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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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30. Kapitel

Paige lief.

Es war Vormittag gewesen, als sie sich am Hotel getrennt hatten und seitdem war sie gelaufen. Durch die völlig fremde Stadt, ohne Plan und ohne Ziel. Einmal nur spazierend, dann schneller, bis sie regelrecht eine Straße hinunter rannte, ohne die Passanten neben ihr auch nur zu beachten. Bei all dem dachte sie nach. Darüber, was Ryon gesagt und getan hatte. Was sie selbst gesagt hatte und dass er es sehr wohl verstanden und ihr einen Tritt verpasst hatte. Denn nichts Anderes war es gewesen.

Wutschnaubend rannte sie eine Uferpromenade hinunter, registrierte mit grimmiger Zufriedenheit, dass sie an irgendeiner Ziermauer hängen blieb und sich einen blauen Fleck holte. Aber leider noch kein Grund ihre Wut hinaus zu schreien.

„Auf meine Kosten... Auf meine Kosten?!“

In einer kleinen Seitenstraße angekommen schrie sie nun wirklich und trat mit voller Wucht gegen eine Regenrinne. Ihr Fuß schmerzte, konnte aber kein einziges ihrer aufgewühlten Gefühle ausradieren. Im Gegenteil, es machte sie nur noch wütender.

„Was glaubt er eigentlich, wer er ist?! Jesus?“

Wieder ein Tritt, diesmal gegen die sandfarbene Steinmauer des Gebäudes. Und diesmal tat es in befriedigender Weise so weh, dass sie nur noch unter einem Stechen auftreten konnte.

Sie lief weiter. Gedanken drehten sich in ihrem Kopf hin und her, rangen miteinander wie zwei Kämpfer.

„Wie gnädig von ihm, dass er mich nicht nur vor seinen, sondern auch gleich vor meinen Gefühlen beschützen will! 'Du bist ein wertvoller Mensch, Paige'...“, äffte sie den Satz nach, der ihr mir am Meisten aufstieß.

„Wie kann er sich erdreisten, anzunehmen, ich würde mich verändern, weil er mir ein wenig ins Haar schnurrt?!“

Und außerdem war sie kein Mensch! Das fiel ihr erst jetzt ein, da sie tatsächlich den Stadtrand und unbelebtes Ufer am Nil erreicht hatte. Sie wollte Wut loswerden. Energie, die sich in Form aufgestellter Schuppen bereits an einzelnen Stellen durch ihre Kleidung kratzte.
 

Der Raum war klein und in einem rauchigen Grün gekachelt. Lediglich eine Metallbank war mit dem Boden verschraubt und brachte Paiges Hintern nicht nur dazu langsam taub, sondern eiskalt zu werden. Mit den Ellenbogen auf den Knien, ihr Gesicht in die Hände gestützt, sah sie nur ab und zu auf, wenn jemand an der kleinen Zelle vorbei ging.

Ihr gegenüber war eine Tür mit einer Glasscheibe, durch die sie die obere Hälfte des Kopfes des Polizisten sehen konnte, der sie hierher gebracht hatte.

Was musste auch genau dann eine Streife an der Promenade vorbei flankieren, wenn sie ihre aufflammende Wut an ein paar unschuldigen Felsen ausließ?

Das Feuerzeug, das sie benutzt hatte, um die Steinbrocken derart zu schwärzen, hatte man zwar nicht bei ihr gefunden – wahrscheinlich in den nahen Nil geworfen – aber für eine derartige Gefährdung der nahe liegenden Stadt wanderte sie erstmal in Untersuchungshaft.

Und da Paige sich strikt weigerte den Namen ihres Hotels oder jemanden anzugeben, den man informieren sollte, würde sie wohl zumindest die Nacht hier verbringen. Na, vielleicht war es ganz gut, wenn sie sich den Arsch ein bisschen abfror.

Bloß um das Treffen mit Professor Abraham tat es ihr leid. Nicht etwa, weil sie vorgehabt hatte, Ryon mit glänzenden Ergebnissen zu kommen, damit er...

„Die mangelhafte Beherrschung hast du anscheinend von deiner Mutter geerbt.“

Eine Stimme ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken.

Entgeistert sah sie den Mann an, der dort vor ihrer Zellentür stand und dem Polizisten zunickte, der mit einem Schlüsselbund in der Hand ebenfalls auf sie zutrat.

„Professor Abraham?“
 

Er rieb sich die Schläfen, nachdem er beinahe das halbe Buch durchgelesen hatte. Ein Ziehen unter seinen Fingerkuppen zwang ihn dazu, das Lesen vorerst auf Später zu verschieben und stattdessen seinen Wasservorrat wieder aufzufüllen. Kopfschmerzen waren durchaus ein Anzeichen für Wassermangel. Zumindest laut Tennessey.

