Zum Inhalt der Seite

Der Rebell

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Unten

„Ich hasse dich“, sage ich.

Ludwig sitzt am anderen Ende des Kellerraums, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und sieht mich an. Stumm und reglos, mit hellen Augen durch das Halbdunkel. Ein Streifen kaltes Licht fällt durch das kleine Fenster.

„Hau schon ab. Ich kann dich hier nicht gebrauchen.“

Er sagt noch immer nichts dazu.

„Es ist deine Schuld, dass ich hier bin, West. Alles deine Schuld. Und jetzt zieh Leine und lass mich in Ruhe. Es ist schon schlimm genug, ohne von dir angestarrt zu werden. Ich brauche dein Mitleid nicht. Du solltest mich nicht bemitleiden, sondern dich schämen.“
 

„Wo zum Teufel steckt Braginsky?“, knurre ich.

Raivis blinzelte mich an und beginnt, zu zittern. Keine Ahnung, ob ich ihm Angst mache oder ob er reflexartig anfängt zu zittern, sobald jemand Ivan erwähnt. Könnte mir beides gut vorstellen.

„Er ist oben“, antwortet er etwas unsicher. „In seinem Büro. Glaube ich.“

„Und warum?“

„Na... ich denke, er hat... Arbeit zu erledigen.“

„Warum ist er nicht hier?“, fauche ich. „Wieso ist er noch nicht hier gewesen?“

Er beißt auf seine Unterlippe und betrachtet seine Füße.

„Ich verlange eine Antwort, Galante!“

Raivis hebt den Blick. Auf seinem Gesicht liegt Verzweiflung. „Ich...“, beginnt er.

„Ja?“

„Ich... habe Essen“, sagt er und hält mir fast schon flehend den Teller in seinen Händen entgegen. Ich schnaube und strecke die Hand danach aus. „Also schön, gib her.“

Er atmet sichtlich auf, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hat. Seitdem ich hier bin, hat Ivan sich nicht dazu herabgelassen (im wahrsten Sinne des Wortes), zu mir zu kommen. Stattdessen hat er seine Leibeigenen mit Essen vorbeigeschickt.

„Schon wieder Haferschleim?“

Wie mich das aufregt. Wie mich das alles aufregt! Ich könnte...

„Wir essen auch nichts anderes“, murmelt Raivis.

„Nicht?“, frage ich, greife mir eine Handvoll Brei aus der Schüssel und schleudere sie in Raivis' Richtung. Er kreischt auf und hebt die Arme, um sich zu schützen.

„Lass das, Gilbert! Hör auf!“

„Magst du das etwa nicht, Galante?“ Noch eine Faust. „Ich denke, du frisst auch nichts anderes!“

„Hör auf damit!“, heult er und wischt sich ein paar Spritzer aus den Augen. „Ivan wird böse! Wir bekommen beide Ärger!“

„Umso besser. Dann soll Braginsky eben kommen und mir die Meinung sagen! Nur herkommen soll er gefälligst!“

„Hör auf!“, schreit Raivis und zittert so heftig, dass es schon erstaunlich ist, dass er sich noch auf den Beinen hält. „I-ich bekomme Ärger!“

„Nein, nicht du“, erwidere ich, nehme die fast leere Schüssel und werfe sie an die Wand, wo sie in einer Explosion aus Scherben zerspringt. „Ich bekomme Ärger!“

Raivis starrt mich an. Tränen stehen in seinen Augen und eine Ladung Brei hat seine Schulter getroffen und die goldenen Quasten seiner Schulterpolster verklebt. „Ich sag's Ivan“, flüstert er.

„Natürlich tust du das“, sage ich. „Und wehe, wenn nicht! Lauf, lauf, Galante! Lauf los und sag ihm, wenn er nicht will, dass Gilbert sich daneben benimmt, muss er selbst herunterkommen und mit ihm reden, anstatt nur seine Leibeigenen vorzuschicken!“

Raivis dreht sich um und rennt hinaus, so schnell, dass er die Tür nur zuzieht und vergisst, sie wieder abzuschließen. Wie befreiend: Normalerweise wird diese Tür abgeschlossen und von außen verriegelt. Aber auch so habe ich keine Möglichkeit, zu entkommen. Die Kette an meinem Fuß erlaubt es mir gerade mal, das appetitliche Loch in der Ecke zu erreichen, das die Toilette darstellt. Ohne Spülung, versteht sich. Seitdem ich hier unten sitze, versuche ich, die Kette aufzubrechen oder aus der Wand zu reißen. Bis jetzt habe ich keines von beidem geschafft. Bis jetzt.

Aber jetzt wird Ivan bald kommen. Wenigstens das. Ich muss wissen, was los ist. Wann ich wieder hier raus komme.
 

„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden, Lutz!“

Zum ersten Mal macht er den Mund auf. „Warum?“

„Weil ich dich nicht gebrauchen kann. Es ist deine Schuld, dass Braginsky mich in die Finger gekriegt hat.“

„Und deswegen darf ich nicht hier sein?“

„Nein“, sage ich entschieden, „darfst du nicht. Und jetzt lass mich schlafen.“

„Schlafen? Die Sonne geht gerade auf.“

„Na und? Ist ja nicht so, dass ich nachts schlafen könnte, bei dieser Kälte und auf Stein. Was denkst du dir eigentlich, Westen?“

Er antwortet nicht.
 

„Soll ich das so deuten, dass ich mir alles erlauben kann, was ich will?“, frage ich. „Nach dem, was ich getan habe, traut Braginsky sich nicht einmal, zu mir zu kommen?“

„Es hat nichts mit sich trauen zu tun“, erwidert Toris mit einem Lächeln. „Er hat verstanden, dass du es nur getan hast, um ihn zu provozieren. Er wird sich sicherlich nicht so verhalten, wie es deinem Plan entspricht.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Also hat sich nichts geändert?“

„Abgesehen davon, dass du ab sofort gefesselt wirst, damit du nicht wieder handgreiflich wirst.“

„Herzlichen Dank.“ Ich ziehe probeweise an den Seilen um meine Handgelenke und unterdrücke mühsam einen Fluch, den Toris ohnehin nicht verstanden hätte. „Aber wie ich sehe, hast du Essen dabei. Also binde mich kurz los, damit ich wenigstens essen kann.“

„Damit du mich auch mit deinem Essen bewirfst?“, fragt er und lächelt erneut. „Das wäre wirklich nicht Sinn der Sache.“

„Ach. Und was hast du dann vor? Füttern lasse ich mich nicht.“

„Nicht?“, erwidert er und taucht einen Löffel in die Suppe, die er diesmal dabei hat. „Mund auf.“

Ich presse die Lippen aufeinander.

„Hör zu, Gilbert“, sagt Toris ernst und lässt den Löffel wieder sinken. „Du kannst hier unten sitzen und hungern, oder hier unten sitzen und wenigstens halbwegs satt werden. Ivan wird nicht zu dir kommen, wenn er sich nicht selbst dazu entscheidet. Du kannst ihn nicht zwingen, durch nichts, was du tust. Er sitzt am längeren Hebel, sieh es ein.“

„Ich sehe es nicht ein“, murmele ich aus dem Mundwinkel, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. „Schließlich habe ich ein Rückgrat. Anders als du.“

Toris lächelt schwach. „Eine Weile lang mag es noch Stolz sein, aber irgendwann ist es nur noch Dummheit. Du kannst dich nicht ewig gegen ihn wehren.“

„Ich werde nicht tun, was er will“, sage ich. „Egal, was ihr tut. Und jetzt verzieh dich, Lorinaitis.“

Das Lächeln verschwindet von seinem Gesicht. „Du weißt überhaupt nicht, wie gut du es hast, Gilbert. Ivan wird sich von dir nichts vorschreiben lassen, aber er hat dir für deine Unverschämtheit Raivis gegenüber nicht einmal das Essen gekürzt. Er behandelt dich sehr anständig, dafür, dass du ein Gefangener bist.“

„Anständig? Ich bitte dich! Ich sitze in einem Keller!“

„Weil du oben randaliert und einen Fluchtversuch unternommen hast, wenn ich dich daran erinnern darf.“

Darf er nicht. „Und was ist das schon wieder für eine komische Suppe? Das ist nur Wasser, das sehe ich ja von hier aus! Wie soll ich davon satt werden?“

„Wir hungern selbst“, erwidert Toris, ohne mit der Wimper zu zucken. „Das bringt verbrannte Erde so mit sich. Sobald es wieder anständige Nahrungsmittel gibt, wirst du sicher etwas davon abbekommen. Wenn du es bis dahin nicht doch geschafft hast, es dir mit Ivan zu verscherzen, heißt das.“

Ich starre ihn an und weiß nicht recht, was ich glauben soll. Er seufzt leise.

„Niemand hier will dir ernsthaft etwas Böses, Gilbert, und ich als Allerletzter. Ich will dir nur helfen, verstehst du das nicht?“

„Helfen, dass ich nicht lache! Du stehst auf Braginskys Seite. Du bist doch nur eines seiner Schoßhündchen, die ihm die Stiefel lecken, wenn er pfeift. Du bist genauso mein Gegner wie er, Lorinaitis.“

Er schüttelt stumm den Kopf. „Mal sehen“, sagt er und steht auf, den Teller in den Händen. „Wenn du Hunger bekommst, wirst du vielleicht vernünftig.“

„Nein“, antworte ich. „Nur hungrig.“

Toris sagt nichts mehr dazu, sondern geht zur Tür. Kurz bevor er den Raum verlässt, bleibt er noch einmal stehen. „Wehe, du tust Raivis noch einmal etwas an“, sagt er, und seine Stimme klingt kühler, als ich es von ihm gewohnt bin. „Alles, was er tut, tut er deshalb, weil Ivan ihm keine andere Wahl lässt. Du hast kein Recht, ihn dafür zu hassen.“

„Hat er wirklich Ärger bekommen, weil ich ihn mit Haferschleim beworfen habe? Für so dumm hatte ich Braginsky auch wieder nicht gehalten.“

„Es genügt völlig, dass Ivan auf ihm herumhackt. Du wirst es gefälligst bleiben lassen.“
 

„Warum willst du nicht, dass ich hier bin, Gilbert?“

Ich knurre etwas. „Du sollst mir nicht eher wieder unter die Augen treten, bis du bereust, was du mir angetan hast – und einen Weg gefunden hast, alles wieder gut zu machen. Mich aus diesem Drecksloch zu holen, zum Beispiel.“

„Vielleicht tut es mir ja Leid“, sagt Ludwig.

„Nein“, erwidere ich entschieden, „tut es nicht. Wenn es das täte, wärst du ja hier, aber du bist nicht hier. Du bist nur ein komisches Hirngespinst, mit dem ich mich unterhalte, weil ja sonst niemand da ist. Und deswegen kannst du genauso gut verschwinden, dann rede ich mit mir selbst. Tue ich ja im Grunde jetzt schon.“
 

Seitdem sind Toris und Eduard ein paar Mal da gewesen. Toris hat jedes Mal versucht, mir ins Gewissen zu reden. Eduard hat nur gefragt, ob ich essen will, und sich achselzuckend wieder zurückgezogen, wenn ich verneint habe. Aber mittlerweile habe ich seit Tagen nichts mehr gegessen und bekomme Hunger. Hunger.

Die Tür geht auf und ich überlege, ob ich Toris diesmal erlauben soll, mich zu füttern. Ich bin noch nicht zu einem Schluss gekommen, als mir auffällt, dass es Raivis ist, der herein kommt.

„Hey“, sage ich.

Er sieht mich mit großen Augen an und beginnt, zu zittern.

„Hey, Galante“, sage ich noch einmal. „Hast du Essen?“

Er nickt zögernd. „Es... soll Kartoffelbrei sein.“

„Mein Lieblingsessen.“

Verwirrt starrt er mich an. Ich grinse schief. Toris meinte, Ivan würde auf Raivis herumhacken? Ich kenne Ivan gut genug, um zu wissen, dass er auf diese Weise Zuneigung ausdrückt.

Raivis kommt ein paar Schritte näher und geht vor mir in die Hocke. Er lässt mich nicht aus den Augen, weshalb er beim ersten Anlauf mit dem Löffel den Teller verfehlt. Erst beim zweiten Versuch schafft er es, den Löffel zu beladen.

„Mund auf“, sagt er zögernd, und ich tue es. Dass ich wirklich einmal Befehle von ihm entgegen nehmen würde... nicht zu glauben.

Kartoffelbrei. Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich ihn mag. Kartoffelbrei in meinem Mund, und ich habe einen solchen Hunger. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht schlucken, das gehört nicht zum Plan. Der Plan, Gilbert. So, wie Raivis zittert, hackt Ivan ziemlich viel auf ihm herum. Fazit: Er mag ihn ziemlich gern. Also spucke ich aus.

Raivis kreischt auf, schlägt die Hände vor sein Gesicht und kippt nach hinten. Keuchend reibt er sich den Kartoffelbrei aus den Augen und beginnt, zu schluchzen und zu zittern. Richtig, immer wieder zu zittern.

„Raivis?“

Toris taucht hinter ihm in der Tür auf und fällt hastig neben ihm auf die Knie. „Was ist denn los?“

„Er... er hat mich...“, bringt Raivis hervor, verzieht angeekelt das Gesicht und schluchzt wieder auf.

„Ich habe ihn angespuckt“, sage ich.

Langsam sieht Toris sich über die Schulter zu mir um. „Ich hatte gesagt, du sollst ihn in Frieden lassen“, sagt er gefährlich leise.

„Ich dachte immer, dir läge nichts an ihm, Lorinaitis. Von wegen, ihr wärt keine Brüder und so...“

„Hast du eine Ahnung, was du hiermit anrichtest, Gilbert? Du machst uns allen das Leben schwerer, als es sowieso schon ist! Du kannst Ivan nicht bezwingen, indem du uns angreifst, also gib es auf!“

Raivis schnieft und wischt sich die Nase ab. „Vielleicht diesmal?“, fragt er hoffnungsvoll. „Vielleicht, wenn wir es Ivan sagen... vielleicht ist es diesmal schlimm genug, dass er...“

„Nein“, sagt Toris fest und schüttelt den Kopf. „Du weißt, was er beim letzten Mal getan hat, Raivis. Das willst du nicht noch einmal. Diesmal wird Ivan überhaupt nichts erfahren.“

„Warum nicht?“, frage ich fassungslos. „Wie wollt ihr dann...“

„Eduard?“, ruft Toris auf den Gang hinaus, ohne mich zu beachten. „Ich brauche dich kurz!“

Einen Moment später erscheint Eduard in der Tür und runzelt die Stirn, als er Raivis sieht, der noch immer auf dem Boden hockt und vor sich hin schnieft. „Was ist denn hier passiert?“

„Gilbert hat sich wieder einmal daneben benommen“, antwortet Toris ernst. „Und ich finde, es ist jetzt endgültig genug. Wenn er weiter nichts isst, wird er völlig vom Fleisch fallen. Ich denke, wir müssen ihn zu seinem Glück zwingen, Eduard.“

„Zu meinem Glück zwingen?“, wiederhole ich und runzle die Stirn. „Wovon zum Teufel sprichst du, Lorinaitis?“

Er sieht mich beinahe bedauernd an. „Es tut mir Leid, Gilbert. Du würdest es uns allen einfacher machen, wenn du einfach essen würdest. Wenn du das nicht tust, können wir dich dazu zwingen, aber das ist weder für uns noch für dich besonders angenehm. Oder würdevoll.“

„Ihr fasst mich nicht an!“, zische ich und weiche ein Stück zurück, bis mein Rücken an die Wand stößt. Eduard kommt näher und geht neben mir in die Hocke. „Und wenn doch?“, fragt er trocken und greift nach meiner Schulter.

