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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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65. Kapitel

Die Stimmung beim gemeinsamen Frühstück war seltsam und das konnte nicht nur Ryon so vorkommen. Schließlich fehlte Tennessey ganz und gar und an dessen Stelle saß nun Sally. Also absolut kein Vergleich mit seinem alten Freund.

Außerdem kam ihm die vergangene Nacht inzwischen eher wie ein Alptraum vor, als wie die Realität, aber anhand der zwei gerissenen Nähte, die er heute gründlich begutachtet hatte, war es doch realer gewesen, als er sich wünschen würde. Wenigstens war die Wunde inzwischen wieder geschlossen und wenn er sich weiterhin auf seine Heilungskräfte verlassen konnte, würde er vielleicht am Abend schon die restlichen Fäden ziehen können. Ein schönes Andenken würde es trotzdem bleiben.

Sogar Mia war heute seltsam ruhig, als wäre sie irgendwie bedrückt, aber wenn er sie darauf ansprach, grinste sie ihn nur schief an und hielt ihm einen Löffel voll matschiger Cornflakes hin. Sie war keine besonders gute Lügnerin, aber was konnte man auch schon von einem kleinen Mädchen ihres Alters erwarten? Wenn sie nicht wollte, würde man sie auch nicht dazu zwingen können.

Dabei war er selbst schließlich auch betrübt. Er würde Paige vermutlich nicht begleiten können, wenn sie Sally nach Hause brachte, da er vorher noch bei Tennessey rein schauen wollte und nur Gott wusste, wie lange das dauern würde. Nach der mitternächtlichen Aktion zu urteilen, sah es in dieser Hinsicht sehr düster aus. Vor allem, da er eigentlich gar nicht hin wollte.

Eine tiefsitzende Angst wollte ihn davon abbringen, dorthin zu fahren, doch es war lächerlich Tennessey der Gefahr wegen irrationalen Gefühlen auszusetzen. Schließlich konnte der Doc sie nicht mehr verständigen, wenn etwas passierte, da vermutlich sein Handy nun Schrott war.

Am liebsten hätte Ryon sich zerrissen, um beides Gleichzeitig tun zu können.
 

Paiges Cornflakes sanken bald genauso auf den Grund der Müslischüssel wie die von Mia, während sie nur in der Milch herum rührte. Ryon hatte noch geschlafen, aber wirklich fit sah er keinesfalls aus und auch sie selbst hatte nur oberflächlich Ruhe bekommen. Sie war viel zu besorgt um seine Gesundheit gewesen, als dass sie hätte tief schlafen können. Immer wieder war sie bei jeder seiner Bewegungen aufgewacht und hatte darauf geachtet, ob er wohl Schmerzen hatte. Ihre Finger waren hin und wieder zu seiner Wunde gewandert, um sicher zu gehen, dass sie nicht wieder angefangen hatte zu bluten. Jetzt fühlte sie sich wie gerädert, hatte Kopfschmerzen und schlechte Laune.

Was aber hauptsächlich an der Tagesplanung lag.

Schließlich gab sie es auf, ihren Cornflakes das Schwimmen beibringen zu wollen und lehnte sich stattdessen zurück.

„Sally, ist es Ihnen recht, wenn ich sie direkt nach dem Frühstück nach Hause fahre? Ich nehme an, wir haben Sie lange genug hier festgehalten.“

Hoffentlich hatte sie keine Katze, die während ihrer Abwesenheit Hunger leiden musste.

„Das ist absolut in Ordnung. Auf mich wartet niemand und machen Sie sich wegen des Aufenthalts keine Sorgen. Immerhin bin ich hier genauso sicher, wie zu Hause.“

Die Hexe lächelte sogar etwas aufmunternd, was Paige ziemlich entwaffnete. Zumindest jemand, der hier nicht den Kopf hängen ließ. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen.

„In Ordnung. Dann können wir los, sobald Sie fertig sind.“

An Ryon gewandt ging sie noch einmal durch, was sie ausgemacht hatten.

