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Idomanulum

von

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City Of Devils

City Of Devils
 

Langsam flogen Erinnerungen an ihm vorbei. Eine beinahe manische Stille machte sich ringsherum breit.

Wünsche, Sehnsüchte...Träume...Alles flog wie in einem Nebel um ihn herum, ineinander verworren und auf eine Art verbunden, die nur an diesem Ort Sinn machte und von der er wusste, dass er sich später nicht mehr daran erinnern konnte.

Eine Frau in einem durchscheinenden Kleid aus leichtem Stoff löste sich heraus. Das Kleid verhüllte nicht einmal ihre Oberschenkel und kitzelte ihre hellen, krausen Schamhaare. Sie war von außergewöhnlicher Schönheit. Ihre Brüste waren groß und rund, die Brustwarzen erigiert. Das lange, rote Haar floss wie Blut über ihre Haut, die fast weiß leuchtete.

Tiefer. Du musst tiefer eindringen.

Vorsichtig streckte er seine Sinne wie Fingerspitzen aus. Ein leichtes Beben durchlief die Gedanken – er hielt inne. Stumm lauschte er. Aber das Bewusstsein schlief weiter, ruhig und friedlich.

Wieder wandte er sich der Frau zu. Er betrachtete sie.

Das könnte es sein. Du könntest es sein.
 

Die Frau lächelte. Ihr Gesicht war herzförmig, junge und reine Haut. Eine kleine hübsche Nase und feine, rötlich schimmernde Augenbrauen, die wohlgeformt ihre braunen, großen Augäpfel umrahmten.

Ihre Konturen waren verschwommen, wie es bei den meisten Vorstellungen und Träumen war. Diese Tatsache verlieh ihr einen Hauch von Unschuld und er wusste, dass dieser Hauch den Traum noch verbessern würde.
 

Unschuld ist wie Gold und nichts ist wertvoller als Gold. Außer Unschuld.
 

Erneut fuhr er seine Sinne aus, dieses Mal leise wie eine Katze. Er nahm die Frau bei der Hand und spürte die Energie, die von ihr ausging.

Sie war es tatsächlich, sie war der Puls, den dieser Geist brauchte.

Um die Frau herum formten sich langsam die Einzelheiten eines Raums und er musste sich konzentrieren, um alles glaubhaft erscheinen zu lassen. Ein großes einladendes Bett, ein roter Teppich.

Der Raum war geprägt von den Farben Rot und Orange. Die Wände waren verziert mit golden glänzenden Ornamenten, mehrere kleine Skulpturen, deren Einzelheiten fein ausgearbeitete waren, jedoch in dieser unwirklichen Welt verschwammen. Schwere Vorhänge, durch die das schwache Licht einer grünen Sonne drang.

Der Raum wirkte unwirklich, durch den Kontrast von Rot und Grün. Kurz lächelte er. Er wirkt traumhaft.
 

Ein zweites Mal ließ er einen Blick über die Frau wandern. Ihre Augen bildeten einen faszinierenden Glanz aus, er zeugte von etwas, was er nicht mit Namen zu benennen wusste.

Etwas fehlt ihr.

Konzentriert dachte er nach. Mit seinen Gedanken reichte er ihr eine Kette, fein ausgearbeitet und gold glänzend. Sie legte sie an und nickte.

So ist es gut. Gut genug wenigstens.
 

Es war nicht das gewesen, was ihr gefehlt hatte, das wusste er. Aber hier würde er nicht darauf kommen, was dieses Etwas sein mochte, sonst würden sich seine Gedanken zu schwer mit den des schlafenden Bewusstseins verknoten.

Gleichzeitig spürte er, wie sich das eben erwähnte Bewusstsein wieder regte und er wusste, dass es Zeit war, sich von diesem Ort zurück zu ziehen.

Kurz sah er sich noch um, betrachtete die Frau und zog seine Sinne aus dem fremden Geist, dessen Gast er gewesen war, zurück – jedoch noch nicht ganz.

Er streckte vorsichtig seine Sinne aus, hinaus aus dem Raum in eine schwarze Umgebung, wo das fremde Bewusstsein sachte schlief. Eine schemenhafte, seltsam weiß leuchtende Erscheinung, körper- und formlos.

Er berührte es vorsichtig und kitzelte es, bis es sanft aufwachte und nahm es an der Hand. Gemeinsam erreichten sie den Raum, den er geschaffen hatte. Der fremde Geist trat ein, sah sich um und befand alles für wahr.

Das war der Zeitpunkt, in dem er nicht weiter gebraucht wurde. Mit einem Ruck beförderte er sich hinaus.

Die Stille zerbrach.
 

Noch für einen kurzen Moment ließ Veith seine Augen geschlossen. Dann nahm er einmal Luft und öffnete sie. Es tat gut, sich selbst wieder atmen hören zu können. Einige Sekunden noch fühlte er sich benebelt, dann hatte die Realität ihn wieder.

Er betrachtete den Mann, in dessen Geiste er gewesen war.

Das Gesicht war aufgequollen und voller eitriger Pusteln, die teilweise aufgekratzt worden waren und deren Eiter sich auf den Wangen verteilt hatte. Die Augen waren fest geschlossen, Haar wuchs ihm kaum noch aus seinem schmutzigen, kahlen Eierkopf. Sein Körper war dick, bereits alt und voller Flecken, auch hier fanden sich überall entzündete Pusteln. Er glich einem runzligen Walross, dessen Körper in fettige Laken eingewickelt worden war – dennoch war der Mann ein bekennender Exhibitionist.
 

Veith dachte darüber nach, dass es Regeln geben sollte, die solchen Dämonen solche Freizügigkeiten verbieten sollten. Obwohl er selbst nicht gerade von herausragender Schönheit war, empfand er solcherlei Anblicke als wahre Zumutung.

Sein eigenes Gesicht war sehr schmal und kantig, die Haut hatte eine unregelmäßige Bräune. Sein Haar war ungekämmt und dreckig, zerzaust stand es in alle Richtungen ab, es war schwarz, ebenso seine schmalen Augen – wie bei den meisten Incubi. Auch hatte er kleine Ansätze von Hörnern an seinem Kopf, die aber so flach waren, dass man sie unter dem schwarzen Haar nicht sah, nur wenn sie nass waren, zeichneten sich zwei kleine Beulen an seinen Schläfen ab. Er war froh darüber, denn auch die allermeisten Incubi hatten Hörner an ihrem Kopf, manche waren dick wie der Unterschenkel eines Riesen und wanden sich in einer Schnecke nach hinten. Es war das deutlichste Merkmal, wenn man einen Incubus ausmachen wollte – und daher war Veith ganz froh, dass man ihn durch dieses schwach ausgeprägte Merkmal nicht so leicht einordnen konnte. Im Gegensatz zu dem fetten Nackten vor ihm war sein Körper dünn, lang und sehnig, seine Knie waren groß und an seinem Rücken zeichneten sich Wirbelsäule und Schulterblätter deutlich ab. Meistens trug der junge Incubus nur eine Hose aus altem, dunklem Leinenstoff, die an den Enden schon ausgefranst war und überall Flecken aller Art hatte. Er lief oft barfuss, aber meistens hatte er ausgetretene Lederschuhe an, die an vielen Stellen löchrig und abgenutzt waren.
 

Veith wandte sich ab und ließ seinen Blick kurz durch den Raum wandern.

So elend wie der Exhibitionist selbst war, so war auch seine Baracke.

Sie bestand nur aus diesem einen Raum und der war gerade mal geschätzte 2 mal 3 Meter groß.

Die Decke, bestehend aus Wellblech und alter Pappe – so wie die gesamte Baracke – war so niedrig, dass er seinen Kopf einziehen musste. Es stank erbärmlich nach Fäkalien, Schweiß und Schimmel und das einzige Fenster war gerade mal so groß wie seine Handfläche.

Der junge Dämon sah auf das Geld in seiner Hand. Zwei glänzende Silbermünzen, auf denen jeweils eine 50 eingeprägt worden war. Nicht gerade viel, aber genug. Das, was er sich nicht leichten konnte, würde er sich bei Gelegenheit einfach nehmen.

Veith wusste, wäre ihm sein Glück wohlgesonnen, dann würde er es vielleicht auch in ganz andere Preisklassen schaffen, denn für sein junges Alter – so genau interessierte man sich in der Hölle für das Vergehen von Zeit nicht, deshalb wusste er auch nicht, wie alt er genau war – hatte er ein außergewöhnlich großes Potential an Kraft. Viele Incubi seines Alters würden einen solch detaillierten Traum, wie er ihn gerade erschaffen hatte, nur während des Höhepunkts ihrer Kraft erzeugen können, aber er fühlte sich gut und gerade ausgelastet genug, um vor lauter Energie nicht über zu laufen.

Nur war die Hölle eben der letzte Ort, an dem man für harte Arbeit gerecht belohnt wurde, also musste jeder seines eigenen Glückes Schmied sein.

Mit einer raschen Handbewegung glitt seine Hand in den Geldbeutel, der in einer Hand des Mannes ruhte und nahm sich eine weitere silberne Münze heraus.
 

Wenn du einen Taler verlangst, lass ihn dir zahlen und warte bis der Zahlende sich umdreht. Dann nimmst du dir den zweiten heraus.
 

Der Schwarzhaarige lächelte. Ein nettes Sprichwort.

Zufrieden mit seiner Leistung ließ er den hässlichen Nackten allein und verließ die Baracke.

Dieser schlummernde Exhibitionist würde für eine Stunde keiner Fliege etwas zu leide tun – aber währenddessen in seiner Traumwelt tagelang einen Heidenspaß mit seiner rothaarigen Schönheit haben. Wahrscheinlich würde er danach aufwachen und sich auch seiner letzten Münzen beraubt vorfinden.
 

Es war gerade Mittag und die Luft war an diesem Tag unangenehm feucht und spannungsgeladen.

Mehrere Sonnen schwebten wie geisterhafte Lichtkugeln aller Größen und Farben herum. Es gab riesige, die größer waren, als das größte Freudenhaus und sich deshalb nur sehr langsam in großer Höhe bewegten. Und es gab winzig kleine, gerade so groß wie ein Fingernagel, die hektisch und aufgebracht wie eine Fledermaus herum sirrten und es sich dabei nur zu gern zum Spaß machten, anderen Leuten quasi den Kopf zu verdrehen.

Aber die meisten waren ungefähr halb so groß, wie ein ausgewachsener, menschlicher Dämon, schwebten mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Gassen und taten nichts anderes, als einfach nur zu leuchten.

Veith sah bereits die ersten Linkfinger, die um die Baracke des Mannes schlichen – gebückte, dürre Gestalten, die nur darauf warteten, dass man sich umdrehte und sich in Sicherheit wiegte, um einem dann die Kehle durchzuschneiden oder das Hab und Gut entwenden. Ihn selbst kümmerte das Schicksal des Schlafenden jedoch nicht im Geringsten.

In dieser Gegend wusste jeder, wie dumm es war, sich von einem Incubus einen Traum machen zu lassen.

Ein vertrauter Geruch von Schwefel und Gewürzen lag in der Luft. Er schritt über unordentliche Kopfsteinpflaster, die mit allem bedeckt waren, was in die sehr weit gefächerte Kategorie Dreck passte.

Es gab kaum fest gemauerte Häuser, die meisten Unterkünfte glichen jener, in welcher er sich vor wenigen Minuten noch aufgehalten hatte. Die Dämonen, die hier lebten, waren wie die Straßen. Unordentlich, dreckig und stets darauf bedacht, jemanden flach zu legen.

Er war froh, hier nicht leben zu müssen. Die hier hausenden Kreaturen hatten ihr Leben meist schon hinter sich – sie schleppten sich von einer Bettgesellschaft zur nächsten, ohne dabei einen Hauch von Erregung spüren zu können.
 

Nach einer Weile veränderte sich die Umgebung. Die Häuser bestanden nicht nur noch aus Wellblech oder alter Pappe, sondern immerhin aus Steinen, unordentlich zu einer brüchigen Mauer aufeinander gestapelt, mit einem Dach, welches gerade so in der Lage war, den Ascheregen einigermaßen abzuhalten.

Die meisten Dämonen hier waren bekleidet und die Nackten sahen gepflegter aus, als der Hässliche, den er zurückgelassen hatte.

