Zum Inhalt der Seite

Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Plastik

»Lange genug haben Sie gewartet, meine Damen und Herren, doch hier sind sie – die Ergebnisse des Publikumsvotings! Welcher Distrikt wird Ihrer Ansicht nach die meisten Punkte in der Trainingsbewertung einfahren?

 

Oh Claudius, mach es nicht so spannend, ich sterbe vor Neugierde! Ich tippe ja auf Distrikt Eins – habe ich recht?

 

Caesar, dir kann man wirklich nichts vormachen! In der Tat, Distrikt Eins hat mit 67% aller Stimmen das Voting gewonnen! Dicht gefolgt von ... also das ist eine Überraschung!

 

Was? Etwa einer unserer geschätzten äußeren Distrikte?

 

Tatsächlich liegt Distrikt Sieben auf Platz zwei, dicht gefolgt von Distrikt Fünf. Das hätte ich nicht erwartet, Caesar. Sieht ganz so aus, als hätten die Familieninterviews Sie wirklich bewegt, werte Zuschauer.

 

Nun, das kann ich Ihnen nicht verübeln, Claudius. Ein Interview ganz ohne Familie, nur mit der eigenen Mentorin, wie bei unserer lieben Victoria aus Distrikt Sieben, das ist ein Höhepunkt. Immerhin wissen wir so, dass ihr Feuer dem von Johanna Mason in nichts nachsteht!

 

Dass dieses ungewöhnliche Ranking den ebenso ungewöhnlichen Umständen zu verdanken ist, denke ich auch, Caesar. Denn auf Platz vier folgt – wie passend – Distrikt Vier. Sieht aus, als wenn unsere werten Zuschauer ganz vergessen haben, dass einer der beiden Tribute erst zwölf Jahre alt ist. Aber bei so einem eisernen Willen wie Pons kann man das schon mal vergessen, nicht wahr?

 

Oh absolut, er beweist den Kampfgeist eines Finnick Odairs. Ich bin wirklich aufgeregt, zu sehen, ob Sie, meine verehrten Damen und Herren da draußen, recht behalten werden! Und bereits jetzt können Sie für das nächste Voting abstimmen – welcher Distrikt wird uns bei den Interviews morgen mit dem aufregendsten Outfit überraschen?

 

Ich habe da so ein Gefühl, dass Distrikt Vier hier die Nase vorne haben könnte. Roan Vainworth ist ein begnadeter Stylist, das haben die letzten Jahre gezeigt.

 

Aber bevor wir erfahren, wie es damit ausgeht, haben wir eine weitere Ausgabe des Tributmagazins für Sie, in dem wir uns ausführlich den frischesten, heißesten Gerüchten rund um Distrikt Neuns jüngsten Freiwilligen widmen! Bleiben Sie dran, meine Damen und Herren!«

 
 

*

 

Lautes Waffenklirren ist das einzige Geräusch, das aus der Halle unten zu mir ins Kletternetz an der Decke herauf dringt. Seit dem Morgen wird hier stumm trainiert – das letzte Mal.

Wieder gehen alle eigene Wege, sind angespannt. Womöglich mehr als beim ersten finalen Trainingstag. Jetzt zählt es, jeder hofft, sich noch verbessert zu haben. Selbst die Karrieros sind allesamt mit sich beschäftigt. Als ich heute Morgen ohne einen Ton an ihnen vorbeimarschiert bin, kamen keine gehässigen Sprüche, haben mich keine stechenden Blicke verfolgt.

Sogar Floyd ist wieder dabei – und tut so, als wäre nie etwas vorgefallen. Er ignoriert alle anderen, inklusive Maylin. Außer Shine traut sich sowieso niemand in seine Nähe. Nicht einmal Slay, den ich doch so selbstbewusst kennengelernt habe. Aus sicherer Entfernung werden Floyd immer wieder Blicke zuteil; wird angespannt beobachtet, wie er mit einem der Trainer Schwertkampf übt. Er gibt sich friedlich, so weit man das eben in einem simulierten Kampf kann.

Nur ich bin des Trainings müde. Rund vier Meter über dem Boden liege ich mit dem Gesicht nach unten im Kletternetz und beobachte das Treiben. Immerhin weiß ich jetzt, dass es keine gute Idee war, meine Kletterkenntnisse auf den letzten Metern vertiefen zu wollen. Denn die gibt es nicht.

Dafür habe ich nun besten Ausblick. Niemand – außer der Stationsaufsicht, die gerade damit beschäftigt ist, Privatnachrichten über ihr Datenpad zu verschicken – weiß, dass ich hier oben bin, und keiner sieht zur Decke. Alle fühlen sich unbeobachtet, doch nur ich bin es wirklich.