Also legte er das Buch beiseite, fischte nach eine der Wasserflaschen und trank diese halb leer, ehe er sie wieder abstellte.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Paige wohl langsam auf dem Weg zu diesem Professor Abraham sein müsste. Allerdings war er entweder so sehr in das Buch vertieft gewesen oder sie hatte seit heute Morgen ihr Zimmer nicht mehr betreten.

Die Wände dieses Hotels waren zwar ausgezeichnet Schallisoliert, aber für sein feines Gehör war das natürlich nicht unbedingt ein Hindernis. Immerhin hörte er selbst jetzt, dass im Nebenzimmer jemand telefonierte, auch wenn er nicht den Inhalt verstand. Kein Wunder, dabei handelte es sich auch um Arabisch.

Da Ryon erst warten wollte, bis das Ziehen in seiner Stirn nachgelassen hatte, ehe er sich weiter in den Inhalt des Buches vertiefte, stand er auf und trat an das große Fenster. Sein Blick schweifte hinaus, ohne dass er etwas wirklich mit den Augen registrierte.

Eigentlich wollte er nicht an den Vormittag denken, der so grundlegend alles verändert hatte, aber da seine Gedanken nun nicht mehr beschäftigt waren, ließ sich das nicht vermeiden.

Immer wieder ließ er das Gespräch mit Paige Review passieren, kam aber zu dem Schluss, dass diese Eskalation sich auf Dauer nicht mehr hätte vermeiden lassen. Er war zu instabil geworden. Dabei hatten sie eine Aufgabe zu erfüllen, damit sie so bald wie möglich wieder in Frieden ihre Wege gehen konnten.

Mit einem Ruck wandte sich Ryon von dem Panoramablick ab und setzte sich stattdessen an den Schreibtisch.

Während der Computer hoch fuhr, machte er sich bewusst, dass er nun wenigstens den klaren Kopf dafür besaß, seine Gedanken auf die Nachforschungen zu richten und auf nichts anderes.

Zwar würde er für weitere Erkenntnisse Paiges Ausflug zur Grabstätte abwarten müssen, aber das hieß nicht, dass er die Zeit ungenützt lassen wollte. Also öffnete er den Internetexplorer und machte sich im Netz auf die Suche nach verschiedenen Stichwörtern.

Vermutlich würde er sehr viel Müll vorfinden, aber in jeder Geschichte steckte auch ein Fünkchen Wahrheit und in diesem Fall, wollte er dem Funken folgen, der ihm vielleicht etwas mehr über die Welt die ihn umgab berichten konnte.

Hexen, Magier, Fabelwesen, Zauber und Banne. Er hatte gewusst, dass es all diese Dinge gab, hatte sich bisher aber nie die Mühe gegeben, sich näher damit zu befassen. Seine Rasse glaubte an das Übernatürliche, waren sie doch selbst auch ein Teil davon, dennoch reichte es für Gewöhnlich aus, zu wissen, wie man unerkannt unter den Menschen leben und überleben konnte. Alles was darüber hinaus ging, lag alleine an dem Interesse daran und ob der Bedarf dafür vorhanden war.

Ryon fand, dass es nun an der Zeit war, diese magische Welt näher zu studieren, immerhin befand er sich inzwischen mittendrin.
 

Paige starrte zum vielleicht tausendsten Mal an diesem Abend das kleine Foto in ihrer Hand an. Es zeigte einen Mann und eine Frau. Professor Abraham hätte Paige nur mit Mühe und Not und wohl vor allem wegen des akkurat gestutzten Schnurrbarts erkannt.

Um allerdings zu wissen, wer die Frau neben ihm war, die breit in die Kamera lächelte, dafür hatte Paige keinen Sekundenbruchteil gebraucht. Sie sah ihre eigenen dunklen Haare, die gleichen geschwungenen Lippen und ein paar helle Augen, die immer so voller Wärme gewesen waren.

„Wir kannten uns schon vor deiner Geburt. Damals habe ich in London gearbeitet und Sarah bei einem Vortrag kennen gelernt. Wir haben uns gut verstanden, ein paar Mal waren wir zusammen mit meiner Frau aus, bis sie... Bis sie deinen Vater kennen gelernt hat.“

Paige streichelte mit dem Daumen über die Fotografie und blickte dann geduldig zu dem Mann ihr gegenüber auf der Couch auf. Sie wollte, dass er weiter erzählte. Auch wenn sie längst wusste, was kommen würde. Und dass es nichts Gutes war.

