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Bora - Stein der Winde

von

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In der Eisdiele

Justin beobachtete die Menschen um sich herum. Das tat er gerne. Er fand es spannend sich zu überlegen, woher sie gerade gekommen waren und wohin sie gehen würden. Warum waren sie jetzt gerade hier? Auf wen warteten sie, mit wem sprachen sie oder warum stritten sie sich? Wohin würden sie gehen?

Er stellte sich vor, dass die junge Frau dort in der Ecke ihre Freundin mit dem traurigen Blick gerade tröstete. Vielleicht hatte ihr Freund Schluss gemacht, vielleicht hatte sie Probleme mit ihren Eltern, vielleicht war ihr geliebtes Haustier verstorben.

Und das junge Paar am Fenster könnte sich über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten. Vielleicht wollten sie zusammenziehen, vielleicht planten sie gar ihre Hochzeit. Vielleicht sahen sie die Welt auch noch durch ihre rosaroten Brillen und in zwei Wochen würde er mit Freunden hier sitzen und sich das nächste Mädchen aussuchen, dem er das Herz brechen konnte, während sie zu Hause alleine in ein Kissen weinte.

Oder es war anders herum und sie brach ihm das Herz, wer wusste es schon?

Dann fiel sein Blick auf den alten Mann, der traurig auf den Tisch starrte und noch immer das Lachen seiner Frau sah, die vor einem Jahr plötzlich verstorben war. Justin kannte ihn, er wusste, dass er seit Jahren jeden Tag mit seiner Frau hergekommen war, seitdem die beiden vor vielen Jahren glücklich geheiratet hatten.

Warum kam er noch immer jeden Tag? In Gedenken an die große Liebe, die er verloren hatte, oder einfach aus Gewohnheit? Hoffte er das sich jemand zu ihm setzte und mit ihm sprach, das er mit jemandem seinen Kummer teilen konnte, oder wollte er lieber still und leise ihrer gedenken?

Und wer würde sich an ihn erinnern, wenn er einmal starb? Würde es jemandem auffallen? Dass der alte Herr nicht mehr hierher kam?

Wieder einmal wurde Justin bewusst, wie vergänglich alles war. Er seufzte und löffelte weiter an seinem Eisbecher, als er durch das große Fenster sah, das Timo gleich hereinkommen würde.

»Hey. Bin ich zu spät?«, grüßte ihn der Freund und setzte sich.

»Nein, ich war zu früh hier, ich hab es zu Hause nicht mehr ausgehalten«, antwortete Justin und schob Timo die Eiskarte hin.

»Okay. Was nehme ich denn …« Timo ging nicht weiter darauf ein. Die nächsten Minuten war der Dunkelhaarige völlig damit beschäftigt, die Karte zu studieren und Justin sagte in dieser Zeit nichts, beobachtete stattdessen weiter die Menschen um ihn herum.

Dann bestellte Timo und für eine Weile schwiegen sie, bis der Dunkelhaarige schließlich seufzte.

»Okay erzähl mal, was ist los«, fragte er schließlich.

Justin antwortete nicht gleich. Er überlegte, wie er anfangen sollte und as erst etwas von seinem Eis, um Zeit zu schinden.

»Du weißt ja, dass ich nicht ganz normal bin.« Er lächelte schief und auch Timo schnaubte zustimmend. »Na ja, von diesen seltsamen Gefühlen gelegentlich weißt du ja und auch von diesen Träumen ab und an.«

»Ja und das ist nicht lustig. Das ist echt gruslig«, fand Timo misstrauisch. Er wusste, dass Justin ab und zu Träume hatte, in denen er Dinge erfuhr, die er nicht wissen konnte, weil sie Hunderte Kilometer entfernt geschahen oder erst noch geschehen würden. Niemand hatte eine Erklärung dafür, es wussten auch nicht viele davon. Nun fragte sich der Dunkelhaarige, worauf Justin nun eigentlich hinauswollte. Hatte er wieder so einen Traum gehabt?

»Das Ganze geht jetzt weiter. Ich hatte in den letzten drei Tagen zwei … Visionen passt, denke ich, am besten um es zu beschreiben. Nicht im Schlaf, sondern während ich wach war. Und der Inhalt war mehr als fragwürdig«, fand Justin und starrte so intensiv auf seinen Eisbecher, als könnte er dort die Erklärung lesen.

»Was hast du den gesehen?« Timo war noch immer misstrauisch, aber seine Neugierde war geweckt.

»Ich sah mich selbst. Auf einem schwarzen Hengst. Er, ich war voller Blut, aber es war nicht mein eigenes. Es war von den Männern um mich herum, die ich mit meinem Schwert abgeschlachtet hatte, wie Vieh. Ohne Mitleid, voller Hass. Dort waren schreie von Sterbenden und es hat mich nicht gestört. Es war normal, Alltag, nichts was mich beunruhigt hat und ich wusste, dass mir nichts geschehen würde. Das ich jeden, der sich mir in den Weg stellte, töten könnte und auch töten würde. Und ich habe schon wieder diesen verdammten Geruch von Blut in der Nase.« Justin schüttelte heftig den Kopf, schloss dann die Augen, um sich selbst wieder zu beruhigen.