„Ich setze Sally zu Hause ab und fahre dann noch zum Supermarkt. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, wenn ich euch eine Pizza mitbringe oder sowas. Tennessey wird das kalte Essen schon zu den Ohren rauskommen.“

Tyler sah von seinem gebutterten Toast auf und räusperte sich.

„Du weißt, dass ich dein Essen liebe, aber eine warme Mahlzeit ist nunmal nicht zu unterschätzen.“

Als sie ihm auch noch ein Lächeln schenkte, gab er sich geschlagen und ging zum Herd, um Ai noch ein wenig gebratenen Schinken aufzutun. Ihre Freundin selbst sah Paige aus eher besorgten Augen an.

Paige war klar, was sie sagen wollte, deshalb lehnte sie sich zur Seite, sodass nur Ai ihre nächsten Worte verstehen konnte.

„Ich habe nur schlecht geschlafen. Mach dir keinen Kopf.“

Sobald sie sich wieder zurück gelehnt und Mia über die hellen Locken gestreichelt hatte, schob Sally ihren Teller ein Stück von sich.

„Ok, ich bin soweit. Wenn es in Ordnung ist, hole ich nur schnell meine Tasche und dann können wir los.“

Paige nickte und wollte gerade aufstehen, als sie bemerkte, dass sich kleine, warme Finger um ihren Daumen geschlossen hatten und sie festhielten.

Mia blickte so ernsthaft zu ihr hoch, dass Paige die Arme nach dem Mädchen ausstreckte und sie auf ihren Schoß zog.

„Was ist los, Engelchen? Du bist schon die ganze Zeit so still. Alles ok?“

Die Kleine sah Paige weiterhin an und ihre Lippen öffneten und schlossen sich, als wolle sie ihr etwas sagen. Paige wartete eine Weile geduldig und streichelte Mias Rücken, doch das Mädchen konnte ihre Gedanken am Ende wohl doch nicht zum Ausdruck bringen. Dafür drückte sie sich einmal fest gegen Paige ließ sich umarmen und dann wieder auf Ryons Schoß setzen.

Als Paige nun doch endlich aufstand, streichelte sie Ryons Wange und küsste ihn, bevor sie sich ganz aufmachte, um zu gehen.

„Ich schätze, dass ich schon ungefähr drei oder vier Stunden brauchen werde. Ich will sicher gehen, dass Sally gut nach Hause kommt, dann ein paar Umwege fahren, einkaufen und zu euch kommen.“
 

„Pass auf dich auf, Paige.“ Es war ein Flüstern, das nur seiner Gefährtin alleine galt und doch war es nicht einmal im Ansatz das, was er noch alles hätte sagen wollen. Allein die Vorstellung, sich von ihr zu trennen, behagte ihm ganz und gar nicht, während in regelmäßigen Abständen sich seine Nackenhärchen sträubten.

Ryon war einfach zu erledigt, um sich jetzt ohne Probleme von ihr trennen zu können, von dem einzigen Geschöpf auf Erden, das ihn beruhigen konnte, wenn er selbst nicht mehr dazu in der Lage war.

Mit Mia zusammen auf dem Arm begleitete er sie und Sally noch zum Wagen und gab ihr einen Abschiedskuss.

Wie schwer es war, sie gehen zu lassen, erkannte er daran, dass er erst wieder Atmen konnte, nachdem der Wagen mit den beiden Frauen schon längst zwischen den Bäumen verschwunden war.

Mia sah ungefähr genau so aus, wie er sich fühlte, weshalb er dem blonden Engel einen Kuss auf die Stirn gab.

„Na, komm. Tyler hat mir erzählt, er hat ein weiteres Märchenbuch in der Bibliothek ausgegraben, aus dem Ai dir vorlesen will. Das wird bestimmt toll.“

Skeptisch sah die Kleine ihn an, ehe sie seufzte. Offenbar vertraute sie seinem schwachen Lächeln nicht ganz, obwohl das schon mehr war, als man meistens von ihm erwarten konnte. Aber sie schien sich merkwürdig erwachsen zu verhalten und sich schließlich geschlagen zu geben, weshalb er auch schon eine dreiviertel Stunde später vor der Hütte stand, die er in nächster Zeit eigentlich am liebsten gemieden hätte.
 