Das gibt mir Zeit, nachzudenken. Eine Woche ist es her, dass mein Name bei der Ernte gezogen wurde und ich nur Schweigen auf die Frage nach Freiwilligen vernommen habe. Eine Woche, die mir früher verdammt kurz vorgekommen wäre, und sich inzwischen wie ein halbes Leben anfühlt.

Mittlerweile habe ich mich zweimal von meiner Familie verabschiedet, einen Haufen Kampftechniken erlernt, mir die Karrieros erst zum Freund und schließlich Feind gemacht – und mir eingestanden, dass Finnick Odair nicht der selbstgerechte Mensch ist, für den ich ihn gehalten habe.

Finnick. Von allen Dingen, über die ich mich sorgen könnte – und müsste –, denke ich ausgerechnet wieder an ihn. Und mein Herz schlägt nicht vor Angst schneller, so viel ist sicher.

Nach allem, was mit David geschehen ist, schäme ich mich für dieses Gefühl. So danke ich ihm unsere gemeinsamen Erinnerungen? Das ist das Erste, woran ich denke, sobald wir voneinander getrennt sind? Ich verliebe mich –

Halt, nein. Ich bin nicht verliebt. Das ist ein Wort, das viel zu oft und leichtfertig verwendet wird. Von Mädchen wie Survy zum Beispiel, die ziemlich schnell einer Schwärmerei für gutaussehende Fischer nachhängt. Das ist alles nichts Richtiges; kein vernünftiges, greifbares Gefühl.

So fühlt sich das nicht an. Ich mag Finnick, rede gerne mit ihm, verstehe ihn und werde verstanden. Seine Nähe ist tröstlich – und nichts davon hat eine Zukunft. Ich werde sterben, Finnick weiter eine Lüge leben. Darüber nachzudenken, welchen Namen ich einem Gefühl geben könnte, das in wenigen Tagen gewaltsam beendet wird, ist sinnlos.

Genauso wie meine Versuche, heute Morgen etwas zu frühstücken. Erst habe ich verschlafen, dann die Trainingskleidung verkehrt herum angezogen und schließlich ein Brot mit der Marmeladenseite auf die Hose fallengelassen. Das alles unter den Blicken von Finnick, der wie jeden Tag unbekümmert seine Scherze mit Cece gerissen hat. Als wäre unser kleines abendliches Treffen überhaupt kein Grund, rot anzulaufen oder peinlich berührt die Augen abzuwenden.

Letztlich hat nur Amber mit mir geredet und meine Augenringe bewundert, ehe sie mich darauf hingewiesen hat, dass ich beim Training besser noch ein letztes Mal genau hinschaue, wer meine Gegner sind. Wenn schon nicht mir selber zuliebe, dann wenigstens für Pon. Etwas, das ich in dieser erhöhten Position zu beherzigen versuche, solange mir die Gedanken nicht davonschwimmen.

Direkt unter mir wirbelt die rothaarige Tributin aus Distrikt Sieben, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, gerade eine Axt herum. Mit einem Schlag köpft sie den ersten Dummy, bevor sie dem nächsten die Brust spaltet. Den Dritten erwischt sie mitten zwischen den Schulterblättern. Um sie werde ich in jedem Fall einen großen Bogen machen.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Jemand, dessen Gesicht bei dem Gedanken ans Töten so ausdruckslos bleibt wie ihres, oder Floyds süffisantes Lächeln, als er es ihr drüben an der Schwertkampfstation gleichtut und einen Dummy enthauptet.

Die übrigen Karrieros demonstrieren ihre vorgebliche Gelassenheit angesichts der nahenden Bewertungen indem sie in der Mitte der Halle stehen und ganz offen über die restlichen Tribute lästern. Immer wieder weht Shines gehässiges Lachen zu mir hinauf. Ich sehe genau, auf wen sie mit dem Finger deutet – das Mädchen aus Drei, das sich bemüht, die Zielscheibe mit Pfeil und Bogen zu treffen.

Aber nicht die Tributin mit dem aschgrauen Haar erregt meine Aufmerksamkeit, sondern die Zehnerin neben ihr. Mädchen wäre kein treffender Begriff, sie ist viel eher eine Frau, großgewachsen, mit sehnigem Körperbau und einem breiten Kreuz. Ich erinnere mich, sie kurz bei der Wagenparade beobachtet zu haben. Im Gegensatz zu der Kleinen aus Drei zittern ihre Arme kein bisschen, als sie den Bogen spannt. Ein Volltreffer. Zwei Volltreffer. Drei. Vier. Fünf.

