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Das Märchen von der Unschuld

von

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Verlockung

3

Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm sosehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ritt und zuhörte.
 

Bei ihr zu sein war stets mit einer Mischung aus Freude und Unbehagen verbunden. Justin Prince hatte gelernt, dass bei der Arbeit mit Autisten jeder noch so kleine Fortschritt als Erfolg gezählt werden durfte und auch wenn Jane nicht an Autismus litt, galt die gleiche Faustregel. Jeder Tag, an dem sie ihn bei seinem Namen nannte, war ein guter Tag. Mit „mein Prinz“ angeredet zu werden, fütterte zwar sein empfindliches Ego, das konnte er nicht leugnen; gleichzeitig bedeutete es, dass sie nicht wirklich mit ihm sprach, sondern mit einer Phantasiegestalt, die sie für ihre Märchenwelt entworfen hatte und die nur zufällig Justins Antlitz trug. Ein strahlender Königssohn auf einem edlen Ross, gekommen, um die öden Tage ihrer Gefangenschaft zu versüßen.

Es war anders, als mit Autisten umzugehen. Schlimmer. Wenn man von einem Kind nicht wahrgenommen wurde, weil sein Verstand gleichzeitig damit beschäftigt war, die Schönheit von tanzendem Staub zu erfassen und die Windung eines Schneckenhauses mit der Fibonacci-Sequenz aufzuschlüsseln, dann war das okay. Weil man wusste, dass das menschliche Gehirn jede Sekunde mit Millionen von Reizen geflutet wurde und geistige Gesundheit meist nur darauf basierte, die richtigen Reize herausfiltern zu können. Ein Autist besaß viele dieser Filter nicht, aber Jane... sie hatte einen zu viel. Sie hatte ihren Turm.

Die Tage, an denen sie ihn nicht Justin nannte, waren die Tage, an denen ihr Filter stärker war als er und je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto mehr wurmte es ihn. Es spielte keine Rolle, dass man sie „befreit“ hatte von dem schädlichen Einfluss ihres Entführers, denn das wahre Gefängnis war in ihrem Kopf.

Die Sache ließ ihn nicht los.

Sie ließ ihn nicht los.

Es gab Tage, da konnte er nachts nicht einschlafen, weil er immerzu ihren Gesang in seinen Kopf hörte. Ein Lied ohne Worte.

Irgendwann musste dem jungen Mann aufgegangen sein, was mit ihm passierte. Vielleicht als er bemerkte, wie leicht es ihm fiel sich in einer solch simplen Aufgabe zu verlieren, wie ihr seidig weiches Haar zu flechten (eine Ehre an sich – wo sonst niemand ihr Haar auch nur berühren durfte). Vielleicht bemerkte er es auch daran, wie er immer neue Vorwände suchte, um sie nur flüchtig berühren zu dürfen, obwohl Dr. Thornfield es ausdrücklich verboten hatte.

Er fing an sich in sie zu verlieben. Und zwar nicht in das zwölf Jahre alte Kind in ihr, das eine Prinzessin sein wollte, sondern in die Frau, die um ihre Unschuld und ihre Realität betrogen worden war; die Frau, die jeden Tag darum kämpfen musste, die Welt so sehen zu können, wie sie war. Und weil Justin sie liebte, kam ihm nie der Gedanke, dass diese Frau vielleicht gar nicht existierte. Dass Janes Wahnsinn sich in ihm eingenistet hatte als er zuließ, dass ihre Stimme seinen Verstand ausfüllte und nun von zarten Berührungen genährt wurde.
 

4

„Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“
 

Es geschah an einem jener Abende, als Jane wieder einen ihrer „Momente“ hatte. Wenn das passierte, dann saß sie einfach nur reglos da, starrte auf einen Punkt an der Wand und gab kein Wort von sich. Es war, als wäre ihr Geist aus ihr hinausgeschlüpft – wahrscheinlich um einen Verdauungsspaziergang zu machen, denn nicht selten passierte es während dem Essen – und hätte nur eine leere Hülle zurück gelassen.

Justin ließ sie von ein paar anderen Pflegern in einen Rollstuhl hieven und brachte sie vom Speisesaal in ihr Zimmer, denn sie erholte sich leichter, wenn nicht so viele Menschen um sie herum waren. Ihr langer, geflochtener Zopf lag auf ihrem Schoß, zusammengerollt wie die Kobra eines Fakirs in ihrem Korb.