„Zuerst war sie glücklich. Sogar freudestrahlend, als sie schwanger mit dir war und du dann zur Welt kamst. Aber...“

Jetzt lächelte sie aufmunternd und nahm dem Professor die nächsten Worte ab, die ihm zuzusetzen schienen. Sie waren wohl sehr gut befreundet gewesen. Auch wenn Paige sich nicht erinnern konnte, dem Professor früher schon einmal begegnet zu sein.

„Sie hat sich verändert.“

Die Aussage klang nüchtern. Nicht zum ersten Mal vollzog die Tochter nach, was ihre eigene Mutter durchgemacht haben musste. Mit einem Mann, der sie zwar liebte...

„Mein Vater hat sie verändert.“

Stanley Abraham nickte langsam und mit Bedauern in seinen Augen.

„Professor, ich weiß, was passiert ist. Ich war dabei.“

Nun stahl sich ein kleines, schwermütigs Lächeln auf Paiges Gesicht, während sie noch einmal ihre Mutter auf dem Bild betrachtete. Zu einer Zeit, als sie noch glücklich gewesen war.

„Er hat sie krank gemacht. Vielleicht nicht so direkt, wie manch Anderen, den er seinen Experimenten direkt ausgesetzt hat... Aber es war letztendlich seine Schuld.“

„Paige...“

„Ich hab es ihr nie verübelt, dass sie gegangen ist.“

Und dass sie ihr Kind zurück gelassen hatte. Früher hatte sie oft darüber gegrübelt, warum ihre Mutter sie nicht einfach mitgenommen hatte. Jetzt bestätigte ihr der Mann, den sie erst seit einem Tag kannte und der sich als Vertrauter ihrer Mutter heraus gestellt hatte, was sie sich selbst als junges Mädchen zurecht gelegt hatte.

„Sie war nicht mehr bei Verstand. Ich habe Sarah nur noch einmal gesehen, nachdem sie aus der World Underneath geflüchtet ist. Es war...“

Er musste den Satz nicht beenden, denn Paige konnte in seinen Augen lesen, was es gewesen war. Ein leichtes Glitzern hinter den Brillengläsern verriet genug.
 

Den Großteil der Nacht hatte er damit verbracht, im Internet zu recherchieren. Doch als es immer später wurde und er immer noch nicht hören konnte, dass Paige wieder zurück war, da liefen die endlosen Berichte, Texte und Bilder nur noch ungesehen vor seinen Augen ab. Dass er keine Ruhe fand und schließlich sogar aufstehen musste, um sich etwas zu bewegen, war das einzige Anzeichen dafür, dass er sich wohl Sorgen machte. Wenn er aber versuchte, dieses Gefühl in sich selbst zu finden, war da nur Leere.

Bestimmt übertrieb er es mit dem Denken auch. Sie war erwachsen. Sie konnte auf sich aufpassen und wenn die Ausgrabungsstätte weiter weg war, konnte es durchaus sein, dass sich alles verzögert hatte.

Außerdem hatten sie keinen Zeitpunkt ausgemacht, an dem sie sich treffen würden, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, was die Nachforschungen anging. Also kein Grund, sich irgendwelche Bilder in den Kopf zu projizieren, die nicht nur völlig absurd waren, sondern ohnehin nichts in ihm bewirkten. Außer, dass sein Körper rastlos blieb und das Ziehen in seinen Schläfen beständiger Teil dieser Nacht wurde.
 

Die halbe Nacht hatten sie im Wohnzimmer des Professors – Stanley – gesessen. Sich über Sarah unterhalten und über die guten Zeiten, die sie vor dem Auftauchen von Paiges Vater zusammen gehabt hatten. Paige brannte darauf mehr über das glückliche Leben ihrer Mutter zu erfahren. Immerhin hatte sie sehr wenig davon selbst miterlebt.

Erst gegen zwei Uhr morgens kamen sie zu dem Schluss, dass Paige nicht ins Hotel zurück fahren sollte. Es war spät und in der Wohnung gab es ein Gästezimmer, das laut Stanleys Aussage sowieso viel zu wenig genutzt wurde.

„Bloß eine Zahnbürste kann ich dir leider nicht anbieten.“

Aber eine Nacht lang würde sie das aushalten. Am nächsten Morgen wollten sie dann den geplanten Ausflug zur Ausgrabungsstätte nachholen.

Ein leichtes Brennen lief durch Paiges Körper, als sie das an den Vormittag erinnerte.

Aber sie würde nicht mehr daran denken. Denn das hatte der Kerl gar nicht verdient. Wegen ihm würde Paige sich nicht ihren wohl verdienten Schlaf nehmen lassen!

