hatte recht. Sie war so schön wie beim ersten Mal und sie wirkte genauso traurig. Doch schien es ihm, dass der kleine Funke Hoffnung größer geworden war.

Ihre Stimme war wundervoll anzuhören, sie war genauso sanft und melodisch, wie Justin es erwartet hatte. Sie sprach in einer Sprache, die er nie zuvor gehört hatte, dessen war er sich sicher, und dennoch verstand er sie, als wäre er mit ihr aufgewachsen. Es klang wie ein zauberhaftes Lied, das von Geheimnis und Magie vergangener Zeitalter erzählte.

»Wieso kann ich dich verstehen?«, fragte er leise und stellte erstaunt fest, dass er sich ebenfalls dieser seltsamen Sprache bediente.

»Es ist die Sprache der Unsterblichen. Einst kannte jedes Wesen aus jeder Welt sie. Viele vergaßen im Laufe der Jahrtausende, dass es sie gibt und so manches Volk hat gänzlich verlernt, sie zu sprechen. Doch verstehen kann sie jeder«, erklärte das Mädchen und raschelte leise mit ihren großen Schwanenflügeln.

»Ich nehme an, gewöhnlich sprichst du nicht meine Sprache und bedienst dich deshalb dieser … Sprache der Unsterblichen?« Justin betrachtete fasziniert den sanften Schwung ihrer Lippen und die sanfte, fast unsichtbare Bewegung ihrer Brust, wenn sie atmete. Nie zuvor hatte er so ein Wesen gesehen. Es hätte der spitzen Ohren und der Schwingen nicht bedurft um ihn wissen zu lassen, dass sie einer gänzlich anderen Welt entstammte.

»Ihr würdet mich genauso wenig verstehen«, lächelte sie. Justin nickte.

»Da hast du wohl recht. Warum nennst du mich Weltenretter?« Er wollte die Hand ausstrecken und sich vergewissern, dass sie existierte. Wirklich, nicht nur in diesem seltsamen Traum. Doch er hatte Angst, dass er dann aufwachen würde.

»Vor langer Zeit wurde uns ein Retter prophezeit. Ein junger Mann mit Flammenhaar, der das Böse endgültig aus meiner und jeder anderen Welt verbannen würde. Das seid Ihr.«

Justin schwieg. Wie kam sie nur auf solch eine absonderliche Idee? Er konnte nicht einmal sein eigenes Leben ordnen, wie sollte er sich dann um ganze Welten kümmern?

»Es gibt mehrere Welten?«, fragte er schließlich. Es war nicht so, dass er die Antwort gänzlich uninteressant fand, doch eigentlich stellte er die Frage nur, um Zeit zu gewinnen.

»Ja. So viele, dass niemand jemals alle gesehen hat«, antwortete sie und schaute ihn an, als würde sie etwas von ihm erwarten.

»Ich verstehe es trotzdem nicht. Wie kommst du darauf, dass ich euer Retter bin? So ungewöhnlich sind rote Haare auch wieder nicht und ich bin … Ich kann ja nicht einmal einen Toaster bedienen, ohne dass er anfängt zu brennen.« Er hielt inne und schüttelte langsam den Kopf. »Ich doch nicht.«

»Ich weiß, dass irgendetwas mich zu Euch geführt hat. Ob Ihr nun der seid, für den ich Euch halte, oder ob Ihr es nicht seid, spielt letztlich keine Rolle. Letztlich zählt, dass das Schicksal uns zusammenführte. Das sollte Euch genügen.« Sie sprach in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch zuließ.

Justin dachte für einige Augenblicke über ihre Worte nach und befand, dass sie richtig waren. Irgendetwas hatte ihn hierher geführt, nur das zählte. Zumal er das unbestimmte Gefühl hatte, das sein ganzes Leben, seine gesamte Existenz nur dem Zweck diente, das er an diesem Tag hier stand und mit diesem Mädchen sprach.

»Gut, Anura«, sprach er schließlich und registrierte mit einer gewissen Befriedigung das Erstaunen in ihrem Blick, als er ihren Namen nannte. »Warum bin ich hier? Und wo genau ist hier?«

»Anura. So hat mich schon lange niemand mehr genannt«, sprach sie leise und senkte den Blick. »Ich hatte nicht geglaubt, diesen Namen jemals wieder zu hören.«

»Es ist dein Name. Spricht hier niemand mit dir oder was meinst du?«

»Es war mein Name. In … einem früheren Leben.« Sie wirkte traurig, schüttelte dann langsam den Kopf. »Es gibt Wichtigeres, als über Namen zu sprechen. Wir sind hier in der Welt Läivia. Im Nordenreich, wenn du es noch genauer haben willst. In meinem Käfig aus Eis. Und du bist wahrlich nicht grundlos hier. Ich möchte dich um etwas bitten.«

Justin hätte jeder Bitte von ihr zugestimmt. Selbst wenn sie wünschte, dass er die Sterne, den Mond und sogar die Sonne selbst vom Himmel holte, hätte er ihr Bitten nicht ausgeschlagen. Doch ihre Bitte sollte sich als unendlich einfach und zugleich unglaublich schwer herausstellen.