„Halt seinen Kopf fest“, sagt Toris und hebt Teller und Löffel auf.

„Müssen wir das wirklich...“, erklingt Raivis' Stimme zaghaft und elend aus dem Hintergrund. Ich presse die Lippen zusammen und versuche, das Gesicht wegzudrehen, aber Eduard fasst mit einer Hand in meine Haare und hält mich fest. Toris' Gesicht und der gefüllte Löffel sind direkt vor mir.

„Wir gewinnen, Gilbert. Du hast keine Chance.“

Ich beschließe, ihn so lange anzustarren, bis er tot umfällt, und presse die Lippen weiter aufeinander. Toris seufzt leise.

„Wir gewinnen“, sagt er noch einmal, und jetzt sieht er eindeutig bedauernd aus.
 

„Ich hasse dich, Westen.“

Er sitzt so weit weg wie möglich, mit dem Rücken zur Wand, die Finger in seinem Schoß verschränkt.

„Warum gehst du nicht einfach?“

„Ich kann dich nicht allein lassen.“

„Hast du doch längst!“, fauche ich und würde auf ihn losgehen, wenn ich könnte. „Du hast mich hängen lassen, West, und wie du das hast! Deswegen hasse ich dich doch!“

Er sieht mich leicht überrascht an. „Ich habe dich niemals verlassen, Gilbert. Deswegen bin ich doch hier.“

„Du bist nicht hier! Du bist nur ein Hirngespinst!“

„Immerhin“, sagt er ernst. „Besser als gar nichts.“

Weit unten

Eduard hat schon Routine. Er kommt rein, löffelt mir das Essen in den Mund und ist sofort wieder verschwunden. Raivis lässt sich nicht mehr blicken – entweder ist er zu verschreckt von meinen Essens-Attacken, oder von der Aktion von Toris. Ich meine, Eduard ist ein Statist. Toris ist derjenige, welcher. Derjenige, der immer noch kommt und versucht, mit mir zu reden, ein paar unverfängliche Worte, auf die ich nie reagiere. Derjenige, der mir das letzte beschissene bisschen Würde genommen hat, das ich noch hatte. Weggefetzt und in den Dreck getreten. Ich hasse ihn. Ich hasse sein Lächeln und seine Stimme und seine Finger um den Löffel mit dem Haferschleim. Jedes Mal bin ich hin und her gerissen, wenn er kommt. Einerseits habe ich wenig Lust, mich schon wieder zu meinem Glück zwingen zu lassen, und ich habe Hunger. Andererseits ist meine Kehle jedes Mal wie zugeschnürt, wenn er da ist.

„Sag mal, Lorinaitis.“

Er hockt vor mir auf dem Boden, hat sein Sprüchlein aufgesagt und es irgendwann aufgegeben, mit mir reden zu wollen. Ich habe schon die halbe Schüssel geleert.

„Ja?“

„Was ist nun mit Braginsky?“

Noch ein Löffelchen. Nicht würgen, so schlecht schmeckt es auch wieder nicht. Ich sollte meinen verletzten Stolz für eine Weile beiseite schieben und mich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist – wie ich wieder hier heraus komme. Aber es ist so verdammt schwer.

„Was soll mit ihm sein?“ Toris hebt eine Augenbraue.

„Interessiert er sich eigentlich noch dafür, was ich tue?“

„Ich erstatte ihm manchmal Bericht.“

„Aber selbst herunterkommen wird er nicht?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Er lächelt nur, beinahe mitfühlend, und schiebt den nächsten Löffel hinterher.

„Also berichtest du ihm von mir?“

„Neulich wollte er wissen, wie es um deine Gesundheit steht. Er war beruhigt, als ich ihm gesagt habe, du hättest keine besonderen Beschwerden.“

Doch, die habe ich. Ich möchte sofort den Personalchef sprechen und mich über den Zimmerservice in dieser Einrichtung beschweren.

„Von Raivis hast du ihm nichts gesagt?“

„Nein“, antwortet Toris, den Blick auf die Schüssel gerichtet anstatt auf mich. „In Raivis' Interesse habe ich ihm den gesamten Vorfall verschwiegen. Ivan hat sehr altmodische Erziehungsmethoden. Da sie in seinen Augen seit Jahrhunderten funktionieren, sieht er nicht ein, etwas daran zu ändern.“

„Altmodisch? Du meinst, weil er selbst als Kind zu viele Prügel kassiert hat und daraufhin zu dem ausgeglichenen und normalen Kerl herangewachsen ist, den wir alle kennen und lieben, macht er es einfach bei Galante genauso?“

„Hör sofort auf, über Dinge zu sprechen, von denen du nichts verstehst. Ich kann dir nur zugute halten, dass du nicht weißt, was du hättest anrichten können.“

Soll er mir doch zugute halten, was er will. Aber ihm halte ich es nicht zugute, dass er nicht weiß, was er angerichtet hat. Mein kleines Häufchen Würde rollt sich mit Nasenbluten in einer Ecke zusammen und winselt. Wie soll ich mich unter diesen Umständen darauf konzentrieren, Ivan zu mir zu locken und hier heraus zu kommen? Mein Stolz pocht darauf, lieber einen Weg zu finden, wie ich Toris seine Demütigung heimzahlen kann.

Moment.
 

„Warum willst du Ivan eigentlich sehen?“

„Weil er hier das Sagen hat. Was nützt es mir schon, mich mit seinen Leibeigenen herumzuschlagen? Ich will, dass die drei zu ihm laufen und ihm sagen, dass sie mit mir nicht fertig werden und dass er das in die Hand nehmen muss.“

„Und das wünschst du dir? Dass Ivan kommt und dir Manieren beibringt?“

„Ich will ihn sehen. Wenn er glaubt, dass er mich hier unten platzsparend abstellen und vergessen kann, hat er sich geschnitten. Ich lasse mich nicht ignorieren.“

„Wer weiß, wohin das führen wird.“

„Ich weiß es nicht“, sage ich. „Aber dafür weiß ich jetzt, wie ich Bewegung in die Sache bringen kann.“

„Wie denn?“

„Abwarten, Westen. Aber lass mich dir eins verraten: Toris wird nicht gut wegkommen dabei.“

„Deine Obsession mit Toris wird kein gutes Ende nehmen, Gilbert, denk an meine Worte.“

„Vermutlich. Für ihn jedenfalls wird sie kein gutes Ende nehmen.“
 

Meine hinter dem Rücken gefesselten Hände fühlen sich mittlerweile an wie abgestorben. Es tut höllisch weh, sie zu bewegen, aber ich habe es trotzdem getan, die Finger gekrümmt und entspannt, bis wieder ein bisschen Gefühl in sie gekommen ist. Jetzt kommt der entscheidende Teil. Die Seile müssen sich im Laufe der vergangenen Tage gelockert haben, denn mit meiner Bewegungsfreiheit sieht es besser aus als erwartet – wenn es nur nicht so verflucht wehtun würde. Durchblutung ist ein Arschloch.

Ich zerre an den Seilen, weil an bedächtiges Aufknoten nicht zu denken ist. Dafür sind meine Finger noch zu steif und ungelenk, und sehen kann ich auch nichts. Mir bleibt also keine Alternative, als es mit roher Gewalt zu versuchen, obwohl die Fesseln in meine Handgelenke schneiden. Zähne zusammenbeißen und an das Ziel denken, Gilbert. Das Ziel.

Das Seil rutscht zu meinem Daumengelenk hoch. Einige Sekunden lang zerre ich noch daran, dann bin ich durch, starre meine befreite Hand an und weiß, dass ich glücklich sein sollte. Interessanterweise spüre ich nichts als eine kühle Genugtuung.

So weit der erste Teil des Plans: Entfesselung und erneuter Beweis meiner Großartigkeit. Der zweite Teil hängt davon ab, wer als nächster herein kommt.
 

„Warum willst du das tun, Gilbert?“

„Warum nicht?“, frage ich mit heißen Wangen. „Es ist ein Plan!“

„Wohin soll dieser Plan führen?“

„Er wird für Verwirrung sorgen, für einiges Durcheinander. Mein Plan wird den von Ivan gehörig durcheinander werfen, und er wird darauf reagieren müssen.“

„Wahrscheinlich bringst du hiermit nicht nur dich in Schwierigkeiten“, sagt Ludwig.

„Genau das ist der Plan, Lutz. Hatte ich das noch nicht erwähnt?“
 

Der Erste, der hereinkommt, ist Raivis – perfekt. Er öffnet die Tür und kommt auf mich zu, bleibt aber ruckartig stehen, als er sieht, dass ich nicht mehr gefesselt bin.

„Hey, Galante“, sage ich und grinse breit.

„W-was hast du gemacht?“, fragt er und deutet zitternd auf die Seile vor mir. „Wie hast du das geschafft?“

„Oh, das... das ist gar nichts“, erwidere ich beiläufig. „Hast du Essen?“

„Wie hast du den Knoten aufbekommen?“

„Das war ich nicht, das war To...“

Ich breche ab. Raivis macht große Augen. „Toris?“

„Nein, nicht Toris.“ Ich versuche, es so offensichtlich wie möglich nach einer Lüge klingen zu lassen.

„Warum hat Toris dich losgebunden?“, fragt Raivis und zittert noch heftiger. „Du bist doch viel zu gefährlich so.“

„Toris will mir helfen, hier heraus zu kommen“, sage ich gespielt widerwillig. „Deswegen hat er mir die Fesseln abgenommen. Er will natürlich nicht, dass Ivan herkommt und von unserer kleinen Abmachung erfährt – ich könnte mich ja verplappern, weißt du? Deswegen hat er Ivan nicht gerufen, auch nicht, als ich dich angespuckt habe.“

Zitternd sieht Raivis mich an. „Wirklich?“

„Ja, sicher. Natürlich wäre es gut gewesen, Ivan Bescheid zu sagen, als ich dich angespuckt habe, denn Ivan wäre sicher wütend geworden... es hat dich verletzt, oder? Ivan hätte mich sicher dafür bestraft, das getan zu haben. Aber das wollte Toris nicht, weil er mir hilft und mich befreien möchte. Und... naja, wo du dabei bleibst, ist ihm ziemlich egal.“

Tränen steigen in Raivis' Augen. „Das ist nicht wahr!“

„Natürlich ist es wahr.“

„Du lügst doch! Toris hat Ivan nichts gesagt, um mich zu beschützen! Er tut das nicht für dich!“

„Aber er hat mir die Fesseln abgenommen“, betone ich noch einmal. „Er hilft mir.“

„Das ist nicht wahr“, flüstert Raivis.

„Doch. Und es ist gut, dass Ivan nichts von alledem weiß... sonst hätten Toris und ich ein ganz schönes Problem.“

Er ringt nach Luft und zieht die Nase hoch. Dann fährt er herum und läuft hinaus. Hoffentlich macht er seine Sache gut, denke ich.
 

„Und jetzt?“

„Jetzt warte ich“, sage ich und lehne mich zufrieden zurück. „Mal sehen, wie lange Braginsky braucht, bis er hier auf der Matte steht.“

„Wieso denkst du, Raivis wird es ihm sagen?“

„Er klammert sich unheimlich an Toris und Eduard, sie sind seine Helden. Der Gedanke, dass Toris ihn angeblich hintergangen hat, wird ihn fast wahnsinnig machen.“

„Das ist noch skrupelloser, als ich gedacht hatte.“

„Sag es, wie du es eigentlich meinst, West: Ich bin noch skrupelloser, als du gedacht hattest.“
 

Die Tür geht auf und endlich, endlich ist Ivan da. Toris, dessen Oberarm er umklammert hat, stolpert hinter ihm her. Ich unterdrücke ein Grinsen bei dem Anblick, beherrsche mich aber. Jetzt nur nichts falsch machen.

„Braginsky. Wie überaus nett von dir, dass du...“

„Gilbert“, unterbricht Ivan mich und legt den Kopf schief. „Mir ist da etwas ziemlich... Interessantes zu Ohren gekommen.“

„Ach ja?“ Ich versuche, möglichst überzeugend Unschuld zu heucheln. „Was denn?“

„Ich habe gehört, Toris hätte...“

„Ich habe nichts getan!“, schreit Toris und streckt eine Hand nach mir aus. In seinen Augen blitzen Wut und Angst. „Das ist eine Lüge! Ich habe niemals...“

„Du bist erst einmal still“, tadelt Ivan ihn. „Ich spreche mit Gilbert.“

Toris beißt sich auf die Lippe und verstummt.

„Also, Gilbert. Ich habe gehört, Toris wollte dir helfen, zu fliehen.“

Ich mache große Augen. „Toris und mir helfen? Wie kommst du denn auf so eine Idee?“

Verwirrt hebt Toris den Kopf und sieht mich an. Ivan blinzelt nur einmal und verengt dann die Augen leicht.

„Raivis sagte, er hätte dir die Fesseln abgenommen.“

„Oh... ha ha... aber das ist doch...“ Ich breche ab und betrachte die losen Seile um mich herum. Das hier ist sogar besser als mit der Hand in der Keksdose erwischt. Viel besser.

„Damit habe ich nichts zu tun!“, ruft Toris und wendet sich verzweifelt an Ivan. „Ich habe wirklich nichts...“

Ivan presst achtlos eine Hand auf seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Wie erklärst du das, Gilbert?“, fragt er leise.

Ich zögere einen Moment lang und seufze dann tief. „Also... vielleicht hat Toris mir doch geholfen. Ein bisschen zumindest.“

Toris reißt erschrocken die Augen auf, kann aber nicht widersprechen, weil Ivans Hand ihm langsam, aber sicher die Luft abdrückt.

„Er hat mir seine Unterstützung angeboten.“ Ich senke den Kopf, damit man mein Grinsen nicht sieht. Zum Grinsen ist es zu früh, aber ich kann nicht anders. „Immerhin seien wir beide auf einer Seite... weil wir beide denselben Feind hätten, hat er gesagt.“

„Denselben Feind?“, wiederholt Ivan gespielt fröhlich. „Und wer sollte das sein?“

„Nun... das ist die große Frage, nicht wahr?“

Ivan lacht düster in sich hinein und lässt langsam die Hand von Toris' Mund sinken. Toris ringt hastig nach Luft.

„Das... das sind alles Lügen! Ich habe überhaupt nichts Derartiges gesagt, Ivan, ich schwöre es!“

„Nein. Denn das würdest du mir niemals antun, nicht wahr, Toris? Nie im Leben.“

Ivan starrt ihn an. Ich kenne diesen Blick ganz genau, und wenn ich mir ansehe, wie blass Toris plötzlich wird, denke ich, er kennt ihn auch.

„Von Gilbert habe ich ohnehin nichts anderes erwartet, als mich zu hintergehen. Aber von dir, Toris?“

„Er lügt!“, ruft Toris verzweifelt und sieht mich flehend an, als wolle er, dass ich Partei für ihn ergreife. Einen Teufel werde ich tun. „Glauben Sie mir doch, es sind nichts als Lügen! Gilbert denkt sich das alles aus, nur um...“

„Nein“, sagt Ivan und greift nach seinem Kragen. „Du bist es hier, der lügt. Und du weißt genau, was mit Lügnern passiert. Mich hintergehen. Mein Toris.“

„Aber ich habe Sie nicht...“

„Sprich ruhig weiter, Toris, mir ist das gleich. Ich hoffe nur, du weißt, was du dir damit antust.“

Ivan lacht erneut auf diese düstere Art, packt Toris am Arm und zerrt ihn hinter sich her aus dem Raum. Toris verdreht den Hals und sieht sich noch einmal zu mir um. In seinem Blick liegen Wut, Hass und Unverständnis, aber hauptsächlich nackte, panische Angst. Und endlich, endlich erlaube ich mir ein Grinsen, ein sehr breites und wahrscheinlich ziemlich gehässiges Grinsen hinter Ivans Rücken.
 