Das sagte sie sich immer wieder, während sie sich hin und her warf, die Augen mit Gewalt geschlossen hielt und trotzdem nur für wenige Phasen döste, statt wirklich tief einzuschlafen. Erst gegen Morgen, als es hell im Zimmer wurde, war ihr doch etwas Erholung vergönnt. Und der Professor war so rücksichtsvoll sie erst gegen zehn mit einem leisen Klopfen an der Zimmertür zum Frühstück zu bitten.
 

Als der Morgen graute, fuhr Ryon den Computer wieder herunter, bestellte sich für seinen hungrigen Magen etwas zu Essen, da er bis auf das Frühstück gestern, nichts mehr zu sich genommen hatte und starrte sein Handy an, während er auf den Zimmerservice wartete.

Ryon wartete nicht auf einen Anruf oder eine Nachricht. Stattdessen überlegte er sich, was er schreiben könnte.

Natürlich war es schwierig nach dem gestrigen Gespräch irgendwo anzuknüpfen, aber er musste sich auch fragen, was wichtiger war. Paiges derzeitigen Aufenthaltsort und ihren Gesundheitszustand zu kennen, oder lieber im Dunklen zu tappen, nur weil er nicht die rechten Worte fand?

Rationell betrachtet, war das was er tat, vollkommener Unsinn. Weshalb er gerade zu seinem Handy greifen wollte, als es an seiner Zimmertür klopfte und das bestellte Essen eintraf.

Für den Moment schob er den Anruf noch einmal auf, um vielleicht während des Frühstücks zu den richtigen Worten zu finden.

Da es sich hierbei wie immer um eine gewaltige Menge an Essen handelte und er grundsätzlich nicht schlang, verging eine beträchtliche Zeit damit, bis er fertig war. Allerdings hatte ihn das trotz allem noch zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis geführt.

Schließlich schnappte er sich einfach das verdammte Handy, klappte es auf und begann kurz und bündig zu tippen.

Ohne zu zögern, drückte er auf den Sendeknopf, legte es wieder auf den Tisch und wartete, während er im Geiste noch einmal den Text durchging.

‚Dein Zimmer ist leer. Bist du wohl auf? Mache mir Gedanken darüber, ob dir etwas passiert ist. ~Ryon‘
 

Nach dem Frühstück waren sie direkt zu der Stelle gefahren, an der Paige nun zwischen Sand und einigen Felsbrocken stand. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich mehr von einer Ausgrabungsstätte erwartet. Aber sie musste auch bedenken, dass das ganze bereits über ein Jahrzehnt her war. In all diesen Jahren hatte der Wind, der auch jetzt heiß über sie hinweg wehte, eine Menge Sand über die Spuren der Ausgrabung gehäuft. Nur ein dunkler Eingang zwischen zwei Felsen, die wie ein dreieckiger Torbogen aussahen, war übrig geblieben. Das Gebäude dahinter hätte Paige weder hier vermutet, noch es irgendwie mit ihrer Vorstellung von Ägypten zusammen gebracht. Es sah eher aus wie eine einfache Hütte keltischen Ursprungs. Sogar ein paar verschnörkelte Zeichen waren an den beiden Torsteinen angebracht, über die Paige interessiert ihre Finger streichen ließ.

„Wir haben uns damals schon darüber gewundert.“, meinte der Professor neben ihr, der mit seinem alten Tropenhelm einen durchaus komischen Eindruck machte. Allerdings war Paige, der die Sonne aufs dunkle Haar herunter brannte eher neidisch als amüsiert über sein Aussehen.

„Aber aus unerfindlichen Gründen hat niemand der Tatsache, dass die Kelten niemals hier gewesen sind, irgendwelches Interesse beigemessen.“

Mit einem großen weißen Taschentuch wischte er sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und machte dann eine einladende Handbewegung.

„Komm', lass uns rein gehen. Drinnen ist es kühler.“
 

Der Großteil des seltsamen, runden Baus war unterirdisch und einfach gestaltet. Ein vollkommen runder Raum, mit Zeichnungen an den glatten Wänden und einem Altar in der Mitte.

„Ausgerichtet ist es in keine bestimmte Himmelsrichtung. Aber mir ist von Anfang an das Loch in der Mitte aufgefallen.“

Paige trat vorsichtig an den Steinblock heran und beugte sich über die Stelle, die Stanley mit einer kräftigen Taschenlampe beleuchtete. Das Loch war kein wirkliches Loch. Lediglich eine Vertiefung im Stein, von der aus sich filigrane Muster über die Oberfläche des Altars zogen.

„Es mag lächerlich klingen, Professor, aber ... für mich sieht das fast wie ein Schlüsselloch aus.“

Eifrig nickte der ältere Mann und Paige konnte Begeisterung in seinem Blick aufflammen sehen.

„Das Gleiche dachte ich auch. Und sieh hier!“

Der Strahl der Taschenlampe ließ Paige für einen Moment völlig im Dunkeln, bis sie dem Professor folgte, der hinter dem Altar in die Hocke gegangen war und ihr dort eine Art Schublade zeigen wollte.

„Auf der anderen Seite ist ebenfalls eine. Hier drin habe ich ein steinernes Gefäß mit dem Amulett gefunden, das vor einigen Jahren aus Mr. Grants Besitz gestohlen wurde. In der anderen Schublade lag nichts. Aber der Einbettung nach nehme ich stark an, dass dort ein zweites Schmuckstück lag.“

„Das Gegenstück.“

„Ganz genau.“
 

Paige starrte einige Zeit mit einem mulmigen Gefühl auf das Display ihres Handys. Zweimal hatte sie die SMS gelesen und sie wusste, dass sich alles in ihr noch mehr sträuben würde, wenn sie es noch einmal tat. Also löschte sie kurzerhand die Nachricht und drückte stattdessen die Kurzwahltaste 1.

„Hier ist Paige. Ich bin gerade auf der Ausgrabungsstelle gewesen. Es gibt definitiv ein zweites Amulett und so wie es aussieht, sind die beiden eine Art Schlüssel. Es gibt einen Altar, in den Muster eingearbeitet sind und in eine Vertiefung passen die Amulette genau hinein. Was sie allerdings auf- oder verschließen sollen, weiß ich nicht.“

Sie hatte ihm keine Zeit gelassen außer dem 'Ja', mit dem er den Anruf entgegen genommen hatte, etwas zu sagen. Auch nachdem sie ihm ihre Informationen hingeknallt hatte, hätte sie am liebsten sofort wieder aufgelegt. Aber vielleicht hatte Ryon ja doch etwas zu sagen.
 

Bei dem Lärm in den Straßen hätte er das Klingeln seines Handys fast nicht gehört, weshalb er dankbar für den Vibrationsalarm war. Direkt in der Nierengegend hatte er den Ruf seines Handys zum Glück rasch mitbekommen.

Schnell zog Ryon es aus seiner Tasche, drückte auf ‚Annehmen‘ und schob sich mit einem ‚Ja?‘ in eine Seitengasse, um dem Trubel und dem Lärm etwas zu entkommen, dem er sich ausgesetzt sah.

Da er nicht auf das Display geachtet und somit eigentlich auch nicht mehr mit Paige gerechnet hatte, war er überrascht ihre Stimme zu hören.

So schnell wie sie ihm die gewonnenen Informationen herunter ratterte, hatte er Mühe, dem Faden zu folgen. Allerdings verschaffte ihm das anschließende Schweigen genau die Pause, die er brauchte, um die neuen Erkenntnisse zu verarbeiten.

„Kann jemand die Inschriften entziffern, um zu sehen, ob etwas über die Schmuckstücke niedergeschrieben wurde? Wenn es nun tatsächlich zwei sind und wir eines davon haben, können wir also vermutlich davon ausgehen, dass dieser Hexenzirkel wohl das Gegenstück dazu hat, oder es sich sicher bald beschafft haben wird.“

Es hätte nichts gebracht, auf Paiges Tonfall zu reagieren oder über irgendetwas anderes zu sprechen, als ihren Fund. Weshalb er es am Telefon auch dabei beließ, sich mit diesen Informationen zu beschäftigen.

Die Tatsache, dass sein Körper sich wenigstens jetzt etwas entspannte, da er ihre Stimme hatte hören können, ließ er einfach beiseite.

„Gibt es Hinweise darauf, wie die Amulette dorthin gelangt sind und in welcher Zeit?“

Wenn nichts darüber in den Inschriften stand, weshalb diese Schmuckstücke so wertvoll sein sollten, außer dass sie zusammen wohl als so eine Art Schlüssel fungierten, dann musste es doch auch noch wo anders Hinweise darauf geben, was für einen Zweck sie erfüllten. Immerhin waren diese Hexen nicht umsonst hinter dem Amulett her.
 

Paige versuchte so zu sein wie er. Völlig gefühllos nicht an sich heran zu lassen, was passiert war. Und auch nicht die Tatsache, dass ihr der Gedanke unangenehm war, ihn irgendwann wieder zu sehen.

"Professor Abraham hatte eine Abschrift der Zeichen. Mit einer Übersetzung kann er persönlich nicht dienen, aber es gibt eine. In Dublin."

Sie erinnerte sich an den modrigen Geruch des runden Raumes unter der Erde. Wie sie mit Stanleys Taschenlampe dagestanden und die Wände abgeleuchtet hatte. Eine ganze Geschichte war dort aufgezeichnet worden.