Trotzdem waren nicht alle von herausragender Schönheit. Eine Dämonin, die ihn anschmachtete, hatte wild zusammengeknotetes Haar, in welchem er eine Spinne krabbeln sah.

Sie war knochendürr und ihre Haut war faltig, obwohl sie nicht sehr alt sein konnte. Mit ihren abgemagerten Fingern berührte sie ihn und krallte sich an ihm fest, presste dabei ihre runzligen, herunterhängenden Brüste an ihm und rieb sich an ihm.

„Komm schon, besorg’s mir – jetzt und auf der Stelle!“, krächzte sie und das Weiß ihrer Augen schimmerte auf.

Er wimmelte sie angewidert ab und ging weiter.

Ihm war ohnehin nicht nach Sex zumute, selbst wenn die Nackte ein wenig schöner gewesen wäre.
 

Veith erreichte ein Gasthaus, aus dem zu jeder Tageszeit ungehaltener Lärm nach außen drang. Er wühlte sich durch eine Gruppe Betrunkener vor dem Eingang und betrat das Haus.
 

Spontan musste er einem Stuhl ausweichen, der gegen die Wand geschleudert wurde.

Dem Stuhl folgte ein hager aussehender Dämon, dessen Nase so aussah, als wäre sie bereits dreimal gebrochen geworden und aus der das Blut strömte. Ein vor Wut knurrender Dämon rannte ihm hinterher und packte ihn am Kragen seines schmutzigen Lumpenhemds. Fäuste landeten auf Knochen und es knirschte.

Schnell machte der Schwarzhaarige sich daran, von dem Getümmel weg zu kommen, und überließ die Szene den Gaffern und Schaulustigen, die begeistert pfiffen und grölten, während der Dämon seinem Opfer die Zähne zerschlug und dann seinen Arm zerbiss. Der Hagere kreischte mit seinem blutigen Mund.

Veith begab sich an die Bartheke und ließ sich auf einem Hocker nieder, um erst einmal zu verschnaufen. Er atmete den Geruch von Alkohol, Erbrochenem und nach wie vor stechender Schweiß ein, betrachtete kurz die dunklen Holzwände, verdreckt und schimmelig, aber immerhin noch stabil genug, um das Gebäude zusammen zu halten. Kleine, rostrot leuchtende Sonnen leuchteten innerhalb von Gitterkugeln von der Decke. Sie bewegten sich hektisch und unruhig in ihrem Gefängnis hin und her, was das Licht stark flackern ließ und die Schatten der sich Prügelnden tanzen ließ.

Neben Veith saß ein blasser Vampirdämon mit langen weißen Haaren, die mit einem Band zusammengehalten wurden und leuchtend roten Augen. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und sah entspannt aus, während er an einem gefüllten Krug nippte. Sein Gesicht war spitz zulaufend, ganz genau wie seine blitzenden, gefährlichen Fangzähne und ein leicht amüsiertes Lächeln schien die ganze Zeit in seinen Zügen zu lauern, als würde er insgeheim einen wahnsinnig ironischen Witz kennen, der so lustig war, dass er sich in jeder Situation darüber amüsieren konnte. Seine Kleidung war ebenso spärlich und unspektakulär wie Veiths eigene und meistens war das auch noch zu viel, wie er wusste. Eine glänzende, aber wertlose Münze mit einem Loch in der Mitte hing an einem Lederband auf seiner Brust.

„Was hat der Typ gemacht?“, fragte der Incubus von ihm abgewandt, während er sich einen bitteren Sirup bestellte.
 

Sein Gegenüber verzog gespielt gekränkt das Gesicht und schob schmollend seine Unterlippe vor.

„Dir auch einen wunderschönen Tag, mein allerliebster Lieblingsincubus!“, antwortete er.

Veith seufzte, drehte sich auf dem Stuhl, sodass er dem Dämon gegenüber saß und nahm dessen Hände in die eigenen.
 

„Sei gegrüßt Saron, du Schönster unter den Schönen, du Dämon mit dem Haar einer Medusa, du Stolzester unter dem Geschlecht der Vampire. Was für ein Wink des Schicksals, dass ich unbedeutende Person dich treffen darf.“

Saron lächelte zufrieden. „Das gefällt mir besser.“, meinte er und nahm einen Schluck von seinem eigenen Getränk. „Der dünne Wurm hat versucht, den anderen zu bestehlen. Dumm nur, dass es sich bei seinem Opfer um einen von Ira handelt.“

Veith pfiff durch die Zähne.
 

Einen Konflikt mit Zorndämonen überlebten die Wenigsten – und jene, die es taten, wünschten sich, sie hätten es nicht überlebt. Er hatte schon viele Auseinandersetzungen mit Dämonen aus Ira gesehen, seine Heimatstadt Sesso lag dicht an den Grenzen von Ira, Fürstentum des Zorns, und Acedia, Fürstentum der Trägheit, vielleicht waren beide nur ein paar Stunden entfernt – aber das wusste er genauso wenig, wie er sein genaues Alter kannte. Zwar waren die Bewohner Acedias einfach viel zu faul, um auch nur daran zu denken, hierher zu kommen – aber es gab immer wieder ein paar Zornländler, die nach Luxuria, dem Fürstentum der Lust, und damit hierher nach Sesso kamen, um irgendjemanden zusammen zu schlagen, zu töten oder sonst irgendetwas zu tun.

„Üble Sache.“, sagte er. Saron nickte. Der Wirt gab ihm seinen Sirup und er nahm einen kleinen Schluck. Der Geschmack von bitterer Schokolade und getrockneten Früchten machte sich angenehm schwer in seinem Mund breit. Der Alkohol brannte leicht in seiner Kehle.

Er bekam Lust darauf, sich zu betrinken und genehmigte sich gleich einen größeren Schluck.
 

„Hast du den Sirup hier mal probiert?“, fragte er Saron und reichte ihm sein Getränk. Der Vampir nahm ebenfalls einen Schluck, verzog jedoch angewidert das Getränk.

„Bittersirup. Ist ja ekelhaft.“, meinte er. „Ich bleib bei meinem Blutbier.“

Veith beobachtete, wie der Zorndämon dem anderen den Kopf zerbiss.

Blut spritzte in alle Richtungen, Schädelknochensplitter und die Stücke seines Hirns verteilten sich auf der gaffenden Masse.

Glücklicherweise war die Bar weit genug weg. Die Lust auf einen Vollsuff verging ihm bei diesem Anblick mit einem Mal wieder.

Saron hatte das Ende des Kampfes ebenfalls beobachtet. „Der Wirt würde durchdrehen, wäre der Dämon nicht aus Ira. Blut geht furchtbar schwer wieder von Holz ab.“, meinte er.

„Du musst es ja wissen.“
 

Sie drehten sich wieder um und überließen den vor Wut kochenden Dämon sich selbst.

„Hast du deine Bekanntschaft glücklich gemacht?“, fragte der Vampir mit dem hellen Haar.

Veith wiegte seinen Kopf leicht zur Seite. „Ich denke schon. Ein fetter, hässlicher Exhibitionist, der mich drüben angesprochen hat. Dem hätte ich alles vorsetzen können, er hätte sowieso abgespritzt – der Typ hat meinen Traum eigentlich nicht verdient.“

Drüben war ein Ausdruck für eben dieses Elendsviertel, in welchem Veith sich aufgehalten hatte und in der er stets darauf achtete, nicht zu viel Zeit zu verlieren, um schleunigst wieder umzukehren.

Allerdings traf man dort garantiert immer jemanden, der Sex brauchte, ganz egal in welcher Form, deshalb ging Veith, Stolz hin oder her, dennoch manchmal dort hin.

Saron lächelte. „Und du hast dir trotzdem ein Meisterwerk einfallen lassen. Irgendwann fällt das auf dich zurück und du findest keine Kunden mehr, weil du keine Kraft mehr hast.“

Er nahm einen großzügigen Schluck und leckte sich danach über die Lippen.

Seine spitzen Eckzähne glänzten kurz im flackernden, roten Sonnenlicht, ehe sie schnell wieder in seinem Mund verschwanden.

„Und das wäre schade. Die Leute sagen, du machst besondere Träume.“

Der Schwarzhaarige zog eine Augenbraue hoch.

„Wer hat dir das denn bitte erzählt?“, fragte er.

„Ein Kerl, den du mal bedient hast. Ich hatte ihn gestern unter mir. Er meinte, du würdest den Träumen einen Kniff verpassen, den er vorher nicht gekannt hat.“
 

Ein Kniff – das war interessant.

Nur gut, wenn man über ihn redete und wenn sich der ein oder andere Dämon für eine Weile sein Gesicht behielt, denn er hatte keine Lust, sein Geld auf ewig in stinkenden Baracken bei sexgeilen alten Säcken zu verdienen.

Die besten Incubi beschäftigten sich mit ganz anderen Geschichten.

Die pure Angst, die gnadenlosesten Albträume.
 

Der blanke Horror.
 

Es war eine Kunst, die sich nur sehr wenige widmen durften und zu der auch nur wenige imstande waren. Wer als Incubus geboren wurde, musste einen großen Einfallsreichtum mit sich bringen, wenn er etwas erreichen wollte. Und wenn er ein Meister seiner Künste werden wollte, dann musste er viel weiter gehen.

Monster und Untiere in Träumen zu erschaffen, war die eine Sache, aber um diese Dinge in der Realität erscheinen zu lassen, musste man sich gefährlich nahe an die Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Illusion begeben.

Wer sich dort verlor, fand niemals wieder zurück.

Aber diejenigen, welche die Gratwanderung meisterten, waren imstande, alles erscheinen zu lassen, was sie nur wollten. Niemand war mächtiger, als ein Meister der Illusion.

Er war sich sicher, dass er niemals so weit kommen würde – aber wenn man schon als Incubus nicht träumen durfte, wer durfte es dann?
 

Schweigend betrachtete er den zähflüssigen Sirup in seinem Glas.

Er hatte einen schönen, dunkelgrünen Farbton und ein leichtes Glänzen. Veith hatte mal gehört, dass es bei den Menschen Bäume gab, die genau diese Farbe hatten – aber das hielt er für ein Gerücht, was die Wahnsinnigen erzählten, die einem von Zeit zu Zeit auf den Straßen begegneten, auf einen zuwankten oder krochen und einem alles mögliche weismachen wollten.

Wie sollte ein Baum jemals grün werden, wenn stets Asche auf ihn herabregnete?

Davon wurden die Blätter höchstens hellgelb.

Abgesehen davon war es sowieso unwahrscheinlich, dass überhaupt jemand wusste, wie ein Baum in der Welt der Menschen aussah. Niemand kannte den Weg dahin und allein die Existenz dieser Welt hielten die allermeisten Dämonen für eine Lügengeschichte.

Vielleicht gab es dort auch gar keine Bäume, wer wusste das schon?

Er ließ den Sirup langsam seine Kehle hinunterfließen, genoss den bittersüßen Geschmack und vergaß den Gedanken wieder.
 

„Ich hab übrigens eine Überraschung für dich.“, sagte Saron. „Hoffentlich hast du heute Nacht noch nichts vor.“ Ein vorfreudiges Lächeln breitete sich auf seinen Gesichtszügen aus.

„Mir ist nicht nach Sex mit dir.“, meinte der Schwarzhaarige kurz angebunden.

„Ich muss zugeben, das kränkt mich ziemlich, aber ich hab was Besseres in Petto.“, sagte er und jetzt horchte Veith überrascht auf.

Etwas Besseres als Sex – und das aus Sarons Mund?

Erwartungsvoll blickte er den Vampir an.
 

„Die Jäger haben was Besonderes ins Netz bekommen.“, sagte er und rückte an ihn heran. „Einen Engel.“

Ungläubig sah Veith in Sarons Augen. „Ein Engel. In der Hölle.“, meinte er trocken, „Von was für einen Club möchtest du mich gerade überzeugen? Heaven’s Hell?“

Der Dämon verdrehte die Augen. „Veith, glaub mir. Die haben einen Engel. Einen echten Engel. Und heute Nacht führen sie ihn vor.“

Veith sah sein Gegenüber an und erkannte, dass er nichts im Schilde führte, sondern ausnahmsweise die Wahrheit sagte.
 

Ein Engel?

Ein wahrer, wahrhaftiger Engel?
 

Sein Herz pochte bei dem Gedanken, so etwas Einzigartiges zu Gesicht zu bekommen und seine Hände begannen von einem Moment auf den anderen heftig zu schwitzen.