„Und nun?“

„Und nun?“, wiederhole ich. „Braginsky ist gekommen. Mehr wollte ich erst einmal nicht.“

„Was fängst du jetzt damit an?“

„Mal sehen. Was einmal funktioniert hat, funktioniert auch öfter.“

Ludwig schweigt kurz. „Hast du nie daran gedacht, dass du wirklich eine Abmachung mit Toris hättest treffen können?“

„Nicht im Traum. Erstens kann ich ihn nicht ausstehen, zweitens er mich auch nicht, drittens ist er ein Weichei, viertens hat er zu viel Angst vor Braginsky, und fünftens...“

„Fünftens?“

„Egal, was vorher war – jetzt wird er jedenfalls nicht mehr scharf darauf sein, mir zu helfen.“
 

Also habe ich Ivan endlich gesehen. Zwar konnte ich ihn nicht fragen, wann ich hier heraus komme, weil er die ganze Zeit geredet hat, aber ich habe eine Möglichkeit gefunden, ihn zu mir herunter zu locken – und wer weiß, vielleicht wird er ja noch einmal kommen, um nach Toris zu sehen. Dieser Teil des Plans hat jedenfalls besser geklappt, als ich es mir hätte träumen lassen. Natürlich konnte ich nicht sehen, was Ivan getan hat, aber hören konnte ich alles. Toris hat geschrien, schrill wie ein Mädchen, bis seine Stimme zerbrochen ist. Ich habe ihn winseln und betteln und seine Unschuld beteuern gehört, aber es klang nicht, als sei Ivan davon beeindruckt gewesen. Das hat er nun davon, denke ich. Wenn er glaubt, mir meine Würde nehmen zu müssen, nehme ich ihm alles, was er hat. Ist mir doch egal.

Irgendwie ist das schon eine kranke Scheiße, in der ich hier lebe.
 

„Und?“, frage ich.

„Was und?“, fragt Eduard.

„Was ist passiert?“

„Glaubst du, das erzählt Ivan mir? Er hat mir nur gesagt, dass du wieder gefesselt werden musst.“

„Du könntest nicht zufällig eine kleine Ausnahme machen?“

„Nein.“

„Aber einen Knoten offen lassen, das könntest du doch vielleicht?“

„Nein“, wiederholt er und steht auf.

„Auch nicht aus Versehen?“

„Ich muss mich jetzt erst einmal um Raivis kümmern“, sagt Eduard, ohne mich anzusehen.
 

Das Bemerkenswerteste, was danach passiert, ist, dass nichts passiert. Eine gute Weile lang warte ich noch darauf, dass jemand kommt, um mir mein Essen zu bringen. Es dauert lange, bis ich einsehe, dass niemand kommen wird. Von da an bekomme ich Hunger. Verdammt großen Hunger. Ist das Ivans Rache dafür, dass ich angeblich versucht habe, auszureißen? Er hat zwar gesagt, er hätte nichts anderes von mir erwartet, aber das muss ja lange nicht heißen, dass er mich nicht bestrafen will. Vielleicht ist das hier seine Strafe für mich. Wenn ja, dann bin ich immer noch glimpflicher davongekommen als Toris.

Wie auch immer, überlege ich, während ich im Dunkeln sitze und meinen Magen knurren höre – ich hätte mir das hier sparen können. Ich hätte meinen verletzten Stolz einfach schlucken und Ivan auf das eigentliche Problem ansprechen können, nämlich darauf, dass er mich nicht ewig hier lassen kann. Auf lange Sicht wäre das vermutlich klug gewesen. Aber nein, die Sache mit Toris und meinem Stolz war viel wichtiger.

Schade eigentlich.
 

„Ich kann nicht schlafen.“

Ludwig sieht mich an, sagt aber nichts dazu.

„Wenn ich Hunger habe, ist mir noch kälter als sonst.“

„Man kann auch vor Müdigkeit frieren.“

„Ja. Ich kann vor Hunger nicht schlafen, und vor Müdigkeit friere ich. Wenn ich jetzt vor Kälte nichts mehr essen kann, ist der Teufelskreis perfekt, was?“

Er antwortet nicht, dabei fand ich den Witz gar nicht so schlecht.

Noch weiter unten

Ich bin nie ein Mensch gewesen, deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie man sich so fühlt. So als Mensch. Und umgekehrt kann sich kein Mensch vorstellen, wie es ist, wochenlang in irgendeinem Kellerloch zu hocken, ohne einen Schluck Wasser oder irgendetwas zwischen den Zähnen, und vor allem ohne ein Wort. Ohne eine Bewegung. Ein Gesicht. Einen Schritt.

Ich tue nichts, als da zu hocken und meine Unsterblichkeit abwechselnd anzubeten und zu verfluchen.
 

„Ich denke, jeder Mensch würde an meiner Stelle verrückt werden.“

„Vermutlich.“

„Gut, dass ich keiner bin“, sage ich. „Gut, dass ich nicht verrückt werde.“

„Bist du sicher?“, fragt Ludwig. „Immerhin sprichst du mit mir.“

„War das gerade ein Scherz, Lutz? Ich glaub's nicht.“

„Es war die Wahrheit.“

„Ich werde nicht verrückt. Ich nicht. Und du versuchst gefälligst nicht, mir das einzureden, Westen!“

Dazu sagt er nichts mehr, und ich drehe den Kopf weg und sehe ihn nicht mehr an. Wenn ich ihn nicht ansehe, ist er nicht da.
 

Als die Tür von außen entriegelt wird, setzt mein Herz einen Schlag aus. Jemand ist da. Zwar bin ich so großartig, dass ich mir selbst als Gesellschaft genug bin, aber von Zeit zu Zeit brauche ich auch jemand anderen, der mich bewundert.

„Von Bock“, sage ich, weil es gut tut, meine Stimme zu hören. Eduard sieht allerdings alles andere als erfreut aus, wieder hier zu sein. Er sieht auf den Boden, kommt mit ein paar widerwilligen Schritten näher und stellt eine Schüssel vor mir ab.

„Willst du essen?“, fragt er bemüht kühl, aber mit einem merklichen Zittern in der Stimme.

„Lass mich kurz überlegen. Ich habe seit... wie lange schon nichts mehr gegessen? Um ehrlich zu sein, mir knurrt der Magen.“

Wortlos tauchte er den Löffel in die Pampe auf dem Teller. „Mund auf.“

Ich tue es und er schiebt den Löffel hinein. Unglaublich, dass ein bisschen verkochter Haferschleim so appetitlich aussehen kann. Bevor ich geschluckt habe, hat er schon den nächsten Löffel fertig.

„Immer mit der Ruhe, von Bock.“

„Was?“ Er sieht mich an, als sei er mit den Gedanken woanders gewesen.

„Vergiss nicht, dass ich eine ganze Weile lang gefastet habe. Du solltest mich langsamer wieder aufpäppeln, weißt du?“

Eduard verengt die Augen leicht. „Dazu habe ich keine Zeit. Ich habe jemand anderen aufzupäppeln, wie du dir sicher denken kannst.“

„Ach ja?“, frage ich, nachdem ich geschluckt habe. „Wen denn?“

Er starrt mich an und sagt nichts.

„Doch nicht etwa Lorinaitis, oder?“

Eduard senkt den Kopf und klatscht den Löffel in den Rest Brei auf dem Teller. Seine Hände zittern.

„Was ist mit ihm?“

„Was mit ihm ist?“, flüstert er. „Hast du eine Ahnung, was du Toris angetan hast?“

„Allerdings, das weiß ich. Was mich nur brennend interessieren würde, ist, was Braginsky ihm angetan hat.“

Ruckartig hebt Eduard den Kopf und starrt mich wütender an, als ich ihn je gesehen habe. „Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast!“

„Doch, eine Ahnung schon. Ich hab ihn gehört. Lorinaitis, meine ich.“

„Es wird ewig dauern, bis er wieder auf den Beinen ist! Ivan hat ihn nicht mehr so zugerichtet, seit... seit Jahren nicht mehr!“

„Selbst Schuld“, sage ich trocken. „Lorinaitis hätte sich nicht mit mir anlegen sollen. Und vielleicht hätte er Braginsky auch nicht so oft widersprechen sollen, das mag er nämlich nicht. Das sollte Lorinaitis aber eigentlich selbst wissen.“

„Was hätte er sonst tun sollen, als ihm zu widersprechen? Die Schuld auf sich nehmen für etwas, das er gar nicht getan hat?“

„Das musste er am Ende doch sowieso, wie ich Braginsky kenne.“

„Du...“, bringt Eduard hervor, und ich bemerke, dass Tränen in seinen Augen stehen. Verwirrt hebe ich die Augenbrauen.

„Du hast... alles kaputt gemacht. Toris hatte Ivan gerade so weit, dass er ihm vertraut hat... vertraut! Weißt du, was das bedeutet, Gilbert? Was das für Möglichkeiten bietet?“

„Vertrauen?“, frage ich spöttisch. „Du meinst, er hatte sich bei Braginsky eingeschleimt?“

„Nenn es doch, wie du willst. Es wäre jedenfalls nicht schlecht für uns gewesen.“

„Schade für euch“, sage ich und ziehe die Schultern hoch. „Schicksal.“
 

„Nein, es tut mir nicht Leid.“

Ludwig sitzt nur da und sieht mich an.

„Ich sagte, es tut mir nicht Leid! Es war Lorinaitis' Schuld, verdammt nochmal! Er hätte doch einfach tun können, was ich wollte! Er hätte Braginsky doch einfach Bescheid sagen können!“

Er sieht mich an.

„Warum zum Teufel sollte es mir Leid tun, was ich getan habe? Ich habe es ja noch nicht mal getan, nicht direkt! Was Braginsky mit seinen Untergebenen anstellt, ist nicht mein Bier! Warum sollte es mir Leid tun?“

„Ich habe nie behauptet, dir sollte etwas Leid tun“, bemerkt Ludwig. „Du hast damit angefangen.“
 

Ein paar Tage vergehen. Eduard kommt, um mir mein Essen zu bringen, wechselt aber kein Wort mehr mit mir. Es ist fast schlimmer, als komplett allein zu sein, wenn der einzige, der kommt, nicht mit einem reden möchte. Ich bin erleichtert, als sich die Tür öffnet und es Raivis ist, der kommt.

„Hey, Galante.“

Er starrt mich an. Seine Augen sind gerötet, als ob er geweint hätte. Der Teller in seinen Händen wackelt, so sehr zittern seine Hände.

„Hey“, sage ich noch einmal.

„Es war deine Schuld“, flüstert Raivis.

„Was?“

„Deine und meine Schuld.“

„Was denn, zum Teufel?“

Er starrt mich an und kaut auf seiner Unterlippe herum. „Ich wollte nicht herkommen“, sagt er leise. „Ich wollte nicht. Aber Eduard hat gesagt, er muss sich um Toris kümmern, und Toris muss ja wieder gesund werden.“

„Ist er immer noch nicht wieder auf den Beinen?“ Ich weiß selbst nicht, ob das in meiner Stimme Spott oder Schuld ist.

Raivis sieht mich an, macht den Mund einmal auf und schließt ihn wieder. „Wieso immer noch nicht?“

„Wie lange kümmert ihr euch denn schon um ihn?“

„Keine fünf Tage“, flüstert er und starrt mich noch immer auf eine Art an, die mir immer weniger gefällt. „Er war so lange hier unten. Ivan hat uns nicht erlaubt, dir Essen zu bringen, weil er verhindern wollte, dass wir uns zu Toris schleichen.“

„Also war es seine Schuld, dass ich nichts gekriegt habe“, sage ich stirnrunzelnd.

„Nein“, sagt Raivis mit großen Augen und schüttelt den Kopf. „Es war deine Schuld, was passiert ist. Deine und meine.“

„Deine?“

„Ich habe Ivan gesagt, Toris hätte was Böses gemacht... dabei... Ich wusste doch, was Ivan tut, wenn Toris was Böses macht. Aber ich dachte... ich dachte, ich müsste... und ich konnte doch nicht wissen, dass es so schlimm wird! Dass er ihn so... Ich konnte nicht wissen, was passieren würde, wirklich! Es ist nicht meine Schuld, dass Toris jetzt im Bett liegt und irgendwelche Knochen gebrochen hat, obwohl Eduard mir nicht sagen will, was genau los ist. Es ist nicht meine Schuld! Ich habe nichts gemacht!“

Er heult auf und bricht in Tränen aus. Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll.

„Es ist nicht deine Schuld.“

„Du hast mich angelogen! Du hast gesagt, Toris hätte dir geholfen, dabei hat er das gar nicht! Es war alles deine Schuld!“

„Ja, das war es.“

Raivis blinzelt einige Male und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Seine Unterlippe zittert noch.

„Wie geht es Toris?“, frage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich es wissen will.

„Nicht gut“, murmelt Raivis. „Ich... ich habe ihn nicht oft gesehen. Er ist in einem anderen Zimmer, irgendeinem Gästezimmer, weil Ivan ihn nicht sehen will. Er will auch nicht, dass wir zu lange bei ihm sind, Eduard und ich. Wir dürfen ihm Essen bringen und Eduard wechselt den Verband, aber sonst dürfen wir nicht zu ihm. Ich möchte ihn trösten, Toris, aber ich habe Angst, dass er wütend auf mich ist. Er hat ja nicht einmal gelächelt, als ich das letzte Mal da war. Er sah so müde aus. So t... t...“

„Traurig?“, schlage ich vor.

„Tot“, flüstert Raivis.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Raivis sieht mich einen Moment lang an, bis sein Gesicht sich wieder verzerrt.

„Ich wollte das doch nicht! Toris... Toris hasst mich. Ganz bestimmt! Es ist alles meine Schuld, dass...“

„Er hasst dich nicht“, unterbreche ich ihn schroff. „Erstens würde es mich schwer wundern, wenn er überhaupt dazu in der Lage wäre, irgendjemanden ernsthaft zu hassen.“

„Und zweitens?“, fragt Raivis zaghaft.

„Zweitens war es meine Schuld“, sage ich knapp. „Und Lorinaitis ist klug genug, um das zu wissen. Er hasst dich nicht, Galante. Und wenn doch, soll er zu mir kommen und ich werde ihm sagen, dass ich es war. Es war meine Schuld.“

Raivis zieht die Nase hoch und wischt sie mit dem Ärmel ab. „Wirklich?“, flüstert er.

„Wirklich“, sage ich und versuche, zu grinsen. „Und jetzt wäre es toll, wenn du mir das Essen geben könntest.“

„Wirst du mich wieder in komische böse Pläne verwickeln?“

„Heute nicht“, erwidere ich großzügig. „Ich habe einen guten Tag.“
 

„Ich finde dein Verhalten... interessant, gelinde gesagt.“

„Lutz? Halt dieses Mal einfach die Klappe.“

„Wie du willst.“
 

„Mit Raivis magst du dich ja versöhnt haben“, sagt Eduard mit zu Schlitzen verengten Augen, „aber glaub ja nicht, dass die Sache damit erledigt wäre.“

Das hat man nun davon, ein guter Mensch zu sein – gib ihnen den kleinen Finger, und schon glauben sie, du hättest den ganzen Arm zu verschenken. Ich weiß jedenfalls, wieso ich bisher so sparsam mit guten Taten war.

