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20 Worte...

...können manchmal wenig sein
von

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One Shoot

"Willst du etwas Kaffee, Sunny-Maus?"

Kollektives Schweigen.

Ein ungehöriger Druck durch diese Frage scheint auf meinen Schultern zu lasten.

Dann die Erlösung. "Nein, ich muss eh gleich in die Schule."

"Sicher?", hakt meine Mutter nach.

"Ganz sicher."

"Gut."

Siebzehn Wörter, die wir heute Morgen gewechselt haben.

Rekordverdächtig.

Ich gehe aus der Tür, in der Hoffnung, nicht meinem Vater zu begegnen. Das würde meine morgendliche Anzahl an vorhandenen Wörtern gehörig überschreiten, wobei sie schwankt, aber an Tagen wie heute liegt sie auf dem absoluten Tiefpunkt. Zwanzig, nicht mehr und nicht weniger.

"Findest du denn auch den Weg zur Schule?", fragt meine Mutter.

"Ja." Noch neun Wörter und dann halte ich meine Klappe.

"Ich weiß, es muss hart für dich sein, auf eine neue Schule zu gehen, aber es lässt sich eben nicht vermeiden. Außerdem findest du bestimmt wieder neue Freunde."

Sicher?

Dann ein »Hm«. Zählt das als Wort? Ich entscheide mich dafür, dass »Hm« als Laut gilt und ich so meine neun Wörter behalten kann.

Als ich zur Tür rausgehe, höre ich noch ein »Bis Bald« von meiner Mutter, doch meine neun Worte sind mir zu wertvoll, um den Abschiedsgruß meiner Mutter zu erwidern.

"Morgen", dieses Wort richten sich an den Briefträger, der mich freundlich zurückgrüßt.

Acht Wörter.

Ich setze meine Kopfhörer auf und lasse mich von der Musik einlullen.

Ich habe Glück. Ich komme gerade rechtzeitig zur Bushaltestelle.

Der Bus ist schon brechend voll mit Schülern und ich quetsche mich brav zwischen die anderen, mehr oder weniger Lernbegierigen.

Am liebsten würde ich den Jungen neben mir darauf hinweisen, dass er auf meinem Fuß steht, aber das wäre Wortverschwendung.

Also halte ich meine Klappe und warte, bis der Bus vor der Schule zum Stehen kommt.

Heinrich-Heine-Mädchen-Gymnasium.

Nicht, dass ich was gegen den Dichter habe, aber diese Schule ist mir unsympathisch.

Ein großer, gefühlloser, grauer Betonklotz, der wie ein Labor für Tierversuche aussieht. Ehrlich gesagt, keine gute Voraussetzung für einen entspannten ersten Schultag.

"Ey, du scheinst zwei Haltestellen zu früh ausgestiegen zu sein", spricht mich ein Mädchen an, "Dies ist eine Mädchenschule, die Jungenschule ist zwei Haltestellen weiter."

Ich hebe meinen Kopf. "Und?"

Fuck, nur noch sieben Worte.

"Dann geh doch dahin."

"Ich bin ein Mädchen!"

Drei Worte, schießt es mir durch den Kopf.

Mal wieder verwechselt worden. So was passiert mir ständig.

Mit Jogginghose, Kaputzen-Pulli und Cap auf dem Kopf sieht man nun mal nicht besonders weiblich aus.

"Oh sorry! Tut mir Leid", entschuldigt sich das Mädchen, "sag mal, bist du neu hier?"

"Hm."

Sie wertet es glücklicherweise als ein Ja, sodass ich mir wertvolle Wörter sparen kann. Leider nicht viele, denn sie fragt weiter.

"In welche Klasse gehst du denn?"

"9d."

Vielen Dank Mädchen, du raubst mir gerade meine letzten Worte.

"Wie schön, ich auch."

Sie lächelt mich an.

"Hm."

Oh Unterrichtsbeginn erlöse mich!

Leider sind es aber noch zehn Minuten und das Mädchen macht keine Anstalten zu gehen.

"Ich bin Lisa, und du?"

"Sunny."

"Schöner Name", sagt sie, während sie vor sich hingrinst.

Herr im Himmel, merkt die nicht, dass sie mich nervt, schießt es mir durch den Kopf.