Ein Schauer durchlief Paiges Körper, obwohl sie hier wieder in der heißen Sonne und einige Meter von dem Torbogen entfernt stand.

"Es gibt Wandmalereien in dem Raum. Natürlich bin ich keine Expertin, aber Professor Abraham ist mit mir einer Meinung, dass die Amulette irgendetwas hinter Schloss und Riegel halten sollen, was sehr gefährlich ist."

Auf der Wand war es eine wabernde schwarze Masse mit feurig weißen Augen gewesen. Reißzähne hatte Paige wohl selbst nur in den leicht abgesprungenen Putz interpretiert. Zumindest hoffte sie das.

"Der Professor kann mir noch ein paar Aufzeichnungen zum Wann und Wie zeigen..."

Und dann? Sollte sie Ryon wieder anrufen? Irgendwann würde sie die Gastfreundschaft des Professors auch nicht weiter strapazieren können. Spätestens dann müsste sie ins Hotel zurück. Und einen Rückflug würde es ebenfalls geben.
 

Ryon hörte ihr genau zu, während er noch etwas weiter in die schmale Seitengasse zurück wich, um noch mehr Ruhe zum Nachdenken zu haben.

„Dublin in Irland?“, warf er kurzerhand ein, während er in Gedanken bereits bei dem war, was sie noch alles gesagt hatte.

Dass etwas Gefährliches geschehen könnte, wenn die beiden Amulette aufeinander trafen, war irgendwie vorauszusehen gewesen. Dieser Hexenzirkel war böse. Was also sonst sollten sie wollen, außer noch mehr böse Dinge zu tun?

Konnte es vielleicht sein, dass die Schmuckstücke nur zusammen irgendwie eine Wirkung hatten und sie ansonsten harmlos waren? Irgendwie konnte das Ryon nicht ganz glauben. Selbst wenn seines nicht verflucht war, in der Vergangenheit dieses Amuletts waren zu viele ungeklärte Unfälle und Tode. Das konnte einfach kein Zufall sein.

„Okay. Ich nehme dann an, dass du während du dir diese Aufzeichnungen ansiehst, bei dem Professor bleibst?“

Eigentlich wollte er nur sicher gehen, dass sie nicht sonst irgendwo in der Weltgeschichte herum reiste, ohne dass er davon wusste. Zwar hatte er keine Ahnung, wo genau dieser Professor Abraham wohnte, aber wenn er müsste, würde er es heraus finden. Trotz allem würde er Paige nicht einfach bedenkenlos in einem fremden Land herum streifen lassen. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte und konnte daher nur davon ausgehen, dass sie bei diesem Mann sicher war.
 

"Ja, das in Irland."

Paige verschränkte die Arme vor der Brust, während sie mit der Schuhspitze ein paar Steinchen durch die Gegend kickte. Welches Dublin sollte sie denn bitte sonst meinen? Gab es denn noch eins?

Ein Stein flog in hohem Bogen durch die Luft und sprengte Staub an einem der beiden Torsäulen hoch, als Paige kräftig dagegen trat.

'Was interessiert es dich denn, wo ich bleibe?!'

"Werde ich."

Sie legte auf.

Eigentlich hätte sie gern noch gewusst, wo Ryon selbst hinging. Ob er andere Spuren verfolgte und gar nicht auf die Idee kam, sie darüber einzuweihen. Warum sollte er auch?

"Dass du es gerade noch so erwarten kannst, bis sich unsere Wege wieder trennen."

Unzufrieden stopfte sie das Handy in die Tasche und ging zu Professor Abraham hinüber, der im winzigen Schlagschatten des Torbogens in die Hocke gegangen war.

"Hast du Lust ein wenig Keltisch zu lernen, Paige?", fragte er mit diesem spitzbübischen Lächeln, das sagte, er hatte von dem Gespräch mehr mitbekommen, als ihr lieb war. Deutlich mehr sogar.
 

Ryon hörte noch eine ganze Weile dem rasch aufeinanderfolgendem Tonsignal zu, das Paiges Stimme ersetzte, nachdem sie aufgelegt hatte.

Erst das störrische Murren eines Esels ganz in seiner Nähe, ließ ihn hoch fahren und endlich das Handy zuklappen. Er verstaute es wieder sicher in der Tasche, ehe er sich von der Wand abstieß, an der er schon die ganze Zeit gelehnt hatte.

Zurück auf der offenen Straße reihte er sich in den Strom von Leibern ein und ließ sich einfach davon treiben, während er tief in Gedanken versunken über alles nachdachte. Nicht nur über das Telefonat, sondern über die Dinge darüber hinaus.

Dass Paige sauer war, ließ sich nicht vermeiden. Sie hatte recht damit, das würde er nicht bestreiten. Wie er sich in ihrer Lage fühlen würde, wusste er nicht, aber darüber nachzugrübeln was wäre wenn … half auch nicht weiter. Er hatte seine Entscheidung gefällt und war daher auch bereit mit den Konsequenzen leben zu müssen.

Vielleicht mochte es im Augenblick nicht danach den Anschein haben, aber letztendlich war es besser, wenn sie wütend auf ihn war. Mit Wut konnte er umgehen, alles andere hatte er nun effektiv ausgeschlossen. Es war einfach besser so.
 

Als das Licht seinen Augen mehr und mehr zusetzte und ihm langsam auch die Hitze zu viel wurde, steuerte Ryon wieder direkt auf das Hotel zu. In seinem Zimmer angekommen zog er sich das Hemd aus, trank fast eine ganze Flasche voll Wasser leer und setzte sich wieder mit dem Handy auf das Bett.

Eine Weile starrte er es einfach nur an, unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Es gab einfach nichts für ihn zu tun, was nicht gerade hilfreich war. Paige war gerade an Ort und Stelle, wo sie mehr über das Amulett herausfinden konnte. Da sie deutlich gemacht hatte, dass das auch noch eine Weile so bleiben würde, blieb ihm letztendlich nichts anderes übrig, als zu warten. Aber genau das wollte er nicht. Untätigkeit hatte er noch nie vertragen.

Schließlich legte er das Handy beiseite und stand wieder auf. Er holte seinen Koffer unter dem Bett hervor und suchte Marlenes Tagebuch heraus, das er stets bei sich hatte.

Wenn er schon nichts Näheres über das Amulett herausfinden konnte, dann vielleicht doch noch ein bisschen mehr über diesen Hexenzirkel. Immerhin hatte seine Gefährtin immer wieder Namen von Personen erwähnt, die einfach so verschwunden, ermordet oder übergelaufen waren. Außerdem erinnerte er sich noch vage an diverse Zeitungsartikel. Selbst wenn es eine sinnlose Suche werden sollte, so beschäftigte es ihn wenigstens.

Also setzte er sich trotz der leichten Kopfschmerzen wieder vor den PC und begann nach alten Informationen über die vermissten oder ermordeten Frauen zu suchen. Für die Menschen war natürlich bestimmt alles vertuscht worden, aber er wusste schließlich, dass es sich vermutlich um übernatürliche Morde gehandelt hatte. Vielleicht brachte ihn das wenigstens etwas weiter.

Ein Versuch war es zumindest wert und es war allemal besser, als das unerträgliche Warten.
 

"Die Kelten haben also Wanderungen bis aufs europäische Festland unternommen. Bis nach Rom und darüber hinaus. So unwahrscheinlich ist es da doch gar nicht, dass sie bis nach Ägyten kamen."

Paige aß einen weiteren Löffel Linsensuppe und trank einen Schluck Tee, bevor sie sich in ihrem Stuhl zurück lehnte, um weiter nachzudenken.

"Seltsam ist es aber schon, dass das nicht in den normalen Geschichtswerken verzeichnet ist. Es ist doch immerhin recht bemerkenswert, dass sie so weit gekommen sind."

Stanley Abraham brach sich ein kleines Stück Brot ab, tauchte es in die dicke Linsensuppe und steckte es sich in den Mund um dann versonnen zu kauen.

"Richtig. Aber du musst bedenken, dass keltische Bauwerke sich im Allgemeinen einfach nicht so gut gehalten haben, wie die der Ägypter. Die Bauweise war eine Andere und mal ganz ehrlich. Neben so eine Pyramide sieht der kleine Eingang zum unterirdischen Tempel schon ein wenig mickrig aus."

"Bloß weil etwas mickrig aussieht, heißt das nicht, dass es das auch ist.", meinte sie abgeklärt und nahm noch einen großen Schluck süßen Tee.

Die Stunden waren schnell vergangen, während sie zuerst ein paar Schriftzeichen und Symbole entziffert hatte, dann zu Professor Abrahams Wohnung zurück gefahren waren, um seine Aufzeichnungen durchzusehen ... und jetzt saßen sie schon beim Abendessen.

Paige kam es so vor, als wären die Stunden nur so verflogen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nicht die geringste Lust dazu verspürte, das zu tun, was am Ende dieses Abends stehen würde. Sie wollte ihn nicht wiedersehen. Nicht, solange es sich vermeiden ließ.

Erst als sie ihre völlig unkonzentrierten Augen wieder auf Stanley richteten, bemerkte sie, dass er sie anlächelte.