„Was soll ich denn noch tun? Ich werde Galante vor Lorinaitis in Schutz nehmen, sobald es geht. Ich werde seinen Namen reinwaschen. Was soll ich noch tun?“

„Wie wäre es damit, Toris' Namen reinzuwaschen?“

„Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?“

„Indem du Ivan sagst, dass alles eine Finte von dir war und Toris nie etwas Verbotenes getan hat.“

Ich verziehe das Gesicht. „Was soll das denn bringen? Was passiert ist, ist passiert. Irgendwann beruhigt Braginsky sich wieder, also warum...“

„Er beruhigt sich?“, unterbricht Eduard mich fassungslos. „Du hast keine Ahnung, was hier vor sich geht, oder?“

„Nein, stell dir vor, ich sitze in einem Kellerloch. Wenn du mir nicht sagst, was vor sich geht, woher sollte ich dann...“

„Toris liegt oben mit mehreren gebrochenen Rippen, und Ivan hat mir strikt verboten, ihm irgendetwas gegen die Schmerzen zu geben.“

Ich blinzele einige Male. „Warum?“

Warum? Er hat gesagt, damit die Lektion sich gründlich einprägt!“

Er lässt mich nicht aus den Augen, und er macht mich nervös damit. Ich starre an ihm vorbei die Wand an.

„Himmel. Wenn er so hart mit Lorinaitis ist... was wird Braginsky mit mir anstellen, wenn ich ihm sage, dass ich es allein war?“

„Das hättest du dir früher überlegen können“, murmelt Eduard. „Bevor du diese absolut unnötige Aktion gestartet hast. Überleg dir, was du tun willst. Ich muss wieder weg.“

Er steht auf und nimmt die erst halb geleerte Schüssel mit Haferbrei wieder mit.

„Wo musst du hin? Ich denke, du darfst Lorinaitis nicht einmal Schmerzmittel geben.“

„Den Verband wechseln kann ich ja wenigstens“, erwidert er und sieht sich noch einmal zu mir um. „Ich wünschte, du könntest nachfühlen, was er durchmacht.“

Ich wüsste nicht, was ich dazu sollte sagen wollen.
 

„Himmel, Lutz. Was soll ich tun?“

Er sitzt mit dem Rücken zur Wand und antwortet nicht.

„Damit die Lektion sich einprägt. Was für kranke Methoden sind das? Und das für jemanden wie Lorinaitis, der immer gesprungen ist, wenn Braginsky gepfiffen hat? Nennt sich das etwa Dankbarkeit?“

Schweigend sieht er mich an.

„Ich kann doch... mehrere gebrochene Rippen. Himmel, Braginsky reißt mir den Kopf ab! Ich kann das nicht tun!“

„Du wolltest doch unbedingt mit ihm reden“, sagt Ludwig.

„Schon“, murmele ich. „Schon.“
 

„Deswegen habe ich es getan, von Bock.“

„Nur, weil du mit Ivan sprechen wolltest?“

„Na ja... und wegen Toris' Zwangsfütterung, an der du als Statist mitgewirkt hast.“

„Also war es Rache.“

„Nein“, sage ich schnell und weiß, dass ich lüge. „Nein. Lorinaitis war ein... ein Mittel zum Zweck. Zwei Fliegen mit einer Klappe und so, du verstehst.“

Bedächtig schiebt Eduard seine Brille zurecht. „Und?“

„Wenn du es schaffst, Braginsky hier herunter zu lotsen, sodass ich noch einmal mit ihm sprechen kann... dann werde ich tun, was ich kann, um Toris zu beschützen.“

„Versprochen?“, fragt Eduard leise, aber eindringlich.

„Hoch und heilig.“

Er nickt, erst langsam, dann kräftiger. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Ich kann dir nichts versprechen, aber es wird nicht lange dauern, bis Ivan hier herunter kommt.“

„Sehr gut“, sage ich, obwohl ich nicht weiß, wie gut ich das finden soll.
 

„Wie willst du es ihm sagen?“, fragt Ludwig.

„Nun... wie wäre es, wenn ich einfach sage, April, April?“

„Ich weiß nicht, ob er verstehen wird, worauf du hinaus willst.“

„Dann kann er nachfragen, und ich werde es ihm erklären.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Witz sehr lustig finden wird.“

„Tragisch, oder? Niemand weiß mein Genie zu schätzen.“

Er sagt nichts und betrachtet seine Finger.

„Wenn er kommt, sage ich ihm einfach... wie es war. Dass ich Lorinaitis in die Pfanne gehauen habe, weil...“

„Weil?“, fragt Ludwig, nachdem ich eine ganze Weile lang geschwiegen habe.

„Weil ich ein destruktives Arschloch bin, vielleicht?“

„Ich dachte, du wolltest ihm die Wahrheit sagen.“

„Wollte ich? Habe ich das je behauptet?“

„Diese Geschichte nimmt kein Ende, wenn du dich weiter mit Lügen durchschlägst, Gilbert.“

„Und?“, frage ich bissig. „Nenn mir einen guten Grund, warum ich ein Interesse daran haben sollte, dass diese Geschichte ein Ende nimmt.“

Darauf fällt ihm nichts mehr ein.

Ganz unten

Ivan starrt mich an.

„Es stimmt, Braginsky“, sage ich und versuche, meine Nervosität zu bekämpfen. „Ich habe... mir da wohl eine kleine Notlüge erlaubt. Lorinaitis ist unschuldig.“

„Sag, dass das nicht wahr ist.“

„Warum? Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn du erfährst, dass...“

„Es ist nicht wahr!“, brüllt er mich an. „Es kann nicht wahr sein!“

„Wenn er dir gesagt hat, er wäre es gewesen, dann...“

„Das hat er nicht! Er hat immer beteuert, er wäre unschuldig! Ich habe... Egal, was ich getan habe, er war nicht davon abzubringen. Ich war so enttäuscht und so wütend, dass ich... Ich bin zu weit gegangen, mehr als einmal. Und er hat geschrien und gebrüllt und geweint... geweint wie ein kleines Kind, aber er hat nicht einmal gesagt, er wäre es gewesen. Nicht ein einziges Mal! Und ich... ich habe ihn nicht die ganze Zeit über bestraft für etwas, das er nicht getan hat! Ich habe ihm nicht so zugesetzt und ihm gesagt, er wäre ein Lügner, obwohl er die ganze Zeit über unschuldig war!“

„Er war unschuldig“, sage ich und stocke kurz. „Hey... es war ja nicht so gemeint, okay? Es war nur, damit du mich nicht ignorierst. Hättest du ja nicht tun müssen. Und er hätte ja nicht... Nichts für ungut, in Ordnung?“

„Nichts für ungut? Nach allem, was passiert ist, fällt dir nichts ein als Nichts für ungut?“

Er starrt mich an, und in seinen Blick legt sich etwas anderes als Verwirrung und Unglaube und Schuld. Etwas, das mir vielleicht Angst machen würde, wenn ich nicht so ein toller Hecht wäre. Ohne Zusammenhang durchzuckt mich der Gedanke, dass ich ihn noch immer fragen muss, wann er vorhat, mich hier heraus zu lassen. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, jetzt sei nicht der richtige Moment, um diese Frage zu stellen.

„Das wirst du bereuen, Gilbert“, murmelt Ivan mit bebender Stimme. „Es wird dir noch Leid tun.“

Damit dreht er sich um und lässt die Tür schwer hinter sich ins Schloss fallen.
 

„Weißt du, worüber ich nachdenke?“, frage ich. „Wieso Ivan mir überhaupt jemals geglaubt hat.“

Ludwig zieht die Augenbrauen hoch.

„Ich meine, er hat Toris vertraut, während er von mir nur das Schlechteste erwartet hat. Das hat er selbst gesagt, erinnerst du dich? Und trotzdem hat er mir eher geglaubt als Toris, der ihm einen ganzen Monat lang versichert hat, er wäre unschuldig – und der sogar die Wahrheit gesagt hat?“

„Anscheinend hat er das.“

„Ich glaube“, sage ich langsam, „Ivan hätte ihm gern vertraut, aber er konnte es nicht. Im Grunde konnte er nicht glauben, dass er jemanden gefunden haben sollte, dem er vertrauen kann. Er wollte Toris lieben, aber er hat immer gezweifelt... unterbewusst immer nach den Anzeichen dafür gesucht, dass Toris ihn hintergeht. Als ich ihm die Anzeichen gegeben habe, hat er nicht einmal mehr nachgefragt. In gewisser Weise wollte er, dass es früher oder später genau so ausgeht.“

Er sieht mich stumm an.

„Das klingt wahrscheinlich kitschig, wenn ich das sage“, knurre ich.

„Es klingt logisch.“

Ich schüttle missmutig den Kopf.

„Was willst du jetzt tun?“, fragt Ludwig leise.

„Warten“, antworte ich knapp. „Was soll ich sonst tun?“
 

Ich hasse den Moment, wenn man den Riegel hört, aber noch nicht weiß, wer kommen wird. Dabei gibt es diesmal keine große Auswahl, wer das sein kann.

„Scheiße, Westen. Scheiße.“

Aber Ludwig antwortet nicht. Sobald jemand kommt, verzieht er sich. Immer dasselbe mit ihm, denke ich und wünschte, ich könnte wütend auf ihn sein. Stattdessen bemerke ich, dass meine Hände zittern. Verdammte Scheiße.

Die Tür öffnet sich langsam. Auf Ivans Gesicht liegt keine Regung. Er schaut herein, macht einen Schritt in meine Richtung und bleibt stehen.

„Willst du mir irgendetwas sagen?“, fragt er kühl.

„Ich wüsste nicht, was“, antworte ich etwas patzig und wünschte, ich könnte sagen, es wäre Mut gewesen. Aber wahrscheinlich war es eher Angst vor der Stille.

Ivan nickt einige Male, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Das hatte ich mir gedacht.“
 

„Fünfzehn“, flüstere ich.

„Was?“

„Fünfzehn habe ich ausgehalten, ohne zu schreien.“

Ludwig überlegt kurz. „Mehr nicht?“

Ich will lachen, aber ich bin so heiser und mir ist so wenig zum Lachen. „Ich bin weich geworden, nicht wahr? Schwach und verweichlicht.“

Er antwortet nicht.

„Beim nächsten Mal schaffe ich zwanzig“, murmele ich. „Habe ich mir fest vorgenommen.“

„Beim nächsten Mal?“

„Stell dich nicht dumm, West. Du weißt genau, dass es ein nächstes Mal geben wird.“

Er sagt nichts.

„Warum kannst du beim nächsten Mal nicht da bleiben, Westen? Für dich würde ich sogar dreißig schaffen.“

Keine Antwort.

„Nun sei kein Spielverderber. Bleib bei mir. Ich... kann dich gerade gut gebrauchen.“

Noch immer gibt er keine Antwort.
 

Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sich irgendetwas an meine Lippen legt. Jemand hebt meinen Kopf an, der vor Schmerzen pocht. Wer auch immer es ist, soll mich in Ruhe lassen. Wenn ich einfach nur da liege, ist es auszuhalten. Einfach nur da liegen.

„Trink“, sagt eine leise Stimme.

Ich will nicht, ich will in Ruhe gelassen werden, aber der andere lässt nicht locker. Mühsam öffne ich die angeschwollenen Lippen und spüre, wie etwas Kaltes meine Zähne berührt. Kalt läuft es in meinen Mund und weiter den Rachen hinunter. Wasser, denke ich und versuche, zu schlucken, aber ich kann nicht. Meine Unterlippe pocht heiß unter dem Druck des Glases. Das Wasser läuft und läuft für eine Weile, und irgendwann schaffe ich es tatsächlich, zu schlucken. Ohne darüber nachzudenken. Es passiert einfach.

Das Glas wird weggezogen und mein Hinterkopf berührt wieder den Boden. Ich versuche, die Augen zu öffnen, aber es ist schwer und tut weh. Als ich es endlich schaffe, sehe ich nichts außer Dunkelheit. Erst nach einer Weile schält sich langsam ein Gesicht heraus.

Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht. Meine Zunge ist zu schwer. Toris sieht mich an, mit einem Blick, den ich nicht einordnen kann. Warum ist er hier? Warum ausgerechnet er?

„Gilbert“, sagt er, als er sieht, dass ich ihn erkannt habe. „Du siehst gar nicht gut aus.“

Ich will lachen und sagen, dass ich okay bin, aber es geht nicht. Ich kann nicht einmal das Gesicht verziehen. Toris ist blass und unheimlich mager, sein linkes Auge ist rot-bläulich zugeschwollen. Er mustert mich, als wisse er selbst nicht genau, was er von meinem Anblick halten soll.

„Um die Frage zu beantworten, warum ich hier bin“, sagt er langsam, „ich denke, ich wollte sehen, wie es dir geht. Ob Ivan dich tatsächlich so zugerichtet hat wie mich.“ Er lacht leise, aber es klingt nicht fröhlich. „Nur woher soll ich jetzt wissen, ob du so schlimm aussiehst wie ich damals? Ich hatte ja keinen Spiegel.“

Vorsichtig streckt er eine Hand nach meiner Seite aus. Ich zucke zusammen, was unglaublich schmerzhaft ist. Er muss eine Stinkwut auf mich haben, alles andere wäre doch verrückt. Er soll mich nicht anfassen, aber mich bewegen und ausweichen kann ich auch nicht, das würde nur noch mehr wehtun.

„Keine Angst, halt bitte still. Ich bin vorsichtig.“

Er legt die Finger auf meinen Brustkorb und tastet sehr behutsam nach den Rippen. Ich muss mich bemühen, um nicht zu schreien.

„Beeindruckend.“ Toris' Blick flackert zu meinem Gesicht. „Wirklich beeindruckend.“

Er nimmt die Hände zurück und ich atme auf, kräftiger, als mir gut tut.

„Ich bin nicht hier, um dir wehzutun, Gilbert – vielleicht beruhigt dich das ja. Ich bin nicht wegen Rache hier.“

„Warum dann?“, will ich fragen, aber es kommt nicht deutlich heraus, nur ein Einatmen und eine Art „harum“, mehr ist nicht drin. Toris legt den Kopf schief, scheint aber verstanden zu haben.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich denke...“

Er schweigt einen Moment lang und betrachtet die Dunkelheit hinter meinem Kopf. Ich traue dem Braten nicht, wie könnte ich denn? Irgendetwas geht hier vor.

„Ich habe dich so gehasst, Gilbert, kannst du dir das vorstellen? Vierunddreißig Tage, so lange war ich hier unten, nur einen Raum weiter. Ich bin heute hergekommen, weil ich dich sehen wollte. Es hat mir nicht gut getan, oben im Bett zu liegen und... zu hassen.“

Ich sehe ihn an. Er lächelt schwach.

„Ich wusste, wenn ich dich sehen würde, würde ich die Genugtuung haben, die ich brauchte. Und ich wusste... wenn ich dich sehen würde, würde ich Mitgefühl haben. Was soll ich sagen – es hat funktioniert. Ich weiß, wie ich mich selbst austricksen muss.“

Erneut versuche ich, zu schlucken. Vielleicht ein Traum, denke ich, vielleicht träume ich das hier nur. Wenn nicht, weiß ich jedenfalls nicht, was ich noch glauben soll.

„Hast du Durst?“

Nicken kann ich nicht, aber vielleicht sieht er an meinem Blick, dass die Antwort ja lautet. Wie lange liege ich schon hier unten? Wie lange, seitdem ich Ivan erzählt habe, was passiert ist? Ich würde Toris fragen, aber ich kann nicht. Sprechen ist zu mühsam.