Während Lisa beginnt, mir über Lehrer und Klassenkameraden zu erzählen, schweifen meine Gedanken zu meinem Zimmer. Meinem schönen ruhigen Zimmer ohne grinsende Mädchen namens Lisa, die einen pausenlos zuquatschen und vor allen Dingen ohne andere Personen.

Ich seufzte und Lisa stoppt ihr Gerede.

"Alles Okay?", fragt sie mich.

"Hm."

Sie zieht die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich ist ihr aufgefallen, wie oft ich »Hm.« sage.

"Ist etwas?"

Ich schüttel nur den Kopf. Mein letztes Wort ist mir einfach zu kostbar.

"Wirklich nicht?"

Ist die so dumm oder tut die nur so? Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?

Sie bekommt keine Antwort von mir, nicht mal eine Geste.

"Tut mir leid, ich wollte dich nicht belästigen."

Sie sieht mich traurig an, doch mir ist jegliche Lust an Konversation vergangen.

"Na dann. Man sieht sich", murmelt Lisa, als sie sich umdreht und geht.

Sie verschwindet in der Schülermenge und ich setze meine Kopfhörer auf. Doch die Musik scheint nicht ganz ihren Zweck zu erfüllen. Die Entspannung, welche sich bei den harmonischen Tönen normalerweise in mir breit macht, bleibt aus.

Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen.

Ein ungewohntes Gefühl überschwemmt meinen Körper. Das Gefühl von Nervosität und Unsicherheit.

Ist es, weil Lisa nicht mehr hier ist? Obwohl sie mich so genervt hat?

Schülerinnen starren mich an.

Ich fühle mich allein und beunruhigt.

Angst mischt sich unter Nervosität und erzeugt bei mir leichtes Frösteln und Zittern.

Obwohl ich es selber nicht wahrhaben will, aber Lisas Beachtung tat mir gut.

Mit einem Mal fasse ich einen Beschluss.

Ich laufe in das Schulgebäude und zu dem Klassenraum, in dem die 9d Unterricht hat.

Meine Hand ist etwas zitterig, als ich nach der Klinke fasse, und ich beginne aufgeregt zu werden.

Innerlich spreche ich mir Mut zu und dann öffne ich die Tür.

Die Schulklasse ist wie ein Deja-Vu. Genau so laut und quirlig wie meine alte Klasse und trotzdem. Etwas ist anders. Vielleicht ist es Lisa, die auf einem Tisch sitzt und mit ihrem Handy spielt.

Schülerinnen starren mich an und ich kann Sätze wie: "Was macht der Junge denn hier?" vernehmen.

Ich gebe mir einen Ruck und gehe zu Lisa.

Sie ist so vertieft, dass sie mich erst nach einem Räuspern bemerkt.

Erstaunt sieht sie zu mir hoch.

"Sunny."

Was soll ich sagen?

Schließlich beschließe ich, dass es Momente gibt, in denen ein Wort ganz schön nützlich sein könnte.

"Sorry", murmle ich und opfere so mein letztes Wort für ein Mädchen, welches ich erst seit ca. 20 Minuten kenne.

Respekt Sunny.

Plötzlich fängt Lisa an zu lachen.

"Macht nichts.", kichert sie und reicht mir ihre Hand, "Komm, schlag ein!"

Schüchtern tue ich, wie mir befohlen, und beginne mich zu fragen, ob eine erweiterte Anzahl an Worten nicht vielleicht doch nützlich wäre.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-09-28T14:27:15+00:00 28.09.2012 16:27
Ein kleine, niedliche Geschichte über den ganz normalen Alltag eines stinkigen Teenagers.
Der Name ist Sunny ist sehr ironisch, wenn man die Charakterzüge von ihr bedenkt. Es ist schon erstaunlich, dass sie normalerweise mit 20 Wörtern ausgekommen ist (also morgens). Dass zeigt, wie sehr sie sich von allem abgrenzt und Desinteresse zeigt. Vor allem der Wechsel in eine fremde Umgebung hätte hervorrufen können, dass sich die Wortzahl noch drastischer verringert, aber ausgerechnet eine Mitschülerin schafft es, Sunny zum Reden zu bringen. In der Fremde sorgen eben kleine Gesten für große Nähe - vor allem bei Unsicherheit.
Deine Wortwahl ist passend gewählt und man kann gut nachvollziehen, wie es ihr geht und warum sie so handelt.
In was für einem Zusammenhang musstet ihr denn diese Geschichte für den Unterricht schreiben?
Alles in allem: eine schöne Geschichte.


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