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Auf Zeit können wir nur hoffen

von

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Pia … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles fühlt sich so unwirklich an. Ich komme mir vor als wäre ich in die falsche Filmkulisse gestolpert, und statt mich gehen zu lassen, hat mich der Drehbuchschreiber hierher gesetzt, an diesen Tisch neben die tickende Uhr.

Und so sitze ich hier, und alles, was mir einfällt, ist dir zu schreiben.

Verrückt, oder? Als würde ich dir diesen Brief einfach in einen Postkasten stecken und er würde zu dir nach Hause geschickt werden. Als würdest du ihn öffnen und lesen, und du würdest arbeiten gehen, jeden Morgen joggen und ein Leben fernab von allen Krankenhäusern führen. Und wir wären wohl noch immer nur Freundinnen.

Ich weiß nicht. Ich komme nicht wirklich darüber hinweg, dass wir beide so viel Zeit verschwendet haben.

Warum haben wir uns erst dann tief in die Augen gesehen, nachdem man dir gesagt hat, dass du auf die Transplantationsliste musst? Dass alles andere keinen Sinn mehr macht, dass die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dass du höchstens noch ein Jahr zu leben hast, wenn du kein Spenderherz bekommst?

Warum haben wir erst geweint, uns dann angesehen, und uns dann geküsst? Warum haben wir das nicht früher gemacht? Warum kann es sein, dass wir niemals Zeit haben werden? Warum muss es ausgerechnet dich treffen? Wieso dich?

Wir stellen seit zwanzig Jahren zusammen Mist an. Du warst immer gesund, immer. Mein Gott, selbst ich war öfter krank als du. Und eine verschleppte Grippe zerstört dein Leben, das untrennbar mit meinem verbunden ist. Unser Leben. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?

Ich wünsche mir, dass du mich ansiehst, und mit einem leisen Lächeln sagst, dass wir nicht mit Gerechtigkeit rechnen können, weil Leben ein Arsch ist und Gott sich eine gigantische Soap erschafft. Und in Soaps darf niemand länger als zwei Folgen glücklich sein.

Ich wünsche mir, dass du nicht so müde und blass aussehen würdest. Ich wünsche mir, dass du nicht an Atemnot leidest und nichts ans Bett gefesselt bist. Ich wünsche mir, deine Hand zu nehmen und mit dir durch die Stadt zu schlendern, statt dich mit einem Rollstuhl durch triste Krankenhausgänge zu schieben.

Jetzt ist der Traum fast greifbar, aber ich habe noch immer deinen Gesichtsausdruck im Kopf, als sie sich mitgenommen haben.

Diese Angst. Wir beide hatten Angst. Wir haben auf diesen Moment gewartet, wir haben gebangt und gefleht, dass er kommen möge, und als man uns Bescheid gegeben hat, es … es war ein Schock.

Ist das nicht auch verrückt? Aber alles ist so ungewiss. Ich habe lieber eine blasse, todkranke Freundin als eine, die die Operation nicht überstanden hat. Drei Stunden, sagen sie. Wie soll ich das aushalten? Die Uhr tickt. Ich habe Angst um dich. Angst vor der Zukunft. Angst, Angst, Angst. Bis du aus dem OP kommst habe ich diese Uhr definitiv zerschmettert.

Ich frage mich, was passiert, wenn es klappt. Ich meine, ich weiß es. Diese Broschüre war wirklich ausführlich, auch wenn ich mir gewünscht hätte, du hättest dir nicht die Nebenwirkungen von diesen ganzen Tabletten angeschaut, die du schlucken wirst, wenn die OP gut läuft. Du warst so schwach vorher. Noch etwas länger und du wärst zu schwach für die OP gewesen, und dann -

Ich weiß nicht, was ich ohne dich wäre. Ich weiß es nicht. Bitte, ich weiß, dass du deine Mutter vermisst. Aber es ist zu früh ihr zu folgen. Bitte, bleib hier, bleib bei mir. Ich bin nichts ohne dich, ich brauche dich. Du magst meine Geliebte sein, aber du bist noch immer meine beste Freundin. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Ich liebe dich, Pia. Bleib bei mir. Geh nicht. Geh nirgendwohin. Überlebe diese OP gefälligst. Ich schwöre dir, wenn du stirbst, töte ich dich eigenhändig. Okay, der war mies. Und klischeehaft. Noch mehr Klischee ist, dass ich gerade weine. Ich weiß nicht, ob ich weine, weil ich jetzt schon rumzuwitzeln versuche. Oder ob ich versuche lustig zu sein, weil ich weine. Sollte Galgenhumor nicht helfen? Oder zumindest das Weinen? Ich versuche beides, aber nichts hilft.

Ich hasse es, zu weinen.

Ich komme mir so allein und hilflos vor. Am Liebsten würde ich wenigstens dein neues Herz hüten.

