Zum Inhalt der Seite

Kurt das war's

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Hamburg

XVIII - Hamburg
 

Nachdem Kurt Hanne nach Hause gebracht hatte, trennten sich ihre Wege wieder. Kurt hatte nicht das Gefühl, Hanne etwas zu sagen zu haben und diesem schien es genauso zu gehen. Sie waren wohl nach außen hin wieder gut miteinander, doch trotzdem war da noch ein gewisser Keil, ein Abstand, zwischen ihnen. Etwas, das Kurt davon abhielt, Hannes Nähe zu suchen.
 

Hanne wollte keine Zeit verlieren. Jetzt, wo es ihm besser ging, wollte er unbedingt nach Hamburg fahren und seine Familie besuchen. Gerade wegen des Gesprächs mit seinem Arzt vor knapp einer Woche war es ihm mit einem Mal wichtig, seine Oma zu sehen, vielleicht auch das Grab seiner Mutter auf dem Friedhof aufzusuchen um endgültig einen Schlussstrich ziehen zu können.

Hanne hatte außerdem die Hoffnung, ein Gespräch, mit seinem Vater auf die Reihe zu bekommen. Inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass ihm eine ehrliche Aussprache helfen würde, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Denn gerade dieser Rückhalt war es doch, den er im Moment so sehr benötigte. Gerade jetzt, wo seine Gesundheit nicht besonders stabil war, brauchte er Punkte, an denen er sich orientieren konnte.

Doch andererseits fürchtete er sich vor der direkten Begegnung mit seinem Vater. Es war insgesamt eine schwierige Konstellation gewesen, aus der die vielen kleinen Beziehungsprobleme mit seinem Vater entstanden waren: der Rückzug seinerseits, die vielen Missverständnisse, die sich immer mehr verschärft hatten und die mit der Grund dafür waren, dass sie sich bis heute so weit voneinander entfernt hatten.

Eigentlich hatte er seinem Vater immer vorgeworfen, sich einfach keine Zeit für ihn zu nehmen und sich viel zu sehr in seine Arbeit zu flüchten. Doch andererseits war er immer dann für ihn da gewesen, wenn es am nötigsten gewesen war und hatte sich die Zeit genommen. Als er wegen seiner ersten Resistenz damals in Hamburg im Krankenhaus gelegen war – war sein Vater nicht auch oft vorbeigekommen? Die Besuche hatten wohl meistens nur eine halbe Stunde gedauert, aber er war eigentlich jeden Tag bei ihm gewesen.
 

Johannes packte einige Sachen zusammen in eine Reisetasche. Seine Kleidung aus der Klinik hatte er einfach nur in den Wäschekorb geworfen.

Er machte sich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Er ging schnell weiter zu den Fahrplänen, auf denen die verschiedenen Abfahrten verzeichnet waren. Der nächste Zug, den er heute noch erwischen würde, würde erst spätabends in Hamburg ankommen.

Johannes beschloss, erst am Montag, also übermorgen, wegzufahren. Es wäre nicht ganz so überstürzt und er konnte sich erst noch ein klein wenig zu Hause aufhalten und zur Ruhe kommen. Würde er sich nun schon wieder so einen Druck machen, würde er im Handumdrehen wieder im Krankenhaus liegen. Sein Arzt hatte ihn schließlich nicht zum Spaß krankgeschrieben und hatte ihn nicht grundlos daran erinnert sich zu schonen.
 

Zu Hause stellte sich Johannes unter die Dusche. Erst jetzt fiel ihm auf, wie penetrant seine Haut nach dem furchtbaren Klinikgeruch stank. In seiner Eile von vorhin hatte er kaum auf sich geachtet, hatte sich noch nicht einmal wirklich umgezogen.

Jetzt genoss er es richtiggehend, das Wasser über seine Haut laufen zu lassen, sich zuerst die Haare einzuseifen, dann den Körper und schließlich wieder alles abzuspülen. Er stieg aus der Dusche, rubbelte sich trocken. Schließlich cremte er sich ein und schlüpfte dann nur in seinen warmen Bademantel. Seine Haare rubbelte er noch ein bisschen trockener und tapste schließlich zum Schlafzimmer.