"Hm?"

Hatte er etwas gesagt? Sie war so in Gedanken versunken gewesen. Dabei sollte sie noch nicht einmal diese Energie aufwenden...

"Ich habe gefragt, ob du noch einen Mokka möchtest, bevor ich dir ein Taxi rufe."
 

Paige war in einem Hotel noch nie geschlichen. Geschweige denn in ihrem eigenen Zimmer, nachdem sie mit einem zugekniffenen Auge die Tür so leise es irgendwie möglich war, ins Schloss gezogen hatte.

Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte, aber sie lief trotzdem auf Zehenspitzen und zog sofort die Schuhe aus, als sie an der Garderobe ankam. Es war absolut lächerlich sich so aufzuführen. Immerhin war das ihr Zimmer. Wenn sie gewollt hätte, könnte sie hier nackt tanzend und singend durch die Gegend hüpfen.

Aber danach stand ihr bestimmt nicht der Sinn.

Nachdem sie durch das dunkle Zimmer geschlichen war und die Nachttischlampe angeknipst hatte, verschwand sie leise im Bad, putzte sich die Zähne, wusch sich kurz und zog sich um.

Selbst im Bett konnte sie sich nicht entspannen. Wenn er es wollte, konnte er bestimmt sogar die Sprungfedern hören, wen sie sich umdrehte.

"Ich bin dir scheißegal, also nimm deine Ohren aus meinem Zimmer.", sagte sie in normaler Tonstärke an die Zimmerdecke gewandt, bevor sie sich auf die Seite warf und nun endlich versuchte einzuschlafen.
 

Die Informationen, die man über das Internet erhalten konnte, waren für Ryons Geschmack verdammt dürftig. Zwar hatte er anhand der Daten ein paar der Mordfälle herausfinden können, musste sich aber lediglich mit aufgeputschten Schlagzeilen zufrieden geben, von denen bestimmt nicht einmal die Hälfte wirklich stimmte. Noch dazu war es auch sehr seltsam, dass bei einigen Vermissten nicht einmal eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden war.

Diese Frauen wurden noch nicht einmal mit einem Wort erwähnt, als hätte es sie niemals gegeben, oder als wären sie niemals verschwunden. Dabei hatte Marlene sich nicht geirrt. Sie war hautnah dabei gewesen, wie ihr eigener Zirkel immer mehr auseinander brach. Sie würde nichts schreiben, was sie nicht absolut sicher wüsste.

Etwas war dennoch an dem Ganzen faul.

Wenn die Frauen nicht wieder aufgetaucht waren und ihre eigenen Familien nicht nach ihnen suchten, was war dann nur mit ihnen passiert?

Ryon rieb sich die müden Augen, während immer wieder die Zeilen auf dem Bildschirm vor ihm verschwammen. Für heute sollte er es gut sein lassen. Sein Körper war noch immer nicht wieder vollständig hergestellt und er hatte letzte Nacht nicht geschlafen. Er konnte auch morgen noch weiter nachforschen.
 

Als er schließlich endlich im Bett lag, schlief er zwar relativ rasch ein, aber er wälzte sich schon nach kurzer Zeit unruhig auf der Matratze hin und her. Sein Puls war beschleunigt, sein Herz hämmerte ihm nur so gegen die schweißnasse Brust, während sein Atem keuchend an den Wänden widerhallte.

Nachdem er die ganze Bettwäsche endgültig vom Bett gestrampelt und getreten hatte, riss er die Augen auf und wäre fast ebenfalls aus dem Bett gefallen, als er sich ruckartig aufsetzte. In seinem Kopf hallte Paiges Stimme wieder, die irgendetwas davon gesagt hatte, sie wäre ihm scheißegal…

Ryon presste seine Handballen gegen seine schmerzenden Augen und der pochenden Stirn, während er sich an seinen Alptraum zu erinnern versuchte. Aber alles was hängen geblieben war, waren Paiges Worte.

Das Wasser tat seiner Kehle gut, als er es gierig in vollen Zügen hinunter schlang. Sein Herz pochte immer noch schnell und er war vollkommen durchgeschwitzt, aber immerhin hatte er sich wieder beruhigt.

Nachdem er den Deckenventilator wieder auf Höchststufe eingeschalten und er sich wieder sein Bett hergerichtet hatte, legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Es war nur ein Traum gewesen und er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, um was es sich dabei gehandelt hatte. Kein Grund, nicht zu versuchen, weiter zu schlafen.

Mit dem Gedanken, dass Paige ihm niemals egal sein könnte, schlief er schließlich wieder ein. Für den Rest der Nacht wurde er mit weiteren Träumen verschont.



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