»Unser Feind ist mächtig und seine Macht wächst mit jeder Minute. Sie haben es geschafft, zwei der Schwerter in ihren Besitz zu bringen. Keiner von uns weiß, wo die Verbliebenen zwei sind, doch es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie herausfinden, wo sie suchen müssen. Doch selbst wenn sie alle Schwerter haben, so fehlen ihnen noch die Steine. Korona wissen wir in Sicherheit, doch Bora ist bei mir nicht mehr sicher und so möchte ich euch darum bitten, ihn an Euch zu nehmen und mit Eurem Leben zu verteidigen.«

»Das geht mir jetzt gerade etwas zu schnell. Was für Schwerter, wer oder was ist Korona und was ist Bora?«

Das Mädchen lächelte.

»Ich erkläre es Euch. Alles auf der Welt wird von den vier Elementen beeinflusst. Alles besteht aus ihnen. Pflanzen, Tiere, einfach alles. Diese Elemente sind Feuer, Wasser, Luft und Erde. Das ist bekannt. Vor Jahrmilliarden aber geschah etwas, an das sich kaum noch jemand erinnert. Eine Gruppe von Gesandten verschiedener Welten schlossen einen Pakt mit den Elementen. Keiner weiß mehr, worum es damals ging oder was genau geschah, doch diesem Pakt entstammt unser Erbe. Es wurden vier Schwerter geschmiedet, die die Macht der Elemente in sich trugen. Diese Schwerter waren Drachenwind, Phönixfeuer, Nixenwasser und Golemerde. Vier der Gesandten erhielten je eines der Schwerter und kehrten in ihre Welt zurück, um sie dort sicher zu verwahren. Doch hielt man es für zu unsicher, wenn alle Macht alleine in einem Schwert wohnte. Viel zu leicht konnte es in falsche Hände geraten. Und so schuf man die Steine. Diese waren Bora, Korona, Zoran und Ferrum. Nur die Steine und die Schwerter gemeinsam sollten die Macht nutzen können, die in ihnen schlief. Das Eine ohne das Andere war von jeher nutzlos. Auch diese Steine vergab man in verschiedene Welten. Bora erhielt der Gesandte aus Läivia und im Laufe der Jahrhunderte wurden die Herren des Nordenreiches die Wächter der Legende und Hüter des Steines.«

»Aber eure Feinde, wer auch immer sie sein mögen, haben zwei der Schwerter und sie wissen, dass du Bora hast, habe ich das richtig verstanden?«, fragte Justin und das Mädchen nickte.

»Es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis sie kommen und sich holen, was sie bei mir wissen. So gebe ich ihn in Eure Hände und bitte Euch inständig, Bora mit Eurem Leben zu schützen, denn Ihr seit das Einzige, das noch zwischen ihrer Herrschaft über den Wind steht.«

»Wieso glaubst du, ich könnte Bora beschützen?«, wollte Justin wissen und dachte dabei, dass er ja nicht einmal in der Lage war, die Menschen zu beschützen, die ihm wichtig waren.

»Weil Ihr der Weltenretter seid«, lächelte sie und Justin befand, dass das Gespräch anfing, sich im Kreis zu drehen, wenn er jetzt abermals widersprach.

»Glaubst du nicht, wenn du die Möglichkeit hast, in einem Traum zu mir zu kommen, dass sie es dann auch können, wenn sie nur die richtige Person finden?«

»Ich habe einen Helfer in Eurer Welt, den haben sie nicht«, lächelte das Mädchen. »Zudem bin ich der Magie mächtig. Unser Feind dagegen setzt auf körperliche Stärke. Ich glaube nicht, dass sie wissen, wohin ich Bora gebe.«

»Du bist eine Zauberin?«

»Ich bin eine Elbe, die das Pech hat, Magie wirken zu können«, widersprach sie traurig.

»Wieso Pech?«

Sie wirkte noch trauriger, schüttelte jedoch den Kopf, um deutlich zu machen, dass sie darauf nicht antworten würde.

»Gut. Was geschieht mit dir, wenn sie merken, dass du den Stein nicht mehr hast? Können sie dich nicht zwingen, wieder im Traum zu mir zu kommen und ihn zurückzuholen? Dazu bräuchten sie keine Magie.«

»Das wird nicht klappen, denn nicht ich bin es, die Euch aufsucht. Ihr seit der Traumseher, nicht ich.«

»Traumseher?« Es war keine wirkliche Frage. Es war vielmehr eine Feststellung. Er hatte keine Ahnung, woher dieses Wissen kam, aber er wusste, was ein Traumseher war. Und es erklärte so vieles. Zumindest wenn man bereit war, an übernatürliche Geschehennisse zu glauben und nach allem, was geschehen war, war er mehr als bereit. Aber es erklärte nicht seine Visionen.