Er wusste natürlich wie ein Engel aussah – es gab tausende Huren, die sich so verkleideten um unschuldig und rein zu wirken und es war ebenfalls nicht das erste Mal, dass ein Engel in der Hölle landete.

Tatsächlich fielen zurzeit recht viele in Ungnade Gottes, soweit er das hörte oder in den Erinnerungen seiner Kunden sah, während er ihnen Träume machte.

Aber es war der erste Engel den Veith mit eigenen Augen sehen würde und das machte die Sache so besonders.

Saron lächelte zufrieden, als er den Gesichtsausdruck des Incubus sah.

„Überrascht mich, dass du es noch nicht erfahren hast, die Nachricht hat sich schneller verbreitet als jede Geschlechtskrankheit.“, meinte er. „Die Plätze um das Podium herum können wir vergessen, bei dem Andrang. Aber die Dächer sind immer noch gut genug, wenn wir jetzt sofort gehen, könnten wir uns noch was ergattern.“
 

Der schwarzhaarige Dämon nickte und sie standen auf. Im Gegensatz zu Saron ließ Veith dem Wirt eine Münze da – wofür er sich einen irritierten Blick von selbigem einfing.

Die wenigsten Gäste zahlten ehrlich für ihren Rausch, meistens bekam der Wirt sein Geld daher, dass er die Leichen der Dämonen ausnahm, die in seinem Gasthaus von anderen Kunden auf manchmal mehr manchmal weniger kreative Weise getötet worden waren.

Aber der junge Incubus war von Glück und Aufregung durchflutet. Er fühlte sich leicht, als ob ihn nichts und niemand einsperren könnte.

Als ob dieser Engel alles bedeuten würde und ohne seine Anwesenheit an diesem verkommenen Platz jedwede Handlung bedeutungslos sein würde.

Ein Engel.

Ein wahrer, wahrhaftiger Engel.

Burn Like The Sun

Burn Like The Sun
 

Die Luft über den Straßen stank noch erbärmlicher als in ihnen. Alle möglichen Gase und Ausdünstungen stiegen mit der immerwährenden Hitze nach oben und färbten den von Schwefelwolken und anderen Rauchfahnen geprägten Himmel schwarz grün und gelb.

Veith lächelte kurz.

Ein Himmel in der Hölle hatte wohl keine anderen Farben verdient.

Wie Saron vorgeschlagen hatte, waren sie auf eines der Dächer geklettert, um von dort aus zusehen zu können. Er blickte über die schmutzigen Schindeln und tausende Köpfe anderer Dämonen, die hier dicht gedrängt nebeneinander saßen, hinweg auf einen Platz der ebenso brechend voll war.

Überall standen und saßen Dämonen aller Art, um dem seltenen Spektakel beizuwohnen.
 

Es gab nur einen einzigen Platz in Sesso, der groß genug war, um dermaßen vielen Zuschauern Raum zu bieten – genau genommen gab es sogar nur diesen einen Platz, der gern als Public Orgy Place bezeichnet wurde. Der Rest der Straßen beschränkte sich auf enge Gassen. Die an den Platz angrenzenden Gebäude waren größtenteils große Clubs, Puffs und sonstige Vergnügungszentren, die sich mit dem gewinnbringenden Medium Sex beschäftigten. Genau dieser Platz, das Zentrum der Lustfindung in ganz Sesso würde für den Engel der Ort werden, der über sein weiteres Leben entschied.

In der Mitte des Platzes klaffte eine Lücke.

Ein hölzernes Podest war in aller Eile errichtet worden, einige Meter lang. Das Holz war dunkel und abgewetzt, teilweise von den tausenden Dämonen, die sich daran drückten, kratzten und schabten, um so nahe wie möglich am Engel sein zu können. Von ihrem Platz auf den Dächern konnten Veith und Saron sehen, dass in der Mitte des Podiums eine Falltür war, die wohl als unterirdischer Aufgang dienen sollte. Den Engel durch eine Schneise in der Menge zu führen würde an Selbstmord grenzen.

Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und nur noch wenige Sonnen leuchteten in den Straßen. Veith und Saron warteten bereits zwei Stunden auf dem Dach und waren damit schon spät dran gewesen. Sie hatten sich mit Schlägen und Hieben durch die Masse der Zuschauer auf den Dächern und neben den Gebäuden kämpfen müssen, was in einer Situation beinahe in eine Schlägerei ausgeartet wäre.

Andere Dämonen hatten weniger Glück gehabt. Der Incubus hatte beobachtet, wie irgendein Zornländler einen anderen Dämon verdroschen und dann auseinander gerissen hatte, weil dieser ihm im Weg gestanden hatte. Andere prügelten sich immer noch blutig um die besten Plätze.

Es war unglaublich, wie wild sie alle auf diesen einen Engel waren. Er hatte aufgehört zu zählen, wie viele gefragt hatten ob er Drogen oder Viagra kaufen wollte, damit er die Vorstellung besser genießen konnte.

Abgesehen davon, dass er davon ausging, dass die meisten Drogen, die ihm angeboten worden waren, ohnehin nur billige Mehlpillen waren, hatte der Schwarzhaarige auch nicht vor, seinen Verstand durch irgendein Mittel zu trüben.

Er wollte diesen Engel sehen, genauso wie er war.
 

„Ich hab gehört, sie soll weiblich sein.“, sagte Saron neben ihm, „Weißt du, wie viel ein weiblicher Engel wert ist?“

„Sag’s mir.“

„Ich hab keine Ahnung. Aber wahrscheinlich hundertmal so viel Geld, wie ich in meinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen werde. Der Typ da vorne hat eben gesagt, dass die Jäger jetzt schon über tausend Anfragen haben, von überall her. Was glaubst du, was die Ärsche für Gesichter ziehen werden, wenn sie die Prüfung besteht.“

Der Dämon lachte schadenfroh und Veith lächelte ebenfalls kurz.

Jedem Wesen des Himmels, das in die Hölle verbannt wurde, standen zwei Möglichkeiten zu, wie es sich entscheiden konnte.

Die eine Möglichkeit war, sich zu ergeben – gleichzusetzen mit einem Todesurteil, weil man die Engel dann sich selbst überließ, und damit der tobenden, geilen Menge um sie herum. Die andere Möglichkeit war der Kampf gegen einen Dämon, meist ein Incubus, weil dessen Illusionen das Spektakel noch sehenswerter machten. Verlor ein Engel diesen Kampf, würde er für teures Geld als Trophäe an irgendeinen reichen Sack verkauft werden. Gewann er, wurde er frei gelassen und durfte in der Hölle leben – aber diese Freiheit war ebenso gut, wie das Leben als Sklave, denn obwohl das Himmelswesen mit der Zeit alles Strahlende und Heilige an und in sich verlor, würde er doch niemals genauso sein, wie ein Dämon. Er fragte sich kurz, ob es anders herum genauso wäre – wen ein Dämon in den Himmel eindrang.

Aber wie sollte so etwas schon möglich sein?

Dann wurde der Gedanke verscheucht und sein Herzschlag schien sich zu verdoppeln, als der Lärm in der Menge anschwoll. Etwas tat sich auf der hölzernen Bühne. Schwerfällig wurde die Falltür angehoben und dann mit einem Ruck nach hinten gekippt, sodass die Öffnung frei wurde. Heraus kamen zwei Gestalten.

„Ancarus!“, keuchte der Schwarzhaarige. „Scheiße, was ist das für ein Engel?“

Ein Dämon in dunkelgrünen, langen Gewändern hatte die Bühne betreten und seine Arme ausgebreitet, um den Applaus zu empfangen.
 

Sein Haar war pechschwarz, wie die von Veith und kurz geschnitten, sodass man deutlich zwei dunkle spitze Hörner an beiden Seiten herausragen sah. Sein Gesicht war jedem bekannt. Selbstsichere und unnahbare Züge zeugten von dem großen Können, was in seinem Verstand lauerte.

Ancarus war ein Incubus ersten Ranges, ein Meister seiner Klasse. Er machte die Träume der Fürsten und er kümmerte sich um den Horror für die Gefangenen höchster Priorität – und für diesen Engel.

Veith schluckte hart.

Einmal will ich mit ihm auf solch einer Bühne stehen, einmal gegen ihn antreten – selbst wenn ich verliere.

Ein Dämon merkte sich nicht viel, aber jeder kannte diesen Meister der Illusionen von Duellen mit anderen Incubi, die zur Belustigung reicher Dämonen ausgetragen wurden.

Er hatte von keinem Duell gehört, welches Ancarus je verloren hatte. Ausschließlich Siege, haushoch und spektakulär.

Der Incubus würde dieses einmalige Erlebnis unverwechselbar machen.

Und unvergesslich. Da war der Schwarzhaarige sich sicher.
 

Mit nur einer Handbewegung brachte er die tosende Menge zum Schweigen und wartete. Ein weiterer Dämon stand neben ihm auf der Bühne.

Der Kopf der Jäger, eine Person von hagerer und linkischer Gestalt, verbeugte sich – wenn auch nicht sehr tief – vor dem Incubus und wandte sich dann der Menge zu.

Das Gesicht dieses Dämons war haarig und pelzig, lange Tasthaare wuchsen aus seinen Wangen und schlitzartige Pupillen beobachteten das Geschehen. Seine Hände hatten scharfe Krallen, ebenso die Füße und an seinem Rücken wedelte ein langer, dünner Katzenschwanz hin und her.

Nahezu jeder Jäger war ein Katzendämon – einer der wenigen Tierdämonen, die nicht in die äußeren Slums verbannt wurden – das war fast wie ein ungeschriebenes Gesetz. Diese Art von Dämonen hatten ein unvergleichlich gutes Gehör, ein unübertroffen scharfes Auge und manche meinten, sie würden schneller reagieren, als man überhaupt agieren könne.

Was diese ausgemagerte, alte Straßenkatze zum Anführer einer so unbändigen wie grausamen Instanz wie den Jägern machte, war allerdings sicherlich nicht seine Stärke, sondern vielmehr seine rasiermesserscharfen Augen und seine samtweichen Katzenpfoten, mit denen er es nur zu gut verstehen musste, sich Sympathien bei den Reichen und Mächtigen zu verschaffen.
 

„Heute“, begann der Katzendämon, „ist ein besonderer Tag für einen jeden Jäger in dieser Stadt. Heute haben wir einen Engel gefangen.“

Tosender Applaus und Jubel aus der Menge. Der Katzendämon hatte wesentlich mehr Mühe, wieder Gehör zu finden, als Ancarus vor ihm.

„Es ist das erste Mal, dass uns in Sesso ein Wesen aus dem Himmel ins Netz gegangen ist und nicht nur deshalb ist dies ein denkwürdiger Tag. Meine Damen und Herren...“, der Dämon setzte ein selbstsichereres Lächeln auf. „…dieser Engel wird Ihre kühnsten Träume übersteigen. Ihre Reinheit und Eleganz ist atemberaubend, ihre Schönheit unübertroffen. Ohne Zweifel wird sie ein Prunkstück in jeder Sammlung sein. Ich heiße unseren heutigen Star des Abends willkommen – Lyria!“

Lüsterne Schreie, Jubel, Gier und Applaus überschlugen sich, als zwei Katzendämonen, der eine mit braunen, der andere mit grauen Fell, mit den Engel durch die Falltür die Bühne betraten.
 

Sie war das Schönste, was Veith jemals gesehen hatte.

Ihre weißen, knöchellangen Gewänder, ohne Zweifel aus einem edlen Stoff gefertigt, waren schmutzig und verdreckt, hingen wie tote Tiere von ihrem Körper herab und das dunkle, schulterlange Haar wirkte stumpf und war verfilzt. Doch abgesehen von diesen Nebensächlichkeiten fehlte ihr nichts. Kein Kratzer war zu sehen, keine gebrochenen Gliedmaßen und kein Makel ihrer Schönheit.

Ihre Haut war so hell, dass Veith glaubte, sie müsse aus weißem Papier bestehen, ihr Gesicht war schmal und edel, die Nase klein, die Augen grün.

Und die Flügel.