Als sie die Augen öffnete, sah sie nur ein ihr bekanntes Muster. Holzdielen und die Fransen ihres grünen Läufers. Doch erst ihr eigenes Stöhnen und der dröhnende Kopf holten sie zurück in die Wirklichkeit. Sally griff sich an die Stelle an ihrer Stirn, die am meisten schmerzte und fühlte etwas klebriges auf ihren Fingerspitzen. Als sie die Hand vor ihre nur halb zu öffnenden Augen hielt, erkannte sie Blut daran. Ihr eigenes Blut.

„Oh Gott...“

Die Hexe wurde kreidebleich und stöhnte erneut auf, als sie sich zitternd vor Überforderung und Panik die Wand hinauf schob und auf wackeligen Beinen ins Wohnzimmer stolperte.

Die Lampe kippte von dem kleinen Schränkchen neben der Couch, als sie ihre Tasche davon herunter riss und in die Knie sank, während sie darin herum wühlte. Von ihrem eigenen, sich überschlagenden Atem wurde ihr schlecht und sie musste sich immer wieder das Blut aus den Augen wischen, während sie einfach nicht fand, was sie suchte.

Sie schrie vor Verzweiflung auf und Tränen begannen ihr die Wangen hinunter zu laufen, als sie es einfach nicht finden konnte. Gehetzt sah sie sich um und die Panik machte sich mit jeder verstreichenden Sekunde nur noch weiter in ihr breit. Es musste da sein!

Mit einem dumpfen Geräusch ließ sie die Tasche einfach auf den Boden fallen, als sie das rettende Gerät endlich in den verschmierten Händen hielt. Sie konnte die Tasten kaum sehen, als sie im Speicher nach der richtigen Nummer suchte.

„Bitte...“

Bei jedem Ton in der Leitung wimmerte sie leise und zuckte erschrocken zusammen, als am anderen Ende abgenommen wurde.

„Ryon? Sind ... sind Sie das?“

Sie ließ ihn kaum das einsilbige Wort aussprechen, sondern klappte nur noch weiter in sich zusammen, als sie versuchte, ihm zu sagen, was passiert war.

„Es tut mir so Leid! Es waren so viele und ... und sie waren so schnell. Ich hab gar nicht gesehen, wo sie herkamen, ich...“

Sie konnte zwischen den Schluchzern kaum ein Wort hervor bringen und doch fühlte es sich so an, als könne sie vielleicht irgendetwas tun. Wenn sie schon Nichts von dem, was passiert war, rückgängig machen konnte.

„Bitte, es tut mir so Leid! Sie müssen mir glauben. Ich hab versucht ihr zu helfen. Aber sie hat mich einfach ins Haus gestoßen. Einer hat mich angegriffen und Paige...“

Wieder unterbrach sie sich selbst mit einem schmerzlichen Schrei, den sie mit ihrer Hand vor dem geöffneten Mund erstickte.

„Sie haben sie mitgenommen. Sie haben ihr … sie hat bestimmt keine Luft bekommen. Dann haben sie sie in den Kofferraum geworfen und einfach mitgenommen.“

Sally bekam nicht mit, welche Reaktion sich auf ihre Geschichte hin abspielte. Unter Entschuldigungen und hysterischen Panikattacken, die ihren Körper schüttelten, brach sie nach ein paar Minuten einfach zusammen.
 

„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich war es, der Ihre Gedanken wieder befreit und nicht eingesperrt hat. Wenn Sie schon einen Schuldigen suchen, dann wenden Sie sich besser an diese Hexe Boudicca.“

Tennessey musterte die halbnackte Frau auf der ramponierten Pritsche gründlich, während seine Worte zu ihr durchdrangen. Ryon war ihm im Augenblick keinerlei Hilfe, um Delila davon zu überzeugen, dass sie hier bei den Guten und nicht bei den Bösen war. Doch bis jetzt war die Wölfin skeptisch und abweisend geblieben. Sie glaubte ihnen kein Wort, woran selbst Ryons Erscheinung nichts ändern konnte. Denn er rührte keinen Finger, um Tennessey bei der Überzeugungsarbeit zu helfen, sondern starrte nur gedankenabwesend aus dem verschmutzten Fenster, während er nervös mit der Fußspitze leicht gegen das ohnehin schon wackelige Stuhlbein stieß. Tock Tock Tock...

Er versuchte sich von dem Geräusch nicht wahnsinnig machen zu lassen, sondern sich stattdessen auf seine nicht mehr ganz so verwirrte Patientin zu konzentrieren. Es war und blieb ein einziger Kampf.

„Ihr gehört doch alle zu dem gleichen Haufen, hältst du mich für so dämlich, alter Mann? Vielleicht war es doch gar nicht diese verdammte Hexe, die mir das angetan hat, sondern du und um mich davon zu überzeugen, ich könne dir und diesem nervösen Kater vertrauen, hast du dein Werk einfach wieder rückgängig gemacht.“

Aus ihrer Stimme sprach reinstes Gift, aber wenigstens versuchte sie nicht mehr ihn anzugreifen oder sich zu wandeln. Was ihr im Augenblick auch nicht gelungen wäre, denn er hatte ihr ein Mittel gegeben, dass die dafür nötigen Enzyme betäubte. Schließlich war sie nicht die erste Gestaltwandlerin mit der er zu tun hatte.

„Sie wissen ganz genau, dass das Unsinn ist. Warum würde ich Sie sonst ständig fragen, wo wir diese Hexe finden, damit wir ihr endlich das Handwerk legen können?“

Tennessey fuhr sich genervt durch die Haare. Wenn das so weiter ging, würde er bald keine mehr haben. Diese Frau war mehr als stur und leider auch ziemlich hartnäckig in den Dingen, die er in ihrem Kopf gesehen hatte. Es war nicht genug, um großartig etwas damit anfangen zu können, aber doch schon mehr, als ihr lieb gewesen war. Er wusste, wenn ihre Hände nicht gefesselt wären, sie würde ihn töten oder es zumindest versuchen.

„Das ist bloß ein Trick. Ich versteh‘ nur nicht … wieso?“

Delilas Blick war immer noch wütend und aggressiv, aber in ihren Augen lag deutlich Leid und Schmerz. Außerdem war sie vollkommen erschöpft, was ihren geistigen Widerstand anging.

„Ihr habt doch schon alles, was ich je besessen habe. Was wollt ihr denn noch von mir? Ihr habt mich doch schon dazu gebracht, sogar IHN“ Sie deutete mit einem Nicken zu Ryon hinüber, der dem Gespräch offenbar doch halbherzig folgte, weil er auf Delilas nächste Worte hin wenigstens ein bisschen zusammen zuckte.

„-nieder zu stechen, obwohl ich ehemaligen Kampfgefährten niemals etwas antun könnte, wenn es nicht die Situation erfordert. Ihr verdammten Schweine reitet einfach auf meinen Gefühlen herum, dreht sie durch die Mangel und werft sie dann weg wie Dreck! Und dass ihr dann auch noch meine Gedanken und Handlungen kontrolliert, ist einfach nur noch Widerwärtig. Ihr seid alle total krank!“

Delila stand kurz davor, erneut auszurasten, doch das mordgierige Glitzern in ihren Augen wurde schließlich hinter ihren Händen vergraben, als ihr Leid sie erneut übermannte und sie am ganzen Körper bebend versuchte, ihre Tränen zu verstecken. Das hätte ihren Stolz nur noch stärker verletzt, als er es ohnehin schon war.