Ich kann übrigens nicht glauben, dass du mir so etwas Kitschiges zum Abschied gesagt hast. Du warst nie der Typ für Kitsch. „Mein neues Herz wird von Anfang an nur für dich schlagen.“ Ernsthaft, Pia? Ernsthaft? Das ist dein Stil? Du warst total melodramatisch. War die ganze Szene an sich nicht schon melodramatisch genug?

Ich frag mich, was du dir fürs Aufwachen ausgedacht hast. Ich erwarte ja fast irgendein Zitat aus irgendeinem bekannten Film. Oder schlechte Witze, was das Herz angeht. Oder wieder was Kitschiges.

Ich bin gespannt. Überrasch mich, Pia.

Ah, verdammt. Diese Uhr macht mich wahnsinnig. Mit jedem Ticken wird es schlimmer. Es tut richtig weh die dummen Zeiger zu hören. Vielleicht ist dieser Zustand jetzt ganz gut. Einerseits sehne ich das Ende herbei, einerseits fürchte ich es, ganz einfach deswegen, weil dann alles feststeht.

Lebend oder nicht lebend. Dann geht es los. Idealerweise damit, dein neues Leben zu beginnen. Jetzt ist noch alles offen. Jetzt kann alles noch in jede Richtung kippen. Aber irgendwann heißt es Alea iacta est. Das ist nur dein Scheißlatein. Ich hasse das Zeug, dass ich sowas überhaupt weiß, ist nur deine Schuld.

Ohne dich wär ich eh nie durch die Schule gekommen. Dann würd ich mit 27 noch immer zwischen irgendwelchen Rotzgören rumhängen. Oder so. Ich kann nicht glauben, so bedeutungsloses Zeug zu faseln, während dir gerade ein verdammtes Herz transplantiert wird. Das ist eine verdammt große Sache. Etwas echt besonderes.

Mir tut die Familie irgendwie Leid, die vom Spender. Sie weinen um jemanden, aber ich bin viel zu fixiert darauf, dass nur du unbedingt überleben musst, als dass ich mich jetzt wirklich gut drum kümmern kann. Du füllst den ganzen Platz in meinem Herzen. Da ist kein Platz, um um jemand anderes zu weinen und für jemand anderes zu hoffen und mitzufühlen. Da bist nur du, und der Gedanke an dich.

Bitte, auch wenn ich ein so fürchterlich egoistischer Mensch bin, du warst immer bei mir, du warst immer für mich da, also bitte, verlass mich nicht. Nicht jetzt, hörst du?

Gott, Pia. Mach keinen Scheiß, okay? Ich merke, dass ich müde bin … ich bin schrecklich müde. Ich hol mir einen Kaffee.

Der Kaffee schmeckt wie Pisse. Grauenhaftes Zeug. Widerlich. Ich frag mich warum sie in einem Krankenhaus nicht einmal anständigen Kaffee haben können. Oder Uhren, die nicht lauthals ticken. Wollen sie dass man sich noch unwohler fühlt?! Außerdem nervt mich die mitleidige Schwester. Sie tut so, als wüsste sie, was ich fühle, als wüsste sie alles, und deswegen würde sie so mit mir mitleiden. Argh, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich brauche jetzt nur einen Menschen und das bist du, Pia. Ich brauche dich.

Das kann es doch nicht gewesen sein. Ich hab das Gefühl, wir hatten nicht genug Zeit. Ich hab das Gefühl, ich hätte dir noch fünfhundertzwanzigtausend Dinge sagen müssen, bevor sie dich abgeholt haben. Und selbst dann würde ich wohl noch hier sitzen und mir würden andere fünfhundertzwanzigtausend Sachen einfallen, die ich dir noch hätte sagen müssen.

Du bist jetzt schon ewig im OP. Solltest du nicht langsam mal raus sein? Wenn mir nur noch keiner Bescheid gesagt hat, dann reiß ich ihnen den Arsch auf. Warte mal. Ich geh mal einen Arzt suchen. Ich kann hier nicht mehr lange einfach sitzen. Ich würde irgendwas kaputt machen. Die Uhr steht immer noch ganz oben auf meiner Liste. Ich muss irgendwas erfahren.

Irgendwer muss ja was wissen.

Scheiße, scheiße, gottverdammte Scheiße. Vier Stunden und du bist immer noch im OP. Was machen die mit dir?! SOLLEN DAS NICHT EXPERTEN SEIN?! Scheiße.

Ich hab die Uhr kaputt gemacht. Ich bin einfach auf den Tisch geklettert und hab sie abgenommen und auf den Boden geworfen. Sie tickt jetzt nicht mehr.

Die Schwester guckt immer noch mitleidig. Keiner will das Scheißteil ersetzt haben. Ich bin ein schlechter Mensch. Du bist ein guter Mensch. Warum stirbst du da gerade in diesem OP-Saal?!

Okay, okay, NEIN. Du STIRBST NICHT. Hörst du?! DU STIRBST NICHT.

NEIN. NEIN. NEIN. NEIN. SCHEIßE.

Ich hasse Tränen. Wieso rotzt man so viel.

Scheiße, Pia. Scheiße, wieso?

Wieso?

WIESO?!

Pia …



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