Auf dem Weg dorthin bemerkte er auch das blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters. Kurz erwog er, das Gerät einfach zu ignorieren, hörte dann allerdings doch die Nachricht ab. Sie kam von seiner Schwester, die erfahren hatte, dass er nicht mehr im Krankenhaus war und einfach wissen wollte, wie es ihm ging. Johannes nahm das Telefon mit ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und wählte schließlich die Nummer seiner Schwester. Sie war unheimlich erleichtert über seinen Anruf und fragte auch noch einmal, ob er sich wieder mit Kurt vertragen hatte, wie die Freundschaft liefe. Johannes beantwortete ihr alle Fragen geduldig, achtete allerdings darauf, schnell zum Ende zu kommen.
 

Am Montagmorgen stand Hanne schon ziemlich früh auf. Er musste sich noch Tabletten für die nächsten Tage zusammenpacken, was ein weiteres Detail war, das er am Samstag in seiner plötzlichen Eile vergessen hatte. Inzwischen musste er sogar zugeben, sich wirklich auf Hamburg zu freuen, ganz besonders auf seine Großmutter.

Wieder musste Hanne an seinen Vater denken. Der Streit in der letzten Woche hatte doch heftige Spuren hinterlassen. Er wollte gar nicht wissen, was sein Vater jetzt von ihm hielt. Durch seinen Ausraster am Telefon hatte er das Verhältnis zwischen ihnen komplett zerrüttet. Es war ja schon vorher kompliziert gewesen, aber jetzt war es praktisch unlösbar. Bei seinem Vater hatte es noch niemals etwas bewirkt, wenn man herum gebrüllt hatte. Viel eher hatte er dann erst recht seine Ignoranz bzw. absolutes Unverständnis an den Tag gelegt. Doch alle Vorwürfe brachten jetzt, wo es ausgesprochen war, auch nichts mehr. Und vielleicht hatte Sandra doch recht, als sie sagte, dass er sich die Ablehnung und die Entfernung seines Vaters zu ihm nur eingebildet hatte. Dass dieses Gefühl der Unzugehörigkeit nur einseitig war.
 

Hanne machte sich rechtzeitig auf den Weg zum Bahnhof, um seinen Zug nicht zu verpassen. Er löste sich noch seine Fahrkarte am Schalter und kam gerade am Gleis an, als der Zug einfuhr. Die Bahn war angenehm leer, da der stärkste morgendliche Berufsverkehr bereits um war.

Hanne hob seine Reisetasche auf die Gepäckablage über ihm und ließ sich auf einen freien Sitzplatz fallen. Dann stand er allerdings doch noch einmal auf, um seine Jacke auszuziehen und sie sich auf die Knie zu legen. Er schlüpfte außerdem aus seinen Schuhen.

In gut fünf Stunden würde er in Hamburg angekommen sein. Er sah aus dem Fenster als der Zug endlich anfuhr. Langsam lichtete sich der Nebel, der vorhin noch über der Straße gehangen war und die Sonne schien.

Hanne versuchte, sich noch ein wenig auszuruhen und schloss die Augen, um vor sich hin zu dösen. Er würde nicht umsteigen müssen, da er eine Direktverbindung nach Hamburg erwischt hatte.

Gegen Mittag packte Hanne das Brötchen aus, das er sich von zu Hause mitgebracht hatte und aß es.
 

Hanne verließ den Bahnhof und stellte erstaunt fest, dass sich eigentlich kaum etwas an dem Bild verändert hatte, das sich einem vom Bahnhof aus bot. Natürlich war der Bahnhofsvorplatz ein kleines bisschen umgestaltet worden, aber das überraschte ihn nicht. Er war schließlich fünfeinhalb Jahre nicht mehr hier gewesen und Hamburg war eine Großstadt, die sich eigentlich ständig veränderte. Und genau das hatte er ja auch immer so an seiner Heimatstadt geliebt.

