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Der Rebell

von

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Ganz unten

Ivan starrt mich an.

„Es stimmt, Braginsky“, sage ich und versuche, meine Nervosität zu bekämpfen. „Ich habe... mir da wohl eine kleine Notlüge erlaubt. Lorinaitis ist unschuldig.“

„Sag, dass das nicht wahr ist.“

„Warum? Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn du erfährst, dass...“

„Es ist nicht wahr!“, brüllt er mich an. „Es kann nicht wahr sein!“

„Wenn er dir gesagt hat, er wäre es gewesen, dann...“

„Das hat er nicht! Er hat immer beteuert, er wäre unschuldig! Ich habe... Egal, was ich getan habe, er war nicht davon abzubringen. Ich war so enttäuscht und so wütend, dass ich... Ich bin zu weit gegangen, mehr als einmal. Und er hat geschrien und gebrüllt und geweint... geweint wie ein kleines Kind, aber er hat nicht einmal gesagt, er wäre es gewesen. Nicht ein einziges Mal! Und ich... ich habe ihn nicht die ganze Zeit über bestraft für etwas, das er nicht getan hat! Ich habe ihm nicht so zugesetzt und ihm gesagt, er wäre ein Lügner, obwohl er die ganze Zeit über unschuldig war!“

„Er war unschuldig“, sage ich und stocke kurz. „Hey... es war ja nicht so gemeint, okay? Es war nur, damit du mich nicht ignorierst. Hättest du ja nicht tun müssen. Und er hätte ja nicht... Nichts für ungut, in Ordnung?“

„Nichts für ungut? Nach allem, was passiert ist, fällt dir nichts ein als Nichts für ungut?“

Er starrt mich an, und in seinen Blick legt sich etwas anderes als Verwirrung und Unglaube und Schuld. Etwas, das mir vielleicht Angst machen würde, wenn ich nicht so ein toller Hecht wäre. Ohne Zusammenhang durchzuckt mich der Gedanke, dass ich ihn noch immer fragen muss, wann er vorhat, mich hier heraus zu lassen. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, jetzt sei nicht der richtige Moment, um diese Frage zu stellen.

„Das wirst du bereuen, Gilbert“, murmelt Ivan mit bebender Stimme. „Es wird dir noch Leid tun.“

Damit dreht er sich um und lässt die Tür schwer hinter sich ins Schloss fallen.
 

„Weißt du, worüber ich nachdenke?“, frage ich. „Wieso Ivan mir überhaupt jemals geglaubt hat.“

Ludwig zieht die Augenbrauen hoch.

„Ich meine, er hat Toris vertraut, während er von mir nur das Schlechteste erwartet hat. Das hat er selbst gesagt, erinnerst du dich? Und trotzdem hat er mir eher geglaubt als Toris, der ihm einen ganzen Monat lang versichert hat, er wäre unschuldig – und der sogar die Wahrheit gesagt hat?“

„Anscheinend hat er das.“

„Ich glaube“, sage ich langsam, „Ivan hätte ihm gern vertraut, aber er konnte es nicht. Im Grunde konnte er nicht glauben, dass er jemanden gefunden haben sollte, dem er vertrauen kann. Er wollte Toris lieben, aber er hat immer gezweifelt... unterbewusst immer nach den Anzeichen dafür gesucht, dass Toris ihn hintergeht. Als ich ihm die Anzeichen gegeben habe, hat er nicht einmal mehr nachgefragt. In gewisser Weise wollte er, dass es früher oder später genau so ausgeht.“

Er sieht mich stumm an.

„Das klingt wahrscheinlich kitschig, wenn ich das sage“, knurre ich.

„Es klingt logisch.“

Ich schüttle missmutig den Kopf.

„Was willst du jetzt tun?“, fragt Ludwig leise.

„Warten“, antworte ich knapp. „Was soll ich sonst tun?“
 

Ich hasse den Moment, wenn man den Riegel hört, aber noch nicht weiß, wer kommen wird. Dabei gibt es diesmal keine große Auswahl, wer das sein kann.