„Vielleicht sollte ich dir auch dankbar sein“, fährt Toris fort, während er meinen Kopf festhält und mir behutsam das Wasser einflößt. „Du hast mich in riesige Schwierigkeiten gebracht, aber letztendlich hast du auch viel auf dich genommen, um mich zu retten. Eduard meinte, er hätte mit dir darüber geredet. Er meinte, es hätte dir anscheinend Leid getan. Hat es das wirklich? Findest du im Nachhinein, das war es wert?“

Ich denke darüber nach, während mein Kopf weiter pocht und ich zu schlucken versuche, es aber nicht schaffe. Jeder Muskel tut weh, wenn ich ihn bewege. War es das hier wert?

„Ich weiß noch, wie Ivan herein kam.“ Toris lacht leise. „Ich hatte riesige Angst, du kannst es dir vielleicht vorstellen. Ganz sicher kannst du das, oder? Eduard war gerade dabei, mir irgendeinen Verband zu wechseln. Ivan hat ihn ziemlich schroff gefragt, ob er Schmerztabletten in seiner Tasche hätte. Ich weiß noch, wie Eduard genickt hat, obwohl er selbst nicht wusste, worauf Ivan hinauswollte. Er hat es herausgeholt, ein kleines Fläschchen mit Tabletten, und Ivan hat es in die Hand genommen.“

Das Glas ist schon fast leer, aber Toris scheint es nicht zu bemerken.

„Er hat mich lange angesehen, sich wieder an Eduard gewandt, auf die Tabletten gedeutet und gesagt: Gib sie ihm alle. Und Eduard hat fassungslos geantwortet, Aber drei davon genügen, um einen erwachsenen Menschen umzubringen.“

Er lacht leise. Der letzte Tropfen rollt über meine Zunge.

„Also hat er mir anderthalb Tabletten gegeben. Sie haben nicht gleich angeschlagen. Und Ivan hat sich auf die Bettkante gesetzt und mir zugesehen... zugesehen, bis ich eingeschlafen bin. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Du musst wissen, wie es ist, wenn jeder Atemzug schmerzt, jede kleine Bewegung... und auf einmal war alles weg. Es hat sich angefühlt, wie zu fliegen, irgendwo im Blauen umher zu schweben. Kurz darauf war ich weg.“

Er zieht das leere Glas zurück und mustert eine Weile lang mein Gesicht, mit einer Hand noch immer meinen Kopf stützend.

„Es geht vorbei. Ich weiß nicht, wie lange Ivan dich hier unten lassen wird, aber irgendwann geht es vorbei. Vertrau mir. Ich muss es wissen.“

Ich will ihn fragen, warum er wirklich hier ist, denn seine seltsame Begründung kann ja wohl nicht alles sein. Aber ich schaffe es nicht, ein einziges Wort zu sagen. Es geht nicht.

„Ich komme wieder“, murmelt Toris und lächelt. „Verlass dich auf mich.“
 

„Westen?“, flüstere ich.

Um mich herum ist nichts als Dunkelheit. Meine Augen tränen heftig, wenn ich sie öffne, aber ich versuche trotzdem, etwas zu sehen. Irgendetwas.

„Wo bist du, Lutz? Ich kann dich nicht sehen. Nimmst du meine Hand?“

Nichts rührt sich im Dunkeln.

„Nicht, dass ich schon völlig verweichlicht wäre, aber... nimmst du meine Hand? Oder sag wenigstens etwas. Sag mir, dass ich kein Baby bin und mich nicht so anstellen soll. Komm schon.“

Ich warte darauf, seine Stimme zu hören, aber nichts passiert.

„Westen. Das kannst du nicht machen. Du kannst mich nicht allein lassen, West, doch nicht jetzt. West? Lutz? Wo steckst du? Du kannst mich nicht allein lassen. Du kannst nicht einfach so gehen!“

Um mich herum ist Kälte und Dunkelheit, und ich bin völlig allein.
 

„Warte hier.“

Ich bemerke, dass ich nicht mehr schreie. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Stille. Meine Finger versuchen, sich an dem glatten Steinboden festzuklammern, alle Nägel sind längst eingerissen. Stille bis auf mein keuchendes Atmen. Nach Luft schnappen, um sich am Leben zu halten. Ich frage mich nur, wie lange noch.

Hinter mir fällt die Tür zu, aber Ivan schließt nicht ab. Er wird unvorsichtig, denke ich. Was, wenn ich jetzt weglaufen würde, einfach so? Ich versuche, mich auf die Ellbogen aufzustützen. Die unbedachte Bewegung treibt mir Tränen in die Augen und Galle in den Mund. Ich beiße mir auf die Unterlippe und lasse mich dumpf wieder zu Boden sinken. Mein rechter Arm zittert leicht, dann liegt er nur noch kraftlos da. Ich kann mich nicht rühren.

„Westen“, will ich sagen, aber ich kann nicht. Er ist doch ohnehin nicht da. Er hat mich im Stich gelassen.

„Tu es, Toris.“

Habe ich das Bewusstsein verloren? Es ist dunkel, aber nur, weil ich die Augen nicht öffnen kann. Sie sind geschlossen und brennen unter den Lidern.

„Ich kann das nicht“, erklingt Toris' Stimme hinter mir.

„Tu es“, wiederholt die von Ivan. „Ich will, dass du es tust. Dass du ihm selbst heimzahlst, was du durch seine Schuld erdulden musstest. Schlag einfach zu, Toris.“

„Ivan“, sagt Toris leise. „Sehen Sie ihn sich doch an. Er ist schon so gut wie tot.“

Verdammt, ich brauche dein Mitleid nicht. Ich habe dich in die Pfanne gehauen, also nimm Rache und geh wieder. So regelt man das unter Männern, und wir sind beide welche, nicht wahr? Ich kann es verkraften. Noch ein Hieb hin oder her, was macht es für einen Unterschied?

„Es wird ihn schon nicht umbringen“, sagt Ivan schroff.

„Sind Sie sich sicher? Sehen Sie ihn sich an. Er hat unglaublich abgenommen. Seine Verfassung wird immer schlechter... schlechter, als sie es dürfte. Er hat kein Land mehr, das ihm die Kraft gibt, am Leben zu bleiben. Wenn Sie nicht aufpassen, könnte es sein, dass Sie ihn umbringen.“

„Wie meinst du das? Er kann nicht sterben. Er ist unsterblich!“

„Solange es sein Land gibt, ja. Aber gibt es das etwa? Haben Sie in letzter Zeit mal auf eine Landkarte gesehen?“

Toris soll sein dreckiges Maul halten. Auf der Stelle.

„Aber...“

„Es wäre das Beste, ihn nach oben zu bringen und ihm die letzte Zeit, die er noch hat, ein wenig angenehmer zu machen.“

„Angenehmer? Hast du vergessen, was er dir angetan hat?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber glauben Sie, irgendetwas könnte ihn mehr strafen als das Wissen, dass er sterben wird?“

Ich werde nicht sterben, denke ich. Ich doch nicht. Was redet Toris da überhaupt?

„Das wird das Beste sein, Ivan. Er hat nicht mehr viel Zeit.“

Ist das deine Rache, Lorinaitis?, will ich schreien. Ist das deine verdammte Rache? Aber ich bringe keinen Ton heraus.

Oben

„Da“, sagt Eduard und hält mir ein paar Tabletten hin. „Sie sind ein wenig bitter, aber sie helfen.“

„Lass mich in Frieden“, knurre ich.

„Sofort, sobald du deine Medizin genommen hast.“

„Medizin! Erstens bin ich kein Kleinkind, das du bemuttern musst, und zweitens kannst du mich genauso gut in Frieden lassen! Ich sage, ich will sie nicht!“

Eduard sieht mich an und seufzt leise. „Keine Schmerztabletten?“

„Nein.“

„Ich lege sie dir hier hin. Du kannst sie später nehmen, wenn du willst.“

Er steht auf und verlässt den Raum. Die Tür schließt er nicht ab. Ich starre ihm nach und bemerke, dass meine Augen brennen. Verdammte Scheiße.

„Und alles deine Schuld, Lutz. Warum hast du mich nur im Stich gelassen?“

Aber er gibt keine Antwort.
 

„Ich hasse dich, Lorinaitis“, sage ich.

„Du solltest deine Tabletten nehmen“, sagt er ernst. „Es sind dieselben, die ich auch bekommen habe. Sie helfen gut.“

„Dann gib mir gleich drei. Das ist es doch, was du willst, oder?“

„Sei nicht so kindisch, Gilbert.“

„Kindisch? Du behauptest hier, ich sterbe, obwohl ich nichts davon merke. Wer von uns ist kindisch?“

Er sagt nichts dazu.

„Sollte ich dir danken?“, frage ich.

„Wofür?“

„Dass du dir diese rührende Geschichte für Braginsky ausgedacht hast, um mich hierher zu bringen.“

„Ich habe mir nichts ausgedacht.“

„Nun tu nicht so! Du weißt so gut wie ich, dass ich nicht wirklich sterben werde!“

Er sieht mich an, und ich hasse ihn für die Vernunft in seinem Blick, für seine Schuldgefühle und sein Mitleid. Ich hasse ihn für all das.
 

„Scheiße. Galante, gib mir diese Tabletten.“

Er sieht mich mit großen Augen an. „Wirklich?“

„Hast du nicht gehört?“

Hastig greift Raivis nach den Tabletten auf dem Nachttisch und hält sie mir hin. „Hier.“

Meine Hand zittert, als ich sie entgegen nehme und mir in den Mund schiebe. Ich halte es nicht mehr aus. Einfach nicht mehr aus. Scheiße, sind diese Dinge bitter.

„Willst du etwas trinken? Toris hat sie immer bitter gefunden.“

„Ja“, sage ich und will nach dem Wasserglas greifen, aber meine Hand zittert viel zu stark. Ich lasse sie zurück auf die Decke fallen. Mit großen Augen beobachtet Raivis meine zuckenden Finger.

„Ich sagte, ja.“

Er beugt sich näher und gibt mir zu trinken. Vor ihm kann ich es mir erlauben, denke ich. Vor ihm am ehesten. Wer ist er, dass er sich über mich lustig machen könnte, wenn ich ein wenig schwach werde?

„Hey“, sage ich mit schwerer Zunge und lächle. „Ich fliege, Galante.“
 

„Ich mache dir keinen Vorwurf, Westen. Du bist nie wirklich da gewesen, jetzt bist du weg. Eigentlich hat sich überhaupt nichts verändert.“

Er antwortet nicht.

„Nicht, dass ich dich brauchen würde oder so. Sowieso, die hier behaupten, ich müsste sterben. Als ob jemand so Tolles wie ich überhaupt sterben könnte! Soll ich dir was verraten, Lutz? Mein Rücken heilt. Er tut nicht mehr so weh wie zu Anfang. Doch, ganz sicher!“

Ich ziehe die Decke über meiner Brust zurecht und bemerke, dass meine Hand zittert.

„Dafür tut mir irgendwie alles andere weh. Also, alles gleich viel. Wahrscheinlich nur Einbildung, wahrscheinlich habe ich etwas auf den Kopf bekommen. Aber das kann mich auch nicht umhauen, hörst du, Westen? Ich werde wieder gesund. Ich werde ganz bestimmt nicht sterben. Und mit diesen komischen Tabletten bekomme ich das hin, dann tut gar nichts mehr weh und ich kann schlafen. Es geht mir gut.“
 

„Was hast du jetzt angestellt, von Bock? Es passiert nichts!“

„Wobei passiert nichts?“, fragt er verwirrt.

„Bei deinen blöden Tabletten! Sie funktionieren nicht mehr!“

Mit großen Augen sieht er mich an. „Das kann nicht sein. So schnell kannst du dich an eine so hohe Dosis gar nicht...“

„Es ist aber so, Scheiße!“ Meine Hände zittern unkontrolliert. „Gib mir gefälligst irgendetwas anderes, das besser hilft!“

„Diese Tabletten sind die einzigen, die ich habe. Sie helfen immer.“

„Bei mir nicht!“

Eduard senkt den Blick. „Vielleicht beginnt es“, murmelt er.

„Was? Was beginnt?“

Anstelle einer Antwort dreht er sich langsam um und geht.
 

„Es fängt an.“

Sie haben Raivis geschickt, um es mir zu sagen. Er sitzt auf der Bettkante und streicht über meine Hand, während er spricht. Sein Blick ist starr auf den Boden gerichtet.

„Es geht bald zu Ende. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, weil so etwas nicht oft passiert, aber... es fängt jetzt an. Also, es fängt an, aufzuhören. Sozusagen.“

„Könntest du dich etwas weniger widersprüchlich ausdrücken, Galante?“, frage ich heiser. „Was passiert hier?“

Er streichelt meine Hand, wie um Verzeihung bittend. „Dein Land gibt es nicht mehr“, murmelt er. „Es hat eine Weile gedauert, aber langsam löst es sich auf. Das könnte wehtun, aber... wir bleiben da.“

„Ihr bleibt da? Du meinst, ihr bleibt ganz ruhig sitzen, während ich hier krepiere?“

„Wir können nichts tun. Wirklich nicht.“

„Ihr tut so, als würde ich sterben!“, schreie ich ihn an. „Was fällt euch eigentlich ein! Als ob ich sterben könnte! Ich!“

Ich will noch so viel sagen, aber ich beginne zu husten. Raivis wirft mir einen hastigen Blick zu und ich sehe, dass Tränen in seinen Augen stehen.

„Ist ja gut. Es wird bestimmt alles...“

Dann bricht er ab und schlägt die Hände vor sein Gesicht. Anscheinend wollte er Alles wird gut sagen.

„Geh weg“, bringe ich hervor, bevor ich wieder husten muss.

„Aber...“

„Ich habe gesagt, hau ab! Lass mich in Ruhe! Lasst mich alle in Ruhe mit euren wahnsinnigen Ideen! Ich und sterben! Was fällt euch eigentlich ein?“

Ich schreie weiter, obwohl Raivis schon nach ein paar Worten die Flucht ergriffen hat. Er lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und versuche, zu Atem zu kommen.

„Verdammte Schweine. Versuchen, mir einzureden, ich müsste...“

Die Schmerzen sind da, drückend und nicht genau zu lokalisieren, irgendwie überall in meinem Körper. Ich werde nicht sterben, denke ich. Ich doch nicht.
 

„Deswegen warst du da“, sage ich. „Nicht wahr?“

Ich hatte erwartet, dass Toris fragen würde, wovon ich rede, aber das tut er nicht. „Ja“, antwortet er und wendet den Blick ab. „Ich hatte den Verdacht schon, seitdem du hier bist, um ehrlich zu sein. Ich dachte mir gleich, dass es eine Frage der Zeit sein würde, bis es... zu Ende geht. Zuerst schien es dir ja recht gut zu gehen, aber ich denke, Ivans Behandlung hat dir den Rest gegeben. Ich bin zu dir gekommen, weil ich sehen wollte, ob du es nicht doch verkraftet hast, aber offenbar...“

„Sprich gefälligst nicht von mir, als wäre ich schon tot“, knurre ich. „Vielleicht stimmt es ja gar nicht. Vielleicht ist es nur eine... eine dumme Grippe oder so, und in zwei Wochen bin ich wieder quietschfidel. Was sagst du dann?“

Er sieht mich aus den Augenwinkeln an, und ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Diese Tatsache wäre wesentlich leichter zu ertragen, wenn ich wüsste, ob ich mir selbst glauben darf.
 

„Verdammt, Westen. Wo bist du?“

Ich strecke die Hand aus, aber natürlich ist er nicht da, um danach zu greifen. Er ist nicht hier.

„Es tut weh, West. Einfach Scheiße weh. Nicht die Wunden, sondern alles. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich weiß es wirklich nicht.“
 

„Wie sieht es aus?“

Ich tue, als würde ich schlafen, weil ich keine Lust habe, mit Ivan zu reden. Wenn ich ihn ansehe, durchzuckt mich diese Angst, und das hasse ich. Als ob ich einen Grund hätte, Angst vor ihm zu haben. Ich.