Zur Hölle, er hatte nie etwas Schöneres als diese Flügel gesehen. Weiße Federn, glänzend im unwirklichen Licht der Unterwelt. Er stellte sich vor, wie sich diese Flügel anfühlten – weich, warm und wunderschön. Er empfand ein Gefühl und wusste nicht, wie er es nennen sollte. Aber es erinnerte ihn an einen schönen Tag, mit einem Bittersirup auf dem Dach zu sitzen, in der Ferne den roten Fluss mit seinem zähflüssigen, rostroten Gewässern zu sehen, das Treiben der Passanten zu beobachten und zuzusehen, wie sich die farbigen Gaswolken im Himmel bekämpften, veränderten, vereinten.

Die Jäger brachten sie an den Rand der Bühne und der Schwarzhaarige sah, wie etliche Dämonen versuchten, ihre Knöchel zu umfassen und sie herunter zu zerren. Die beiden Katzendämonen an ihrer Seite blickten mit ihren scharfen Augen in die Menge und der Incubus war sich sicher, dass sie keine Sekunde zögern würden, eine Hand oder einen Kopf abzuschlagen, sollte dieser dem Engel zu nahe kommen.

Besonders der graue Dämon hatte etwas in seinem Blick, was Veith stocken ließ – als würde er mit seinem über den Boden streifenden Katzenschwanz nur darauf warten, dass ein Zuschauer sich in seine Schusslinie begab.

Lyria selbst sah so aus, als ob das alles an ihr vorüberging. Ihr Kopf hing hinunter, das wirre Haar verdeckte einen Großteil ihres Gesichts und den Blick ihrer Augen.

Veith wusste nicht, was ein Jäger mit einem Engel machte, wenn er ihn gefangen hatte – er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie man einen Engel fangen sollte. Er fragte Saron, dieser zuckte ebenfalls mit den Schultern.

Ein Dämon hinter ihnen antwortete.

„Die Engel kommen durch die Regenfelder ganz im Süden hierher, sagt man. Dort regnet es nicht Asche, sondern Wasser und wenn der Regen farbig wird, wissen die Dämonen, was Sache ist. Dann verfolgen sie die Süßen, bis sie sie in die Finger kriegen und brauchen nicht mehr zu tun, als ihren Rosenkranz abzuschneiden. Ohne den sind sie vollkommen wehrlos, das ist das Zentrum ihrer Kraft. Und welche Stadt ihn bekommt, darf den Engel auch vorführen.“, sagte er wissend. Der junge Incubus hatte von den Regenfeldern gehört, aber war selbst nie da gewesen – er hatte auch noch nie eine Erinnerung in den Köpfen seiner Kunden gesehen, die von dort stammte und konnte sich deshalb nur vage vorstellen, was der Fremde ihm beschrieben hatte.

Ein Regenfeld mit farbigen Regen, als würde jemand Blut, Wein und andere bunte Säfte darüber ausschütten. Er fragte sich, wie es sich anfühlte, diese Tropfen auf der Haut zu spüren. Sicherlich vollkommen anders, als das Gefühl von Ascheregen, der auf den Kopf niederging.
 

„Bei Luzifer.“, sagte Saron. „Sie ist unglaublich.“ Veith sah, dass der Dämon mit dem hellen Haar Lust hatte, genau vor der Bühne zu stehen, um mit den anderen zu versuchen ihre Knöchel und ihre Füße zu berühren, nur ein ganz kleiner Fleck Haut – bevor sie für immer in den Fängen eines schwabbeligen, gierigen Fürsten landen würde, der ganze Ländereien für dieses einzigartige Wesen gezahlt hatte. Gierig glänzten seine roten Augen.

Der Anführer der Jäger wartete ab, bis sich die Menge einigermaßen sattgesehen hatte, dann fuhr er fort.

Er schritt auf den Engel zu, brauchte selbst einige Momente, bis er mit der schwindelerregenden Ausstrahlung ihrer Schönheit fertig wurde.

„Nun, mein süßes, kleines Mädchen…erzähle uns: Wie bist du zu uns gelangt?“, fragte er, gerade laut genug, damit es alle hören konnten, die auf dem Platz unter ihnen waren.

„Was hat er gesagt?“, fragte Saron über den Lärm weg, der erneut ausbrach, weil die Dämonen ihre ganz eigene Version ihres Falls hören wollten.

Der Schwarzhaarige wiederholte die Worte für ihn, froh darüber, dass seine Ohren als Incubus so erstaunlich gut waren – nicht so gut, wie die der Katzendämonen, aber besser als das Gehör der meisten anderen.

Ancarus brachte die Menge mit einer Handbewegung zum Schweigen, damit die Vorstellung weiter laufen konnte. Veith erkannte, dass der Meister-Incubus ungeduldig wie ein kleiner Welpe darauf wartete, sich in die Gehirnwinden dieses Engels einzugraben, um ihr ein ausgemachtes Stück Wahnsinn zu präsentieren. Er fragte sich, ob Ancarus ebenfalls zum ersten Mal einem Engel gegenüberstand.

Lyria sagte etwas, aber so leise, dass Veith lediglich die sich bewegenden Lippen erkannte.

Fick dich.

Der Katzendämon lachte. „Nun ich bin mir sicher, dass viele der Anwesenden das liebend gern mit dir tun würden.“, sagte er und fügte leise noch etwas hinzu, was der Schwarzhaarige wieder von den Lippen ablesen musste.

Und das werden sie. Aber ich werde der Erste sein.

Unwillkürlich überkam Veith ein Brechreiz. Er versuchte sich zu beherrschen und die ekelerregenden Vorstellungen, die sich in seinen Gedanken ausbreiteten, zu vertreiben.

„Die Regeln schreiben vor, dass du zwei Möglichkeiten hast, dich zu entscheiden.“, fuhr der Vorsteher der Jäger wieder dem Publikum zugewandt fort, „Wenn du aufgibst, wirst du ohne weiteres der Menge überlassen.“ Die Dämonen johlten und Veiths Herz schlug schneller.

„Oder du entscheidest dich, zu kämpfen. Wenn du gewinnst, wirst du die Möglichkeit haben als vollwertiger Dämon unter uns zu leben. Wenn du verlierst…werden wir viel Geld an dir verdienen.“

Die Menge wurde erneut laut, sie riefen Lyria alles Mögliche zu, das meiste beschränkte sich darauf, sie eine geile Nutte, Drecksstück, kleine Hure, Fotzenengel zu nennen.
 

Der Schwarzhaarige spürte einen Stich im Herzen.

Dieses reine Wesen, dieses hilflose reine Wesen. Sie würde untergehen in der Masse der Dämonen, die sie alle begehrten. Es erschien ihm plötzlich falsch, überladen, völlig verdreht. Er wusste nicht, was er davon halten sollte und bevor er länger darüber nachdenken konnte, brachte Ancarus die Menge erneut zum Schweigen.

Der Engel hatte etwas gesagt. Der Anführer der Jäger beugte sich zu ihr hinunter und lächelte dann sehr zufrieden.

„Sie wird kämpfen!“, rief er. Wiederholtes Getöse.

Während jedes Lebewesen um ihn herum außer sich war vor Freude über das bevorstehende Spektakel, blieb Veith ruhig sitzen. Er beobachtete, wie Lyria dem Incubus gegenübergestellt wurde, verspürte den unnatürlichen und ihm unerklärlichen Drang sie zu warnen und ihr zu sagen, dass alles, was sie sehen würde, niemals echt sein würde.

Aber das konnte er nicht. Sie hätte ihn ohnehin nicht hören können. Ancarus sah unglaublich zufrieden aus, während er seinen grünen Umhang ablegte.

Er ist ein Meister der Illusionen und er weiß sehr genau, wie man diese Illusionen inszenieren muss.

Unter dem schweren grünen Stoff trug er eine schwarze Jeans, ein nahezu vulgär weißes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren.

Der Jäger mit dem grauen Fell und den scharfen Augen, der zuvor Lyria festgehalten hatte, legte ihr nun etwas um. Ihr Rosenkranz.

Veith sah, wie die Augen des Engels unverhofft vor Energie aufleuchteten. Sie nahm eine aufrechte Haltung ein und er erkannte, dass sie nicht nur schön sondern unglaublich erhaben und zugleich stolz war. Zumindest für diesen Moment.

Im nächsten Moment begann Ancarus seinen ersten Zug, indem er aus der Luft zahllose Kreaturen formte, die grauenhafter als alles waren, was Veith erwartet hatte. Grässliche Monster mit herausgerissenen Armen und Beinen. Die Haut hing ihnen wie fettige Lappen vom Leib hinunter, halb abgewetzt und faulig. Einige trugen tausende Augen an ganzen Körper, die alle wild umher blickten und in ihren gespenstigen Höhlen kreisten. Andere besaßen überhaupt keine Augen, sondern bestanden nur aus Mündern und Zähnen, von denen bleicher, stinkender Schleim tropfte. Taumelnd, grunzend und jammernd bewegten sich diese Kreaturen auf sie zu und bleiche Hände griffen nach dem Engel.
 

Lyria schrie entsetzt – und das Publikum war begeistert. Dann setzte sie sich zur Wehr, nutzte die Kraft ihres Rosenkranzes, um die Kreaturen mit ihrem eigenen, strahlenden Selbst zu vertreiben.

Wie eine einzige, körperliche Sonne leuchtete sie über den Platz und Veith hielt die Hand vor die Augen, so grell war diese Energie.

Die Illusionen verblassten, doch Ancarus verzog keine Miene. Er konzentrierte sich auf seinen nächsten Angriff, ein Meer von Flammen züngelte auf der Bühne und verschlang die Energie, die der Engel verschleuderte, um sich selbst zu kühlen und die Flammen zu vernichten. Veith sah, wie die Gestalt in der Hitze schwankte und flirrte.
 

Es ist nur eine Illusion.

Die Hitze, die Schmerzen, die Brandblasen, alles ist nur eine Illusion.

Es ist nicht da, es ist alles nicht da!
 

Der Schwarzhaarige musste sich immer stärker beherrschen um ihr das nicht entgegen zu schreien, eine Wut herrschte in ihm wie eine plötzliche Krankheit, von der er nicht wusste, wie und wo er sie sich zugezogen hatte.

Doch im nächsten Moment erstarben die Flammen. Er sah, wie Lyria nach Luft schnappte und ihre Beine einknickten.

„Du bist schwach, Engel.“, sagte Ancarus. Seine Stimme klang tief und nach wie vor konzentriert. „Schwächer als jeder Dämon, gegen den ich jemals angetreten bin. Du bist sogar schwächer als ein Menschenkind.“

Veiths Hände ballten sich zu Fäusten und seine Fingernägel bohrten sich ins eigene Fleisch.

„Der Kerl ist unglaublich.“, sagte Saron, „Er bringt sie im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand!“ Einige Dämonen um ihn herum lachten.

„Halt den Mund, Saron.“, zischte der Incubus. Sein Gegenüber sah ihn stirnrunzelnd an.

„Musst du kacken oder was ist los?“, fragte der Vampir irritiert, aber er erhielt keine Antwort.
 

Beruhige dich.

Scheiße, beruhige dich, was du hier tust ist nicht normal!
 

Er atmete mehrere Male tief ein und wieder aus – mit wenig Erfolg. In ihm tobte immer noch Wut, aber immerhin konnte er sie nun verbergen.

Lyria richtete sich auf, doch ihr ganzer Körper zitterte. Sie sah ihren Peiniger an, ohne Worte. Aber ihr Blick war unmissverständlich.
 

Ich zeige dir meine Stärke. Ich gebe mich nicht geschlagen!
 

Ancarus lächelte unbeeindruckt und scheinbar äußerst zufrieden, als ein Schwarm riesenhafter Kreaturen, die aussahen wie eine Mutation aus den knochigen, schwarzen Höllengeiern und den schuppigen, federleichten Schwebeschlangen, sich auf den Engel stürzten, rissen ihre scharfkantigen Schnäbel aus und schrieen bestialisch. Sie wurden in Flammen gesetzt und verschwanden. Lyria stand aufrecht.

Ein Raunen ging durch die Menge und der Schwarzhaarige war sich sicher, dass ihr Verkaufspreis angesichts dieser Willenstärke noch einmal um das Doppelte gestiegen war. Der Meister-Incubus allerdings war unberührt, erschuf sogleich eine weitere, wesentlich größere Illusion.

Dunkelheit senkte sich über den Platz, für einen Moment erlosch das Licht der wenigen Sonnen, die noch umherschwebten, um dann – noch diffuser und dunkler als zuvor – erneut zu erleuchten.