„Scheiße, Westen. Scheiße.“

Aber Ludwig antwortet nicht. Sobald jemand kommt, verzieht er sich. Immer dasselbe mit ihm, denke ich und wünschte, ich könnte wütend auf ihn sein. Stattdessen bemerke ich, dass meine Hände zittern. Verdammte Scheiße.

Die Tür öffnet sich langsam. Auf Ivans Gesicht liegt keine Regung. Er schaut herein, macht einen Schritt in meine Richtung und bleibt stehen.

„Willst du mir irgendetwas sagen?“, fragt er kühl.

„Ich wüsste nicht, was“, antworte ich etwas patzig und wünschte, ich könnte sagen, es wäre Mut gewesen. Aber wahrscheinlich war es eher Angst vor der Stille.

Ivan nickt einige Male, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Das hatte ich mir gedacht.“
 

„Fünfzehn“, flüstere ich.

„Was?“

„Fünfzehn habe ich ausgehalten, ohne zu schreien.“

Ludwig überlegt kurz. „Mehr nicht?“

Ich will lachen, aber ich bin so heiser und mir ist so wenig zum Lachen. „Ich bin weich geworden, nicht wahr? Schwach und verweichlicht.“

Er antwortet nicht.

„Beim nächsten Mal schaffe ich zwanzig“, murmele ich. „Habe ich mir fest vorgenommen.“

„Beim nächsten Mal?“

„Stell dich nicht dumm, West. Du weißt genau, dass es ein nächstes Mal geben wird.“

Er sagt nichts.

„Warum kannst du beim nächsten Mal nicht da bleiben, Westen? Für dich würde ich sogar dreißig schaffen.“

Keine Antwort.

„Nun sei kein Spielverderber. Bleib bei mir. Ich... kann dich gerade gut gebrauchen.“

Noch immer gibt er keine Antwort.
 

Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sich irgendetwas an meine Lippen legt. Jemand hebt meinen Kopf an, der vor Schmerzen pocht. Wer auch immer es ist, soll mich in Ruhe lassen. Wenn ich einfach nur da liege, ist es auszuhalten. Einfach nur da liegen.

„Trink“, sagt eine leise Stimme.

Ich will nicht, ich will in Ruhe gelassen werden, aber der andere lässt nicht locker. Mühsam öffne ich die angeschwollenen Lippen und spüre, wie etwas Kaltes meine Zähne berührt. Kalt läuft es in meinen Mund und weiter den Rachen hinunter. Wasser, denke ich und versuche, zu schlucken, aber ich kann nicht. Meine Unterlippe pocht heiß unter dem Druck des Glases. Das Wasser läuft und läuft für eine Weile, und irgendwann schaffe ich es tatsächlich, zu schlucken. Ohne darüber nachzudenken. Es passiert einfach.

Das Glas wird weggezogen und mein Hinterkopf berührt wieder den Boden. Ich versuche, die Augen zu öffnen, aber es ist schwer und tut weh. Als ich es endlich schaffe, sehe ich nichts außer Dunkelheit. Erst nach einer Weile schält sich langsam ein Gesicht heraus.

Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht. Meine Zunge ist zu schwer. Toris sieht mich an, mit einem Blick, den ich nicht einordnen kann. Warum ist er hier? Warum ausgerechnet er?

„Gilbert“, sagt er, als er sieht, dass ich ihn erkannt habe. „Du siehst gar nicht gut aus.“

Ich will lachen und sagen, dass ich okay bin, aber es geht nicht. Ich kann nicht einmal das Gesicht verziehen. Toris ist blass und unheimlich mager, sein linkes Auge ist rot-bläulich zugeschwollen. Er mustert mich, als wisse er selbst nicht genau, was er von meinem Anblick halten soll.

„Um die Frage zu beantworten, warum ich hier bin“, sagt er langsam, „ich denke, ich wollte sehen, wie es dir geht. Ob Ivan dich tatsächlich so zugerichtet hat wie mich.“ Er lacht leise, aber es klingt nicht fröhlich. „Nur woher soll ich jetzt wissen, ob du so schlimm aussiehst wie ich damals? Ich hatte ja keinen Spiegel.“

Vorsichtig streckt er eine Hand nach meiner Seite aus. Ich zucke zusammen, was unglaublich schmerzhaft ist. Er muss eine Stinkwut auf mich haben, alles andere wäre doch verrückt. Er soll mich nicht anfassen, aber mich bewegen und ausweichen kann ich auch nicht, das würde nur noch mehr wehtun.