»Das ist wirklich seltsam. Sicher, dass du es warst?«

»Wer sollte es sonst sein? Er sah aus wie ich und ich habe gewusst, was er denkt, was er fühlt. Als wäre ich selbst es in diesem Moment. Und zugleich war er mir so fremd. Es ist schwierig zu erklären.«

Timo schwieg nachdenklich, schien alle möglichen und auch alle unmöglichen Erklärungen durchzugehen und sie alle wieder zu verwerfen.

»Was ist mit deiner zweiten Vision?«, fragte er schließlich.

»Die hatte ich heute Morgen am See.« Justin as etwas von seinem Eis und schaute dann einige Momente den Löffel an, bevor er weitersprach. »Ich war mit Nadia und ihrem Hund spazieren, da habe ich Meerjungfrauen im See gesehen. Sie spielten da herum, als würden sie das täglich tun. Und dann, ganz plötzlich, stand ich in einer Halle aus Eis. Ich sah, dass jemand vor einem Fenster steht und ich ging darauf zu. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es ein Engel war. Ein Mädchen mit großen, weißen Flügeln. Sie hat mich gehört, sie drehte sich um und wollte etwas sagen, aber da war ich schon wieder zurück.«

»Ein Engel?« Jetzt war Timo ganz eindeutig nur neugierig. »Wie sah sie genau aus?«

»Na ja, sie hatte spitze Ohren, wie eine Elfe. Die Flügel sahen aus wie Schwanenflügel. Ihre Haut war ganz hell und ihr Haar so schwarz wie, wie … ich kann es nicht beschreiben, ich habe so etwas noch nie gesehen. Und ihre Augen. Die schönsten Augen, die du dir vorstellen kannst.« Er seufzte voller Sehnsucht. Dann fiel ihm auf, dass Timo seltsam nachdenklich wirkte.

»Ihr Name ist Anura«, flüsterte der Dunkelhaarige.

»Anura? Woher weißt du das?«, fragte Justin. Timo sah ihn an und Justin konnte in seinen Augen lesen, dass sein Freund die Antwort selbst nicht wusste. Der Name war einfach da gewesen.

»Ich weiß es nicht. Aber so heißt sie, da bin ich mir sicher«, antwortete der.

Eine ganze Weile schauten sie einander schweigend an und versuchten zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Dann stand Timo auf und warf ein paar Geldstücke auf den Tisch.

»Ich muss los. Ich muss noch … ich muss los«, murmelte der Dunkelhaarige schwach und ging. Justin schaute ihn noch lange nach während sein Kopf versuchte zu begreifen, was das alles bedeuten mochte.

Und dann sah er ihn. Den Mann vom See. Wieder mit Sonnenbrille, einem langen Mantel und einem Hut. Er tat so, als hätte er den Fremden nicht bemerkt. Er zahlte sein Eis und verließ ebenfalls die Eisdiele. Er ging jedoch nicht nach Hause, sondern lief über die Straße und stellte sich so, dass er den Eingang beobachten konnte, ohne selbst sofort gesehen zu werden.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Fremde ebenfalls herauskam. Er blickte die Straße hinunter in die Richtung, in die Justin laufen musste, wenn er nach Hause wollte. Er schien einige Augenblicke zu überlegen, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung los.

Justin lächelte. Er würde die Herausforderung annehmen. Er folgte dem Fremden, ohne das dieser ihn bemerkte. Der lief eine ganze Weile recht ziellos einfach umher, blieb dann und wann stehen. Er nahm einige Dinge genauer in Augenschein, strich manchmal über eine Hauswand oder dergleichen.

Sein Verhalten machte für Justin keinen Sinn, es wirkte auf ihn wie jemand, der an diesem Ort eine lange, glückliche Zeit verbracht hatte und nun nach langen Jahren endlich wieder zurückkehrte. Aber warum sollte er dann jemanden verfolgen und warum ausgerechnet ihn? Oder wurde er einfach nur langsam aber sicher paranoid?

Der Fremde schien ihn aber nicht zu bemerken oder aber, er ließ sich nichts anmerken und spielte seinerseits ein Spielchen mit Justin.

Doch plötzlich hielt der Fremde inne, er schaute eine ganze Weile auf eine Seitenstraße. Justin wusste, dass es eine Sackgasse war, der Fremde scheinbar nicht. Er ging hinein. Justin wartete eine ganze Weile darauf, dass er wieder herauskommen mochte, doch niemand kam zurück.

Er wartete noch einige Augenblicke, dann ging er langsam zu der Gasse und blickte hinein. Sie war leer und das war eigentlich unmöglich. Er hatte sie die ganze Zeit im Blick gehabt, es war niemand herausgekommen, es gab keine Türen oder Fenster und die Mauer am Ende war zu hoch, als das man sie einfach so überklettern konnte.

Und dennoch war sie leer. Justin seufzte. Ihm waren mittlerweile so verdammt viele Dinge untergekommen, die er bisher für unmöglich gehalten hatte, dass es ihn nicht einmal wirklich wunderte. Er ärgerte sich nur, dass der Fremde auch diese Runde für sich entschieden hatte.

So knurrte er leise eine Verwünschung und machte sich dann auf den Weg nach Hause.



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