„Verdammt, ihr habt versprochen, dass ich ihn wieder bekomme, wenn ich Ryon verletze. Hätte ich ihn etwa auch noch töten sollen?“

Leise und brüchig war ihre Stimme zunächst kaum zu hören, bis sie erneut wütend hoch fuhr.

„Ich würde diesen Scheißkerl jetzt sogar mit Freuden umbringen, jetzt da ich weiß, dass er zu diesem ganzen Abschaum gehört!“

Ryons Stuhl fiel laut polternd zu Boden, als plötzlich wieder Leben in ihn kam und er aufsprang, um der Wölfin mit ebenso viel Aggressivität entgegen zu treten. Offenbar hatten seine Nerven einen kritischen Punkt erreicht.

Tennessey hätte sich spätestens jetzt am liebsten raus gehalten und den Kopf eingezogen. Zwei wütenden Gestaltwandlern sollte man sich nicht in den Weg stellen, aber er blieb trotzdem. Schließlich war das, was Delila sagte, ebenso aufschlussreich, wie die Dinge, die sie ihm nicht sagen wollte. Vielleicht verplapperte sie sich noch. Zumindest hoffte er das. Die Zeit lief ihnen langsam aber sicher davon. Das konnte schließlich nicht ewig so weiter gehen.

„Also hatten Sie gar nicht vor, ihn zu töten?“

Delilas Blick blieb auf Ryon geheftet, der bedrohlich aber schweigend da stand, wie kurz vor dem Sprung.

„Natürlich nicht. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es nicht gekonnt. Diese nette mentale Fessel hat mich dazu gezwungen, alles genau nach Befehl auszuführen. Aber damit müsstest DU dich doch bestens auskennen!“

„Das stimmt.“ Tennessey kannte sich tatsächlich damit aus, aber sicherlich nicht wegen dieser ganzen Boudicca-Affäre.

„Und wen sollten Sie wiederbekommen? Etwa … Kevin? Den Namen, den ich aus ihrem Gedächt-“

Ryon reagierte schneller, als Tennessey blinzeln konnte. Delila war wie eine Furie hoch gesprungen und wollte sich selbst in gefesseltem Zustand auf ihn stürzen, als sein Freund sie einfach in der Luft abfing und wieder auf die Pritsche beförderte, als koste es ihn noch nicht einmal die kleinste Anstrengung. Dabei sah er aber so aus, als würde er sich enorm beherrschen müssen. Seine ganze Haltung war verkrampft und angespannt. Man sah deutlich, dass er ihr am liebsten etwas getan hätte, wenn Delila ihm die richtigen Gründe dafür geben würde. Das leicht zerrissene Hemd und die paar Kratzer von ihren Fingernägeln auf seiner Brust reichten dazu offensichtlich noch nicht aus. Wie lange würde der Tiger sich noch zurückhalten können?

„Du verdammtes Arschloch, weißt ganz genau, von wem ich rede!“

Delila wehrte sich gegen Ryons Hände, die sie davon abhielten, sich erneut auf Tennessey stürzen zu können, aber ihr den Mund verbieten konnte keiner.

„Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht!? Ich schwöre euch, wenn ihr ihm etwas angetan habt, bring ich euch alle um‼“

Beinahe hockte Ryon schon auf der nackten Frau, die unter ihm wie eine Wilde tobte und herum schrie, als würde sie endgültig den Verstand verlieren.

Tennessey konnte das Bild kaum noch mit ansehen. Sein Freund tat ihr bestimmt nicht mit Absicht weh, doch sie wehrte sich so verbissen gegen ihn, dass sie durch seinen Griff schon blaue Flecke an den Handgelenken bekam und Ryon immer wieder etwas abbekam, wenn sie ihm durch die Finger schlüpfte.

„Verdammt noch mal, beruhig dich endlich, wir wollen dir nichts tun, sondern dir helfen!“

Ryons Tonfall war voller unterdrücktem Zorn, weshalb seine Worte der Wahrheit Lügen straften.

„Fick dich, Arschloch!“

Sie verpasste Ryon einen weiteren Schlag, der ihm die Wange blutig kratzte. Das Knurren des Tigers hallte laut und bedrohlich durch die kleine Hütte, doch was Tennessey eine Gänsehaut verursachte, schien die Frau nicht im Geringsten zu beeindrucken.

„Delila, Herrgott noch mal, denken Sie wenigstens an Ihr Baby!“

Wie als hätte der verbale Schlag sie getroffen, erschlaffte die Wölfin unter Ryons Griff und auch er zog sich betroffen zurück. Der Kampf war ebenso rasch vorbei, wie er gekommen war.

Verächtlich richtete sich Delila wieder auf und sah Tennessey an.

„Glaubst du wirklich, ich würde mich der falschen Illusion hingeben, dass es überleben wird? Wenn ihr mit uns allen fertig seid, werden wir sowieso sterben. Boudicca hat mir bereits versichert, dass meine Richter Dean und James sein werden. Darum geht es mir gar nicht. Aber sie soll verdammt noch mal ihr Versprechen einhalten, dass sie wenigstens unseren Sohn, am Leben lässt!“

Als hätten die letzten Worte alles Leben aus dem Raum gesaugt, wurde es gespenstig still. Selbst die Vögel draußen zwitscherten nicht mehr und der Wind, der ansonsten immer durch alle Ritzen gezogen hatte, schwieg ebenfalls.

Das Klingeln von Ryons Handy war daher so laut, als würde eine Bombe in ihrer Mitte einschlagen.

Tennessey wusste sofort, dass es nicht Paige sein konnte, denn Ryon hatte einen anderen Klingelton für sie eingestellt. Ein Grund, warum sein Freund vermutlich noch einmal mit Nachdruck Delila anstarrte, ehe er sein Handy hervor kramte und in Ruhe abhob.

Die darauf folgende Verwandlung würde Tennessey nie wieder aus dem Gedächtnis bekommen.

Von einer Sekunde auf die andere schien Ryon zugleich wie zu Stein zu erstarren, während er kreidebleich wurde und sich das Gold seiner Augen immer weiter zurück zog, bis sie pechschwarz waren und jegliches Leben aus ihnen gewichen war.

Zunächst atmete er gar nicht, doch dann wurden seine Atemzüge immer tiefer und schneller, während er noch immer ins Leere starrte und dem anderen Teilnehmer am Telefon zuhörte.

Als das Plastikgehäuse des Handys knackte, wusste Tennessey schon längst, dass etwas mit Paige passiert sein musste. Keinen Moment später zerbröselte es in Ryons Handfläche.

Das Telefongespräch war beendet.
 

Paige hustete sich die Lunge aus dem Leib, während sie gleichzeitig versuchte auch nur irgendwie zu Sauerstoff zu kommen. Die Geräusche hallten laut von Wänden wider, die sie im Dunkeln nicht erkennen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Und dass sie eine Ahnung hatte, warum, machte es nicht besser.

Mühsam arbeitete sie sich auf Händen und Knien hoch und schaffte es sogar, sich auf ihre Fersen zu setzen.

Mit tiefen, brennenden Atemzügen versuchte sie ihre malträtierte Lunge zu beruhigen, die das aber nur als weiteren Angriff wertete.

Auch wenn sie kaum mehr als Schemen erkennen konnte, reichte es, um das Stück Plane, das noch um ihre Füße hing, voller Hass und Wut zur Seite zu strampeln. Am liebsten hätte sie das gesamte Ding, in das man sie gewickelt und in dem man sie im Kofferraum des Wagens beinahe hätte ersticken lassen, zum Schmelzen gebracht. Aber auch der Dämonin machte diese Behandlung zu schaffen. Mehr sogar als der menschlichen Frau, die nun panisch umher tastete, um etwas in die Hände zu bekommen, mit dem sie sich würde ansatzweise verteidigen können. Denn dass sie das musste, war Paige ebenso klar, wie die Tatsache, dass man ihr keine lange Ruhepause gönnen würde.
 

Ryons unermesslicher Zorn wusste nicht mehr wohin. Als ihn auch noch Panik, Angst und Sorge übermannten, war er außer Stande, richtig zu denken. Nur noch eines kam ihm immer wieder in den Sinn: Nicht noch einmal!

Die scharfkantigen Teile des zerbrochenen Handys gruben sich noch tiefer in das Fleisch seiner rechten Hand, die er so fest zu einer Faust ballte, dass die Fingerknöchel knackten. Seine Kiefer waren so hart aufeinander gepresst, dass selbst seine Zähne protestierten, doch das war nichts gegen den Schmerz in seiner Brust, der ihn bei jedem einzelnen seiner rasenden Herzschläge folterte und seine Lungen bei jedem seiner Atemzüge in Feuer badete.

Sie hatten Paige. Sie hatten seine Gefährtin. Dafür würden sie bezahlen…

Mit einer Handbewegung wischte Ryon den malträtierten Tisch zur Seite, bis er an der Wand endgültig zerschellte und kam mit einem Blick auf Delila zu gestürmt, der sogar Tennessey in seine Schranken wies.

Der Doc wusste offenbar ganz genau, würde er sich jetzt einmischen, könnte er selbst mit dem Leben dafür bezahlen. Ryon würde nicht eine Sekunde zögern. Also hielt er sich klugerweise zurück, während sein rasender Freund die verletzte Hand um Delilas zierlichen Hals legte und sie vom Bett hoch zerrte, um sie gegen die Wand zu nageln.

Dass die Wölfin nicht einmal mehr mit Furcht reagierte, obwohl sie kaum noch Luft bekam, sagte ihm, dass sie mit ihrem Ende bereits abgeschlossen hatte. Und das schon vor längerer Zeit.

Doch anstatt sie wütend anzuschreien, oder sie mit einem Hieb zu töten, wie man es anhand seiner wahnsinnigen Wut eigentlich erwartet hätte, lag nur Härte in seinen harschen Worten.

„Liebst du deine Gefährten, deinen Sohn und das ungeborene Kind in dir?!“

Delila hatte offenbar nicht damit gerechnet, so etwas zu hören und auch nicht, dass sich die Hand um ihren Hals etwas lockerte. Ihre Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Trotzdem schwieg sie lange. Zu lange für Ryon, könnte man meinen, doch er blinzelte noch nicht einmal, sondern starrte sie weiter mit diesen furchteinflößend schwarzen Augen an, die sie bereits kannte.

„Ja, ich liebe sie alle.“, gestand Delila schließlich leise. Trotz ihres eisernen Stolzes brachen sich schließlich doch Tränen ihren Weg über ihre Wangen.

„Was würdest du tun, um auch nur einen Einzigen von ihnen zu retten?“

Ryon bohrte unbeirrt weiter und tiefer in der offenen Wunde.

Delilas Antwort kam unbeirrt schnell.

„Alles. Einfach alles.“

Unvermittelt ließ Ryon sie sanft auf die Füße zurück.

„Dann unterscheidet dich nichts von mir.“

Ryon ließ ihren Hals los und marschierte direkt auf die Tür zu, während er Tennessey fast von den Beinen fegte. Beim Hinausgehen rief er noch: „Lass sie gehen. Soll sie die Wahrheit doch selbst von den Lügen trennen.“

Tennessey starrte ihm verdattert hinterher, warf schließlich nur noch einen kurzen Blick auf die junge Frau, ehe er Ryon nachlief. Beim Wagen holte er seinen Freund wieder ein.

„Warte, Ryon. Wo willst du hin? Was ist überhaupt passiert?“

Ryon riss den Deckel des Kofferraums auf, wühlte einen Moment darin herum und förderte schließlich ein paar Anziehsachen von Paige ans Licht, die er Tennessey gegen die Brust drückte.

„Gib das Delila und danach rufst du Tyler an, damit er dich von hier wegschafft.“

Ryon förderte ein zweites Handy aus seiner Hosentasche, das er extra für Tennssey mitgenommen hatte, ohne auch nur eine von dessen Fragen zu beantworten. Danach stieg er ein und fuhr los, ohne auch nur einen letzten Blick in den Rückspiegel zu werfen.