„Keine Angst, halt bitte still. Ich bin vorsichtig.“

Er legt die Finger auf meinen Brustkorb und tastet sehr behutsam nach den Rippen. Ich muss mich bemühen, um nicht zu schreien.

„Beeindruckend.“ Toris' Blick flackert zu meinem Gesicht. „Wirklich beeindruckend.“

Er nimmt die Hände zurück und ich atme auf, kräftiger, als mir gut tut.

„Ich bin nicht hier, um dir wehzutun, Gilbert – vielleicht beruhigt dich das ja. Ich bin nicht wegen Rache hier.“

„Warum dann?“, will ich fragen, aber es kommt nicht deutlich heraus, nur ein Einatmen und eine Art „harum“, mehr ist nicht drin. Toris legt den Kopf schief, scheint aber verstanden zu haben.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich denke...“

Er schweigt einen Moment lang und betrachtet die Dunkelheit hinter meinem Kopf. Ich traue dem Braten nicht, wie könnte ich denn? Irgendetwas geht hier vor.

„Ich habe dich so gehasst, Gilbert, kannst du dir das vorstellen? Vierunddreißig Tage, so lange war ich hier unten, nur einen Raum weiter. Ich bin heute hergekommen, weil ich dich sehen wollte. Es hat mir nicht gut getan, oben im Bett zu liegen und... zu hassen.“

Ich sehe ihn an. Er lächelt schwach.

„Ich wusste, wenn ich dich sehen würde, würde ich die Genugtuung haben, die ich brauchte. Und ich wusste... wenn ich dich sehen würde, würde ich Mitgefühl haben. Was soll ich sagen – es hat funktioniert. Ich weiß, wie ich mich selbst austricksen muss.“

Erneut versuche ich, zu schlucken. Vielleicht ein Traum, denke ich, vielleicht träume ich das hier nur. Wenn nicht, weiß ich jedenfalls nicht, was ich noch glauben soll.

„Hast du Durst?“

Nicken kann ich nicht, aber vielleicht sieht er an meinem Blick, dass die Antwort ja lautet. Wie lange liege ich schon hier unten? Wie lange, seitdem ich Ivan erzählt habe, was passiert ist? Ich würde Toris fragen, aber ich kann nicht. Sprechen ist zu mühsam.

„Vielleicht sollte ich dir auch dankbar sein“, fährt Toris fort, während er meinen Kopf festhält und mir behutsam das Wasser einflößt. „Du hast mich in riesige Schwierigkeiten gebracht, aber letztendlich hast du auch viel auf dich genommen, um mich zu retten. Eduard meinte, er hätte mit dir darüber geredet. Er meinte, es hätte dir anscheinend Leid getan. Hat es das wirklich? Findest du im Nachhinein, das war es wert?“

Ich denke darüber nach, während mein Kopf weiter pocht und ich zu schlucken versuche, es aber nicht schaffe. Jeder Muskel tut weh, wenn ich ihn bewege. War es das hier wert?

„Ich weiß noch, wie Ivan herein kam.“ Toris lacht leise. „Ich hatte riesige Angst, du kannst es dir vielleicht vorstellen. Ganz sicher kannst du das, oder? Eduard war gerade dabei, mir irgendeinen Verband zu wechseln. Ivan hat ihn ziemlich schroff gefragt, ob er Schmerztabletten in seiner Tasche hätte. Ich weiß noch, wie Eduard genickt hat, obwohl er selbst nicht wusste, worauf Ivan hinauswollte. Er hat es herausgeholt, ein kleines Fläschchen mit Tabletten, und Ivan hat es in die Hand genommen.“

Das Glas ist schon fast leer, aber Toris scheint es nicht zu bemerken.