Hanne überquerte den Bahnhofsvorplatz und kam schließlich zum Bereich der Bushaltestellen. Er warf einen Blick auf den Linienplan für die Busverbindungen, stellte fest, dass sich an der Einteilung für ihn nichts geändert hatte und schaute auch gleich auf den passenden Fahrplan. Er würde noch ein paar Minuten warten müssen bis sein nächster Bus kam.
 

Je länger er sich in Hamburg aufhielt, desto heimischer fühlte er sich. Wenn er Leute reden hörte, hörte es sich gut für ihn an. Auch die Luft war anders als in Stuttgart; man konnte das nahe Meer riechen und er liebte den Geruch des Salzes. Vielleicht würde er auch noch zum Hafen fahren.
 

Vom Hamburger Zentrum und dem Bahnhof fuhr man nicht lange bis zu dem Viertel, in dem Hanne aufge­wachsen war. Er erwog mittlerweile sogar, länger in Hamburg zu bleiben und vielleicht erst am Samstag wieder nach Hause zu fahren. Immerhin hatte er sich eine ausreichende Menge seiner Medikamente eingepackt.

Er ging die Straßen entlang und erreichte schließlich das Gebäude, in dem er und seine Eltern gewohnt hatten. Er suchte nach der Klingel. Jetzt stand „Seeberg/ Theimel“ darauf. Die Sprechanlage knackte und die weibliche Stimme seiner Oma meldete sich. Hanne antwortete erleichtert und seine Großmutter drückte auf den Türöffner.

Er stieg die Stufen hinauf und stürzte fast wieder hinunter, weil seine Oma ihn so stürmisch umarmte. Er rieb ihr liebevoll über den Rücken, löste sich allerdings sehr schnell wieder von ihr. „Hanne, was tust du denn hier?“, fragte sie.

„Ich habe ein paar Tage Urlaub und wollte euch überraschen.“, log er halb.

„Du bist ja ganz schön gewachsen, aber irgendwie zu dünn. Isst du nicht genug?“

Er lächelte. „Ich weiß. Ich hatte in letzter Zeit immer wieder Probleme mit der Gesundheit. Und da habe ich wieder abgenommen. Aber jetzt ist wieder alles okay.“, antwortete er dann ernst.

„Das beruhigt mich.“, erwiderte sie. „Komm doch rein, Schatz.“

Johannes folgte der Aufforderung seiner Oma und ließ sich von ihr mit einer Hand auf seinem Rücken ins Innere der Wohnung führen.

„Du hast sicherlich Hunger, Johannes, oder? Soll ich dir schnell etwas aufwärmen? Du hattest eine lange Fahrt.“

Er zog sich gerade seine Jacke aus und wollte abwehren, weil er keinen Hunger hatte, stimmte dann jedoch zu. Er wollte sie zum einen nicht beunruhigen und ihr zum anderen einfach den Gefallen tun. Natürlich liebte er auch ihre Küche.

„Ich hab heute früh Hühnersuppe gemacht, mit Gemüse, Hühnerfleisch und Nudeln drin. Die hast du doch immer so geliebt als du klein warst.“

Jetzt lachte er sogar. „Ja, das ist echt lieb von dir, Oma.“

„Na, dann komm mit, Schatz.“, meinte sie und legte ihren Arm um ihn.
 

„Sag mal, kommt Papa heute noch?“, fragte er später. Er hatte nun doch drei Teller Suppe gegessen und seine Oma strahlte übers ganze Gesicht. Er lehnte sich zurück und strich sich über den Bauch.

„Heute wohl nicht mehr. Er wollte nach der Arbeit gleich zu seiner Freundin fahren. Aber morgen früh kommt er her, hat er gesagt.“

Hanne nickte. „In Ordnung.“

„Du möchtest dich noch einmal mit ihm unterhalten, oder? Ich habe mitbekommen, dass ihr euch am Telefon gestritten habt. Was war denn?“

„Nichts Besonderes. Er hatte seinen Besuch einfach abgesagt. Ich war ziemlich enttäuscht von ihm.“, gab er Auskunft. Kurz erwog er, ihr doch noch von dem Gespräch mit Dr. Müller zu erzählen und von seinen Plänen, einfach wieder Ordnung in sein Leben zu bringen.