Sie trat einige Schritte auf ihn zu, sodass sie nun direkt vor ihm stand. Sie roch angenehm, warm und beruhigend. Nach Wärme und Geborgenheit.

»Werdet Ihr Bora an Euch nehmen?«, fragte sie leise.

»Werden wir uns wieder sehen?«

»Vielleicht.«

Justin nickte. »Ich werde Bora mit meinem Leben verteidigen. So lange, bis du ihn wiederhaben willst.«

Sie lächelte und wirkte erleichtert. Dann nahm sie seine Hand. Ihre Haut war warm und weich. Mehr ein warmer Sommerwind denn eine Hand, doch seine Augen konnten sich nicht von den ihren lösen. Sie waren nicht einfach nur dunkel, wie er bisher geglaubt hatte, sondern sie waren braun. Ein Schönes, Dunkles rotbraun.

Schließlich spürte er den Stein in seiner Hand. Er hatte geglaubt, dass er sich kalt anfühlen würde, wie ein Kiesel, doch war es mehr, als hätte er einen kleinen Vogel in der Hand.

»Ich lege unser Schicksal in deine Hände«, flüsterte sie und Justins Herz tat einen Satz, als er merkte, dass sie nicht mehr das förmliche Sie nutzte.

»Wie nennt man dich in diesem Leben?«, fragte er leise.

Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten.

Mit einem Schrei erwachte er. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Sein Herz raste, doch er beruhigte sich schnell, als er merkte, dass seine Mutter ihn im Arm hielt.

»Geht es wieder?«, fragte sie leise.

»Ja, es geht«, antwortete er und versuchte sich zu entspannen.

»Hattest du wieder einen Albtraum?« Es war nicht das erste Mal, das Justin im Schlaf schrie und es war auch nicht das erste Mal, das Ginny ihn im Arm hielt, bis es ihm wieder besser ging.

Justin war ihr sehr dankbar dafür. Er wusste, dass es keine Selbstverständlichkeit war, das seine Mutter immer für ihn da war, wenn er sie brauchte. Lange schwiegen sie, während Ginny über sein Haar strich.

»Willst du nicht langsam schlafen gehen? Du hast doch morgen Dienst«, bemerkte er schließlich.

»Kann ich dich alleine lassen?«, fragte sie anstelle einer Antwort. Justin nickte und so stand sie auf und ging langsam aus seinem Zimmer. In der Tür blieb sie noch einmal stehen, schien etwas sagen zu wollen, schaute ihn dann aber nur noch einige Sekunden an, während das Mondlicht ihr trauriges Gesicht beschien. Dann ging sie.

Justin schaute noch einige Sekunden lang die geschlossene Tür an. Er wusste, dass seine Mutter an seinen Vater gedacht hatte. Es gab unzählige Fotos von ihm, meistens gemeinsam mit Helen, Ginny oder ihm selbst. Es waren im Laufe der Jahre weniger geworden, sie waren Bildern von Helen und Justin gewichen, denn sie beide waren alles, was Ginny noch blieb, doch es gab noch genug Fotos, das Justin wusste, das er seinem Vater sehr ähnlich sah.

Manchmal fragte er sich, ob Ginny ihn dafür hasste. Sie hatte seinen Vater sehr geliebt, es musste grausam für sie sein, ihn jedes Mal zu sehen, wenn sie Justin ansah und dabei doch zu wissen, dass sie ihn nie wieder treffen konnte.

Andererseits hatte er nie das Gefühl gehabt, ungeliebt zu sein. Er wusste, dass sich seine Eltern nach Helen noch ein zweites Kind gewünscht hatten und dementsprechend hatte er im Großen und Ganzen eine sehr glückliche Kindheit gehabt mit zwei ganz wunderbaren Menschen, die sich liebevoll um ihn und auch um seine Schwester gekümmert hatten. Bis alles in die Brüche gegangen war.

Justin blinzelte ein paar Mal, während er versuchte, seine Gedanken wieder in die Gegenwart zu lenken. Er betrachtete den Stein, der im hellen Mondlicht silbern leuchtete. Er konnte kaum glauben, dass er die Macht haben sollte, die Bäume entwurzelte, Brücken zum Einsturz brachte und jedes Jahr Menschenleben kostete. Wind konnte sehr mächtig und sehr zerstörerisch sein und er war unberechenbar. Doch fiel ihm kein Grund ein, warum das Mädchen aus seinem Traum lügen sollte.

»Wie heißt du nur …?«, fragte er leise in die Stille seines Zimmers. Welchen Namen mochte sie haben? Sie, die so schön war wie der neue Morgen.

Schließlich seufzte er nur. Er legte den Stein auf seinen Schreibtisch und legte sich dann ins Bett. Lange konnte er nicht einschlafen, denn seine Gedanken wirbelten umher, wie ein Sturm. Doch schließlich siegte die Müdigkeit und er sank in einen traumlosen Schlaf.



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