Sein Freund war sicher, nun da sie Paige und somit ein sicheres Mittel hatten, um ihn zu Boudicca zu bringen.
 

Sie hatte Recht behalten. Kaum hatte sich ihr Körper in ihre schützende Hülle aus roten und schwarzen Schuppen zurück gezogen, hatte die andere Seite Maßnahmen ergriffen. Rosaroter Gestank quoll aus jeder erdenklichen Richtung auf sie ein, troff wie dicker Sirup von der Decke auf sie herab und legte sich überall auf Paiges Körper.

Es war so widerlich, dass sie wieder kaum atmen konnte.

Jetzt, da sie dieses Gestank-Desaster vor ihren dämonischen Augen wabern sehen konnte, wäre ihr die absolute Dunkelheit von vorhin lieber gewesen. Da hatte sie zumindest nicht da Gefühl gehabt, sich früher oder später in ein Stöckchen mit Zuckerwatte verwandeln zu müssen.

Die Kette, die mit einem breiten Ring um ihr Fußgelenk befestigt war, gab ein leises Geräusch von sich, als Paige zum wiederholten Male ihre Umgebung mit Schritten ausmaß. Sie schien in der Mitte eines kreisrunden Raums festgemacht zu sein, an dessen äußerem Rand nicht etwa Wände, sondern dicke Gitterstäbe angebracht waren.

Wenn sie ihre Hand nach oben streckte und das wenige Feuer, zu dem sie im Moment fähig war, an ihren Fingerkuppen aufglimmen ließ, konnte sie erkennen, dass sich die Stäbe irgendwo über ihrem Kopf zu einer Spitze zusammen fanden.

„Passt zu dir, du -“

Als sie sprach, quoll sofort eklig süßer Belag auf ihre Zunge und brachte sie zum Husten und Würgen. Gezwungener Maßen zog sie sich von dort, wo der rosa Dunst am dicksten war in die Mitte ihres Gefängnisses zurück und sah verächtlich auf das Möbel, das man dort aufgestellt hatte.

Ein lila Samtsofa mit goldenen Mustern war das Sahnehäubchen auf der Niedertracht, die der Magier sich für Paige ausgedacht hatte.

Wie eine Trophäe für den Stinkstiefel saß sie in einem goldenen Käfig.

„Hast du nicht mehr drauf?! Stink hier nicht rum, sondern zeig dich, damit ich dir den Arsch abfackeln kann!“

Nur ihre eigene laute und wütende Stimme wurde von den Wänden zurück geworfen. Ansonsten erhielt sie keine Antwort. Nicht einmal die Geruchswölkchen wurden dichter.

Außer sich vor Wut riss Paige eines der gold gesäumten Kissen vom Sofa, griff es an zwei der mit Fransen verzierten Ecken und wedelte damit in der von Gestank geschwängerten Luft herum. Es half wenig, aber sie konnte zumindest eine Lücke in dem Pink erkennen, das sie umgab.

„Wieso...?“

Mit fragend zusammen gezogenen Augenbrauen kam Paige das erste Mal, seit sie hier war der Gedanke, warum sie in diesem wabernden Meer aus Manipulation überhaupt noch denken konnte. Hätte sie nicht längst ... aufgeben müssen?

Als sie langsam die Hand hob, bis sie sich im Stockdunkeln vor ihren Augen befand, konnte sie es sehen. Den Grund dafür, dass sie noch Zeit hatte. Zeit, hier heraus zu kommen. Und die Macht zum Widerstand.

Vor ihr sah sie ihren Arm, ihre Hand und konnte ihre Finger erkennen. Alles an ihr war von einem leichten, zurückhaltenden Farbton überzogen, der vor dem rosa Hintergrund des Gestanks angenehm zart orange leuchtete.

Paige lächelte.

„Ich liebe dich...“



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