„Ich verstehe dich, Hanne. Und ich denke auch, dass er es sich genauso wünscht wie du, dass ihr wieder ins Reine miteinander kommt.“

Hanne nickte. Er war wirklich auf dieses Gespräch gespannt.
 

„Du wirst wohl hier übernachten, oder?“, fragte sie dann.

Er nickte leicht. Er hatte sich nichts dergleichen überlegt und befürchtete jetzt, dass das nicht ginge.

Seine Oma lachte jedoch. „Du kannst in deinem alten Zimmer schlafen. Damals hast du doch die Hälfte deiner Möbel dagelassen und auch dieses Schlafsofa. Ich beziehe es dir schnell.“

„Nein, nein.“, wehrte er ab, „Das mache ich schon selbst. Du sollst dir keine Umstände machen.“ Er lächelte.

„Dann komm mit. Ich gebe dir schnell Bettzeug.“
 

Sein altes Zimmer war noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Er blieb eine Weile stehen, schloss die Augen und ließ das Vertraute auf sich wirken. Dann öffnete er das Fenster, um die warme Septembersonne hereinzulassen.

Behutsam löste er die Folie von seinem alten Schlafsofa, bezog das Polster und legte Decke und Kissen darauf. Er vermutete stark, dass sein altes Zimmer nun als eine Art Arbeitszimmer benutzt wurde und sich darum öfters jemand im Raum aufhielt, da alle Möbel außer der Couch nicht abgedeckt worden waren.

Noch einmal sah er sich um und bemerkte erst jetzt, dass auf dem alten Schreibtisch Stifte lagen. Wie zur Bestätigung fand er im Kleiderschrank außerdem einige Einlegeböden mit einer Reihe von Ordnern vor, als er ihn öffnete. Ja, es hatte sich tatsächlich viel in den letzten fünf Jahren getan.

Damit gab er sich einen Ruck und ging zu seiner Großmutter zurück. Sie fragte ihn noch ein bisschen über sein Leben aus und er antwortete ihr, so wahrheitsgemäß er konnte. Er erzählte ihr auch von Kurt und seiner Freundschaft zu ihm, die sich manchmal so schwierig gestaltete. Seine gesundheitlichen Probleme verschwieg er ihr weiterhin. Er wollte sie nicht aufregen oder ihr Sorgen bereiten.
 

Hanne wurde am Morgen von den Sonnenstrahlen aufgeweckt, die durch die geöffneten Lamellen des Rolladens hindurch direkt auf sein Gesicht fielen. Er blinzelte leicht und war sich sofort wieder bewusst, dass er sich in Hamburg befand.

Hamburg. Er spürte den weichen Stoff seines Schlafsofas unter seiner Haut und musste lächeln. Ja, er hatte sich einiges vorgenommen für seinen Aufenthalt hier. Das Gespräch mit seinem Vater, der Besuch auf dem Friedhof.

Hanne streckte seine Glieder und setzte sich auf. Er schälte sich vollends aus seiner Decke und zog sich schließlich an. Dann ging er zu seiner Reisetasche, die er auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, und nahm seine Medikamente heraus und schluckte sie mit einem Schluck Mineralwasser hinunter. Ein Morgenritual, das sich nahtlos und unmerklich in seinen Tagesablauf eingefügt hatte. Morgens und abends jeweils drei Pillen, bei Bedarf noch ein Mittel gegen Kopfschmerzen oder ein Appetitanreger.
 

Hanne trat auf den Flur hinaus und steuerte auf das Badezimmer zu, als ihm gerade sein Vater entgegen kam. Er trug nichts weiter als seine Shorts und einen locker übergeworfenen Bademantel. Sein Haar war feucht, er kam direkt aus der Dusche.

„Hanne...?“

Der junge Mann blieb ebenfalls wie angewurzelt stehen und musterte seinen Vater, wie er so vor ihm stand. „Morgen Papa.“, erwiderte er schließlich.

„Wie geht’s dir?“

Die Frage schien Hanne wie aus der Luft gegriffen zu sein. „Ist okay. Und dir?“

„Oma hat mir schon erzählt, dass du gestern angekommen bist.“, antwortete sein Vater. „Du warst schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns.“

Hanne nickte nur.

