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Idomanulum

von

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Wistful Ocean Calm And Red

Wistful Ocean, Calm And Red
 

In den ersten Tagen wurde planlos nach Spuren gesucht, wo Lyria sich versteckt haben konnte. Die ganze Stadt wurde durchkämmt, die Jäger waren rasend vor Wut und Scham.

Doch so energisch sie auch suchten, erpressten und mordeten, um sie zu finden – sie fanden sie nichts. Sie fanden nicht einmal die leiseste Spur von ihr. Keine Feder, kein Haar. Nichts.

In der zweiten Woche nach ihrem Verschwinden begannen sie damit, die Regenfelder im Süden nach Auffälligkeiten zu untersuchen und suchten großräumiger. Sie suchten selbst in anderen Fürstentümern nach ihr und in der dritten Woche wusste die gesamte Hölle, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Engel den Jägern entkommen war.

Die Geschichte hielt sich fünf ganze Wochen in den Köpfen der Dämonen. Szenerien in den Clubs wurden mit den neuen Ereignissen gefüllt, an jeder Ecke hörte man jemanden über Lyrias Flucht reden und Tag für Tag verloren die Jäger ein Stückchen Autorität mehr.

Veith beobachtete, wie sich die Leute in den Bars darum stritten, wo sie nun sei, wohin sie geflohen war und wie entsetzlich unverantwortlich die Jäger gehandelt hatten.

Er beobachtete, wie Ancarus der Öffentlichkeit gegenübertrat und ihren Hohn ertragen musste. Der größte Incubus seiner Zeit, der begabteste und grausamste Zauberer des Horrors hatte in einer Nacht alles verloren, was ihm jemals zugestanden hatte.

Ruhm. Anerkennung. Geld.

Und je länger Veith all dies beobachtete, desto größere breitete sich eine geheime Zufriedenheit in ihm aus.
 

Der angenehme Geruch von Holzkohle strich über die Dächer der Stadt, als er von den Schindeln des Dachs seines eigenen Wohnblocks die Welt unter ihm beobachtete. Neben ihm ragten mehrere Schornsteine in die Luft, schwarz rauchende, stinkende Blechrohre, die ab und an polterten und zischten. Auf der anderen Seite befand sich ein Dachfenster mit schmutzigem Glas und einem großen Sprung von einer Seite zur anderen. Durch diese Öffnung im obersten Stock, nur wenige Treppenabschnitte von seiner Wohnung entfernt, war er auf das Dach gelangt. Jetzt hielt ein kleiner Stab das Fenster davon ab, zuzufallen.

Er saß gerne hier, genoss diesen kleinen, einsamen Platz inmitten einer Stadt, die einen niemals allein nachhause gehen ließ. Hier oben war er kein Teil einer bedeutungslosen Menge der Lust, hier oben war er groß und er genoss es, diese Größe mit niemandem teilen zu müssen. Er sah zu, wie weit unten in einer Ecke der Straße mehrere Dämonen, von seinem Aussichtspunkt aus nur kleine, dunkle Männchen, zusammenkamen und sich die Kleider vom Leibe rissen. Spontan hatte sich die Gruppe entschlossen, eine kleine Orgie in der Öffentlichkeit zu veranstalten und es dauerte nicht lange, da sammelten sich schon mehrere Masturbierende um das Szenario herum an.

Der Schwarzhaarige beobachtete die Gesichter der Dämonen, die aussahen, wie kleine hohle Steine mit einigen großen Poren, die sich wie bei einem Schwamm verzogen. Bald würden sie aus seinem Blickwinkel und seiner Welt verschwinden und er war sich sicher, dass er sie sich niemals in Erinnerung behalten würde. Sie waren gewöhnlich. Gewöhnliche Dämonen in diesem Bollwerk der Lust.

Er fragte sich, was sie dabei empfanden, ob sie etwas empfanden und er wusste gleichzeitig, dass es das Nichts war, das sie alle empfanden.

Empfindung. Emotion.

Wann waren diese Worte in seinen Gedanken aufgetaucht?

Bevor er Lyria gesehen hatte? Vielleicht vor einem Jahr, oder vor sechs Jahren. Vielleicht hatte es schon immer existiert. Er wusste es nicht genau.

Doch die Tatsache, dass er diesen Begriff, dieses Ereignis in Worte fassen konnte, war ihm neu. Emotion.

Nun, nicht ganz neu.