Und Justin schloss das Zimmer von innen ab. Manchmal war sie orientierungslos und panisch, wenn man ihre Lebensgeister zurückgeholt hatte. Dr. Thornfield hätte es sicher nicht begrüßt, wenn Jane ihnen einfach davon lief.

Dann begann das Zureden, das Flüstern und das Flehen, das Versprechen und Verzweifeln. Zehn Minuten vergingen. Dann eine halbe Stunde. Aber sie kam nicht zurück. Justin versuchte es so lange, bis er das Gesicht in den Händen vergrub und aufgab. Er verfluchte den Mann, der seine geliebte Jane in diese Lage gebracht hat, verfluchte Dr. Thornfield dafür, dass sie ihn – Justin - an Jane gebunden hatte, aber am meisten verfluchte er sich selbst. Für seine Unfähigkeit von ihr los zu kommen und für seine Unfähigkeit, sie zurück zu holen. In seiner Verzweiflung klammerte er sich an den einzigen Halt, den er finden konnte. Seine Finger fanden sie von selbst zu ihrem Zopf, lösten den Haargummi von der Spitze und der junge Mann sah zu, wie sich das Flechtwerk langsam löste.

Wenn Jane so war, dann war sie nicht mehr als eine Puppe, also schadete es ihr auch nicht, wenn er sie wie eine zurecht machte. Er holte sich ihre Rosshaarbürste und begann zu kämmen und jeder Knoten, den er löste, schien eine neue Erkenntnis in ihm zu wecken.

Justin wurde klar, dass er eigentlich nichts erreicht hatte. Dass sie nicht näher an einer Heilung war als vor drei Monaten, als er sie kennen lernte. Jeder Fortschritt, den er gemacht hatte, war von einem eben so großen Rückfall begleitet worden. Es war wie mit einer Sinuskurve – was sie verändert hatten, war der Ausschlag, die Amplitude, aber der Wendepunkt blieb derselbe.

Sie würde nie frei sein.

Und wie könnte sie auch, wo man sie von einem Gefängnis in das nächste gesteckt hatte? Wie konnte er erwarten, dass sie das Gefängnis in ihrem Kopf zurückließ, wenn alles, was die Realität zu bieten hatte, weiße, trostlose Wände waren? Das hier war nicht der richtige Ort für sie.

„Ich sollte dich von hier fort nehmen“, murmelte er, als er die Borsten der Bürste sanft gegen ihre Kopfhaut drückte. „An einen Ort, wo es echtes, wildwachsendes Gras gibt. Und Blumen und Tiere... irgendwo weit weg auf’s Land, wo es keine Türme gibt, und Hexen, echt oder eingebildet, und wo sich keiner drum schert, wo man her kommt. Das würde dir doch gefallen, oder? Zu gehen?“

Dann hörte er es. Ein leises Summen, dass aus ihrem ganzen Körper zu vibrieren schien, bis es zu einer Melodie heran wuchs. Ihrer Melodie.

„Jane?“

„Fort gehen“, zwitscherte sie und wandte ihr Gesicht träge Justin zu. „Den Turm verlassen?“

„Jane, wer bin ich? Ich möchte, dass du meinen Namen sagst.“
 

Sie blinzelt, irritiert. Sieht, wie ihre Haare in seiner Hand liegen und errötet. Sie kann nicht in seine Augen sehen.

„Justin. Du bist Justin. Du bist nett.“ Er ergreift ihre Hand und nimmt sie in die seinen.

„Ich will mit dir fort, aber ich weiß nicht, wie ich hinunter kommen soll,“ gesteht sie.

Er verspricht ihr, dass er einen Weg finden wird, wie sie zusammen fort gehen können. Aber sie hat nur Augen für die Hand, die in seinen zwei gefangen ist und denkt, dass er nicht einmal darum gebeten hat, bevor er sie ergriff. Ihre Hand in seiner Hand. Sie ist der Überzeugung, dass es heißt, dass sie Mann und Frau sind.

Justin und Jane, Mann und Frau.

Die Hexe hatte diesen Moment gefürchtet, darum hat sie das Kind in den Turm gesperrt. Aber die Hexe ist jetzt nicht hier.