„Kommst du auch frühstücken?“, fragte sein Vater dann. „Oma hat Müsli gemacht.“

Ohne ein weiteres Wort folgte Johannes seinem Vater in die Küche. Seine Oma lächelte ihn an, wünschte ihm ebenfalls einen Guten Morgen und reichte ihm dann eine Schale Müsli. Sie selbst aß so früh am Morgen nie etwas, sondern frühstückte erst später.
 

„Ich denke, wir beiden sollten noch mal miteinander reden, Hanne.“

Der Angesprochene blickte auf. Das ganze bisherige Frühstück war ziemlich schweigsam verlaufen. „Wie?“

„Ich finde, wir sollten uns unterhalten, Hanne.“, wiederholte sein Vater. „Du hast ganz schön überreagiert neulich, fandest du nicht auch?“ Er klang vorwurfsvoll. Ob bewusst oder unbewusst, konnte Hanne nicht beurteilen.

Hanne hatte inzwischen seinen Löffel in die Müslischale sinken lassen. Der Appetit war ihm bereits vergangen. „Überreagiert!?“, spuckte er nahezu aus. „Soll ich denn immer alles abhaken und runter schlucken?“

„Hanne, ich bitte dich.“ Sein Vater seufzte leise. „Ich will keinen Streit mit dir anfangen, wirklich. Aber vielleicht kannst du mir erklären, warum du so aus der Haut gefahren bist? Du hattest doch früher auch Verständnis dafür, wenn mir irgendetwas dazwischen gekommen ist.“

Früher hab ich manche Sachen einfach geschluckt.“, erwiderte Hanne scharf. „Erinnerst du dich denn nicht mehr an diesen Brief, den du mir da geschrieben hast? Du hast in diesem Wisch angekündigt, dass du mich besuchst. Und dann ruf ich bei dir an, um zu fragen, wann das denn sein würde, und du sagst einfach, dass du zu viele Termine hast! Sag mal, kannst du das nicht vorher wissen?! Himmel, ich war ganz einfach enttäuscht von dir!“

„Jetzt beruhige dich doch bitte. Sicher erinnere ich mich noch an den Brief. Und natürlich weiß ich, was ich an Terminen habe. Und als ich diesen sogenannten Wisch zur Post gegeben hab, war es auch noch so, dass ich tatsächlich hätte kommen können. Tja, und dann hat mir meine Sekretärin noch ganz kurzfristig eine Besprechung vereinbart, weil sie eben dachte, ich hätte noch ausreichend Zeit. Ich hab einfach nicht mehr dran gedacht, ihr zu sagen, dass ich auch noch was Privates vorhabe. Das war ein dummer Zufall, glaub mir.

Wenn ich dich trotz des Termins besucht hätte, hätten wir kaum Zeit für einander gehabt, vielleicht nur eine halbe Stunde. Und ich wollte mir Zeit nehmen und dich eben nicht zwischen irgendwelche Termine quetschen.“

Anstatt abzukühlen und seinen Standpunkt zu überdenken, spürte Johannes nach wie vor, wie seine Brust fast zerbersten wollte. Er verstand sich selbst kaum mehr.

Auf sein Schweigen hin schüttelte sein Vater wieder den Kopf. „Hanne, jetzt rede doch endlich mit mir und sei nicht kindisch. Ich verstehe dein Problem nicht. Wir können auf sachlicher Ebene diskutieren, das weißt du. Aber wenn du mich anbrüllst oder mich ignorierst, kann ich dir auch nicht helfen.“

Hanne musste lächeln. Allerdings nicht freundlich, sondern eher sarkastisch. „Musst du eigentlich nicht zur Arbeit?“, fragte er und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.