„Er hat starke Schmerzen, aber den größten Teil der Zeit ist er noch ansprechbar.“

„Isst er?“

„Kaum. Sollen wir ihn... ihn davon überzeugen, es doch zu tun?“

Ivan seufzt tief. Der Boden knarrt leise, als er näher tritt. „Ich glaube kaum, dass ihn das noch retten kann, wenn es hart auf hart kommt. Letztendlich wird er nicht davon sterben, dass er verhungert. Aber sieh ihn dir an... nur noch Haut und Knochen.“

„Vielleicht würde er wieder zu Kräften kommen, wenn wir...“

„Du weißt genau, dass alles nichts nützen wird, Eduard. Er wird nicht wieder zu Kräften kommen, wenn nicht ein Wunder passiert.“

„Ein Wunder?“, wiederholt Eduard. „Denken Sie da an ein... bestimmtes Wunder?“

„Um ehrlich zu sein, ja.“ Er lacht leise. „Ich hoffe nur, ich kann es noch rechtzeitig in die Wege leiten. Man darf nichts überstürzen. Es muss genau zur richtigen Zeit passieren.“

Am liebsten würde ich sagen, Braginsky, wenn du einen Weg kennst, mich zu retten, dann tu es, verdammt nochmal. Aber dazu müsste ich zugeben, das ich gelauscht habe, und dazu habe ich wenig Lust. Außerdem wird Sprechen von Tag zu Tag mühsamer.
 

„Lass mich nicht allein“, flüstere ich.

„Tue ich nicht“, verspricht Raivis leise. „Ich bleibe hier.“

Ich könnte nicht sagen, was mir wehtut, aber es tut weh. Alles brennt seltsam von innen heraus. Es kommt in Wellen, in immer stärkeren Wellen in immer kürzeren Abständen. Raivis sitzt neben dem Bett und wischt mit einem nassen Handtuch den Schweiß von meiner Stirn.

„Ich bleibe hier“, sagt er noch einmal. „Ganz bestimmt.“

„Bis zum Ende?“, frage ich.

Er schweigt.

„West hat mich verlassen“, bringe ich hervor und bemerke, dass Tränen in meinen Augen stehen. Weil es so erbärmlich ist, dass ich, ausgerechnet ich nicht mehr weiß, was ich tun soll, in einem fremden Haus voller Fremder, mit diesen Schmerzen und ohne Ludwig. „Er ist einfach weg. Nicht mehr da. Er hat mich im Stich gelassen. Ausgerechnet jetzt, da... ausgerechnet jetzt!“

„Ich bleibe da“, sagt Raivis verunsichert und wischt die Tränen ab, die mir aus den Augenwinkeln laufen. „Vielleicht wird ja doch alles wieder gut, was glaubst du? Es kann ja immer noch ein Wunder geschehen.“

„Selig sind die Armen im Geiste“, flüstere ich.

„Noch ist Polen nicht verloren“, antwortet er ernst.

Wäre die Situation nicht so jämmerlich, wie wir an meinem womöglichen Sterbebett sitzen und Binsenweisheiten zitieren, müsste ich lachen.
 

„Gilbert. Kannst du mich hören? Gilbert!“

Irgendjemand rüttelt unsanft an meiner Schulter. Ich kann nichts sehen. Warum ist es so dunkel? Ich habe doch die Augen geöffnet. Oder nicht?

„Lass ihn. Das nützt auch nichts.“

„Muss... muss Gilbert jetzt sterben?“

„Still, Raivis.“

„Aber... ich will... ich d-dachte immer...“

„Es ist doch besser so, als wenn er weiter leidet. Glaubst du nicht auch?“

„Aber ich will... will nicht, dass er...“

„Ist ja gut. Ich weiß. Ich weiß doch.“

Ein ersticktes Schluchzen und ein Rascheln von Stoff, als würde jemand in den Arm genommen. Das Geräusch der Tür, die sich öffnet.

„Ist er tot?“

Raivis schluchzt laut auf.

„Nein... sehen Sie selbst.“

Schritte treten näher. Einige Sekunden lang herrscht Stille bis auf Raivis' Schniefen.

„Er sieht nicht gut aus.“

„Kann er uns hören?“

„Ich weiß es nicht. Jedenfalls reagiert er nicht mehr.“

Zwei große Finger legen sich seitlich an meinen Hals. Meine Haut ist so kalt.

„Sein Herz schlägt jedenfalls noch.“

„Das heißt, er lebt noch, oder? Das heißt es doch?“

„Du solltest schlafen gehen, Raivis.“

„Aber ich will doch...!“

„Es ist schon mitten in der Nacht. Du solltest längst im Bett sein.“

„Ich bleibe hier! Ich hab es ihm versprochen!“

Jemand greift hastig nach meiner Hand, aber die Hand ist taub, als wäre es gar nicht meine. Die Finger an meinem Hals sind noch immer da.

„Was... tun wir jetzt?“

„Wir warten.“

Plötzlich fällt mir auf, dass die Schmerzen weg sind. Wie lange sind sie schon nicht mehr da?

„Seit wann ist er bewusstlos?“

„Seit heute Mittag.“

„Ich wollte ihm sein Mittagessen bringen, obwohl er ja sowieso nie etwas gegessen hat... aber diesmal hat er nicht einmal die Augen aufgemacht. Er wacht auch nicht auf, wenn man ihn schüttelt. Er wacht überhaupt nicht mehr auf.“

„Eines Tages geht alles zu Ende. Die Welt funktioniert so, Raivis, selbst für jemanden wie uns. Wenn...“

„Still!“

„W-was denn?“

„Was ist los?“

„Seid einen Moment lang ruhig, damit ich...“

In der Stille ein Rascheln von Stoff, ein Blinzeln, ein angespanntes Luftholen. Warten.

„Sein Herz schlägt nicht mehr.“

Die Finger verschwinden von meinem Hals und Raivis bricht in Tränen aus.

Woanders

Ludwig sitzt auf einem schlichten Stuhl vor einer ebenso schlichten Wand. Er trägt ein ordentlich gebügeltes Hemd, aber seine Krawatte sieht aus, als hätten beim Zubinden seine Hände gezittert. Sein Kopf ist nach hinten gegen die Wand gesunken, sein Mund steht einen Spalt weit offen. Er rührt sich nicht.

„West?“

Er antwortet nicht.

„Westen! Du bist wieder da!“

Ich will mich auf die Ellbogen aufstützen, aber sie sind so schwach, dass ich sofort wieder in das Kissen zurück falle. Schmerzen durchzucken meinen Rücken. Rücken? Das ist dort, wo ich die Wunden habe. Aber wieso...

„Gilbert?“

Ludwig reißt die Augen auf, setzt sich gerade hin und starrt mich an. „Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“

„Das kannst du mir gerne verraten“, erwidere ich und sehe mich um. Noch immer das kleine Zimmer in Ivans Haus, in dem sie mich zum Sterben untergebracht haben. Was zum Teufel ist passiert? Was geht hier vor?

„Wie kommst du hierher, West?“

Er runzelt leicht die Stirn. „Mir wurde die Nachricht überbracht, du wärst tot“, antwortet er, und das letzte Wort scheint ihn Überwindungen zu kosten. „Ivan hat mir erlaubt, hierher zu kommen, um deinen... um dich nach Hause zu holen. Aber als ich vor ein paar Stunden hier eingetroffen bin, hieß es plötzlich, du wärst doch nicht tot.“

„Wirklich?“

„Was ist passiert, Gilbert? Was...“

„Ich bin gestorben“, antworte ich. „Ich dachte zumindest, das wäre ich.“

„Aber wie...“

„Weil ich kein Land mehr habe, deswegen. Aber wenn ich jetzt wieder hier bin... heißt das...“

Ich beende den Satz nicht und sehe Ludwig mit großen Augen an. Er erwidert meinen Blick.

„Also ist es wahr?“, fragt er tonlos.

„Was?“, frage ich. „Was ist wahr?“

„Ich meine, nach allem, was passiert ist... Aber ich hätte doch nie geglaubt...“

Was, West? Ich habe die letzten Monate in einem Kellerloch verbracht, ich bin politisch nicht auf dem Laufenden. Was...“

„Es gibt jetzt zwei deutsche Staaten“, sagt er.

Ich starre ihn an.

„Es klingt lächerlich“, gibt er zu, „aber es ist wahr. Das hat Ivan also damit gemeint, als er sagte, er würde die freie Stelle schon irgendwie besetzt bekommen.“

„Die freie Stelle?“, wiederhole ich und schließe kurz die Augen. „Bitte, Westen, ich lebe erst seit ein paar Minuten wieder. Könntest du das alles langsamer erklären, damit ich es auch verstehe?“

„Ich kann es versuchen“, sagt er, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Du weißt, dass sowohl Ivan als auch Alfred, Arthur und Francis bestimmen konnten, was nach dem Krieg mit mir passiert. Da es aber unmöglich geworden ist, dass Ivan sich mit Alfred einigt, meinte Alfred, ich müsste mich für eine Seite entscheiden. Ich habe mich an Alfred und den Westen gehalten, und hier bin ich nun. Ivan war zuerst frustriert und hatte dann die tolle Idee, nach seinen Vorstellungen einen zweiten Staat zu gründen, aber Alfred hat ihn ausgelacht. Er meinte, so etwas wäre nicht möglich, ein Land ohne Seele. Ich hätte es besser wissen müssen.“

„Meinst du das, was ich glaube, das du meinst?“, frage ich und kann es noch nicht recht fassen. „Ich kann wieder ein eigener Staat sein?“

Ludwig sieht mich ernst an. „Es ist nicht richtig.“

„Nicht richtig? Es ist meine einzige Chance, zu überleben! Deswegen hat Ivan Toris' Warnung ernst genommen und mich hier herauf geholt. Er hat versucht, mich so lange am Leben zu halten wie möglich, bis er das mit dem neuen Staat in die Wege geleitet hatte. Verdammt... Heißt das, Ivan hat mir das Leben gerettet?“

„Aus absolut egoistischen und machtpolitischen Gründen.“

„Aber immerhin.“

Schweigend zieht Ludwig die Schultern hoch und sieht aus dem Fenster. „Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll“, murmelt er. „Ich... ich bin so froh, dass du noch lebst, Gilbert.“

„Wieder“, sage ich. „Nicht noch.“

„Aber ich will, dass du mein Bruder bist“, fährt Ludwig fort. „Nicht mein Gegner.“

„Dein Gegner? Hör mal... dass du mich damals in die Pfanne gehauen hast, heißt noch lange nicht, dass ich dein Feind wäre!“

„Es ist aber nicht deine Entscheidung, ob du das bist“, sagt Ludwig eindringlich. „Es ist die von Ivan.“

„Wieso das denn? Nur, weil ich ihm etwas schuldig bin? Ich bin immer noch ein eigenständiger Staat!“

„Du bist ein Satellit. Das ist nicht ganz dasselbe.“

„Satellit, was zum Teufel? So etwas gab es zu meiner Zeit nicht.“

„Die Welt hat sich verändert“, erklärt Ludwig düster. „Es gibt nur noch Osten und Westen. Der Grat dazwischen ist so schmal, dass nur die wenigsten das Risiko auf sich nehmen, darauf zu gehen. Die Blöcke bewegen sich täglich weiter auseinander.“

„Wir nicht“, sage ich schlicht. „Du bist mein Bruder, Westen. Wir gehen nie mehr auseinander.“

Er sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. „Darf ich dich etwas fragen, Gilbert?“

„Klar. Was?“

„Bist du gar nicht mehr wütend?“

„Wütend? Wieso denn das?“

Er sieht mich reglos an. „Du weißt genau, warum. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben... da hast du mir gesagt, ich hätte dich im Stich gelassen. Du warst sehr wütend.“

Ich blinzele. „Ach... ja, stimmt. Aber jetzt bist du ja hier, oder? Und außerdem, seitdem ist doch so viel passiert. Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Nach alledem kann ich dir gar nicht mehr böse sein.“

„Zusammen durchgemacht?“, wiederholt Ludwig und sieht mich etwas befremdet an.

„Ja“, antworte ich fest und denke an unsere zahllosen Gespräche im Keller, die mich sicher davor bewahrt haben, vor Einsamkeit den Verstand zu verlieren – auch wenn ich mir damals nicht eingestehen wollte, wie wichtig die Sache mir war. „Du bist da gewesen, obwohl du gar nicht da warst. Das nenne ich mal einen Freundschaftsdienst.“

Er versteht noch immer nicht, aber er fragt nicht weiter. Wahrscheinlich ist es so besser für uns beide, denke ich.
 

Toris steckt den Kopf zur Tür herein und lächelt, als er mich sieht. „Gilbert? Na, endlich bist du wieder wach. Das wurde auch Zeit.“

„Hab mein Bestes gegeben, Lorinaitis. Was gibt es?“

„Ich bin hier, um den Verband zu wechseln.“ Er wendet sich kurz an Ludwig und lächelt höflich. „Sie sitzen ja immer noch hier. Sie halten es lange aus.“

„Ja“, antwortet Ludwig, und ich sehe eine Mischung aus Ärger und Furcht in seinem Blick. „Soll ich gehen?“

„Oh, machen Sie sich bitte keine Umstände“, erwidert Toris schnell und winkt ab. „Wie gesagt, ich sehe nur kurz nach den Wunden, wenn es niemandem etwas ausmacht...“

Ludwig sieht mich an.

„Beeil dich einfach, Lorinaitis“, sage ich seufzend. „West und ich haben noch viel zu besprechen.“

Er nickt, kommt durch das Zimmer und greift nach dem Koffer mit dem Verbandszeug, der unter dem Bett steht. „Dreh dich mal auf den Bauch.“

Ich tue es, behalte aber Ludwig im Auge, der Toris etwas unsicher zusieht.

„Es ist schon erstaunlich gut verheilt“, sagt Toris, und ich frage mich, ob er mit mir oder mit Ludwig spricht. „Ich denke, in ein paar Wochen wird man nichts mehr davon sehen.“

Er löst behutsam den Verband von meinem Rücken, und ich sehe, wie Ludwig die Augen aufreißt.

„Es ist nichts, Westen“, sage ich. „Keine große Sache.“

„Keine große Sache?“, wiederholt er fassungslos. „War... war das Ivan?“

„Nein, ich bin vor einen Schrank gelaufen.“ Es ist kein guter Witz, aber die Situation ist so unangenehm. „Klar war es Ivan.“

„Warum?“, fragt Ludwig mit einem leichten Zittern in der Stimme. Toris kramt schweigend in dem kleinen Koffer.

„Ehrlich gesagt, weil ich es verdient hatte“, sage ich trocken. „Wenn du das für schlimm hältst, schau dir mal Lorinaitis an. Der hatte es nämlich nicht verdient.“

Verständnislos wandert Ludwigs Blick zwischen Toris und mir hin und her.

„Hören Sie nicht auf ihn“, sagt Toris sanft. „Ivan hatte seine Gründe – Gründe, die man nicht nachvollziehen können muss. Aber was passiert ist, ist passiert. Machen wir also das Beste daraus.“

„Ich hasse es, wenn du ihn rechtfertigst, Lorinaitis. Es ist erbärmlich.“

„Wieso ich?“, fragt er ehrlich überrascht. „Du bist doch derjenige, der ihn rechtfertigt.“
 

„Was soll das heißen, du kannst mich nicht mitnehmen?“

„Ich muss abwarten, was Ivan sagt“, sagt Ludwig leise.