„Er hat mich lange angesehen, sich wieder an Eduard gewandt, auf die Tabletten gedeutet und gesagt: Gib sie ihm alle. Und Eduard hat fassungslos geantwortet, Aber drei davon genügen, um einen erwachsenen Menschen umzubringen.“

Er lacht leise. Der letzte Tropfen rollt über meine Zunge.

„Also hat er mir anderthalb Tabletten gegeben. Sie haben nicht gleich angeschlagen. Und Ivan hat sich auf die Bettkante gesetzt und mir zugesehen... zugesehen, bis ich eingeschlafen bin. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Du musst wissen, wie es ist, wenn jeder Atemzug schmerzt, jede kleine Bewegung... und auf einmal war alles weg. Es hat sich angefühlt, wie zu fliegen, irgendwo im Blauen umher zu schweben. Kurz darauf war ich weg.“

Er zieht das leere Glas zurück und mustert eine Weile lang mein Gesicht, mit einer Hand noch immer meinen Kopf stützend.

„Es geht vorbei. Ich weiß nicht, wie lange Ivan dich hier unten lassen wird, aber irgendwann geht es vorbei. Vertrau mir. Ich muss es wissen.“

Ich will ihn fragen, warum er wirklich hier ist, denn seine seltsame Begründung kann ja wohl nicht alles sein. Aber ich schaffe es nicht, ein einziges Wort zu sagen. Es geht nicht.

„Ich komme wieder“, murmelt Toris und lächelt. „Verlass dich auf mich.“
 

„Westen?“, flüstere ich.

Um mich herum ist nichts als Dunkelheit. Meine Augen tränen heftig, wenn ich sie öffne, aber ich versuche trotzdem, etwas zu sehen. Irgendetwas.

„Wo bist du, Lutz? Ich kann dich nicht sehen. Nimmst du meine Hand?“

Nichts rührt sich im Dunkeln.

„Nicht, dass ich schon völlig verweichlicht wäre, aber... nimmst du meine Hand? Oder sag wenigstens etwas. Sag mir, dass ich kein Baby bin und mich nicht so anstellen soll. Komm schon.“

Ich warte darauf, seine Stimme zu hören, aber nichts passiert.

„Westen. Das kannst du nicht machen. Du kannst mich nicht allein lassen, West, doch nicht jetzt. West? Lutz? Wo steckst du? Du kannst mich nicht allein lassen. Du kannst nicht einfach so gehen!“

Um mich herum ist Kälte und Dunkelheit, und ich bin völlig allein.
 

„Warte hier.“

Ich bemerke, dass ich nicht mehr schreie. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Stille. Meine Finger versuchen, sich an dem glatten Steinboden festzuklammern, alle Nägel sind längst eingerissen. Stille bis auf mein keuchendes Atmen. Nach Luft schnappen, um sich am Leben zu halten. Ich frage mich nur, wie lange noch.

Hinter mir fällt die Tür zu, aber Ivan schließt nicht ab. Er wird unvorsichtig, denke ich. Was, wenn ich jetzt weglaufen würde, einfach so? Ich versuche, mich auf die Ellbogen aufzustützen. Die unbedachte Bewegung treibt mir Tränen in die Augen und Galle in den Mund. Ich beiße mir auf die Unterlippe und lasse mich dumpf wieder zu Boden sinken. Mein rechter Arm zittert leicht, dann liegt er nur noch kraftlos da. Ich kann mich nicht rühren.

„Westen“, will ich sagen, aber ich kann nicht. Er ist doch ohnehin nicht da. Er hat mich im Stich gelassen.

„Tu es, Toris.“

Habe ich das Bewusstsein verloren? Es ist dunkel, aber nur, weil ich die Augen nicht öffnen kann. Sie sind geschlossen und brennen unter den Lidern.

„Ich kann das nicht“, erklingt Toris' Stimme hinter mir.