Sie (Jane Rapunzel vielleicht Emily) weiß, was es heißt, Mann und Frau zu sein. „Und“ ist eins. Zwei Wesen sind eins. Es bedeutet, Das zu tun. Einst war der Zauberer ihr Mann gewesen aber nun ist er fort und hier ist Justin und Justin sagt, er würde sie beide in die Freiheit führen und Justin würde sie nie anlügen, denn er ist der, der ihr Haar berühren darf.
 

„Wir sind zusammen“, sagte sie und stand aus dem Rollstuhl auf. Ihr langes Haar wehte hinter ihrer schmalen Gestalt her wie ein Schleier. Und sie drückte seine Hand mit ihrer gegen ihre Brust, um ihre Worte zu unterstreichen. Durch den dünnen Stoff ihrer Kleidung, einem Schlafanzug nicht unähnlich, kann er das wilde Schlagen ihres Herzens spüren.

„Richtig.“

„Zusammen und eins.“

„Jane, was...“

Ihre Lippen drückten sich auf die seinen. Ihre Hand dirigierte die seine an jenen Ort, den nur wenige berühren dürfen. War es Wahnsinn oder Liebe, was in ihren Augen glitzerte? War es beides?

Sie lockte ihn mit der Verheißung zärtlicher Berührungen zum Bett und zog ihn nieder, tief in die Finsternis, die ihre Seele ausmachte. Sie mochte es, wenn er an ihren Haaren zog; der leichte Schmerz hatte etwas Vertrautes an sich. Ihr Gehirn assoziierte die Vereinigung mit Schmerz und, in einem Rückschluss, Schmerz mit Lust. Diese Dinge konnten nicht getrennt voneinander auftreten, ebenso wenig wie man die Schönheit einer Rose genießen konnte ohne ihre Dornen zu spüren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Teilchenzoo
2012-09-18T08:21:36+00:00 18.09.2012 10:21
Aha, sie erinnert sich also langsam ... Emily. Hm. Was passiert, wenn sie sich ganz erinnert?
Es tut einem weh zu lesen, was Rapunzel unter Mann und Frau versteht. Das arme Ding. Ob sie je anders fühlen wird?
Von:  Aeowy
2012-09-02T06:32:40+00:00 02.09.2012 08:32
Es bleibt faszinierend wie du die gängigen, bekannten und vertrauten Märchenpassagen mit der Wirklichkeit verknüpfst. Auch, dass Justin das Mädchen mit seiner bisherigen beruflichen Erfahrung vergleicht und versucht die Dinge nüchtern zu sehen, verleihen eine große Portion Menschlichkeit - und Verzweiflung, sobald man als Leser mit hinabtaucht in die obskure Welt aus Gedanken, Hochs und Tiefs der Patientin und die Hilflosigkeit des Pflegers miterlebt.
Das ist, wie ich finde, realistisch geworden. Beängstigend ebenfalls, wobei vor allem Phrasen wie "Kobra eines Fakirs" die steigende Bedrohlichkeit spiegeln bevor man das erste Mal überhaupt direkte Einsicht in Janes Gedanken erhält. Gewitzt übrigens, sie mit "Jane Doe" zu bezeichnen, was wohl keineswegs persönlicher ist als Rapunzel; nur anonymer und distanzierter.
Man stellt sich ebenfalls die Frage, ob die Haushälterin sie nicht schützen wollte indem sie das Mädchen einsperrte. Hierbei bin ich auf das letzte Kapitel gespannt.
Bis dahin bleibt einem nur die verstörte Sichtweise Janes, die auf ihre Weise absolut logisch ist und das Verhalten des Pflegers, den man gut und gerne als besessen und verzweifelt bezeichnen kann. Es ist unklar wie es ausgehen wird, doch die Vermutungen sind mannigfaltig.

Die Einfügung "(Jane Rapunzel vielleicht Emily)" ergab für mich übrigens keinen Sinn. Ebenfalls fand ich den Wechsel der Erzählzeit als Janes Innensicht auf direkte Rede schwenkte (der ihr Haar berühren darf / Präsens -> sagte sie / Präteritum) ungünstig.
Von:  Raishyra
2012-06-12T17:27:46+00:00 12.06.2012 19:27
Oh man oh man. Oo
Vom Schreibstil, wieder eins A^^
Und ich frage mich echt jetzt, holt er sie daraus oder nicht? Ich meine sie ist ja nicht ganz kirre im Kopf. Oo
Bin gespannt, was als nächstes kommt^^


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