Einen ganzen Köcher voller Pfeile versenkt die Tributin im Schwarz der Zielscheibe – was außer mir keiner bemerkt. Die Karrieros rund um Shine verfolgen lieber die aus Drei mit ihren hungrigen Blicken zur nächsten Station. Und ehe ich mich versehe, ist die Zehnerin weitergezogen, in aller Ruhe Knoten knüpfen.

Eine Weile folge ich Nora und ihren Mittribut Circe mit den Augen durch die Halle. Sie halten sich wie schon die Tage zuvor überwiegend an den Überlebensstationen auf – und einander an den Händen. Wehmut erfüllt mich bei diesem Anblick. Wenn meine Aufgabe erledigt ist, bedeutet das ihren Tod.

Der Gong zur Mittagspause kommt wie gerufen. Erleichtert klettere ich aus dem Netz herab, um die letzte Mahlzeit in der Trainingshalle einzunehmen. Das Essen fliegt nur so an mir vorbei – ich kann nicht einmal sagen, welches Gericht es gibt, obwohl ich lustlos mit der Gabel darin herumstochere.

In meinem Kopf herrscht nur ein Gedanke: Gleich trete ich vor die Spielmacher. Lange muss ich als Vertreterin von Distrikt Vier nicht auf das Unvermeidliche warten. Doch das bedeutet auch, dass mir keine Zeit mehr bleibt, eine Strategie zu überlegen.

Nachdem Pon aufgerufen wird, fehlt mir immer noch eine Idee für meine Präsentation. Ich werde improvisieren müssen. Eine Viertelstunde, das ist nicht viel. Hauptsache, die Zeit vergeht. Trotzdem dehnt Pons Präsentationszeit sich ins Unendliche, doppelt so lang wie alle Tribute davor zusammen, zumindest gefühlt.

Meine Nagelhaut ist blutig eingerissen, als die Lautsprecher endlich wieder knacken und ich aufgerufen werde.

»Annie Cresta, Distrikt Vier.«

Wie im Traum erhebe ich mich. In der Trainingshalle ist es so leise, dass man die Fische husten hören könnte. Obwohl sich der Raum nicht verändert hat, erscheint er mir auf einmal viel größer und kälter. Von ihrer Lounge aus schauen die Spielmacher herab, ein jeder mit einem Champagnerglas in der Hand. Offenbar befinden sie sich auf dem besten Weg zu einer angeheiterten Stimmung.

Mein Kopf rattert. Was kann ich? Speerwerfen. Das hab ich genug geübt!

Nur das Quietschen meiner Schuhe auf dem glatten Boden ist zu hören, als ich zu der Wurfstation trete und einen der feinsäuberlich aufgereihten Speere ergreife. Lächerlich wohlwollend nickt mir der oberste Spielleiter Savage zu.

Die Waffe in meiner Hand zittert. Lass dich nicht ablenken! Denk an deine Mentoren, was sie dir beigebracht haben! Du bist hier, du bist jetzt, du bist der Moment! Ambers Worte hallen durch meinen ganzen Körper und ich fühle Finnicks geisterhafte Hand, die sanft die Haltung meiner Finger am kalten Metall korrigiert.

Mit einem tiefen Atemzug trete ich hinter die Wurflinie. Hebe den Speer. Zwei Schritte zurück. Ausbalancieren. Anvisieren. Kurzer Anlauf. Arm ausstrecken. Loslassen!

Tock. Mein Speer steckt mitten in der Zielscheibe. Keine null Punkte, schießt es mir durch den Kopf. Angespornt von diesem Erfolg traue ich mich an die ersten bewegten Ziele und liefere auch dort eine respektable Performance ab. Den Karrieros nicht würdig, aber hoffentlich genug, um das Vertrauen der Zuschauer in Pon und mich zu bestärken.

Nur leider ist meine Zeit danach noch lange nicht vorbei und die Gläser der Spielmacher sind frisch von einem Avox befüllt. Erwartungsvolle Blicke liegen auf mir – würde ich jetzt gehen, gefiele ihnen das bestimmt nicht. Wenn ich an Stelle von Distrikt Zwölf stünde, dann wäre meine Show sicherlich längst egal, aber noch sind die Männer dort oben hungrig.

Die Sekunden verrinnen. Alles, was ich sonst kann, sind Ambers und Floogs Kampftechniken. Die ich nie zuvor gegen jemand anderen eingesetzt habe. Und selbst wenn, traue ich mich nicht, auf einen der Trainer zuzugehen und um einen Übungskampf zu bitten. Dafür fallen mir die Dummys ins Auge, die Floyd und Sieben heute Vormittag geköpft haben. Jetzt stehen natürlich ausschließlich heile Puppen zur Verfügung und warten nur darauf, zerstückelt zu werden.