„Tu es“, wiederholt die von Ivan. „Ich will, dass du es tust. Dass du ihm selbst heimzahlst, was du durch seine Schuld erdulden musstest. Schlag einfach zu, Toris.“

„Ivan“, sagt Toris leise. „Sehen Sie ihn sich doch an. Er ist schon so gut wie tot.“

Verdammt, ich brauche dein Mitleid nicht. Ich habe dich in die Pfanne gehauen, also nimm Rache und geh wieder. So regelt man das unter Männern, und wir sind beide welche, nicht wahr? Ich kann es verkraften. Noch ein Hieb hin oder her, was macht es für einen Unterschied?

„Es wird ihn schon nicht umbringen“, sagt Ivan schroff.

„Sind Sie sich sicher? Sehen Sie ihn sich an. Er hat unglaublich abgenommen. Seine Verfassung wird immer schlechter... schlechter, als sie es dürfte. Er hat kein Land mehr, das ihm die Kraft gibt, am Leben zu bleiben. Wenn Sie nicht aufpassen, könnte es sein, dass Sie ihn umbringen.“

„Wie meinst du das? Er kann nicht sterben. Er ist unsterblich!“

„Solange es sein Land gibt, ja. Aber gibt es das etwa? Haben Sie in letzter Zeit mal auf eine Landkarte gesehen?“

Toris soll sein dreckiges Maul halten. Auf der Stelle.

„Aber...“

„Es wäre das Beste, ihn nach oben zu bringen und ihm die letzte Zeit, die er noch hat, ein wenig angenehmer zu machen.“

„Angenehmer? Hast du vergessen, was er dir angetan hat?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber glauben Sie, irgendetwas könnte ihn mehr strafen als das Wissen, dass er sterben wird?“

Ich werde nicht sterben, denke ich. Ich doch nicht. Was redet Toris da überhaupt?

„Das wird das Beste sein, Ivan. Er hat nicht mehr viel Zeit.“

Ist das deine Rache, Lorinaitis?, will ich schreien. Ist das deine verdammte Rache? Aber ich bringe keinen Ton heraus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Miss_Anthrop
2012-06-12T14:54:10+00:00 12.06.2012 16:54
Ich hab das Kapitel zwar noch am Montag (wie war das mit wöchentlich?) gelesen, allerdings war ich zu müde, um Worte noch logisch aneinander zu reihen. Na egal. Viel Spaß beim antworten. :P

Also Gilberts Erklärung dafür, warum Ivan ihm geglaubt hat, find ich auch logisch. Gilbert sagt, dass Ivan „in gewisser Weise wollte, dass es früher oder später genau so ausgeht“. Das ist ein interessanter Ansatz. Ivan wollte sich also vielleicht selbst austricksen: Indem er Schuld auf sich geladen hat, wurde er dafür bestraft, nicht vertrauen zu können. Vielleicht kann er es ja jetzt. Vielleicht hat er das getan, um zu lernen zu vertrauen. Na, vielleicht eher andersrum: Zu verlernen, nicht zu vertrauen.

Und warum ist Lutz plötzlich nicht mehr da? Er verschwindet, nachdem Gilbert sich eingesteht, dass er "schwach und verweichlicht" ist und ihn eben doch braucht. Als er sich Hilfe herbei wünscht und niemand da ist. Vielleicht ist die Realität für Gilbert zu hart geworden, um sich noch Illusionen zu machen. Der Teil, der ignorieren konnte, dass Lutz in Wirklichkeit nicht da ist, kann das jetzt wohl nicht mehr, weil die Realität einfach zu präsent ist, um sich noch selbst zu betrügen. Ich nehme an, er kann sich einfach nicht mehr in Illusionen stürzen oder noch an sie glauben. Falls dahinter noch mehr steckt, komm ich nicht drauf. Lutz kommt ja vermutlich nicht noch mal vor, oder?

Als Toris zu ihm kommt, ist Gilbert misstrauisch. Aus seiner Sicht ist das natürlich verständlich, aber ich gaube nicht, dass Toris irgendwelche bösen Absichten hat. Seine Erklärung leuchtet mir vollkommen ein und ich schätze ihn nicht als so hinterlistig und rachewütig ein. Das einzige, was mir irgendwie komisch vorkommt, ist, wie Toris von dem Raum spricht, in dem er war und dass er sich fragt, warum Ivan Gilbert nicht dort hin gebracht hat. Da drauf kann ich mir keinen Reim machen, was soll denn in dem Raum sein, dass Ivan das hätte tun sollen? Klar, das war der Raum, in dem Toris gelitten hat und damit Gilbert sieht, was er Toris angetan hat, könnte man das natürlich machen. Aber einen wirklichen Sinn dahinter sehe ich nicht. Ich beschließe einfach mal, da nicht viel hineinzuinterpretieren, auch wenn es mir komisch vorkommt.

Hm, aber dass Gilbert und Toris in ähnlicher Lage waren, bringt doch sicher irgendwo ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie sind Leidensgenossen, das wäre also ein Grund, warum ich nicht denke, dass Toris sich rächen will. Toris bekommt außerdem ja auch Mitleid und sieht die guten Absichten Gilberts.
Deswegen irritiert es mich auch so, dass Toris es Ivan gar nicht übel zu nehmen scheint. Die machen eher den Eindruck, als hätten sie das unter sich geklärt oder so. Als wären sie plötzlich auf einer Seite und alles zwischen ihnen okay. Wär doch mal interessant, zu erfahren, wie Ivan mit Toris umgegangen ist. Da wir Leser aber nicht mehr wissen als Gilbert selbst, erfahren wir nur, dass Ivan Toris Gilbert besuchen lässt und Toris auch mitentscheiden lässt, was mit Gilbert passiert.
Ich hab ja den Eindruck, dass Ivan sich sehr von dem, was er getan hat, distanziert. (Siehe das “Hast du vergessen was er getan hat?” am Schluss und überhaupt die Tatsache, dass er Toris dazu drängt, Gilbert zu schlagen.) Er hat Mitschuld! Er ist zwar manipulierbar, aber das entschuldigt doch nicht alles. Macht Ivan sich selbst jetzt gar keine Vorwürfe mehr?

Seit dem Satz "Ich bemerke, dass ich nicht mehr schreie.", finde ich übrigens, dass es deinem Schreibstil steht, über so was zu schreiben. Du sagst echt kein Wort zu viel, das find ich gut. Und schön, dass du uns die Details ersparst, übermäßige Darstellung von Gewalt kommt bei mir immer so an, als würde der Autor es genießen, darüber zu schreiben. Aber du konzentrierst dich ja sowieso viel eher auf Gilberts Gedankenwelt, da wäre also eine Darstellung von Gewalt sowieso ziemlich unnötig. Überhaupt beschreibst du alles sehr treffend und brauchst nicht viele Worte. Und in desem Kapitel bist du sogar undurchschaubar, Glückwunsch! Ich hab diesmal gar keine Ahnung, wie es weiter geht. |D


Was sagt Toris überhaupt? Wie kann er sich so sicher sein, dass Gilbert sterben wird? Ivan stimmt nicht zu und widerspricht ihm auch nicht, d.h. man kann nicht wissen, ob er auch denkt, dass Gilbert sterben wird.
Wie viel ist da hinter den Worten? Plant Toris, Gilbert umzubringen? Weiß er, dass Gilbert in der schlechten Verfassung, in der er ist, nicht mehr überleben kann, selbst wenn Ivan ihn in Ruhe lässt? Will er Gilbert nur Angst machen, ist das dann also doch Rache? Oder will er Gilbert helfen, indem er Ivan dazu bringt, ihn in Ruhe zu lassen?
Das vorher mit den Tabletten kam mir ja schon komisch vor, drei genügen, um einen erwachsenen Menschen umzubringen. Wenn man das jetzt in Zusammenhang mit dem setzt, sieht das ziemlich nach Mordplänen aus. Huh.
Ich vermute trotzdem, dass er Gilbert Angst machen oder ihm helfen will. Vielleicht auch beides.
Dass Toris den Eindruck macht, Ivan nichts übel zu nehmen ist ja doch irgendwie seltsam. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er sich an Ivan rächen und Gilbert da einspannen will.
Ach, das hast du diesmal echt kompliziert hingekriegt. Tss.


Liebe Grüße,

Riu


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