„Darum geht es im Moment nicht, Hanne.“, erwiderte sein Vater. „Schau, ich versuche gerade, auf dich zuzugehen und dir die Möglichkeit zu geben, dich mit mir auszusprechen. Ich merke, dass du ziemlich verärgert bist. Aber ich kann mich nicht entschuldigen oder etwas besser machen, wenn du mir nicht sagst, was ich falsch gemacht hab oder was dich derartig aufregt.“

„Das hab ich dir doch schon gesagt! Du nimmst dir keine Zeit für mich, deine Arbeit ist dir wichtiger. Und deswegen verstehst du mich auch nicht.“

„Ich nehme mir Zeit, Hanne, das siehst du doch.“
 

Hanne drohte der Kragen zu platzen. Das ging eindeutig zu weit. Er wollte seinen Vater eigentlich nach der langen Zeit umarmen können, aber es ging nicht. Seine Familie hatte sich tatsächlich auseinander gelebt. Er und sein Vater waren sich wohl noch fremder geworden. Schon als er von hier weggezogen war, hatte er kaum eine Beziehung zu ihm gehabt, doch jetzt fehlte jedes Verständnis und alles, was sein Vater sagte, machte ihn wütend. Ohnmächtig und unkontrollierbar wütend.
 

Hanne hatte bisher noch immer einen Funken Hoffnung gehabt, dass sie sich irgendwann nach Jahren wieder näher kommen würden. Zunächst hatte es auch so ausgesehen, sie hatten mehrmals im Monat telefoniert. Doch es war immer seltener geworden, dass sein Vater angerufen hatte und er selbst hatte auch kaum den Bedarf danach verspürt. Die letzten beiden Jahre hatte sein Vater ihn lediglich zu seinem Geburtstag angerufen und hatte sich auch dabei nur oberflächlich danach erkundigt, wie es ihm ging. Anstatt dass er von sich aus seinen Vater anrief oder selbst etwas erzählte, hatte Johannes ganz einfach die Oberflächlichkeit ihrer seltenen Gespräche akzeptiert.

Und jetzt war da nur noch gegenseitiges Unverständnis. Es erschreckte ihn vor allem, wie wenig er selbst auf seinen Vater eingehen wollte und was für ein Ärger in seiner eigenen Brust brodelte.
 

Hanne wandte sich ab und ging in sein ehemaliges Zimmer zurück. Traf ihn nicht sogar selbst eine gewisse Schuld an ihrem jetzigen schlechten Verhältnis?

Johannes knallte die Türe hinter sich zu und ließ sich dagegen sinken.„Es ist aussichtslos.“, sagte er leise zu sich selbst. Er hatte ganz einfach ignoriert, dass sein Vater noch versucht hatte, seinen Arm festzuhalten, als er an ihm vorbei gestürmt war, und hatte auch seine Bitte überhört, stehen zu bleiben.

Was war nur auf einmal los mit ihm? Weswegen war er plötzlich so wütend, wo sein Vater doch ein völlig normales Gespräch mit ihm geführt hatte? Weswegen hatte er ihm nicht zuhören können? War es wirklich nur der vorwurfsvolle Ton vom Anfang gewesen, der ihn so hatte explodieren lassen? Dieses verdammte Unverständnis? Er verstand sich selber kaum mehr.

Hanne stiegen mit einem Mal verzweifelte Tränen in die Augen. Fast lautlos rollten sie ihm über die Wangen. Er hasste sich selbst richtiggehend für die Aktion von eben und sein unmögliches Verhalten.
 

Hanne raffte sich wieder auf und begann, seine Reisetasche zu packen. Er faltete die Kleidung grob zusammen, die er in die Nacht getragen hatte, schraubte dann seine Mineralwasserflasche zu und legte beides zusammen mit seinen Medikamenten in die Tasche.

Als nächstes zog er wieder das Bettzeug ab, das er sich gestern zurecht gemacht hatte. Er hielt nur sehr kurz inne, als er hörte, wie sich sein Vater von seiner Oma verabschiedete, um zur Arbeit zu gehen. Sie war die ganze Zeit über nebenan gewesen und hatte wohl auch den Streit mitbekommen.

Vielleicht sollte er auch noch einmal mit ihr sprechen, gerade auch wegen des Streits von eben.
 

Hanne faltete sowohl die Bettwäsche als auch die Decke grob zusammen und legte beides auf sein zusammen geklapptes Schlafsofa. Dann sah er sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass er auch nichts hatte liegen lassen.