Kurzerhand schnappe ich mir eines der Netze, die entlang der Bogenschießstation gespannt sind, und laufe damit sowie einem Speer zu den Trainingsdummys hinüber. Flugs arrangiere ich die gesichtslosen Plastikkörper in einem losen Kreis um mich. Als wäre ich in der Arena eingekesselt.

Ich gestatte mir einen Blick zu den Spielmachern. Sie begutachten das Werk mit einer Mischung aus Interesse und Amüsement. Ein Grinsen umspielt die Mundwinkel von Victorius Savage. Entschlossen wende ich mich ab und beziehe Position.

Das Netz in der Linken, den Speer in der Rechten trete ich zwischen die Dummys. Wie zuhause beim Fischen. Etwas anderes ist das hier nicht. Sieh nicht so genau hin. Ich brauche die Punkte, für die Sponsoren – für Pon!

In einer fließenden Bewegung schleudere ich das Netz über die erste Figur zu meiner Seite und hole sie von den Beinen. Mit Schwung aus der Hüfte reiße ich den erstaunlich schweren Korpus vor, geradewegs gegen die Schienbeine des Dummys ihm gegenüber. Krachend schlägt Plastik auf Plastik. Der Knall schickt Adrenalin durch meine Glieder. Ich wirble herum, der Kopf leer.

Dem nicht wirklich existenten Angreifer zur anderen Seite verpasse ich einen Hieb mit dem Speer, unter dem seine Verschalung splittert. Feiner, weißer Sand quillt aus dem Riss hervor, aber die Figur steht noch – bis ich zustoße.

Das eröffnet mir Raum, herumzuwirbeln und der Puppe in meinem Rücken einen Tritt vor die Brust zu versetzen, gefolgt von einem Kinnhaken. Wo ich auf das Plastik schlage, breitet sich ein Pochen aus, doch das ignoriere ich. Da ist etwas in mir, das mich weiter treibt, meine Handflächen schwitzen und den Atem rasen lässt. Den letzten stehenden Trainingsdummy erwischt der Speer direkt in seinem Herz.

»Die Zeit ist nun um. Bitte begeben Sie sich bis zur Punktvergabe zurück in Ihre Etage.«

Die Bandansage verklingt und zurück bleibt nur mein dröhnender Atem. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, erinnere ich, noch in der Trainingshalle zu stehen, nicht in der Arena. Erst jetzt begreife ich wieder meinen Körper; fühle, wie das Kribbeln schwindet. Keuchend ringe ich nach Luft und muss mich auf den Knien abstützen. Während des Kampfes habe ich gar nicht bemerkt, wie flach mein Atem geht. Erschrocken stelle ich fest, mir die Fingerknöchel nicht einfach nur geprellt zu haben – sie sind blutig aufgeschlagen.

In einem Kreis um mich liegen fünf niedergeschlagene Dummys. Mindestens einen von ihnen hätte ich sicher umgebracht. Ich, Annie Cresta!

Am ganzen Körper zitternd sehe ich hoch zu den Spielmachern. Dort sitzt Victorius Savage und erhebt sein Champagnerglas. Sein Gesicht ist eine Plastikgrimasse, fast so ausdruckslos wie die Dummys am Boden. Aber nur fast: Er zieht eine Augenbraue in die Höhe.

Irgendein Mann im Hintergrund fängt an zu klatschen, bis nach und nach der Rest einsteigt. Für meine Hände scheint das Signal genug zu sein. Ich lasse Netz und Speer fallen.

Ohne zurückzusehen, laufe ich auf den Ausgang zu. Mit jedem Schritt werde ich schneller. Gleich ist es geschafft! Im Appartement kann ich mich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und einfach vergessen ...

Doch bis zur Tür schaffe ich es nie. Aus den Schatten lösen sich zwei Männer – Friedenswächter.

»Annie Cresta – Folgen Sie uns.«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  LilaRain
2013-02-14T00:00:17+00:00 14.02.2013 01:00
Hihi arme verliebte annie :*
Von: abgemeldet
2012-07-22T14:20:21+00:00 22.07.2012 16:20
Oookaaay o_O
Was wollen denn jetzt die Friedenswächter?
Finnick!!!!
Aber sooo toll die letzten Kapitel!!
Echt, und tut mir noch mal total leid dass ich nicht regelmäßig kommentiere.
Sobald ich das mit meinem Internet und bla geklärt hab, gibt es zu jedem Kapitel ein Mamutkommi!!!
Sogar dann nachträglich!!

Glg


Zurück