Seit er sich erinnern konnte, passierte es öfter, dass ein Wort in seinen Gedanken und seinen Empfindungen auftauchte, welches er vorher nie gehört hatte.

Schönheit. Einzigartigkeit. Und nun – Empfindungen und Emotionen.
 

Veith erzählte niemandem davon, nicht einmal Saron, obwohl er ihn – zur Hölle, er kannte ihn seit er denken konnte.

Er wusste, dass der Vampirdämon, sein Partner oder Gefährte – er wusste nicht wie er es nennen sollte – auch so bemerkt hatte, dass etwas an ihm anders war. Dass es etwas gab, was nicht den anderen Dämonen entsprach.

Und bisher hatte Saron ihn nicht verlassen, sondern akzeptiert. Für diese Beständigkeit empfand Veith etwas sehr Großes und Wichtiges.

Aber auch dafür fehlten ihm die Worte.

Er stieß einen Seufzer in die Dunkelheit hinaus und im gleichen Moment hörte er, wie der kleine Metallstab, der das Dachfenster aufhielt, mit einem scharrenden Geräusch gelöst wurde.

„Ich hab dich schon überall gesucht. Spielst du hier oben einsamer Eremit?“, fragte Saron und kletterte hinaus.

„Ja.“, antwortete der Schwarzhaarige und lächelte kurz, „Mit großer Begeisterung sogar.“

Er hörte, wie der Dämon leise lachte und sich neben ihm niederließ. Eine Weile herrschte Schweigen und der Incubus beobachtete seinen Mitbewohner dabei, wie er hinunter in die Straßen blickte, wie er es selbst getan hatte.

Dabei spürte er einen kleinen Stich in seinem Inneren – sein geheimer Ort der Größe war soeben entweiht worden und er hatte geglaubt, dass sich diese Tatsache schlimmer anfühlte.

Aber es machte ihm nichts aus, solange es Saron war, mit dem er diesen Ort teilen musste.
 

„Ich hatte gehofft, dass du mich begleitest, um ein wenig Spaß zu haben.“, sagte er dann.

„Nein.“

Saron zog eine Augenbraue hoch. „Du verkriechst dich etwas in letzter – ah ich verstehe.“, er hatte die Orgie in der Straßenecke entdeckt, „Gehst du jetzt also unter die Voyeure?“

Der Angesprochene lächelte erneut kurz. „Dazu bin ich zu wählerisch.“, sagte er, „Und sie werden nicht mehr lange Spaß haben, ich glaube, der eine Typ da mit der Glatze ist ein Zornländler.“

Saron knurrte.

„Dieses Volk mischt sich immer mehr in unsere Gefilde ein.“, sagte er verärgert, „Manchmal wünsch ich mir, sie würden alle einfach in ihr dreckiges anarchistisches Loch zurückkriechen und uns in Ruhe lassen.“

Im nächsten Moment kam der besagte Dämon aus dem Fürstentum des Zorns zu seinem Höhepunkt – und zerfleischte alle anderen mit Krallen und Zähnen, blind vor Ekstase. Blut und Gedärme spritzten an die Außenwände der nahe liegenden Häuser und auf seine Kleidung.

So schnell sie erschienen waren, verschwanden die Masturbierenden nun wieder und überließen dem Dämon die Szene.

Eine Weile senkte sich Schweigen über die beiden Beobachter, während sie zusahen, wie der Dämon unten in den Straßen langsam wieder einen klaren Kopf bekam, sich die Schweinerei ansah, die er angerichtet hatte und dann verschwand, bevor ein Anwohner in dazu zwingen konnte, das ganze auch noch wegzumachen.

„Weißt du was ich manchmal denke, Saron?“, begann Veith dann nachdenklich, „Ich denke, wir Dämonen haben unseren eigenen Wortschatz und unsere eigenen Gedanken, so wie die Menschen und die Engel ihn haben.“

Der Angesprochene brummte.

„Und?“, fragte er unbeeindruckt.

„Ich glaube das ist gut so. Das unterscheidet uns. Aber manchmal denke ich...was wäre wenn sich ein kleiner Teil aus dem einen Gedankengut mit einem anderen vermischt?“

„Chaos.“, antwortete Saron, nachdem er einige Minuten lang geschwiegen hatte. „Das wäre der Beginn von Chaos. Es ist gut so, wie es ist. Warum denkst du über so was nach?“
 

Der Schwarzhaarige senkte den Kopf. „Einfach so.“, meinte er ausweichend.

Er spürte, wie Saron ihn immer noch betrachtete.
 

Idiot.

Es hatte seinen Grund, warum du bisher für dich alleine darüber nachgedacht hast – hast du das vergessen?

„Sag mal...du bist doch kein Depressiver geworden, oder?“, fragte Saron langsam.

Der Angesprochene lachte kurz auf.

„Nein, bei Luzifer, nein.“ Er hörte, wie Saron erleichtert ausatmete.

„Das beruhigt mich ungemein.“
 

Veiths Blick lenkte sich wieder auf die Straßen unter ihnen. Der Zornländler war verschwunden, aber die Spuren seines kleinen Abenteuers klebten immer noch an den Wänden und auf der Straße. Allerdings störte sich niemand daran, einige Passanten gingen vorbei, ohne groß Notiz davon zu nehmen. Eine Dämonin mit auffallend grünlich schimmernder Haut rutschte auf dem Darm einem der Orgienteilnehmer aus und Veith konnte sehen, wie sie sich schrecklich ärgerte und laut fluchte.

Aber auch den Ärger dieser Dämonin war nicht weiter von Interesse für die anderen und in einer anderen Ecke, gar nicht weit entfernt, konnte er sehen, wie bereits die nächste Orgie begann und sich vier oder fünf Dämonen aus den Kleidern schälten.

All das war Alltag. Ab und zu interessant, doch meistens unglaublich unbedeutend.
 

Er hatte diese Stadt niemals verlassen, aber er hatte viel gehört, viele Geschichten aus aller Herren Länder.

Von Zeit zu Zeit tauchte eine Erinnerung in einem Traum eines Kunden auf, die ihm davon erzählte, wie es im Rest der Hölle aussah.

Er hatte den unvorstellbaren Reichtum in Supérbia und Gula gesehen, riesige Schlösser und Anwesen aus purem Gold, breite Straßen mit Diamanten gepflastert und einen Tisch aus Elfenbein, der so reich mit Essen gedeckt war, dass sich unter der Last dieses Luxus ächzend durchbog.

Er hatte gesehen wie die Dämonen in Avaritia um alles fürchteten, was sie besaßen – selbst um die Knochen in ihrem Leib und das Blut in ihren Adern. Wie sie sich gegenseitig hetzend und garstig umbrachten, in der Angst, dass man ihnen alles nehmen könnte, wie sie selbst darauf verzichteten, zu schlafen, um sich die Zeit aufzusparen.

Er hatte so viel gesehen, und doch hatte er es niemals mit seinen eigenen Augen gesehen. Nur stets in den verworrenen Traumwelten fremder Dämonen.

Und als er daran dachte, entfachte ein kleiner Teil von ihm eine Sehnsucht, auszubrechen, raus aus allem was er kannte um in eine völlig fremde Welt zu gelangen.

Er fühlte, dass...

„Also ich nehme an, ich kann dich wirklich nicht mehr von einem Ausflug ins Orgasmusparadies überzeugen?“, fragte Saron.

Veith brauchte einige Sekunden, um den roten Faden seiner Gedanken wieder zu finden. Doch bevor er ihn gefunden hatte und überhaupt begreifen konnte, was sein Gegenüber ihn gefragt hatte, antwortete er: „Doch. Klar.“

Auf dem Gesicht des Vampirs erschien ein begeistertes Grinsen und sofort griff er nach seiner Hand.

„Perfekt, dann lass uns keine Zeit verschwenden!“

Überrumpelt davon, dass Saron ihn vom Dach in das Innere des Wohnhauses und von dort aus auf die Straße schleifte – und das alles in einer erstaunlichen Geschwindigkeit – verlor Veith erneut seinen Faden und beschloss, dass es besser sein würde, sich einfach mitziehen zu lassen, als noch einmal zu versuchen, seine Gedanken zu ordnen, um einen solchen in klarer Form zu fassen.
 

Als er dazu wieder in der Lage war, stellte er sofort zwei Dinge fest.

Saron hatte ihn geradewegs in den größten Sexpalast der gesamten Stadt verschleppt – und es war die Hölle los.

Daraus schloss er den unumstößlichen Fakt: Ohne mindestens 5 Orgasmen und 2 Bettgesellschaften für diese Nacht würde er es nicht mehr nach Hause kommen.

Er seufzte, ließ ein halbes Lächeln zu und ließ die Sünde machen, was die Sünde für richtig hielt.
 

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