Ancarus hatte die gesamte Szenerie verwandelt. Der komplette Platz befand sich nun in einer Art Untergrundgewölbe, gemauert aus schweren, schwarzen Steinen und ohne eine Öffnung. Vier oder fünf größere Sonnen waren mit in dieser Illusion gefangen und strahlten ihr buntes, unwirkliches Licht an die alten Mauersteine, ließen sie gespenstig tanzen und glänzen. Veith glaubte, dass er sogar Geruch wahrnehmen konnte und er wünschte sich im gleichen Moment, es sei nicht so.

Es stank nach Verwesung, nach Schwefel, Blut und Gift. Und es war furchtbar kalt. Sofort schlang er seine Arme um sich und rückte etwas näher an Saron, der ebenfalls ob der ungewohnten Kälte zu zittern begann.

„Wie fühlst du dich jetzt, Engel? Wie fühlst du dich, wenn du den Himmel nicht mehr sehen kannst?“, fragte der Meister-Incubus laut, seine Stimme hallte von den Illusionswänden wider. „Hast du Heimweh nach Papa Gott?“

Wütende Blitze zuckten in den Augen Lyrias, und doch verlor sie ihre Beherrschung nicht. Vorerst nicht.

Um das Bild zu vervollständigen, erschuf Ancarus hunderte von Untoten, die mit unwirklichen, langsamen Bewegungen auf sie zukrochen.

Veith grub seine Fingernägel in die Hand. Schmerz zuckte auf und er biss sich auf die Zähne.

„Verfluchter Mistkerl.“, knurrte er. „Du verfluchtes Arschloch.“

„Sind das Lieblose?“, fragte Saron, und seine Stimme schwappte über vor Begeisterung. „Heilige Scheiße, der Typ hat’s echt drauf!“ Sein Atem stieg in Kondenswölkchen auf.

Lyria blieb stehen, nicht recht wissend was sie tun sollte. Sie schoss einen Strahl Energie auf eine Gruppe der Lieblosen, aber er glitt durch. Veith erkannte an ihren Bewegungen, dass sich Unsicherheit in ihr breit machte, sie wich zurück ohne dass es ihr etwas nützen würde. Die Untoten hatten sie eingekesselt.

Im nächsten Moment schnellten sie auf den Engel zu, zu plötzlich als dass sie irgendetwas hätte tun können.

Veith kniff die Augen zusammen, die Menge hingegen grölte. Er musste nicht sehen, was die Lieblosen taten, er kannte ihr Wesen.
 

Und sollte es einen Gipfel der Verzweiflung geben, so sind es die Lieblosen.

Nicht imstande eine Leidenschaft zu empfinden, ein Wort zu formen, einen Gedanken zu besitzen gieren sie nach all dem, was sie niemals besitzen können und sie werden nicht eher ruhen, bis all dein Fleisch und Blut, dein ganzes Inneres an ihren Körpern klebt und unter ihren Fingernägeln klemmt und von ihrer Haut tropft.
 

Kristallern klar hörte er die Schreie Lyrias über die Menge hinweggellen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Beruhige dich, verflucht. Du bist ein Dämon. Ein Dämon.

Benimm dich wie ein Dämon!

Ein Schrei der Wut röhrte in seiner Kehle und bevor er weiter darüber nachdenken konnte, sprang Veith auf. Er konnte Lyria nicht sehen, bezweifelte ebenfalls, dass sie ihn hören konnte. Die Menge um ihn herum johlte vor Begeisterung und sie war vergraben unter den Händen und Fingern der Lieblosen, die sie überall berührten, in all ihre Löcher und Poren hineingriffen, mit ihren Nägeln an ihrer Haut kratzten, sie von innen aufschabten.

Es sind Illusionen! Nichts weiter als Illusionen! Sie sind nicht da, niemand ist hier, sie berühren dich nicht!“

Er schrie ihr entgegen, schrie mit seiner Stimme und seinen Gedanken und wurde doch übertönt.

Saron zog ihn zurück auf seinen Platz und verpasste ihm eine Backpfeife.

„Bist du wahnsinnig?!“; fragte er laut. „Was ist denn in dich gefahren, willst du dass die Leute dich zerreißen?“ Wieder antwortete er ihm nicht, fühlte sich außer Atem, während seine Wange brannte. Seine Wut verflog, machte einem ungewohnten Gefühl der Ausweglosigkeit Platz.

Was zum Teufel passiert mit mir?

Lyria würde zugrunde gehen. Sie würde schwach werden, den Kampf verlieren. Ihr Leben würde als Hure enden, bei einem reichen Sack, der sie in Ekstase erschlagen würde. Er wusste es.

Sie war ein Engel, der sein Leben lang Dämonen gefürchtet und verabscheut hatte, wie sollte sie auch nur eine Sekunde im Kampf gegen einen bestehen können?

Gegen den Besten unter ihnen, der sie mit einem Horror konfrontiert, den sie wahrscheinlich nicht mal im Entferntesten erahnt hätte.
 

Das alles hat mit mir nichts zu tun. Es geht mich nichts an, ich sitze nur hier. Ich sitze hier und sehe zu, wie ihre Schönheit zerstört wird, und es geht mich nichts an.

Und dennoch…
 

„Du kannst fliegen.“, flüsterte er tonlos, „Es sind nichts als Alpträume, und Träume enden, wann immer du willst. Du musst nur aufwachen. Wach auf. Wach auf!“
 

Alles was er sehen konnte, waren grün leuchtende Augen und in den wenigen Sekunden, in denen er sie sah, glaubte er, dass sie ihn anschauten. Erkenntnis.

Im nächsten Moment schoss ein weißer Pfeil aus dem Gewühl aus Händen, Mündern und Leibern der Lieblosen. Schneller als alles andere, was der Dämon je gesehen hatte, beobachtete Veith, wie Lyria floh, die Flügel ausgebreitet.

Sie schoss geradezu durch die Decke, unaufhaltsam und hell.

Das Gewölbe verschwand augenblicklich, Ancarus formte schwarze Geier, die ihr nachhetzten, aber sie waren zu langsam. Er schickte Drachen hinterher, doch auch sie konnten die weiße Gestalt in der Ferne nicht mehr erreichen.

Seine Illusionen lösten sich wie Asche im Wind auf.

„Scheiße, das kann nicht wahr sein!“, rief Saron neben ihm, „Sie fliegt! Sie fliegt davon!“ Entsetzen breitete sich über dem Publikum aus, breitete sich in Ancarus Gesicht aus, breitete sich in den Gesichtern aller Jäger aus und rollte unaufhaltsam über die Masse hinweg.

Doch auf Veiths Gesicht zeichnete sich ein kleines, fasziniertes Lächeln ab.

Wistful Ocean Calm And Red

Wistful Ocean, Calm And Red
 

In den ersten Tagen wurde planlos nach Spuren gesucht, wo Lyria sich versteckt haben konnte. Die ganze Stadt wurde durchkämmt, die Jäger waren rasend vor Wut und Scham.

Doch so energisch sie auch suchten, erpressten und mordeten, um sie zu finden – sie fanden sie nichts. Sie fanden nicht einmal die leiseste Spur von ihr. Keine Feder, kein Haar. Nichts.

In der zweiten Woche nach ihrem Verschwinden begannen sie damit, die Regenfelder im Süden nach Auffälligkeiten zu untersuchen und suchten großräumiger. Sie suchten selbst in anderen Fürstentümern nach ihr und in der dritten Woche wusste die gesamte Hölle, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Engel den Jägern entkommen war.

Die Geschichte hielt sich fünf ganze Wochen in den Köpfen der Dämonen. Szenerien in den Clubs wurden mit den neuen Ereignissen gefüllt, an jeder Ecke hörte man jemanden über Lyrias Flucht reden und Tag für Tag verloren die Jäger ein Stückchen Autorität mehr.

Veith beobachtete, wie sich die Leute in den Bars darum stritten, wo sie nun sei, wohin sie geflohen war und wie entsetzlich unverantwortlich die Jäger gehandelt hatten.

Er beobachtete, wie Ancarus der Öffentlichkeit gegenübertrat und ihren Hohn ertragen musste. Der größte Incubus seiner Zeit, der begabteste und grausamste Zauberer des Horrors hatte in einer Nacht alles verloren, was ihm jemals zugestanden hatte.

Ruhm. Anerkennung. Geld.

Und je länger Veith all dies beobachtete, desto größere breitete sich eine geheime Zufriedenheit in ihm aus.
 

Der angenehme Geruch von Holzkohle strich über die Dächer der Stadt, als er von den Schindeln des Dachs seines eigenen Wohnblocks die Welt unter ihm beobachtete. Neben ihm ragten mehrere Schornsteine in die Luft, schwarz rauchende, stinkende Blechrohre, die ab und an polterten und zischten. Auf der anderen Seite befand sich ein Dachfenster mit schmutzigem Glas und einem großen Sprung von einer Seite zur anderen. Durch diese Öffnung im obersten Stock, nur wenige Treppenabschnitte von seiner Wohnung entfernt, war er auf das Dach gelangt. Jetzt hielt ein kleiner Stab das Fenster davon ab, zuzufallen.

Er saß gerne hier, genoss diesen kleinen, einsamen Platz inmitten einer Stadt, die einen niemals allein nachhause gehen ließ. Hier oben war er kein Teil einer bedeutungslosen Menge der Lust, hier oben war er groß und er genoss es, diese Größe mit niemandem teilen zu müssen. Er sah zu, wie weit unten in einer Ecke der Straße mehrere Dämonen, von seinem Aussichtspunkt aus nur kleine, dunkle Männchen, zusammenkamen und sich die Kleider vom Leibe rissen. Spontan hatte sich die Gruppe entschlossen, eine kleine Orgie in der Öffentlichkeit zu veranstalten und es dauerte nicht lange, da sammelten sich schon mehrere Masturbierende um das Szenario herum an.

Der Schwarzhaarige beobachtete die Gesichter der Dämonen, die aussahen, wie kleine hohle Steine mit einigen großen Poren, die sich wie bei einem Schwamm verzogen. Bald würden sie aus seinem Blickwinkel und seiner Welt verschwinden und er war sich sicher, dass er sie sich niemals in Erinnerung behalten würde. Sie waren gewöhnlich. Gewöhnliche Dämonen in diesem Bollwerk der Lust.

Er fragte sich, was sie dabei empfanden, ob sie etwas empfanden und er wusste gleichzeitig, dass es das Nichts war, das sie alle empfanden.

Empfindung. Emotion.

Wann waren diese Worte in seinen Gedanken aufgetaucht?

Bevor er Lyria gesehen hatte? Vielleicht vor einem Jahr, oder vor sechs Jahren. Vielleicht hatte es schon immer existiert. Er wusste es nicht genau.

Doch die Tatsache, dass er diesen Begriff, dieses Ereignis in Worte fassen konnte, war ihm neu. Emotion.

Nun, nicht ganz neu.

Seit er sich erinnern konnte, passierte es öfter, dass ein Wort in seinen Gedanken und seinen Empfindungen auftauchte, welches er vorher nie gehört hatte.

Schönheit. Einzigartigkeit. Und nun – Empfindungen und Emotionen.
 

Veith erzählte niemandem davon, nicht einmal Saron, obwohl er ihn – zur Hölle, er kannte ihn seit er denken konnte.

Er wusste, dass der Vampirdämon, sein Partner oder Gefährte – er wusste nicht wie er es nennen sollte – auch so bemerkt hatte, dass etwas an ihm anders war. Dass es etwas gab, was nicht den anderen Dämonen entsprach.

Und bisher hatte Saron ihn nicht verlassen, sondern akzeptiert. Für diese Beständigkeit empfand Veith etwas sehr Großes und Wichtiges.

Aber auch dafür fehlten ihm die Worte.

Er stieß einen Seufzer in die Dunkelheit hinaus und im gleichen Moment hörte er, wie der kleine Metallstab, der das Dachfenster aufhielt, mit einem scharrenden Geräusch gelöst wurde.

„Ich hab dich schon überall gesucht. Spielst du hier oben einsamer Eremit?“, fragte Saron und kletterte hinaus.

„Ja.“, antwortete der Schwarzhaarige und lächelte kurz, „Mit großer Begeisterung sogar.“

Er hörte, wie der Dämon leise lachte und sich neben ihm niederließ. Eine Weile herrschte Schweigen und der Incubus beobachtete seinen Mitbewohner dabei, wie er hinunter in die Straßen blickte, wie er es selbst getan hatte.

Dabei spürte er einen kleinen Stich in seinem Inneren – sein geheimer Ort der Größe war soeben entweiht worden und er hatte geglaubt, dass sich diese Tatsache schlimmer anfühlte.

Aber es machte ihm nichts aus, solange es Saron war, mit dem er diesen Ort teilen musste.
 

„Ich hatte gehofft, dass du mich begleitest, um ein wenig Spaß zu haben.“, sagte er dann.

„Nein.“

Saron zog eine Augenbraue hoch. „Du verkriechst dich etwas in letzter – ah ich verstehe.“, er hatte die Orgie in der Straßenecke entdeckt, „Gehst du jetzt also unter die Voyeure?“

Der Angesprochene lächelte erneut kurz. „Dazu bin ich zu wählerisch.“, sagte er, „Und sie werden nicht mehr lange Spaß haben, ich glaube, der eine Typ da mit der Glatze ist ein Zornländler.“

Saron knurrte.

„Dieses Volk mischt sich immer mehr in unsere Gefilde ein.“, sagte er verärgert, „Manchmal wünsch ich mir, sie würden alle einfach in ihr dreckiges anarchistisches Loch zurückkriechen und uns in Ruhe lassen.“

Im nächsten Moment kam der besagte Dämon aus dem Fürstentum des Zorns zu seinem Höhepunkt – und zerfleischte alle anderen mit Krallen und Zähnen, blind vor Ekstase. Blut und Gedärme spritzten an die Außenwände der nahe liegenden Häuser und auf seine Kleidung.

So schnell sie erschienen waren, verschwanden die Masturbierenden nun wieder und überließen dem Dämon die Szene.

Eine Weile senkte sich Schweigen über die beiden Beobachter, während sie zusahen, wie der Dämon unten in den Straßen langsam wieder einen klaren Kopf bekam, sich die Schweinerei ansah, die er angerichtet hatte und dann verschwand, bevor ein Anwohner in dazu zwingen konnte, das ganze auch noch wegzumachen.

„Weißt du was ich manchmal denke, Saron?“, begann Veith dann nachdenklich, „Ich denke, wir Dämonen haben unseren eigenen Wortschatz und unsere eigenen Gedanken, so wie die Menschen und die Engel ihn haben.“

Der Angesprochene brummte.

„Und?“, fragte er unbeeindruckt.

„Ich glaube das ist gut so. Das unterscheidet uns. Aber manchmal denke ich...was wäre wenn sich ein kleiner Teil aus dem einen Gedankengut mit einem anderen vermischt?“

„Chaos.“, antwortete Saron, nachdem er einige Minuten lang geschwiegen hatte. „Das wäre der Beginn von Chaos. Es ist gut so, wie es ist. Warum denkst du über so was nach?“
 

Der Schwarzhaarige senkte den Kopf. „Einfach so.“, meinte er ausweichend.

Er spürte, wie Saron ihn immer noch betrachtete.
 

Idiot.

Es hatte seinen Grund, warum du bisher für dich alleine darüber nachgedacht hast – hast du das vergessen?

„Sag mal...du bist doch kein Depressiver geworden, oder?“, fragte Saron langsam.

Der Angesprochene lachte kurz auf.

„Nein, bei Luzifer, nein.“ Er hörte, wie Saron erleichtert ausatmete.

„Das beruhigt mich ungemein.“
 

Veiths Blick lenkte sich wieder auf die Straßen unter ihnen. Der Zornländler war verschwunden, aber die Spuren seines kleinen Abenteuers klebten immer noch an den Wänden und auf der Straße. Allerdings störte sich niemand daran, einige Passanten gingen vorbei, ohne groß Notiz davon zu nehmen. Eine Dämonin mit auffallend grünlich schimmernder Haut rutschte auf dem Darm einem der Orgienteilnehmer aus und Veith konnte sehen, wie sie sich schrecklich ärgerte und laut fluchte.

Aber auch den Ärger dieser Dämonin war nicht weiter von Interesse für die anderen und in einer anderen Ecke, gar nicht weit entfernt, konnte er sehen, wie bereits die nächste Orgie begann und sich vier oder fünf Dämonen aus den Kleidern schälten.

All das war Alltag. Ab und zu interessant, doch meistens unglaublich unbedeutend.
 

Er hatte diese Stadt niemals verlassen, aber er hatte viel gehört, viele Geschichten aus aller Herren Länder.

Von Zeit zu Zeit tauchte eine Erinnerung in einem Traum eines Kunden auf, die ihm davon erzählte, wie es im Rest der Hölle aussah.

Er hatte den unvorstellbaren Reichtum in Supérbia und Gula gesehen, riesige Schlösser und Anwesen aus purem Gold, breite Straßen mit Diamanten gepflastert und einen Tisch aus Elfenbein, der so reich mit Essen gedeckt war, dass sich unter der Last dieses Luxus ächzend durchbog.

Er hatte gesehen wie die Dämonen in Avaritia um alles fürchteten, was sie besaßen – selbst um die Knochen in ihrem Leib und das Blut in ihren Adern. Wie sie sich gegenseitig hetzend und garstig umbrachten, in der Angst, dass man ihnen alles nehmen könnte, wie sie selbst darauf verzichteten, zu schlafen, um sich die Zeit aufzusparen.

Er hatte so viel gesehen, und doch hatte er es niemals mit seinen eigenen Augen gesehen. Nur stets in den verworrenen Traumwelten fremder Dämonen.

Und als er daran dachte, entfachte ein kleiner Teil von ihm eine Sehnsucht, auszubrechen, raus aus allem was er kannte um in eine völlig fremde Welt zu gelangen.

Er fühlte, dass...

„Also ich nehme an, ich kann dich wirklich nicht mehr von einem Ausflug ins Orgasmusparadies überzeugen?“, fragte Saron.

Veith brauchte einige Sekunden, um den roten Faden seiner Gedanken wieder zu finden. Doch bevor er ihn gefunden hatte und überhaupt begreifen konnte, was sein Gegenüber ihn gefragt hatte, antwortete er: „Doch. Klar.“

Auf dem Gesicht des Vampirs erschien ein begeistertes Grinsen und sofort griff er nach seiner Hand.

„Perfekt, dann lass uns keine Zeit verschwenden!“

Überrumpelt davon, dass Saron ihn vom Dach in das Innere des Wohnhauses und von dort aus auf die Straße schleifte – und das alles in einer erstaunlichen Geschwindigkeit – verlor Veith erneut seinen Faden und beschloss, dass es besser sein würde, sich einfach mitziehen zu lassen, als noch einmal zu versuchen, seine Gedanken zu ordnen, um einen solchen in klarer Form zu fassen.
 

Als er dazu wieder in der Lage war, stellte er sofort zwei Dinge fest.

Saron hatte ihn geradewegs in den größten Sexpalast der gesamten Stadt verschleppt – und es war die Hölle los.

Daraus schloss er den unumstößlichen Fakt: Ohne mindestens 5 Orgasmen und 2 Bettgesellschaften für diese Nacht würde er es nicht mehr nach Hause kommen.

Er seufzte, ließ ein halbes Lächeln zu und ließ die Sünde machen, was die Sünde für richtig hielt.
 

*

Status Seeker

Status Seeker
 

Keuchen und Stöhnen um ihn herum. Laute Musik brachte seinen Körper und den all der anderen zum Vibrieren und Lichter flogen wie Geister über ihn hinweg. Blitze zuckten durch die Masse, vorbeirasende Fetzen von Leuchtpunkten erleuchteten verdrehte Arme und ausgestreckte Beine, die sich voller Hitze gegen nasse, bebende Hüften warfen. Aufgerissene Münder, die nach fremdem Speichel suchten, eingedrehte Augen, durchscheinende Ohren, wippende Brüste, wackelnde Hintern.

Alles wand und verschwand ineinander und übereinander, alles verknotete sich ineinander. Sie waren ein einzelnes großes Wesen, ein Bollwerk der Sünde, vereint in Wollust, Gier, oh Gier und so viel Sehnsucht.
 

Sehnsucht, ja. Gib’s mir noch mal, noch einmal, nur ein bisschen. Oh, ja, komm her, gib mir alles was du hast, noch mehr, immer mehr, ich will dich, ich will alles.

Ungeduld, Sehnsucht, schließ mich ein, nimm mich mit, lass mich Sklave sein und friss mich auf!
 

Es brannte in ihm und um ihn herum, Hitze und Kälte, so dicht hintereinander, dass er für Sekunden davon überzeugt war, seinen eigenen, riesigen Traum der Lust erschaffen zu haben. Riesige Tsunamis rollten über ihn hinweg und es erklang ein gigantisches, einziges Stöhnen, als das riesige Monster der Wollust kreischend und stöhnend seinen Höhepunkt erreichte.

Es war ein Kitzeln und ein Schlagen. Hin und hergezerrt, durch die Unendlichkeit geschleudert, wieder zurückgeworfen, eine Welle der Gier und ein Zucken nach mehr. Ein Erdbeben der Sinne.

Endlosschleife.

Noch einmal, noch einmal, noch ein letztes Mal...

Hände griffen nach ihm, berührten, streichelten und zerfurchten seine Haut. Es spielte keine Rolle. Ein Nervenschlag auf den anderen, jeder einzigartig, jeder in einer anderen Farbe.

Höher...noch höher...so hoch.

Sehnsucht, quäle mich, quäl mich nur noch ein bisschen, nur dieses eine Mal noch. Oh ja, bitte, Sehnsucht, weiter, ich brauch dich weiter, nur noch ein kleines Bisschen.
 

Aaaaaah...“
 

Für einen Moment war alles schwarz. Veith spürte, dass er den Boden unter den Füßen verlor, spürte gleichzeitig eine so plötzliche und überwältigende Erschöpfung, dass er nichts dagegen tun konnte und mit den staubigen, verschmierten Fliesen kollidierte.

Er brauchte einen Atemzug, dann richtete er sich auf, um der Masse an Dämonen, die in ihrer Welt der Wollust gefangen waren, nicht im Weg zu stehen, bevor sie ihn blind für alles um sie herum nieder trampelten oder erneut in die Gedärme ihres Monsters aufsogen.

Sich in einem sichereren Bereich am Rand der riesigen Tanzfläche aufhaltend und an der Wand lehnend sah er sich nach Saron um, aber er konnte den weißen Haarschopf nirgendwo entdecken. Die Luft war neblig und es roch nach Sperma und Schweiß. Überall zuckten und zitterten die Leiber in und übereinander, während grell leuchtende Sonnen in Scheinwerfervorrichtungen über sie hinwegfegten. Von außen sah es noch deutlicher so aus, als befände er sich mit einem riesigen, röhrenden Monster in dieser Discohalle.

Spielt keine Rolle.

Frische Luft.
 

Er drückte sich an der Masse der Gäste vorbei in Richtung Ausgang, gelangte nach draußen und sog die Nachtluft ein. Kühl und würzig, immer noch ein Hauch von Schwefel, aber erträglicher als tagsüber.

Veith schloss einen Moment die Augen. Immer noch hörte er den vibrierenden Bass aus dem Club, glaubte fast, immer noch all die Hände und Finger an seinem Körper zu spüren. Für Sekunden kribbelte es erneut in ihm, aber das Gefühl verging, als er die Augen wieder öffnete.

Die Straße, in der sich der Club befand, war gesäumt mit anderen Orten dieser Art und überall säumten sich vor den Eingängen der anderen Discotheken und Bars Dämonen, die alle nur nach der Befriedigung ihrer Gier nach Sünden gierten. Teilweise brutal, teilweise leidenschaftlich und lüstern fielen sie übereinander her und dabei spielte es keine Rolle, wer sich mit wem abgab – oder gar mit wie vielen.

Es gab keine Regeln für das Ausleben der Leidenschaften – nicht hier. Um nicht selbst schon im nächsten Moment wieder von einem anderen Dämon mitgenommen zu werden, ging Veith ein paar Schritte, bis er eine unbeleuchtete Nische zwischen zwei Gebäuden fand und in ihr verschwand. Das war nicht weniger abenteuerlich, als sich in die Gesellschaft einer der Nachtgestalten zu begeben, aber er ließ das Risiko, von einem Linkfinger, statt einem lüsternen Dämon überfallen zu werden für diesen Moment außer acht.
 

Veith bemerkte, dass seine Kleider über und über verschmiert waren, mit Körperflüssigkeiten, die er nicht kannte und die er auch nicht kennen wollte. Der Incubus verzog das Gesicht, bemerkte dann, dass sein Hemd einen brutalen Riss in der Seite hatte, den das wollüstige Massenmonster wohl hinein gebissen hatte, und beschloss schließlich, es einfach wegzuwerfen.

Mit einer schnellen Handbewegung streifte er es ab und ließ es achtlos fallen. Irgendwo würde sich schon etwas anderes finden.

Der kühle Wind strich über seine Brust und löste ein aufkommendes Gefühl der Befreiung von all den schleimigen, fließenden Überresten seines Abenteuers im Club.

Der Schwarzhaarige hatte als junger Dämon gehört, dass die Hölle im Grunde nur eine unvorstellbar riesige Höhle war, tief im Erdreich versteckt.

Er fragte sich oft, ob ein Dämon jemals den Rand dieser Höhle berührt hatte – und wo der Wind und der Ascheregen herkamen.

Aber die Antwort spielte keine Rolle. Es gab Fragen, die dazu da waren, dass man keine Antwort auf sie fand, um stets darüber nachdenken zu können und Veith war froh, dass er in der Lage war, darüber nachzudenken.

Außerdem zweifelte er daran, dass es wirklich so war. Es war einfach viel zu schwer, sich vorzustellen, wie groß diese Höhle dann sein musste. Und was dahinter alles liegen konnte...

Einige Minuten lang beobachtete der Incubus die vorbeiziehenden Lichtpunkte einer Sonne, die durch die Gassen wanderte.

Grün und Gelb schimmerten sie auf den schmutzigen Steinen.

Schmutz. Blut. Dreck.

Das ist die Welt in der ich lebe.

Er lächelte kurz und wusste gleichzeitig nicht, ob es ein bitteres oder ein freudiges Lächeln war. Bevor er die Lösung finden konnte, war es längst verblasst und ebenso nicht mehr wichtig.
 

Der Incubus verließ seine Nische wieder, um unbestimmt in eine Richtung zu laufen, vorbei an den zahlreichen anderen Nachtclubs. Wonach er suchte, wusste er nicht bestimmt. Vielleicht nach einem Clubbesucher, einem Kunden, einem Abenteuer oder Saron.

Er war gerade dabei, in einen angenehmen Gedanken zu versinken, als etwas seine Sinne durchzuckte.
 

Hahh...
 

Weiß... Rot... Angst...
 

Nein!
 

Verwirrt hielt der Dämon.

Es hatte sich angefühlt, wie ein Traum, ein sehr kurzer, wie ein Blitzschlag, der in einen fährt. Er sah sich um, aber entdeckte nichts Verdächtiges, was dieses Gefühl hätte hervorrufen können.

Ohne bestimmten Grund begann er, weiter zu laufen, fort von der Clubmeile und die unbelebteren Straßen drumherum zu durchwandern. Ein unangenehm feuchter Geruch ging von den alten Häusern aus, aber je weiter er ging, desto mehr verstärkte sich etwas in ihm...eine ihm unbekannte Empfindung, wie ein Impuls.
 

Keuchen. Flucht.

Verschwinde. Verschwinde!
 

Da war es wieder gewesen!

So schnell er konnte schloss Veith die Augen, in der Hoffnung, die Vision noch einige weitere Sekunden aufrecht zu erhalten. Vergeblich.

Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm so etwas je zuvor schon einmal passiert war. Er war sich fast sicher, dass er mit einem Geist kommunizierte, so wie er mit dem Unterbewusstsein seiner träumenden Kunden kommunizieren konnte.

Wenn er also in die Gedanken dieses Geistes blicken konnte...vielleicht funktionierte es auch umgekehrt?
 

Wer bist du?
 

Wer bist du?
 

Wie durch ein Echo wurde seine gedankliche Stimme zu ihm zurückgeworfen. Der Incubus runzelte die Stirn, folgte weiter seinem Instinkt, fragte sich ob er nicht einfach viel zu viel Zeit in dem Club verbracht hatte, aber wusste gleichzeitig, dass diese Dinge andere Gründe haben mussten.
 

Doch mit einem Mal übermannte ihn eine Erschöpfung, die stärker war, als alles, was er bisher gekannt hatte. Stärker als jene, die ihn im Club auf den Boden geworfen hatte – wesentlich stärker sogar.

Er hatte keine Zeit, sich zu fragen, was mit ihm passierte oder warum.

Es fühlte sich an, als würde jemand direkt in seinen Körper hineingreifen und alle Adern zusammendrücken, als würde anstatt seines Blutes flüssiges Blei durch diese Adern fließen und als ob die Zeit ein unglaublich langsames Zahnrad war, welches ihn langsam aber unbarmherzig gegen den Boden presste, in diesen hinein, tiefer, bis zu einem harten, kalten Erdkern und in dessen Inneres.
 

Als ihn die Wirklichkeit wiederhatte, kam es ihm so vor, als sei er jahrelang auf einer intensiven, weiten Reise gewesen.

Zuerst nahm er das Gefühl seiner rauen, dreckigen Fingerkuppen wahr. Eine unwahrscheinlich detailgetreue Vorstellung all der feinen Linien und Einfurchungen tauchte vor seinem inneren Auge auf und mit dieser Vorstellung kam auch die Empfindung der Wärme seines eigenen Blutes in den Adern dieser Fingerspitzen.

Dann kam der Atem. Leise und gleichmäßig, ohne Hast. Das Heben und Senken des Brustkorbs. Seine Nasenhaare flatterten im Wind seines Atems und nahmen den bekannten Geruch seiner Wohnung war. Die Fenster mussten offen stehen, denn der Gestank von den Straßen zog hinein und vermischte sich mit dem Geruch. Dann hörte er Geräusche.

Ein Rauschen und ein Gewirr aus Stimmen, beides musste ebenfalls zusammen mit dem Gestank hineinziehen. Eine Weile hörte er zu und stellte fest, dass aufgeregte Stimmung auf den Straßen herrschte. Bevor er sich jedoch fragen konnte, warum – öffneten sich wie von selbst seine Augen und zeigten ihm die Decke seiner Wohnung – graue, vermutlich durchgefaulte Holzlatten. Vorsichtig richtete er sich auf, jemand hatte ihn in sein Bett gelegt. Der Wohnraum war leer bis auf ihn. Die ebenso graue Holzwand gegenüber starrte ihn an. Bis auf dem Bett, in dem er selbst lag, gab es noch ein weiteres, dann ein Regal, ein behelfsmäßiger Tisch der aus einem alten Brett und vier Röhren zusammen geschustert war und zwei Kisten, die als Stühle dienten. Das Fenster im Raum stand tatsächlich offen. Aus dem kleinen Wohnraum, den Veith sich mit Saron teilte, seit...eigentlich schon seit immer, wenn er darüber nachdachte, führte eine Tür in eine ebenso kleine, sogenannte Küche – die aus nicht viel mehr als einem weiteren Tisch und einem Schrank bestand, in dem sich von Zeit zu Zeit Vorräte befanden, die er und der Vampir irgendwo her ergattert hatten (auf legale, oder illegale Art und Weise).

Bis auf die Stimmen, die von draußen herein drangen, schien es still in der Wohnung zu sein. Er rief nach Saron und sofort sprang die Tür auf und der Vampir eilte herein.

„Bei allen sieben Todsünden!” , sagte er. „Ich hab schon gedacht, irgendwelche kranken Viecher hätten dein Hirn ausgesaugt.“

Veith stand auf, sah aus dem Fenster und schloss dieses bei der Gelegenheit auch sogleich. Ihre Wohnung war Teil eines hohen Wohnbaus und lag in beinahe ganz oben, sodass der Weg zu seinem geheimen Ausflugsort – dem Dachfenster – nicht allzu weit war. Er erblickte unten einen riesigen Tumult auf den Straßen, die gesamte Stadt musste auf den Beinen sein.

„Was ist da los?” , fragte er.

Für einen Moment sah Saron so aus, als wäre er entsetzt, wie jemand etwas Derartiges nicht wissen konnte – dann fiel ihm ein worüber er sich wenige Sekunden zuvor noch Gedanken gemacht hatte.

„Sie haben eine Feder gefunden, gestern Nacht.” , antwortete er also. „Von dem Engel! Du weißt schon, die Kleine, die den Jägern entwischt ist und so weiter. Weißt du, was das für ein Zufall ist? Die Leute sagen, es ist überhaupt nicht möglich eine Engelsfeder zu finden, weil sie sich direkt auflösen soll, wenn sie unseren Boden berührt. Aber sie haben die Feder zwischen zwei Brettern einer Holzfassade klemmend gefunden. Das ist unglaublich!“

Der Schwarzhaarige runzelte einen Moment die Stirn. „Gestern Nacht waren wir in dem Club, oder?” , fragte er sicherheitshalber nach. Sein Gegenüber nickte.

„Der Fund hat sich sogar ganz in deiner Nähe ereignet! Nicht zwei Straßen weiter!” , meinte er und seine Stimme klang begeistert, „Du hast dich fast mitten in einem Skandal befunden!“

Fantastisch...“
 

Wieder hatten sich einige Zornländler unter die Menge gemischt und er fragte sich, wie es wohl wäre, nicht in einer Grenzregion zu leben. Entweder furchtbar einfach oder furchtbar langweilig. Einige veranstalteten Orgien in der Menschenmenge, aber die allermeisten – und das war das Erstaunliche an dieser ganzen Szenerie – diskutierten. Angezogen.

„Die gesamte Jägerschaft ist wieder täglich unterwegs und sucht nach Hinweisen, alles wie vor ein paar Monaten. Man kann kaum in Ruhe durch die Straßen gehen, ohne in ein dieser haarigen Katzengesichter zu blicken. Meine Fresse, wenn die wüssten, wo du warst.“

Veith erkannte die Frage zwischen den Zeilen des Vampirs. Er erinnerte sich an die Visionen, die ihn wie blitzartige Träume getroffen hatten.
 

Ein Hilfeschrei?

Von wem?

...

Nein, wie sollte so etwas möglich sein?

Nein. So was funktioniert nicht. Nie.
 

„Ich glaub, mir hat die Luft in dem Club einfach nicht gut gegangen. Ich bin rausgegangen, dachte mir würde es dann besser gehen – na ja, war wohl nicht gerade der Fall.“

Saron zog beide Augenbrauen hoch.

„Schlechte Luft...Du hast echt mehr Glück als Verstand, Veith. Sei froh, dass ich dich zuerst in den Gassen gefunden hab.“

Der Schwarzhaarige nickte.

Er war wirklich froh. Hilfsbereitschaft war eine Eigenschaft, die extrem selten einem Dämon zugeschrieben wurde – höchstens wenn sie eigenen Nutzen erbrachte.
 

Du übertreibst und lügst wieder. Nicht selten – nie

Wen kennst du schon, außer Saron?

Sie hätten dich alle liegen gelassen.
 

Veith atmete einmal tief durch und die Gedanken verschwanden. Aber das unangenehme Ziehen im Unterleib, was sie heraufbeschworen hatten, blieb.
 

Vielleicht war es nicht die schlechte Luft – vielleicht wirklich nicht.

Vielleicht gibt es Dinge, die nicht möglich sind und trotzdem Realität werden.

Hoffentlich?

Nein...bleiben wir bei Vielleicht.
 

*

Headspace

Obwohl die Jäger nahezu jede Wohnung und jeden Unterschlupf in der Stadt und auch außerhalb durchsuchten, jede Gasse umkrempelten und jeden nächtlichen Schatten verfolgten, war Lyria wieder verschwunden.

Ein kurzes Aufblitzen in der Nacht – und wieder war alles dunkel um ihre Flucht.
 

Veith lächelte leicht, aber nur kurz.

Er war bei einem Kunden, hatte ihn gerade in eine Trance versetzt und betrachtete den Dämon nun, wie er wehrlos schlafend vor ihm lag. Er war nicht hässlich – aber noch weniger schön. Das Gesicht war schmal und gewöhnlich, auf eine Art und Weise traurig, die Angst machte und dazu veranlasste, Abstand zu halten.

Der Schwarzhaarige fragte sich, woher dieser Ausdruck in seinen Zügen kam. Aber er war nicht hier, um das herauszufinden, sondern um diesem Dämon das zu geben, wofür er bezahlt hatte.

Und das waren ein paar traumhafte Stunden.

Er konzentrierte sich, bis die nötige Ruhe in seinem Geist war und legte die linke Hand auf die Stirn des Dämons. Seine eigene Stirn legte er sacht auf den Handrücken. Den körperlichen Kontakt zwischen ihnen beiden so hergestellt, schloss er die Augen. Dass ein Incubus so ein über die Maßen gutes Gehör hatte, hatte nicht den Grund, im alltäglichen Leben besser zurecht zu kommen, sondern vielmehr auch das leiseste Flüstern eines fremden Geistes hören zu können, wenn man sich auf ihn einließ.

Jeder Geist flüsterte vor sich hin und wenn er sich auf dieses Flüstern konzentrierte, dann schaffte er eine Brücke zwischen seinem eigenen Bewusstsein und dem des Träumers. Dann musste er nichts weiter tun, als einzutauchen in eine fremde Welt voller Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken. Und das tat Veith.
 

Ihm schoss ein Schwall negativer Gefühle entgegen, die versuchten, ihn einzuschließen und festzuhalten.

Alles schien starr und bewegungslos zu sein, alles außer der Angst, die wie ein tonloser Wirbelwind in diesem Geist hin und hertobte.

Veith verharrte einen Moment und eine starke Empfindung machte sich in ihm breit.

Dieser Dämon folgte nicht seinen Begierden – er brauchte die Nähe und Wärme. Er brauchte sie, weil er ein Depressiver war.

Einer von den Schatten und Gestalten, die niemals Spaß oder Freude empfinden konnten, weil die Trauer von ihnen Besitz ergriffen hatte. Niemand wusste, woher diese Krankheit kam oder wie man sie verhindern konnte und sie traf willkürlich Dämonen jedes Ranges und jeder Herkunft, die danach nicht mehr Teil irgendeiner Öffentlichkeit waren, weil sie nicht mehr dazu imstande waren, Teil von einem Leben zu sein.

Es war erstaunlich, dass dieser hier Veith überhaupt angesprochen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, was für eine Überwindung das gekostet haben musste, in Anbetracht von diesem Chaos in seinem Inneren.

Der Schwarzhaarige betrachtete das Innere des Dämons und versuchte, so viel wie möglich von all dem Elend und den Schmerzen im Gedächtnis zu behalten.

Dann formte er aus einem Teil der Schwärze einen jungen Dämon mit gold schimmernder Haut und bronzefarbenen Haar. Aus der Dunkelheit bildeten sich feine Linien heraus, die langsam die Umrisse eines Körpers bildeten und eine unsichtbare Lichtquelle ließ die Haut aufleuchten und immer mehr Einzelheiten hervorkommen. Die Augen der Gestalt funkelten dunkel und lebhaft und Veith war froh, weil er wusste, dass diese Augen seinen Kunden einen Moment lang etwas schenken würden, was er vielleicht niemals wieder zu Gesicht bekommen würde.

Er malte mit seinen Gedanken ein weites Feld mit Dornblumen – aber er nahm den Pflanzen die Dornen, sodass nichts als die exotisch leuchtenden Blütenblätter zurückblieben. Und wie zuvor bildeten die leuchtenden Linien es aus der Dunkelheit, als würde er auf einem kohlschwarzen Papier mit leuchtend bunten Stiften die Umrisse einer imaginären Landschaft zeichnen.
 

Das ist er. Das ist der Kniff.
 

Veith spürte, dass es Zeit für ihn war, zu gehen. Der Traum verlor seine Kontur, weil er nicht länger der Herr und Meister über seine Erscheinung war. Der Depressive würde den weiteren Verlauf bestimmen und seine eigene Umgebung zeichnen.

Nach zwei langen Sekunden des letzten Betrachtens verstummten seine Gedanken und er tauchte auf.
 

Wieder umfingen ihn die Geräusche wie Lebensgeister aus der Realität.

Es waren entspannend wenige, der nun schlafende Dämon besaß eine eigene Wohnung in den oberen Stockwerken eines Hochhauses.

Veith nahm sich sein Geld und seine Sachen, verharrte jedoch noch einen Augenblick am milchigen Fenster der Wohnung, bevor er sie verließ.

Er sah hinaus, runter in die weit entfernten Straßen.

So viel Leben. So viele Dämonen.

Er fragte sich, wo all diese Wesen herkamen und wohin sie unterwegs waren

Dann machte er sich wieder auf den Weg, ließ den fremden Dämon zurück und kümmerte sich nicht länger um ihn. Dieses Mal sah er davon ab, sich seinen eigenen Bonus aus den Taschen des Depressiven zu nehmen. Vielleicht konnte dieser Traum für ein paar Stunden seine Krankheit überwinden.

Er war gerade dabei, die Treppen des Hochhauses herunter zu laufen, als ihn ein Schwindelgefühl ergriff.

Alles begann sich zu drehen und ein dumpfes Dröhnen schallte in seinen Ohren.

Ein roter schwerer Schleier, legt sich über meine Augen, zieht mich fort. Fort...weit fort...
 

Wer bist du?
 

Veith hörte sich stöhnen und hielt sich reflexartig am Geländer des Treppenhauses fest. Er atmete schnell und laut. Sein Körper zitterte und schwankte immer noch, aber das Rauschen in den Ohren und der rote Schleier war verschwunden.

Der Schwarzhaarige beruhigte sich und atmete langsam und kontrolliert ein und aus.

Ein und aus.

Ein und aus.
 

Das Schwindelgefühl verschwand wieder.

Hatte ihn dieser letzte Traum vielleicht doch überanstrengt, wie Saron es gesagt hatte? Unwahrscheinlich, so spektakulär war es nicht gewesen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der Dämon krank gewesen war?

Veith war nie zuvor in so einen Geist eingedrungen, vielleicht war es anstrengender für ihn selbst, als er gedacht hätte.

Wenn, dann musste er aufpassen, damit er sich nicht zu nahe an die Grenze von Illusion und Wirklichkeit begab. Aber im Moment schien es wieder gut zu gehen. Die Realität hatte ihn fest in der Hand.

Mit festen Schritten ging der Incubus weiter die Treppen hinunter, und -
 

Verschwinde!
 

Und die Realität hatte ihn doch nicht.
 

Erneut hielt Veith inne.
 

Verschwinde!
 

Wieder die Stimme. Der Gedankenruf. Kein Hilfeschrei, sondern eine klare Botschaft.

Das waren nicht die Auswirkungen irgendeiner Überanstrengung. Das war die Stimme aus der Nacht im Club.

Er überlegte kurz.

Ich tue niemandem was.
 

Lügner! Verschwinde!
 

Sie hatte geantwortet!

Der Dämon sah sich um, konnte aber niemanden sehen. Und trotzdem...fühlte er ein Paar Augen, das auf ihm ruhte, und der Blick dieser Augen war stechend und wahrheitssuchend. Konnte es sein, dass dieses fremde...was auch immer es war ihn beobachten konnte?

Ein unbestimmtes Gefühl erwachte in ihm, eine Empfindung, die ihm auf seltsame Art und Weise schon vertraut war.
 

Wo bist du? Kenne ich dich?
 

Verschwinde! Verschwinde! Verschwinde!
 

Ein schmerzhaftes Kreischen erklang in seinen Ohren, Metall, das über Stein scharrt und Funken schlägt und sein Kopf fühlte sich plötzlich so an, als würden zwei Riesenhände versuchen, ihn mit bloßer Kraft zu zerdrücken.

Er schrie auf und fühlte, wie das Augenpaar verschwand.

Die Händen vorher schützend auf die Ohren gelegt ließ er sie nun wieder sinken und sah sich keuchend um.

Das Gefühl, gesehen zu werden, war verschwunden – nicht jedoch dieses Vertraute in der Luft. Langsam setzte er sich in Bewegung und schritt die Treppenstufen weiter hinab, die Augen offen haltend nach jeder kleinsten Bewegung und die Ohren darauf eingestellt, jedes noch so kleine Flüstern um ihn herum aufzufangen.

Er war nicht sicher, ob es wirklich klug war, sich dieser fremden Macht entgegen zu stellen und nach ihr zu suchen – aber seit wann sollte ein Dämon vernünftige Entscheidungen treffen?

Außerdem war er sich der Tatsache sicher, dass er wissen musste, was für eine Stimme dort zu ihm sprach, wenn er nicht noch einmal von ihr heimgesucht und in eine wochenlange Ohnmacht geschickt werden sollte.

Er gelangte ins Erdgeschoss, und hatte doch das Gefühl, noch nicht am Ziel zu sein.

Vor ihm war die Eingangstür dieses Wohnturms, die erbärmlich quietschte, wenn man sie öffnete und die von außen, wie von innen stark ramponiert war. Das dünne Holz hatte überall Kratzer und Flecken. Neben der Tür war ein Fenster mit einer Glasscheibe, die die Bezeichnung eigentlich nicht verdiente, denn glasklar war etwas anderes. Die Scheibe war milchig und verkratzt und der untere Teil war eingeschlagen. Von außen fiel das Tageslicht in den Flur und Veith konnte die Stimmen der vorbeilaufenden Dämonen hören.
 

Aber deine Antwort liegt nicht dort draußen.

Du musst tiefer hinab.
 

Die weiteren Treppen führten in den Keller des Wohnturms, wo Vorräte eingelagert wurden, Ratten ebendiese fraßen und Abscheuliches Zuflucht suchte. Es gab viel Abscheuliches in dieser Welt und an das Meiste gewöhnte man sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, aber an Dinge, die sich in der Dunkelheit versteckten, konnte sich das Auge auch nicht gewöhnen.

Und jeder Dämon wusste, dass die gefährlichsten Dinge immer in dunklen Ecken lauerten, auf jemanden, der seine Vorsicht über seiner Neugierde vergaß.

Der Incubus zögerte einen Moment, sich fragend ob es das Risiko wert war.
 

Ich kann diese Stimme nicht weiter ignorieren.
 

Also bewegte er sich vorsichtig hinunter, hielt seine Augen und Ohren in jede Richtung auf.

Dunkelheit umgab ihn schnell. Hier gab es keine Fenster, Staub wirbelte unter seinen Füßen auf und kitzelte in seiner Nase. Das verbleibende Licht aus dem Erdgeschoss wurde schnell von der um sich greifenden Dunkelheit verschluckt, ebenso wie die Geräusche der Straße, bis das einzig übrige Geräusch das seiner vorsichtigen Schritte auf den Kellertreppen war, die von den Wänden schwach widerhallten.

Als er vor seinen Augen nichts weiter als Schwärze sehen konnte, schloss er sie und verließ sich bei seiner Orientierung nur noch auf sein Gehör. Tastend und lauschend bewegte er sich vorwärts, bis die Treppe endete und er eine Tür vor sich ertastete.

Veith hielt inne und merkte, wie sein Herz schneller schlug. Vielleicht war hinter dieser Tür einfach nur noch mehr Dunkelheit und noch mehr Staub – vielleicht ließ sie sich auch gar nicht erst öffnen, aber seine Intuition sagte ihm, dass seine Antwort und das Gesicht zu der Stimme dahinter liegen musste.

Finger für Finger seiner Hand legten sich um eine kühle Eisenklinke und drückten sie langsam hinunter. Schwerfällig bewegte sich der Mechanismus und blockierte für einen Moment, der Veith glauben ließ, dass doch jemand die Tür verschlossen hatte. Dann bewegte sie sich mit einem Ruck weiter und die Tür öffnete sich.

Die Scharniere quietschten genauso mitleidserregend, wie die der Eingangstür.

Er hielt kurz inne, öffnete die Tür ganz und sah – nach wie vor lähmende Dunkelheit.
 

Aber sein klopfendes Herz verriet mehr, er hörte förmlich den Pulsschlag dieses...dieses etwas welches sich hier irgendwo befinden musste.

Für einen Moment schloss der Incubus wieder die Augen, um sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen und sich von dem Pulsschlag des anderen Dings zu trennen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte es atmen hören. Er griff in die Tasche seiner Hose und nahm ein Feuerzeug heraus, entzündete es. Ein kleiner Lichtschimmer erfüllte den Raum

In der Ecke sah er zwei Augen.

Und er wusste, dass diese Augen ihn zuvor gesehen hatten, im Treppenhaus. Er wusste, dass der Geist hinter diesen Augen mit ihm gesprochen hatte, auf der Treppe und in der Nacht als Saron ihn gefunden hatte.

Die Augen waren grün. Und himmlisch schön.
 

*

Away From Me

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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