„Warum? Er sieht gerade nicht hin, oder? Du rufst deine Leute an, die schicken einen Flieger, in ein paar Stunden sind wir zu Hause!“

„Und lösen damit einen dritten Weltkrieg aus.“

„Was redest du denn da? Als ob...“

„Das Verhältnis zwischen Ivan und Alfred ist mehr als angespannt. Dass Ivan mir überhaupt erlaubt hat, hierher zu kommen, hat mich überrascht. Wenn ich so dreist wäre, dich einfach mitzunehmen, würde er keine Sekunde zögern, um das als Vorwand zu nutzen, mich anzugreifen. Und es wäre ein sehr guter Vorwand.“

„Ich dachte, der Krieg wäre vorbei!“, sage ich wütend.

„Ist er auch. Und ich werde sicher nichts tun, um das zu ändern.“

Einen Moment lang schweigen wir uns an.

„Also willst du mich nicht mitnehmen?“

„Natürlich will ich das“, murmelt Ludwig. „Aber es tut nichts zur Sache, was ich will. Verstehst du das nicht?“

„Wie kommt das?“, frage ich wütend. „Wann ist die Welt so geworden, dass es nichts mehr zur Sache tut, was irgendjemand will... solange dieser Jemand nicht Alfred oder Ivan heißt?“

Er lacht grimmig auf. „Das frage ich mich an manchen Tagen auch. Aber wir können nichts dagegen tun, Gilbert. Wir müssen damit zurechtkommen.“

„Darin war ich immer gut“, knurre ich. „Mit etwas zurechtzukommen.“

Ludwig seufzt leise. „Ich denke, wir werden uns trennen müssen.“

„Hat Ivan das gesagt?“

„Noch nicht. Aber ich denke nicht, dass es noch lange dauern wird.“
 

„Du bist wieder wach!“, sagt Raivis mit einem Leuchten in den Augen, als wäre Weihnachten. Ich grinse breit.

„Klar. Dachtest du ernsthaft, ich würde sterben?“

„Nein“, antwortet er aufrichtig, „ich nicht. Aber du bist gestorben, wie alle anderen es gesagt haben. Toris hat sich Sorgen um dich gemacht, und Ivan auch, glaube ich. Aber dann hat auf einmal dein Herz wieder geschlagen, vorgestern oder so, obwohl du nicht gleich aufgewacht bist. Und Ivan hat gesagt, das wäre ein sehr gutes Zeichen, und Eduard hat gesagt, Unkraut vergeht nicht.“

„Leg dich mal auf den Bauch“, sagt Eduard zu mir und ignoriert Raivis. Ächzend drehe ich mich um und lege den Kopf auf die Seite, um Raivis weiter ansehen zu können.

„Und? Was hat er noch Nettes über mich gesagt?“

„Oh... sonst nichts“, murmelt Raivis, der sich anscheinend fragt, ob er zu viel gesagt hat. Ich grinse erneut und spüre, wie Eduard den Verband von meinem Rücken abwickelt. Es ziept ein wenig.

„Es heilt erstaunlich gut“, stellt Eduard überrascht fest. „Ich wünschte, Toris hätte dein Heilfleisch.“

„Tja, ich bin eben der Größte“, sage ich und überlege kurz. „Wo ist Lutz?“

„Er hat eine Weile lang mit Ivan geredet“, erklärt Raivis. „Danach ist er ins Bett gegangen. Er war ziemlich müde, glaube ich. Von der Reise.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Einmal kurz Zähne zusammenbeißen, bitte. Könnte ein bisschen wehtun.“

„Autsch!“ Ich kralle die Hände in das Kissen, während der Schmerz in meinem Rücken langsam wieder abklingt. „Was zum Teufel machst du da, von Bock?“

„Schon vorbei. Sei doch nicht so eine Mimose.“

„Bin ich gar nicht“, murre ich.

Eduard gibt etwas von sich, das beinahe wie ein Lachen klingt, und verbindet die Wunden wieder. Raivis sieht mich noch immer glücklich an, bevor er sich die Hand vor den Mund hält und ausgiebig gähnt.

„Du solltest ins Bett“, sage ich.

„Du auch“, erwidert Eduard und steht auf. „Kannst dich wieder umdrehen. Ich lasse dir die Tabletten hier, falls du Schmerzen haben solltest. Nimm sie bitte nur, wenn es unbedingt nötig ist.“

„Brauchst sie gar nicht hier zu lassen. Es geht mir ausgezeichnet.“

„Sicher ist sicher“, erwidert er, verstaut den Koffer mit dem Verbandszeug unter dem Bett und steht auf. „Komm, Raivis.“

„Gute Nacht, Gilbert“, sagt Raivis und lächelt.
 

Ich wache auf, als jemand nach meiner Hand greift. Blinzelnd öffne ich die Augen einen Spalt weit und reiße sie ganz auf, als ich die hünenhafte Gestalt neben mir erkenne.

„Braginsky?“

Er sitzt im Mondlicht neben dem Bett und betrachtet mich gründlich. Sein Blick ist nicht zu deuten.

„Was willst du hier?“, frage ich, stütze mich auf die Ellbogen auf und sehe zum Fenster, hinter dem der Himmel dunkel ist. „Wie spät ist es?“

„Ich muss mit dir unter vier Augen reden“, sagt er, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Dann schieß los und lass mich weiter schlafen.“ Die Sache gefällt mir nicht. Wer wird schon gerne mitten in der Nacht von Ivan geweckt? Ich jedenfalls nicht.

„Es geht um Ludwig.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und bemühe mich, nicht erschrocken auszusehen. Was ist mit ihm? Will Ivan ihn hinauswerfen – jetzt schon? Oder, noch schlimmer, will er ihm irgendeine Provokation unterstellen? Ludwigs Worte habe ich immer noch im Ohr. Wir lösen damit einen dritten Weltkrieg aus.

„Willst du zu ihm zurück?“

„Ja“, antworte ich, ohne nachzudenken. Was sollte ich sonst sagen?

„Warum?“

„Weil er mein Bruder ist und wir zusammen gehören.“

Ivan sieht mich an und schweigt einen Moment lang. „Zusammen gehören“, murmelt er. „Aber wenn du dich mit ihm zusammentust, hast du keine Angst?“

„Angst? Wovor?“

„Vor dem Tod.“

Ich lache kurz auf. „Tod? Aber ich lebe, Braginsky!“

„Ja“, bestätigt Ivan ernst. „Und warum? Weil du es gerade noch rechtzeitig geschafft hast, dich an einen neuen Staat zu klammern. Einen anderen als den, den Ludwig darstellt.“

„Er hat es mir erzählt“, sage ich und runzle die Stirn. „Das mit den zwei Staaten. Es ist der Wahnsinn.“

„Dieser Wahnsinn hat dir das Leben gerettet. Möchtest du das wirklich einfach so wegwerfen?“

„Wegwerfen? Was zum Teufel redest du da?“

„Du kannst nur überleben, solange du ein eigenständiger Staat bist.“

„Ach ja? Was ist mit deinen drei Leibeigenen, sind die etwa eigene Staaten? Die leben ja schließlich auch noch.“

Ivan lächelt leicht. „Sie sind schwach, Gilbert. Erbärmlich schwach. Ihr beide, dein Ego und du, ihr würdet es niemals verkraften, zu werden wie sie. Und... sie sind anders. Sie bewahren sich etwas Eigenes neben dem, was ich verkörpere. Zwischen uns liegen Welten. Du und Ludwig, ihr seid euch zu ähnlich. Ihr würdet verschmelzen, bis von einem von euch nichts mehr übrig bleibt.“

„Ach ja? Und selbst wenn, wer sagt denn, dass ich derjenige wäre, der sterben müsste?“

„Niemand sagt das, da hast du völlig Recht“, antwortet Ivan ruhig. „Wäre es dir also lieber, Ludwig auf dem Gewissen zu haben?“

Ich schnappe nach Luft. „Ich würde niemals zulassen, dass Westen etwas passiert!“

„Eben“, sagte Ivan und zieht die Schultern hoch. „Du willst weder sterben noch seinen Tod verantworten. Die einzige andere Möglichkeit, die dir bleibt, ist...“

„Dein Satellit zu werden?“, frage ich abfällig. „Dein Leibeigener? Vergiss es, Braginsky. Lieber sterbe ich.“

„Tatsächlich? Und dabei hast du so herumgeheult, als es hieß, du müsstest sterben.“

„Ich habe nicht herumgeheult!“

Ivan hat nicht einmal spöttisch geklungen, als er es gesagt hat, und das macht mir Angst. Er meint alles, was er sagt, absolut ernst.

„Denk darüber nach“, sagt er und steht auf. „Überlege dir, ob dir die Nähe zu Ludwig ein solches Risiko wert ist. Lass dir ruhig Zeit. Ludwig kann noch drei Tage bleiben... wenn es nach mir geht. Es sei denn, seine Regierung ruft ihn früher zurück.“

Er geht und schließt die Tür hinter sich, aber er tut es sehr sanft, fast lautlos.
 

Sorgfältig fische ich das faserige Hühnerfleisch aus der Suppe. Es ist ein wenig zäh, aber dafür heiß. Es scheint mir förmlich zuzurufen: Ich bin deine erste anständige Mahlzeit seit einer Ewigkeit. Willkommen zurück unter den Lebenden!

„Du bist ein Schatz, Galante“, sage ich und lecke mir über die Lippen. Nur nichts verkommen lassen.

„Wirklich?“, fragt Raivis unsicher.

„Wenn ich's doch sage. Hast du das gekocht?“

„Ja.“ Er betrachtet den Teller Suppe trübselig. „Ivan meinte, es wäre zu wenig Salz dran.“

„Das zeigt nur wieder einmal, dass Braginsky nicht weiß, was gut ist. Sie ist ausgezeichnet.“

Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und lächelt schüchtern.

„Wo ist Lutz?“

„Er musste ein Telefonat mit seiner Regierung führen. Ich glaube, sie reden schon seit fast einer Stunde.“

„Also wollen sie, dass er wieder zurückkommt, ja?“

„Ich weiß nicht. Ich habe nicht zugehört.“

Ich muss an Ivans Worte denken. Überlege dir, ob dir die Nähe zu Ludwig ein solches Risiko wert ist. Lass dir ruhig Zeit. Ludwig kann noch drei Tage bleiben... wenn es nach mir geht. Es sei denn, seine Regierung ruft ihn früher zurück. Mir Zeit lassen, überlege ich. Kann ich das? Habe ich das überhaupt nötig?

„Sag mal, Galante“, sage ich und lasse den Löffel sinken. „Könntest du mir einen Gefallen tun?“

„Was für einen?“, fragt er und legt den Kopf schief.

„Es ist ganz einfach. Du brauchst nur zu Ludwig zu laufen und ihm zu sagen, dass er abreisen soll. Sofort, hörst du? Sag ihm, dass ich nicht mehr mit ihm reden möchte. Sobald ich über den Berg bin, werde ich ihm einen ausführlichen Brief schreiben, in dem ich alles erklären werde. Versprochen. Aber zuerst muss er hier weg.“

„Warum?“, fragt Raivis verwirrt.

„Das kann dir egal sein. Er wird wissen, warum.“ Ich stocke kurz. „Würdest du das tun?“

Langsam nickt er und rutscht von seinem Stuhl. „In Ordnung.“

„Danke, Galante“, sage ich und grinse.
 

Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war, aber es fühlt sich gut an, sie getroffen zu haben. Besser irgendeine Entscheidung als gar keine. Wie die Dinge sich von hier an entwickeln werden? Ich weiß es nicht. Ich werde wohl abwarten müssen.

Die Tür öffnet sich und ich drehe den Kopf. Es ist Raivis, der hereinkommt.

„Hey, Galante. Hast du...“

Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich Ludwig hinter ihm in der Tür sehe. Langsam setze ich mich auf und schlucke.

„Was...“

„Ludwig ist hier“, sagt Raivis, nickt mir kurz zu und wendet sich dann an Ludwig. „Gilbert möchte Ihnen etwas sagen. Etwas Wichtiges.“

„Was denn?“, fragt Ludwig, kommt näher und betrachtet mich mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Vorahnung. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Gilbert?“

Ich hole tief Luft und sehe an ihm vorbei Raivis an, der noch immer in der Tür steht. „Du bist ein Schatz, Galante“, murmele ich.

Raivis sagt nichts dazu. Er legt den Kopf schief, verlässt ohne ein weiteres Wort das Zimmer und schließt die Tür.

„Was ist denn los?“, fragt Ludwig und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Kopfende. Er lässt mich nicht aus den Augen, als habe er Angst, ich könnte mich jeden Moment in Luft auflösen. Ich muss grinsen, als ich es bemerke.

„Nun, wie Galante schon ganz richtig sagte... ich muss dir etwas sagen.“
 

„Wir werden uns wiedersehen, Westen. Verlass dich drauf.“

Ludwigs Lippen beben ein wenig, aber er senkt den Kopf, um mir und sich selbst die Peinlichkeit zu ersparen.

„Ich komme schon zurecht“, rede ich einfach weiter, weil ich keine Stille eintreten lassen will. „Mach dir keine Sorgen um mich, West.“

„West“, wiederholt er leise. „Bedeutet das, dass du ab sofort Ost bist?“

Ich grinse. „Wenn's nach mir geht, nenn mich ruhig weiter Gilbert. Ich bin es gewohnt.“

Er nickt und steht von seinem Stuhl auf. „Also schön“, sagt er, den Blick noch immer gesenkt. „Dann werde ich abreisen.“

„Ich werde dir schreiben.“

„Ich dir auch.“

Einen Moment lang zögere ich, dann breite ich die Arme aus. „Komm her, West. Einmal drücken.“

Er beugt sich vor und drückt mich mit einer Kraft an sich, die mich im ersten Moment erschreckt. Ich bin noch immer so mager nach den Wochen im Keller, ein Hemd im wahrsten Sinne des Wortes, bei diesem komischen, ausgeleierten Ding, das ich trage. Sein Hemd riecht nach Rasierwasser und kalter Luft von draußen. Er ist kein kleiner Junge mehr, denke ich. Die Zeiten, in denen er mich nur überragt hat, wenn ich ihn auf den Schultern getragen habe, sind lange vorbei.

„Mach's gut, Westen“, sage ich und schlinge die Arme um ihn.

„Du auch“, murmelt er, stockt kurz und gibt eine Art grimmiges Lachen von sich. „Du auch, Osten.“
 

(Plöpp! Daseinsberechtigung! Wie hat Gilbert es geschafft, sich von Preußen zur DDR zu verwandeln? Einfach so, zack-bumm? Zu einfach. Meine kleine Theorie in diese Richtung also hier. Ich danke für die geschätzte Aufmerksamkeit. Jetzt werde ich noch Kapitel zwei und eventuell drei und außerdem noch hier und da ein bisschen überarbeiten, und dann passt das schon. Ansonsten, schiavo vostro! Ciao!)


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe kürzlich die mexx-Funktion mit den Fanfic-Statistiken ausprobiert und gemerkt, dass diese Fanfic, obwohl schon etwas länger abgeschlossen, immer noch gelesen wird. Irgendwie rührt mich das total. Ich kann mich leider bei niemandem persönlich bedanken, aber das wollte ich gesagt haben. Dankeschön. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (6)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Suvi
2012-10-28T18:58:01+00:00 28.10.2012 19:58
Wooaaa...Ich finde diese Fanfic einfach nur klasse^^ Und ich muss mich Sternenschwester anschließen: Ein echt gut gelungener Abschluss^^
Von:  Sternenschwester
2012-07-10T17:57:15+00:00 10.07.2012 19:57
gelungender Abschluss.
Lg, Sternenschwester
Von:  Miss_Anthrop
2012-06-23T12:21:40+00:00 23.06.2012 14:21
Seit dem Satz "Er sieht mich an, und ich hasse ihn für die Vernunft in seinem Blick, für seine Schuldgefühle und sein Mitleid." wusste ich, dass Toris nicht gelogen hat. D:
Der Satz hat es echt in sich. Der ist so enthüllend, er macht klar, dass Gilbert eigentlich ganz genau weiß, dass er sterben muss, es aber nicht wahrhaben will. Der Arme.