Schließlich ging er zum Badezimmer, machte sich ein bisschen frisch und rasierte sich, putzte seine Zähne. Anschließend packte er auch seine Waschutensilien in die Tasche und trug sie zur Wohnungstüre. Seufzend schlüpfte er in seine Windjacke und schloss den Reißverschluss.
 

„Gehst du schon?“, fragte seine Oma hinter ihm.

Hanne drehte sich um. Er hatte eigentlich gleich zu ihr gehen wollen. „Ja. Ich fahre schon heute zurück.“

„Ihr habt euch wieder ziemlich gestritten, oder?“

„Ja. Natürlich hätte ich es auch gerne anders gehabt, aber ich kann es nicht. Es geht im Moment einfach nicht.“, erwiderte Hanne.

„Deinem Vater tut die Geschichte auch sehr leid, Hanne. Vielleicht könnt ihr irgendwann noch einmal miteinander reden. Er wünscht es sich auch.“

Hanne seufzte wieder. „Vielleicht.“, erwiderte er und umarmte dann seine Großmutter. „Ich hab keine Ahnung, welcher Teufel eben in mich gefahren ist.“

Sie streichelte seinen Hinterkopf. „Ich bin mir absolut sicher, dass ihr wieder miteinander sprechen könnt. Dein Vater denkt auch unheimlich viel über euer Verhältnis nach, Hanne.“

Er ließ ihre Worte einen Moment auf sich wirken, bedankte sich dann. „Machs gut, Oma.“

„Schon gut, Schatz. Pass gut auf dich auf.“, erwiderte sie und klopfte Johannes auf den Rücken. „Ich hab mich unheimlich über deinen Besuch gefreut.“
 

Hanne eilte sofort zum Hauptbahnhof. Er wollte Hamburg plötzlich verlassen, denn alles, was ihm zuvor angenehm vertraut vorkam, schien ihn jetzt zu erdrücken.

Dummerweise hatte er vergessen, sich Montag Nachmittag die Abfahrtszeiten der Züge aufzuschreiben. Am Bahnhof sah er auf die Tafeln und musste feststellen, dass sein Zug schon vor über einer Stunde abgefahren war.

Hanne kramte einen Kugelschreiber aus seiner Umhängetasche heraus, in der außerdem seine Brieftasche und den Teil seiner Medikamente hatte, die er heute noch würde einnehmen müssen. Da er keine Notizzettel bei sich hatte, stülpte er seinen Ärmel zurück und schrieb sich die Abfahrtszeiten der drei Züge, die für ihn in Frage kämen, auf den Unterarm. Sie alle fuhren erst am Nachmittag ab. Es würde wohl bereits in einer halben Stunde der nächste Zug abfahren, aber da er sich noch ein bisschen die Stadt anschauen wollte, wäre dieser Zug zu kurzfristig.

Hanne sah sich als nächstes nach den Schließfächern um, in die er seine Reisetasche einschließen konnte.
 

Eine Weile ging er ziellos durch die Straßen bevor ihm wieder einfiel, dass er doch eigentlich den Friedhof hatte besuchen wollen.

Inzwischen war es Mittag und er spürte, wie sein Magen drückte. Sein Frühstück war eher mager ausgefallen, da er nicht einmal die Hälfte seines Müslis gegessen hatte, was sich jetzt natürlich rächte: zum einen mit einer leichten Übelkeit wegen der Medikamente, zum anderen, weil er mit einem Mal Hunger bekam.
 

Johannes war schnell auf ein Cafe gestoßen, das er früher gerne besucht hatte. Es lag an einer gut besuchten Straßenecke und hatte den wohl besten Salat von ganz Hamburg. Er hatte sich hier außerdem einige Male mit Sven verabredet und hatte einfach schöne Erinnerungen an diesen Ort.

Hanne betrat das Cafe und fühlte sich sofort wieder wohl. Er ging zu einem freien Tisch an der Wand, dem einzigen, der noch unbesetzt war.

Als schließlich eine Kellnerin kam, bestellte er sich einen Salat mit Ziegenkäse und ein Glas Wasser.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück