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Vulkado

Im Auge des Sturms
von

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Der wütende Partner

Hallo ihr Lieben!

Es ist also endlich so weit und ich präsentiere euch die erste Trainingsstunde mit Chris und den ersten Vulkado-Auftritt von Gabriel. Ich bin ein bisschen nervös wegen der ganzen Trainingsgruppendynamik. Hoffentlich gefällt es euch!

Viel Freude beim Lesen,

eure Ur

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Ich kann die Nacht über kaum schlafen, weil ich dermaßen aufgeregt vor dem ersten Training mit Christian bin. Jana zwingt mich zwei Mal zum Essen und eigentlich wollte ich nach der Schule noch ein paar von den Chemiehausaufgaben machen, die Felix mir gegeben hat. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich so nervös bin. Um halb vier stopfe ich meine Sportsachen in meinen Rucksack und Tim hat angeboten, mich in die Stadt zu fahren, weil er sowieso noch eine Freundin von sich besuchen will. Er singt die ganze Fahrt voller Begeisterung Wise Guys – wie er mir geschockt mitteilt, als ich ihn frage, was das für eine Band ist – und erspart mir somit eine Unterhaltung. Vor der Halle angekommen dreht er die Musik kurz leiser und klopft mir kräftig auf die Schulter.

»Lass dich von meinem großen Bruder nicht ärgern«, sagt er grinsend. Ich nicke und bringe ein Lächeln zustande.

»Danke fürs Fahren, man«, sage ich und winke zum Abschied. Dann wende ich mich der Halle zu, atme einmal tief durch und mache den nächsten Schritt auf dem langen Weg zu einem hoffentlich besseren Leben.
 

Ich ziehe mich um und betrete die Halle, die noch vollkommen leer zu sein scheint. Ich bin zu früh und sehe mich kurz um, aber viel gibt es in so einer Sporthalle nicht zu sehen.

»Ah, Benni. Du bist schon da«, höre ich Christians Stimme hinter mir und drehe mich um. Er trägt eine rote Trainingshose und ein weißes Muskelshirt. Seine Oberarme kommen mir vor wie Baumstämme.

»Hey«, sage ich ein wenig verlegen, lasse mich auf den Boden sinken und lehne mich gegen die Hallenwand.

»Nervös?«, will Christian wissen und mustert mich. Ich nicke. Die Information bringt ihn dazu, mich in Frieden hier sitzen zu lassen und nach und nach trudeln die anderen Mitglieder der Gruppe ein.
 

Ich erinnere mich dunkel daran, dass Christian bereits weiß, mit wem er mich zusammen in eine Gruppe stecken will. Mit dem kleinen Bruder eines Bekannten. Ich sehe mich erneut in der Halle um und mustere die sechs anderen Jungs, die alle ausgesprochen abweisend und bemüht gelangweilt in der Gegend herum starren. Christian ist damit beschäftigt mehrere Boxsäcke, die von einer Deckenhalterung herunter hängen, in die Mitte der Halle zu ziehen. Als er damit fertig ist, sieht er sich suchend um.

»Gabriel fehlt noch«, sagt er halb in meine Richtung.

»Der Kerl, mit dem ich trainieren soll?«, gebe ich zurück. Christian nickt und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er sie ablegt und ins Trainerbüro bringt.
 

Christian pfeift laut durch die Zähne, um die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen und sechs schlecht gelaunte Augenpaare richten sich auf ihn. Ich bin ungewollt beeindruckt davon, wie gleichgültig Christian angesichts dieser offenen Ablehnung auftritt.

»Setzt euch«, sagt er. Ich hatte fast vergessen, dass dies hier nicht der Christian ist, den man privat kennenlernt. Über all die Jahre hinweg hab ich mehr oder weniger unfreiwillig gelernt Menschen und Stimmungen zu lesen. Und die Autorität, die leichte Strenge im Ton, die übermäßig gerade Haltung und der leicht erhobene Kopf machen mir klar, dass Christian in dieser Halle von Anfang an demonstrieren muss, wer der Boss ist. Und er ist der Boss. Ganz klar. Jede seiner Bewegungen spricht von Stärke und Unnachgiebigkeit. Er wirkt bis in jede Kleinigkeit seines Verhaltens professionell.
 

Die Jungs kommen langsam und deutlich unwillentlich näher und hocken sich auf den Hallenboden. Ich tu es ihnen gleich und mustere sie so unauffällig wie es geht – ich hab auf schmerzhafte Art und Weise gelernt, dass manchmal ein völlig harmloser Blickkontakt schon Aggressionen auslösen kann. Christian hat sie alle beim Namen genannt und auf einer Liste eingetragen, als sie angekommen sind. Karol, Ismail, Jason, Paul, Dominik und Gero. Gott sei Dank hab ich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis.
 

Dominik ist ein Riese. Er ist wahrscheinlich nicht so groß wie Christian, aber doppelt so breit und wahrscheinlich auch doppelt so schwer. Seine kleinen Augen mustern den neuen Trainer feindselig, als wäre Christian schuld an all seinem Übel. Gero ist klein und schlaksig, hat dunkle Ringe unter den Augen und knibbelt nervös an seinen Fingern herum. Seinen rechten Mittelfinger hat er dermaßen bearbeitet, dass er blutet, aber Gero scheint nichts zu merken. Karol hat scharfgeschnittene Gesichtszüge und hohe Wangenknochen, sehr dunkle Augen und sein Kiefer ist unübersehbar angespannt, so als müsste er sich davon abhalten, Christian Beleidigungen entgegen zu werfen. Ismail hat einen dunklen Bartschatten, buschige Augenbrauen und eine Goldkette um den Hals, Jason ist eindeutig der Jüngste hier und er starrt scheinbar gelangweilt an die Decke. Paul sieht merkwürdigerweise aus wie der Vorzeigeschüler und Traum eines jeden Mathelehrers. Er trägt eine Brille, seine Haare sind gescheitelt und er ist blass, als würde er Tag und Nacht über seinen Schulbüchern hängen und nur selten mal aus der Wohnung kommen.
 

»Die Kette muss ab«, sagt Christian zu Ismail, der zu ihm aufschaut und aussieht, als würde er protestieren wollen, aber dann steht er auf und fasst sich mit beiden Händen in den Nacken, um die Kette anschließend in die Tasche seiner Trainingshose gleiten zu lassen.

»Wie schlecht siehst du ohne Brille?«, erkundigt sich Christian bei Paul. Der zuckt mit den Schultern.

»Gut genug um ‘nen Boxsack zu sehen, schätz ich«, sagt er mit gleichgültiger Stimme und er steht auf, um seine Brille ins Trainerbüro neben Christians Uhr zu legen.

Christian öffnet gerade den Mund, um erneut zu sprechen, als die Tür zur Halle aufgeht und der letzte aus unserer Gruppe die Halle betritt. Derjenige, mit dem ich ein Team bilden soll.
 

Mein Kopf dreht sich automatisch in die Richtung des Neuankömmlings und ich muss mich sehr zurückhalten, um meine Kinnlade nicht in den Schoß fallen zu lassen. Wenn ich mir bisher noch nicht sicher war, dass ich auf Männer stehe, – und nicht vielleicht nur auf Anjo – dann weiß ich es jetzt. Verdammte Scheiße, ist der Typ geil. Und das habe ich eindeutig noch nie über einen anderen Mann gedacht. Nicht mal über Anjo.

Er hat offensichtlich irgendeine asiatische Abstammung, eine flache Nase, fast schwarze, mandelförmige Augen und seidig glänzende, schwarze Haare, die ihm widerspenstig ins Gesicht fallen.

»Ah, Gabriel«, sagt Christian und nickt dem letzten Gruppenmitglied begrüßend zu.

»T’schuldige die Verspätung, es gab ‘nen Unfall hinten beim Kreuzring«, erklärt er mit ruhiger Stimme. Ich bin am Arsch. Benni, du Trottel, du kannst nicht trainieren, wenn du deinen Teamkollegen nicht angucken kannst, ohne ihm an die Wäsche gehen zu wollen.
 

»Setz dich«, sagt Christian und Gabriel hockt sich zwischen Ismail und Karol.

»Hallo allerseits«, begrüßt Christian die kleine Gruppe und lässt sich vor uns im Schneidersitz nieder. Ich frage mich, ob alles, was er tut, einen besonderen Hintergrund hat. Wenn er vor uns steht und wir zu ihm hochschauen müssen oder wenn er vor uns auf Augenhöhe sitzt… für mich macht es tatsächlich einen Unterschied, aber ich weiß nicht, ob es Absicht ist und ob irgendwer anders es gemerkt hat. Ich muss mich sehr bemühen, Gabriel nicht anzustarren, also betrachte ich Christian besonders konzentriert.

»Ihr wisst schon alle, dass ich Chris heiße und ich weiß, wie ihr heißt, aber eure Teamkollegen haben keine Ahnung. Deswegen wird jetzt jeder einmal kurz sagen, wie er heißt und wieso er hier ist.«

Allseitiges Murren. Nur Gabriel scheint kein Problem damit zu haben.

»Wer fängt an?«, fragt Christian. Gabriel hebt ohne Scheu die Hand und Christian nickt ihm zu.
 

»Ich bin Gabriel und ich bin hier, weil ich einen Kerl krankenhausreif geprügelt hab, nachdem er mich als Schwuchtel beschimpft hat.«

Stille. Ich lasse den Kopf sinken. Großartig. Was denkt sich Christian dabei, mich mit so einem zusammen zu stecken? Wenn ich gleich die Hälfte davon erzähle, weswegen ich hier bin, – und ich werd einen Scheißdreck über meinen Erzeuger sagen – dann reißt er mich vermutlich in Stücke.
 

Gabriels Ellbogen liegen auf seinen Knien und er schaut in die Runde, beinahe als wolle er jemanden dazu auffordern, eine Bemerkung dazu zu machen. Und die Bemerkung kommt.

»Stimmt es denn?«, will Karol prompt wissen. Er spricht mit osteuropäischem Akzent. Ein amüsiertes Schnauben geht rundum. Ich halte die Luft an und…

»Ja.«

Dröhnende Stille. Das nächste Schnauben ist verächtlich und ich sehe mindestens drei angewiderte Mienen. Großartig. Es wird ganz locker laufen hier in dieser Gruppe, in der die meisten Schwule eklig finden. Wie macht Christian das bloß? Er sieht vollkommen gelassen aus, als würde ihm diese Situation nichts ausmachen.

»Wenn das nicht eine wunderbare Gelegenheit ist, um sich in Akzeptanz zu üben«, sagt er in aller Seelenruhe und betrachtet jedes Gesicht. »Zwei Homosexuelle in der Gruppe–«
 

»Wer soll denn hier sonst noch ‘ne Schwuchtel sein?«, will Ismail wissen.
 

Christian hebt die Augenbrauen. Einen winzigen Augenblick lang hab ich Panik, dass er gleich meinen Namen nennt, aber…

»Ich.«
 

Die Stille, die jetzt folgt, ist noch lauter als die vorherige.

»Alter, ich lass mich doch nicht von ‘ner Schwuchtel bevormunden«, folgt eine angewiderte Erwiderung von Karol, der tatsächlich blass geworden ist und aussieht, als würde er Christian am liebsten vor die Füße kotzen. Er scheint am meisten Probleme mit der momentanen Situation zu haben. Ismail und Gero sehen auch nicht begeistert aus, aber sie wirken nicht so angewidert wie Karol. Gabriels Kiefermuskeln zucken, als er heftig die Zähne zusammenbeißt. Er ballt die Hände zu Fäusten und ich sehe, dass es für ihn –genauso wie für mich – absolut richtig war, hierher zu kommen. Es kostet ihn offensichtlich extrem viel Disziplin nicht aufzuspringen und Karol an die Gurgel zu gehen. Christian steht auf und blickt nun wieder auf uns hinunter. Der Unterschied ist gravierend.
 

»Das hier ist meine Halle. In meiner Halle wird kein Unterschied gemacht zwischen solchen Dingen.

Wer jemand anderen beleidigt, weil seine Eltern nicht deutscher Abstammung sind, oder weil er schwul ist, oder weil er keine Hose von Adidas trägt, oder weil er nicht dieselbe Religion teilt, der wird Runden laufen, bis er umfällt. Ihr werdet euch damit abfinden, dass euer Trainer homosexuell ist und ich versichere euch, dass ich mit euch halbstarken Waschlappen den Boden wischen könnte, wenn ich wollte. Dafür muss ich nicht hetero sein«, erklärt Christian mit völlig ruhiger Stimme. Ich habe mich schon damit abgefunden, dass ich für Christian großen Respekt entwickelt habe, aber ich war nicht darauf vorbereitet, dermaßen von ihm beeindruckt zu werden.

»Wer noch irgendwelche Bemerkungen über meine Sexualität hat, der kann jetzt aufstehen und mir in einem Kampf demonstrieren, dass er mir überlegen ist, weil er mit Frauen schläft.«
 

Natürlich steht niemand auf. Sie alle blicken nun zu Boden, bis auf Gabriel, dessen Augen Christian folgen, als er vor uns auf und ab geht. Er hat sich merklich entspannt, auch wenn er nun aussieht, als wäre er auf sich selbst wütend.

»Schön, dass wir uns einig sind. Dann würde ich sagen, ihr reißt euch jetzt ein bisschen zusammen und wir beenden den Sitzkreis lieber früher als später. Und dann können wir das machen, worin ihr besser seid, als im Reden. Draufhauen«, meint er, setzt sich wieder zu uns auf den Boden und Köpfe heben sich grinsend nach seinem letzten Statement. Eigentlich sollte das wohl kein Kompliment sein. Aber Christian ist sich offensichtlich im Klaren darüber, welche Sprache er hier sprechen muss, um angehört zu werden. Ich könnte so etwas im Leben nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht gern vor anderen spreche, würde ich mich nie so im Zaum halten können. Aber gut, genau deswegen bin ich ja hier.
 

Christian sieht überrascht aus, als ich als nächstes die Hand hebe. Ich schaue niemanden an, als ich rede und ich sage nur die Hälfte von dem, wieso ich hier bin. Aber das hier soll ja ganz offenkundig auch kein Seelenstriptease werden.

»Ich bin Benni und ich bin hier, weil ich… einen Jungen von meiner Schule für fast ein Jahr fertig gemacht hab… weil er schwul ist.«

Ich kann nicht anders und schaue kurz zu Gabriel hinüber, der mich jetzt betrachtet, als würde er mir – genauso wie vorhin Karol – gerne den Hals umdrehen. Wieso will Christian mich mit ihm in ein Team stecken? Ich fasse es nicht. Wahrscheinlich ende ich als lebender Punchingball. Ich hab auf seltsame Art und Weise ein schlechtes Gewissen, als hätte ich ihm genauso Unrecht getan wie Anjo. Das ist Blödsinn, weil ich mich geändert hab. Aber das weiß Gabriel ja nicht.
 

Die Geschichten sind alle ähnlich. Prügeleien hier, Prügeleien dort, Auffälligkeit in der Schule. Nur Paul fällt aus dem Raster, als er verkündet, er hätte den Gartenschuppen seiner Nachbarn angezündet. Wow. Krass. Für zwei Sekunden bin ich abgelenkt und vergesse, dass Gabriel mich hasst und ich gleich mit ihm zusammen trainieren muss. Es fällt mir sehr schnell wieder ein, als unsere Blicke sich treffen. Als Christian schließlich aufsteht und die Teams verkündet, wird mir klar, dass Gabriel noch nicht wusste, dass er mich als Partner haben würde. Er sieht geschockt und ungläubig aus und während ich hinüber zu dem uns zugeteilten Boxsack gehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er auf Christian zugeht und ihm wohl sagt, dass er nicht mit mir trainieren will. Ein toller Anfang. Mein Trainingspartner hasst mich. Die beiden reden einige Zeit miteinander und schließlich seufzt Gabriel und kommt tatsächlich zu mir herüber. Allerdings beachtet er mich nicht.
 

Ich schaue ihn dafür umso mehr an. Unweigerlich muss ich mir vorstellen, was passiert wäre, wenn Anjo genauso geworden wäre. Nicht ängstlich und schüchtern, sondern wütend. So wütend wie Gabriel. Die beiden haben offenbar etwas Ähnliches durchgemacht und haben sich vollkommen unterschiedlich entwickelt. Ich kann meine Augen nicht wirklich von ihm weglassen. Dreck.

»Oh, und Gabriel?«

Gabriel sieht auf und zu Christian hinüber.

»Vergiss nicht. Kein Kampfsport außerhalb von dem, was ich euch beibringe!«

Gabriel nickt und richtet sich ein wenig auf, so als wäre er sehr entschlossen Christian zu zeigen, dass er Disziplin hat. Mein Herz fühlt sich an, als würde es gleich explodieren. Ich räuspere mich unbeholfen.

»Du… äh… machst Kampfsport?«

Gabriel dreht mir den Kopf zu und verengt die Augen zu Schlitzen.
 

»Seit ich sechs bin. Also pass auf, was du sagst«, grollt er und wendet den Blick sofort wieder ab. Wahnsinn. Die Kontaktaufnahme hat ganz klar super funktioniert und ich hab mich beinahe nicht total zum Idioten gemacht. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das hier alles eine gute Idee ist. Als Gabriel sich zu mir umdreht, wird mir klar, dass Christian uns Anweisungen gegeben hat und ich keine Ahnung hab, was er gesagt hat. Gabriel zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt leicht den Kopf. Dann joggt er los und ich folge ihm verwirrt. Zwei Sekunden später wird mir klar, dass wir uns aufwärmen sollen.

»Wie viele Runden?«, frage ich Gabriel.

»Erstmal zehn«, kommt die knappe Antwort.

Also laufen wir. Ich habe so gut wie überhaupt keine Kondition, aber ich bin nicht der einzige, dem es so geht. Gabriel scheint am wenigsten Probleme zu haben. Er läuft so schnell, dass ich mich frage, wie er noch nicht vollkommen aus der Puste sein kann, aber wenn er seit so vielen Jahren regelmäßig Kampfsport macht, hat er vermutlich eine Wahnsinnsausdauer. Ich muss mich sehr bemühen, diese Erkenntnis nicht in zweideutige Gedanken abschweifen zu lassen.
 

»Gabriel, du weißt besser, wie viel du brauchst, um aufgewärmt zu sein«, ruft Christian ihm zu und Gabriel nickt. Dann legt er tatsächlich noch einen Zahn zu und überholt uns mehrere Male, während wir unsere zehn Runden absolvieren. Als wir schließlich alle keuchend zum Stehen kommen, hab ich Seitenstechen und ein Brennen in der Lungengegend.

»Geht in eure Zweierteams zum Dehnen«, fordert Christian uns auf und mein Herz, das ohnehin schon sehr schnell von der Anstrengung hämmert, stolpert nervös.

Christian scheint zu denken, dass Gabriel und ich keine Einweisung zum Dehnen brauchen, denn er zeigt den anderen ein paar Übungen, ohne auf uns zu achten.

»Leg dich hin«, sagt Gabriel. Ich blinzele verwirrt.

»Dehnübungen?«, fügt Gabriel etwas genervt hinzu.

»Oh. Achja. T’schuldige«, sage ich peinlich berührt und lege mich auf den Boden. Gabriel mustert mich einen Moment lang mit zusammengezogenen Brauen, als wüsste er nicht so richtig, wie er mein beklopptes Verhalten mit einem gewalttätigen Schwulenhasser vereinbaren soll. Dann zuckt er kaum merklich die Schultern und hockt sich neben mich, um nach meinem rechten Fuß zu greifen und mein Bein nach oben und in Richtung meines Oberkörpers zu drücken.

»Bein gestreckt lassen«, weist er mich an.
 

Wahrscheinlich kriege ich gleich einen erniedrigenden Krampf im Bein.

»Du bist nicht besonders gelenkig«, informiert er mich und macht das Ganze noch mal mit dem anderen Bein. Ich schnaube.

»Hab ja auch nie Sport gemacht«, gebe ich gepresst zurück. Vielleicht fällt mein Bein gleich ab.

»Hat damit ja nichts zu tun. Ich kenn unsportliche Leute, die gelenkig sind.«

Er fordert mich auf, mich hinzusetzen und die Beine breit zu machen. Mein Kopf sieht wahrscheinlich aus wie eine überreife Tomate. Er setzt sich in derselben Position vor mich, stemmt seine Füße gegen meine und streckt die Hände aus. Ich sehe ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

»Deine Hände«, sagt er. Ich strecke meine Hände aus und Gabriel greift sie sich, dann zieht er mich nach vorn, wobei er seinen Oberkörper weit nach hinten lehnt. Ich ächze.
 

»Steif wie ein Brett«, meint Gabriel kopfschüttelnd.

»Zieh du mal«, fordert er mich anschließend auf und ich lehne mich nach hinten, wie er es getan hat. Ganz offensichtlich kann ich mich beinahe auf den Boden legen, Gabriels Oberkörper berührt fast den Boden zwischen seinen Beinen. Er scheint wahnsinnig gelenkig zu sein. Wir machen noch einige andere Übungen, bis mir jeder Muskel in meinem Körper wehtut. Gabriel steht schließlich auf und schüttelt sich.

»Hm«, murmelt er. »So richtig warm gemacht fühl ich mich nicht.«

Ich starre ihn an. Die Vorstellung, jetzt noch auf einen Boxsack einzuprügeln, lässt meine Muskeln aufstöhnen.

»Ich geh noch ein paar Runden rennen«, sagt er und ist auch schon losgelaufen. Christian beachtet ihn gar nicht, sondern überwacht die Dehnübungen der anderen. Ich sehe, dass sie nicht sonderlich erpicht darauf sind, sich anzufassen. Vor allem Karol weigert sich standhaft gegen alle Übungen, die Körperkontakt beinhalten. Christian lässt sich davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und als Gabriel schließlich fünf weitere Runden in einem Wahnsinnstempo gerannt ist, kommt er tatsächlich schwer atmend und mit Schweißperlen auf der Stirn zurück zu mir.
 

»Jedes Team an einen Boxsack«, ruft Christian und ich wende mich dem blauen Ding zu.

»Hier ist die Aufgabe«, sagt Christian und schreitet vor den Boxsäcken auf und ab. Gabriels Augen haften an ihm, als wäre Christian das Spannendste, was er jemals gesehen hat. Gegen meinen Willen werde ich ein wenig brummig auf meinen neuen Trainer. Christian verteilt Boxhandschuhe an uns, während er fortfährt.

»Einer von euch hält den Boxsack fest, der andere denkt an das, was ihn besonders sauer macht und schlägt so fest wie möglich gegen das Ziel. Die Beine lassen wir noch weg, ihr sollt erstmal ein bisschen Dampf ablassen. Ich sag Bescheid, wenn’s Zeit zum Tauschen ist.«

Gabriel drückt mir die Handschuhe gegen die Brust und ich ziehe sie über, während ich nervös von einem Bein aufs andere trete.
 

Gabriel greift den Boxsack mit beiden Händen und sieht mich auffordernd an. Ich schlucke. Dann schließe ich kurz die Augen und versuche, tief durchzuatmen. Aber stattdessen huschen Bilder durch meinen Kopf, von dem Erzeuger, den ich bis zu meinem neunten Lebensjahr ›Papa‹ genannt habe. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich Gabriel überhaupt nicht mehr. Der Boxsack hat das Gesicht des Erzeugers erhalten und obwohl ich schon öfter in Prügeleien verwickelt war, hab ich noch nie so fest zugeschlagen wie in diesem Moment. Die Vorstellung, dass ich es ihm heimzahlen könnte, all das, was er Jana und mir angetan hat, stachelt mich an und meine Umgebung verschwimmt in einem Rausch aus Erinnerungen und erdachten Szenarien, in denen ich mich gegen die Schläge wehre. Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, wirbele ich herum, bereit wem auch immer einen heftigen Schlag zu verpassen, aber meine Faust wird problemlos abgefangen und ich starre hoch in Christians braune Augen, die ernst und wissend zu mir hinunterschauen.

»Tauschen«, sagt er bloß und meine Muskeln verlieren all ihre Anspannung und ich sacke ein Stück in mich zusammen. Erst, als ich mich wieder zu dem Boxsack umdrehe, um ihn für Gabriel festzuhalten, wird mir klar, dass alle in der Halle mich anstarren. Es ist so still, dass man eine Nadel auf den Boden fallen hören könnte. Mir rauscht noch das Blut in den Ohren und ich atme schwer.
 

»Tauschen«, erinnert Christian die anderen und sie wenden sich von Gabriel und mir ab und wenden sich ihrer Aufgabe zu. Gabriel mustert mich mit schiefgelegtem Kopf, als würde er in meinem Gesicht irgendwas Bestimmtes suchen. Ich komme mir vor wie der furchtbarste Mensch auf der Welt. Großartig. Ich hab völlig den Kopf verloren und jetzt denken alle, dass ich ein gewalttätiger Berserker bin. Ich ziehe die Handschuhe aus und halte den Boxsack fest. Gabriels Blick weilt noch einen Wimpernschlag auf mir, dann wendet er sich dem Ziel zu. Ich sehe verwirrt zu, wie er kurz die Hände aneinanderlegt, die Augen schließt und sich leicht verbeugt. Einen Moment lang weiß ich nicht, was merkwürdig ist, bis Gabriel sich aufrichtet und anfängt, auf den Boxsack einzuschlagen. Ohne Handschuhe. Seine dunklen Augen sehen aus, als würden sie in Flammen stehen. Er muss wirklich sehr wütend sein. Mehrmals sehe ich, wie er aus dem Rhythmus kommt und sich offensichtlich daran erinnern muss, dass er die Beine nicht benutzen darf.
 

»Hey, Gabriel«, sagt Christians Stimme neben uns und Gabriel stoppt sofort, wendet sich Christian zu und wischt sich mur dem Handrücken über die Stirn. Christian sieht aus, als müsste er sich ein Schmunzeln verkneifen. »Handschuhe.«

Gabriel seufzt, nickt, und zieht das Paar Handschuhe über, das ich vorhin auch schon getragen habe. Ich habe große Mühe, den Boxsack festzuhalten, weil Gabriels Schläge eine solche Wucht haben, dass er mir mehrmals beinahe aus den Händen gleitet. Ich könnte meinen Blick durch die Halle schweifen lassen und die anderen beobachten, aber stattdessen mustere ich Gabriels konzentriertes Gesicht, die unheimlich schnellen und präzisen Schläge…

»Stopp«, ruft Christian und Gabriel hält sofort inne, steht schwer atmend neben dem Boxsack und wendet sich unserem Trainer zu.
 

Christian verbringt die nächste Zeit damit uns beizubringen, wie man die Hände halten muss, wie der richtige Stand ist, wenn man tatsächlich mal Zweikämpfe im Kickboxen austragen und nicht immer nur unkontrolliert auf einen Boxsack einprügeln will. Ich bin sicher, er hat uns erst einmal auspowern wollen, bevor er zur Technik kommt und ruhig mit uns spricht. Wir bekommen erklärt, dass die nächsten Wochen vor allem auf Konditionstraining hinauslaufen werden. Am Ende der Stunde bin ich vollkommen fertig und meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Die anderen sehen auch erschöpft aus, nur Gabriel bewegt sich, als könnte er noch Bäume ausreißen. Christian folgt uns in die Umkleide. Dumpf kommt mir der Gedanke, dass für den Rest des Tages niemand mehr irgendwelche Prügeleien starten könnte, weil wir alle viel zu fertig sind. Bis auf Gabriel. Es erscheint mir total logisch, uns auszupowern. Wir reagieren uns in der Halle ab, anstatt irgendwo auf der Straße auf jemanden loszugehen, der uns schief angesehen oder beleidigt hat.
 

Gabriel, Christian und ich sind die Einzigen, die direkt nach dem Training duschen gehen. Die anderen ziehen sich so hastig wie möglich um und verschwinden ohne sich zu verabschieden. Auch daran scheint Christian sich nicht zu stören. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um Gabriel nicht ununterbrochen anzustarren. Vor allem beim Duschen. Man duscht für gewöhnlich nackt, wie mir klar wird, als Gabriel seine Klamotten ohne den kleinsten Skrupel ablegt und unter einen der Duschköpfe tritt. Christian beobachtet mich mit einem amüsierten Funkeln. Er scheint jetzt nicht mehr in seinem Trainermodus zu sein, sondern sieht wieder aus wie der private Christian. Ich werfe ihm einen ungnädigen Blick zu, während mein Gesicht heiß wird und ich beeile mich, meine Kleidung ebenfalls loszuwerden und zu duschen.
 

Gabriel ist schlank und trotzdem unheimlich muskulös. Er wirkt ein bisschen wie eine Raubkatze, die Art, wie er sich bewegt, wie sich die Muskeln an seinem Rücken bewegen… Ich sollte eindeutig nicht mehr starren. Sonst trete ich in Anjos Fußstapfen, der mir peinlich berührt mitgeteilt hat, dass er beim ersten Mal duschen mit Christian ein Rohr bekommen hat und dann beinahe auf die Schnauze geflogen wäre. Ich bin der erste, der fertig ist und sich in ein Handtuch wickelt. Ich versuche Christians und Gabriels Statur miteinander zu vergleichen und komme lediglich auf den beknackten Vergleich zwischen Grizzlybär und Panther. Vielleicht sollte ich mir einfach schleunigst was anziehen.
 

Als ich die Umkleide betrete, sitzt Anjo auf einer der Bänke und lächelt mir entgegen.

»Wie war’s?«, erkundigt er sich bei mir und schaut gespannt zu mir hoch. Ich räuspere mich und werfe einen Blick über die Schulter. Von Gabriel oder Christian ist nichts zu sehen.

»Ganz ok, denk ich. Abgesehen davon, dass mein Trainingspartner mich hasst, weil er denkt, dass ich ein schwulenhassender Schläger bin«, informiere ich Anjo und trockne mich ab. Vor Anjo macht es mir tatsächlich nichts mehr aus, nackt zu sein. Der hat ja auch eigentlich schon fast alles gesehen. Anjo dreht seinen Kopf trotzdem diskret zur Seite.

»Wieso denkt er das?«, will er wissen.

»Weil ich gesagt hab, dass ich hier bin, weil ich dich ein Jahr lang in der Schule fertig gemacht hab, weil du schwul bist. Ich hatte keine Lust meine halbe Lebensgeschichte aufzutischen. Und irgendwie stimmt’s ja auch«, erkläre ich trocken und ziehe mir gerade meinen Pullover über den Kopf, als Gabriel und Christian in die Umkleide kommen.
 

Christian grinst breit, als er Anjo sieht. Anjo steht auf und die beiden küssen sich auf den Mund. Es sieht immer noch komisch aus. Mein bester Freund ist neben Christian winzig und zerbrechlich. Und Christian… nun ja. Grizzlybär halt.

»Gabriel, Anjo. Mein Freund«, stellt Christian die beiden vor und ich beobachte mit einem zufriedenen Gefühl im Magen, wie sich auf Anjos Gesicht ein glückliches Strahlen ausbreitet, als er Gabriel die Hand gibt. Er hat sich noch bei weitem nicht dran gewöhnt, dass er jetzt mit Christian zusammen ist. Ich auch nicht. Aber ich freu mich sehr für Anjo. Anjo kommt zu mir herüber und bufft mir leicht mit der Faust gegen die Schulter.

»Lilli und ich wollen nachher zusammen für die Englischklausur lernen. Sie hat gesagt, ich soll dich mitbringen«, informiert Anjo mich gut gelaunt.
 

Ich fange Gabriels verwirrten Blick auf. Schwulenhassender Schläger gut befreundet mit dem schwulen Freund des Trainers. Passt ganz offensichtlich nicht zusammen. Aber er fragt nicht, sondern zieht sich schweigend an.

»Englisch«, gebe ich mit einem angestrengten Stöhnen zurück. Abitur. Vorklausuren. Ich verdränge die Schule momentan so gut es geht. Das ist nicht die schlauste Idee, aber ich hab so viel Kram um die Ohren, dass ich mich sowieso auf nichts konzentrieren kann. Aber mir ist klar, dass Eileens Üben mit mir wohl nicht ausreichen wird, um mein Englisch bis zum Abi so gut es geht aufzupolieren. Und wir schreiben bald eine Klausur.

»Ja. Nächste Woche ist die Klausur. Ich bin auch nicht besonders scharf drauf, aber Lilli ist ziemlich gut in Englisch. Wird schon schiefgehen«, sagt Anjo und tätschelt mir kurz den Kopf. Ich spüre Gabriels Blick im Nacken.
 

»Sina will Thailändisch bestellen, möchtest du mitessen?«, erkundigt sich Christian in diesem Moment bei mir und wenn Gabriel vorher schon verwirrt war, dann ist er es jetzt noch mehr. Ich grinse verlegen und nicke.

»Will nur Jana eben ‘ne SMS schreiben, damit sie weiß, dass ich erst später komme. Dann kann sie deinen Eltern auch gleich Bescheid sagen«, gebe ich zurück und krame mein Handy hervor.

»Bis nächstes Mal«, sagt Gabriel in diesem Moment und wir drehen uns zu ihm um. Er lächelt Anjo zu.

»War nett dich kennen zu lernen.«

Anjo lächelt zurück und Gabriel schwingt seine Tasche über die Schulter und verlässt die Umkleide. Ich seufze.

»Ich glaub nicht, dass er dich hasst. Er muss dich nur besser kennen lernen«, versichert Anjo mir. Es ist so typisch Anjo, dass ich lachen muss. Irgendwann gewinnt mein bester Freund sicher den Friedensnobelpreis. Als wir die Halle gemeinsam verlassen und einem thailändischen Abendessen entgegengehen, hoffe ich dunkel, dass Gabriel mich wirklich nicht dauerhaft hasst.



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Kommentare zu diesem Kapitel (21)
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Von:  peggy17
2012-05-27T08:08:02+00:00 27.05.2012 10:08
Ich finde gar keine Worte dafür, wie sehr ich dieses Kapitel liebe! Wie du alles beschreibst... die Leute in der Gruppe... Gabriel... Einfach nur toll! Und Bennis erste Reaktion auf Gabriel war so süß! :)

(Bin ich etwa schon wieder Erste? Hm, ich sollte nicht dauernd im Internet surfen *lol*)


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