Ach, und sein ewiger Stolz. Ich liebe diesen Kerl!
Wie er es sich erlaubt, vor Raivis schwach zu sein, einfach weil er nicht viel von ihm hält. Und wie er versucht, sich selbst Mut zu machen, indem er zu Ludwig spricht. Oder wie er einfach die anderen für wahnsinnig erklärt, weil sie ihm sagen, dass er sterben wird. Und wie er sich nach Ludwig sehnt, obwohl der ihn ihm Stich gelassen hat. Wie er, als Ivan von diesem Wunder spricht, am liebsten in seiner stolzen, rebellischen, unhöflichen Art verlangen wollte, dass der ihn rettet, wenn er kann. Und wie er letztendlich Raivis darum bittet, ihn nicht allein zu lassen.
Gott, wie er sich benimmt, wie er damit umgeht! Es ist die reinste Freude ihn immer noch so stolz zu sehen, selbst wenn er stirbt. Hergott nochmal, ich mag den Kerl! xD

Er is allerdings doch etwas überraschend, wie wenig nachtragend die anderen erscheinen. Klar, er hat jetzt Ivans Rache durchgemacht und natürlich kommt es nicht alle Tage vor, dass eine Nation, einer von ihnen, stirbt. Bei Toris und Raivis kann ich das verstehen, Eduard auch noch, zumal der nicht so viel anders als sonst ist, aber selbst Ivan ist ja plötzlich mitleidig! - Also nicht, dass das nicht nachvollziehbar wäre, Ivan ist halt einfach irgendwie seltsam, so ist sein Charakter. Aber das ist so verflucht irritierend! Jetzt will er auch noch irgendein Wunder geschehen lassen, um Gil doch noch zu retten. Argh, ich versteh den Typen nicht!

"In einem fremden Haus voller Fremer" klingt übrigens komisch. Ich hab nur leider keinen besseren Vorschlag.

Du machst scheinbar noch nen kurzer Epilog? Na Gil wird ja vermutlich zur DDR. Vielleicht ist er dann plötzlich wieder ein Kind oder so. Falls man die Reaktionen der anderen noch mitbekommt, wäre ich auf die von Raivis sehr gespannt. Der Kleine ist so rührend und er hängt ja doch irgendwie an Gilbert. Aww. D:


Liebe Grüße,
Riu
Von:  Miss_Anthrop
2012-06-12T14:54:10+00:00 12.06.2012 16:54
Ich hab das Kapitel zwar noch am Montag (wie war das mit wöchentlich?) gelesen, allerdings war ich zu müde, um Worte noch logisch aneinander zu reihen. Na egal. Viel Spaß beim antworten. :P

Also Gilberts Erklärung dafür, warum Ivan ihm geglaubt hat, find ich auch logisch. Gilbert sagt, dass Ivan „in gewisser Weise wollte, dass es früher oder später genau so ausgeht“. Das ist ein interessanter Ansatz. Ivan wollte sich also vielleicht selbst austricksen: Indem er Schuld auf sich geladen hat, wurde er dafür bestraft, nicht vertrauen zu können. Vielleicht kann er es ja jetzt. Vielleicht hat er das getan, um zu lernen zu vertrauen. Na, vielleicht eher andersrum: Zu verlernen, nicht zu vertrauen.

Und warum ist Lutz plötzlich nicht mehr da? Er verschwindet, nachdem Gilbert sich eingesteht, dass er "schwach und verweichlicht" ist und ihn eben doch braucht. Als er sich Hilfe herbei wünscht und niemand da ist. Vielleicht ist die Realität für Gilbert zu hart geworden, um sich noch Illusionen zu machen. Der Teil, der ignorieren konnte, dass Lutz in Wirklichkeit nicht da ist, kann das jetzt wohl nicht mehr, weil die Realität einfach zu präsent ist, um sich noch selbst zu betrügen. Ich nehme an, er kann sich einfach nicht mehr in Illusionen stürzen oder noch an sie glauben. Falls dahinter noch mehr steckt, komm ich nicht drauf. Lutz kommt ja vermutlich nicht noch mal vor, oder?

Als Toris zu ihm kommt, ist Gilbert misstrauisch. Aus seiner Sicht ist das natürlich verständlich, aber ich gaube nicht, dass Toris irgendwelche bösen Absichten hat. Seine Erklärung leuchtet mir vollkommen ein und ich schätze ihn nicht als so hinterlistig und rachewütig ein. Das einzige, was mir irgendwie komisch vorkommt, ist, wie Toris von dem Raum spricht, in dem er war und dass er sich fragt, warum Ivan Gilbert nicht dort hin gebracht hat. Da drauf kann ich mir keinen Reim machen, was soll denn in dem Raum sein, dass Ivan das hätte tun sollen? Klar, das war der Raum, in dem Toris gelitten hat und damit Gilbert sieht, was er Toris angetan hat, könnte man das natürlich machen. Aber einen wirklichen Sinn dahinter sehe ich nicht. Ich beschließe einfach mal, da nicht viel hineinzuinterpretieren, auch wenn es mir komisch vorkommt.

Hm, aber dass Gilbert und Toris in ähnlicher Lage waren, bringt doch sicher irgendwo ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie sind Leidensgenossen, das wäre also ein Grund, warum ich nicht denke, dass Toris sich rächen will. Toris bekommt außerdem ja auch Mitleid und sieht die guten Absichten Gilberts.
Deswegen irritiert es mich auch so, dass Toris es Ivan gar nicht übel zu nehmen scheint. Die machen eher den Eindruck, als hätten sie das unter sich geklärt oder so. Als wären sie plötzlich auf einer Seite und alles zwischen ihnen okay. Wär doch mal interessant, zu erfahren, wie Ivan mit Toris umgegangen ist. Da wir Leser aber nicht mehr wissen als Gilbert selbst, erfahren wir nur, dass Ivan Toris Gilbert besuchen lässt und Toris auch mitentscheiden lässt, was mit Gilbert passiert.
Ich hab ja den Eindruck, dass Ivan sich sehr von dem, was er getan hat, distanziert. (Siehe das “Hast du vergessen was er getan hat?” am Schluss und überhaupt die Tatsache, dass er Toris dazu drängt, Gilbert zu schlagen.) Er hat Mitschuld! Er ist zwar manipulierbar, aber das entschuldigt doch nicht alles. Macht Ivan sich selbst jetzt gar keine Vorwürfe mehr?

Seit dem Satz "Ich bemerke, dass ich nicht mehr schreie.", finde ich übrigens, dass es deinem Schreibstil steht, über so was zu schreiben. Du sagst echt kein Wort zu viel, das find ich gut. Und schön, dass du uns die Details ersparst, übermäßige Darstellung von Gewalt kommt bei mir immer so an, als würde der Autor es genießen, darüber zu schreiben. Aber du konzentrierst dich ja sowieso viel eher auf Gilberts Gedankenwelt, da wäre also eine Darstellung von Gewalt sowieso ziemlich unnötig. Überhaupt beschreibst du alles sehr treffend und brauchst nicht viele Worte. Und in desem Kapitel bist du sogar undurchschaubar, Glückwunsch! Ich hab diesmal gar keine Ahnung, wie es weiter geht. |D


Was sagt Toris überhaupt? Wie kann er sich so sicher sein, dass Gilbert sterben wird? Ivan stimmt nicht zu und widerspricht ihm auch nicht, d.h. man kann nicht wissen, ob er auch denkt, dass Gilbert sterben wird.
Wie viel ist da hinter den Worten? Plant Toris, Gilbert umzubringen? Weiß er, dass Gilbert in der schlechten Verfassung, in der er ist, nicht mehr überleben kann, selbst wenn Ivan ihn in Ruhe lässt? Will er Gilbert nur Angst machen, ist das dann also doch Rache? Oder will er Gilbert helfen, indem er Ivan dazu bringt, ihn in Ruhe zu lassen?
Das vorher mit den Tabletten kam mir ja schon komisch vor, drei genügen, um einen erwachsenen Menschen umzubringen. Wenn man das jetzt in Zusammenhang mit dem setzt, sieht das ziemlich nach Mordplänen aus. Huh.
Ich vermute trotzdem, dass er Gilbert Angst machen oder ihm helfen will. Vielleicht auch beides.
Dass Toris den Eindruck macht, Ivan nichts übel zu nehmen ist ja doch irgendwie seltsam. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er sich an Ivan rächen und Gilbert da einspannen will.
Ach, das hast du diesmal echt kompliziert hingekriegt. Tss.


Liebe Grüße,

Riu
Von:  Sternenschwester
2012-06-06T20:57:01+00:00 06.06.2012 22:57
Salute,
hat ein wenig gedauert bis ich die drei Kapi, komplett durchgelesen habe, sorry.
Der Grund warum ich sehr lange gebraucht habe war, das ich beim Durchfliegen vom ersten Kapitel nicht sehr überzeugt war. Nun gut, das zweite Kapitel war schon besser und das dritte hat mich überzeugt die Fanfic weiter im Auge zu behalten.
nun auch wenn du das Thema schon öfters behandelt hast, ist diese Fanfic auf seine Art wieder anders. Jede Fanfic die du über Ivans kleine "glückliche Familie" (wenn ich mir die Freiheit nehmen darf es so auszudrücken)geschrieben hast, hatte ihren eignen Schwerpunkt auf die verschiedensten Charaktere und vor allem ihre eigen Stimmung. Mit anderen Worten, du schaffst es immer wieder über das gleiche Thema, aus den verschiedensten Perspektiven zu schreiben, ohne dieses abgenützt wirkt. Außerdem finde ich dass du dich in dieser Fanfic besser in die Perspektive von Gilbert hineinversetzt als bei „So schnell“ (eine Fanfic die mir auch sehr gut gefallen hat).
Lg, Sternenschwester

Von:  Miss_Anthrop
2012-06-06T20:34:06+00:00 06.06.2012 22:34
Wow. Ich bin beeindruckt, wie überzeugend du Gilbert darstellen kannst. Er ist kein bisschen OOC, auch, wenn er im zweiten Kapitel verdammt skrupellos gehandelt hat. Das war nachvollziehbar, aber verflucht dumm von ihm. Er hat den Moment verpasst, Ivan alles zu erklären.

Ich frag mich dabei nur, ob ihm in dem Moment klar war, was er da anrichtet, denn eigentlich hatte er ja nur den Plan, Ivan zu sich herunter zu locken. Er hätte ja alles aufdecken können, hat es aber nur schlimmer gemacht. Warum? War er von Rachegefühlen gegen Toris so geblendet?
Aber das dürfte er eigentlich nicht sein. Gilbert hatte massig Zeit, sich nen guten Plan zu überlegen. Er hätte wissen müssen, was für Konsequenzen das mit sich zieht. Es kann doch wohl nicht sein ursprünglicher Plan gewesen sein, Toris, Ivan und allen anderen Beteiligten (inklusive sich selbst) so was anzutun. Er hat sich damit so viel verbaut!
Erstens wissen die jetzt, wie skruppellos er ist. Das macht ihn etwas berechenbarer, zumindest wird man ihn nicht unterschätzen.
Zweitens hat er Toris, Raivis und Eduard jetzt gegen sich. Vor allem der naive Raivis wird sich von Gilbert nicht mehr so manipulieren lassen.
Drittens beschert er Ivan ziemlich viele negative Gefühle: Ivan fühlt sich zunächst von Toris verraten, er wird recht lange enttäuscht und bestimmt sehr traurig drüber sein. Sobald er aber erfährt, dass das alles nur ne Lüge von Gilbert war, wird er erst mal gewaltige Schuldgefühle haben. Und ziemlich wütend sein. Das wird er dann vermutlich an dem sowieso schon von der langen Hungerzeit geschwächten Gilbert auslassen. In welcher Form auch immer. (Ich frag mich ja ernsthaft, ob Ivan nach der Sache noch Bock auf Gewalt hat. Kommt wohl drauf an, ob die Wut oder die Niedergeschlagenheit überwiegt.)

ALLERDINGS, wenn man es unbedingt so sehen will, könnte man das trotzdem als Erfolg Gilberts ansehen:
Wenn Ivan Sympathie dadurch ausdrückt, dass er auf anderen herumhackt, muss Gilbert ihm ziemich egal sein. Schließlich hat er zwar Toris bestraft, Gilbert aber völlig in Ruhe gelasssen - warum eigentlich?
Naja, jedenfalls wird Ivan ihn durch die Aktion hassen. Gilbert stürzt Ivan ja dadurch in ein Gefühlschaos, sodass der wohl Sachen tun wird, die er ursprünglich nicht vorhatte. D.h. Gilbert manipuliert ihn, er hat einen Schwachpunkt gefunden und ausgenutzt.
Und er hat ein Exempel statuiert, er lässt sich nicht ignorieren.

Ich mag es übrigens, dass Gilbert doch nicht das Arschloch ist, das er wohl gerne wäre. Er sieht seine Schuld ja ein, nimmt Raivis die Schuldgefühle wenigstens etwas und übernimmt - hoffentlich - dann die Veratwortung. Und es tut ihm offensichtlich doch Leid, dass Toris so Übles erleiden musste. Er zeigt Reue und Angst vor Ivans Rache. Das mag ich, das macht ihn menschlicher.

Wenn Ivan tatsächlich zu ihm kommt, kann er ja eigentlich gar nicht anders, als das aufzuklären. Er kann seine Lüge kaum mehr aufrecht erhalten, es wäre zu seltsam, wenn er Ivan holen lässt und dann so tut, als wolle er nichts. Und es schien auch so, als hätte er das vor. Hm.
Trotzdem, Gilbert hat Angst. Und er ist rebellisch - es wäre irgendwo schade, wenn er das verliert. Er wird doch nicht einfach so den Kopf hinhalten, oder? Jetzt echt, das wär seltsam. o__O

Sag mal... kann es sein, dass das nächste Kapitel den Namen "Ganz weit unten" trägt?! Ich befürchte es nämlich. D:

Ich bin echt gespannt, was Gilbert tun wird. Und deine Geschichte ist total interessant! Es irritiert mich nur, dass du die Ludwig-Halluzination so eingebaut hast. Wird ja vermutlich einen guten Grund haben, aber der erschließt sich mir nicht. oO
Auch, dass er dazu fähig ist, zu begreifen, dass Ludwig ne Halluzination ist! Das ist komisch, man! Diese ganze Sache mit Ludwig ist seltsam. Gilbert will doch, dass Ludwig selbst Verantwortung dafür übernimmt, was er getan hat und dass er es irgendwie wieder gut macht, zum Beispiel indem er ihn da raus holt. Aber das ist ja genau das, was er selbst wegen Toris tun sollte: Es wieder gut machen, indem er dafür gradesteht.
Wie auch immer, die Dialoge mit Ludwig liefern ja einen guten Einblick in seine Pläne und seine Gefühlslage. Und Dialoge sind eigentlich fast immer interessanter zu lesen als lange innere Monologe. Ganz allgemein schreibst du hier ja so gut nur Dialoge. Ich finde diese Gespräche mit Lutz nur... rätselhaft. Da steckt noch mehr dahinter, oder?
Hoffentlich find ich das noch raus. xD

Du postest doch wöchentlich, gell? Na dann, bis zum nächsten Kapitel! ;)


Gruß,

Riu


Zurück