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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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14. Kapitel

Gerade als er sie fast eingeholt hatte, nachdem sie ihm einfach so davon gelaufen war, war sie plötzlich mit einem Schlag verschwunden. Zumindest ihr Körper, denn hören konnte er sie immer noch.

Erneut alarmiert war er mit einigen wenigen Sätzen am Rande des Lochs, in das Paige gefallen war. Obwohl es wohl eher wie ein geschaufeltes Grab aussah, schien es doch tiefer zu sein und so weit er das von hier aus beurteilen konnte, ging es auch noch weiter.

„Paige?“

Er ging an einer stabil wirkenden Seite des Lochs in die Hocke und spähte in das Dämmerlicht hinein. Sie saß fast direkt darunter, schmutzig aber so wie es aussah, unverletzt. Gott sei Dank.

Eine Welle der Erleichterung fuhr durch ihn hindurch, ohne dass er es mit bekam. Denn noch bevor sie irgendwie reagieren konnte, sah Ryon sich noch ein letztes Mal nach allen Seiten um, ob die Luft rein war und drückte sich dann vom Boden ab, um ebenfalls in das Loch zu gelangen.

Lautlos und weich landete er knapp neben ihr auf seinen Füßen, blieb aber in der Hocke, während er sich wachsam umsah. Seine Nachtsicht war zwar perfekt, aber hier unten herrschte so wenig Licht, dass er selbst gerade nur noch schwarzgraue Konturen erkennen konnte. Für Farbe reichte es einfach nicht mehr.

Paige hingegen sah er dank des Lichts von Oben noch ganz genau, während alle anderen Sinne immer noch auf ihre Umgebung gerichtet waren. Offenbar saßen sie hier mitten in so eine Art unterirdischem Tunnel. Niemand war zu sehen, aber es roch nicht nur nach feuchter, modriger Erde… Ryon witterte Blut.

„Alles okay, bei dir?“, fragte er leise, da ihm alles andere viel zu laut vorgekommen wäre. Ohne großartig darüber nachzudenken wischte er Paige Steine, Dreck und Erde von ihrem Mantel.

„Tut dir irgendetwas weh?“, wollte er wissen, während er ihre Fußknöchel abtastete und bewegte. Offenbar war soweit alles noch in Ordnung. Gebrochen war zumindest schon einmal nichts. Aber aus dieser Höhe wäre das auch eher großes Pech gewesen. Trotzdem ging er lieber auf Nummer sicher.

Als er sich näher zu Paige hin lehnte, wurde der Blutgeruch stärker, wodurch ihm bewusst wurde, dass er von ihr kam.

Sofort schnellte seine Hand nach vor, berührte ihre Wange, um ihren Kopf sanft zur Seite zu drehen.

„Du blutest.“, war seine vollkommen ruhige Feststellung, als er ihr seinen Hemdärmel an den aufgekratzten Hals drückte und die Verletzung zumindest grob von dem Dreck säuberte, der an ihr haftete. Danach nahm er den Stoff weg und sah sich die Wunde genauer an.

„Nur eine Schramme. Die Blutung hat schon fast aufgehört. Ist nicht weiter schlimm.“

Er ließ sie wieder los und stand auf.

„Kannst du aufstehen?“

Er streckte ihr die Hand hin.
 

Paige hatte die ganze Zeit nicht von der Stelle weg gesehen, die sie derart erschreckt hatte. Ryons Berührungen bemerkte sie erst, als er ihren Kopf zur Seite drehte.

Sie zuckte erneut zusammen, als ihr bewusst wurde, wie nah sie sich waren. In der Hocke lehnte Ryon ein Stück über ihr, da sie immer noch auf ihrem Hintern im kalten Dreck saß. Die Lippen ein wenig geöffnet atmete sie flach, als er ihren Hals abwischte und sich sogar noch ein wenig näher zu ihr hin lehnte, um sich ihre Verletzung anzusehen. Auf ihrer dunklen Zunge konnte sie seine Wärme schmecken, von seinem Geruch ganz zu schweigen.

Und dann war es auch schon wieder verschwunden. Er stand auf und hielt Paige die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Als sie endlich ebenfalls wieder aufrecht stand, stampfte sie vorsichtig mit beiden Füßen auf, um sicher zu gehen, dass alles noch so funktionierte, wie es sollte. Bei dem Sturz hatte sie sich nichts verstaucht oder irgendwie sonst verletzt. Von der 'Schramme' am Hals einmal abgesehen. Aber die brannte auch nur noch ein wenig.

Paige trat einen Schritt von Ryon weg und auf die Stelle zu, die sie eine ganze Weile misstrauisch im Auge behalten hatte. Wieder flammte warmes Licht auf, als sie ihre brennende Hand vor sich ausstreckte und damit den gesamten Gang erhellte. Nun erschrak sie nur innerlich, anstatt das kurze Entsetzen auch nach außen zu lassen und es dem Mann hinter ihr zu zeigen.

Stattdessen kniff sie die Augen zusammen und starrte in die gähnende Leere, die sich vor ihr auftat. Der Fremde, dessen Gesicht sie vorhin im kurzen Aufflackern ihrer Flamme gesehen hatte, war verschwunden und hatte für sie keine erkennbare Spur hinterlassen.

„Ein Wasserspeier.“

Mit verdammt großen Zähnen, wenn sie dem Bild trauen sollte, dass sie von dem kurzen Erkennen im Kopf hatte.

„Er ist da lang.“

Sie zitterte leicht, was Ryon hoffentlich auf die Kälte schob. Aber sie musste sich bestimmt keine Sorgen machen. Weit konnte es zur Unterwelt nicht mehr sein.
 

Als das Licht so plötzlich aufflammte, wich Ryon automatisch einen Schritt vor Paige zurück.

Zum Glück konnte sie seine Reaktion nicht sehen, da sie sich auf einen Punkt in die entgegen gesetzte Richtung konzentrierte, aber es reichte für ihn selbst, um sich zu fassen.

Diese Frau war nun einmal, was sie war. Er sollte es akzeptieren und in dieser Umgebung war ihre Fähigkeit sogar ganz nützlich. Dadurch musste er seine Augen nicht so sehr anstrengen, um etwas zu erkennen.

„Ein Wasserspeier…“

Deshalb hatte er also nichts wittern können. Wenn diese Gestalt ein vollkommener Wasserspeier ohne menschlichem Blut war, würde er ihn nie wittern können. Zumindest würde es immer irgendwie erdig oder nach Stein riechen. Selbst wenn er in menschlicher Gestalt herum ging. Gestaltwandler waren nun einmal keine Alleskönner. Man konnte auch ihre Sinne täuschen.

Da es Paige offensichtlich gut ging und sie ohnehin andeutete, dass sie dem Weg oder besser gesagt, der Erscheinung folgen wollte, die er nicht mehr hatte sehen können, trat er neben sie, aber mit gewissem Abstand aus Respekt vor ihren Fähigkeiten.

„Meinst du, der Weg führt direkt zur Unterwelt?“

Die Frage war eigentlich unwichtig, da sie das sowieso gleich heraus finden würden, dennoch stellte er sie.

Er fühlte sich in diesem Gang keinesfalls wohl und langsam konnte er das Kribbeln in seinen Gliedern nicht mehr ignorieren. Ryon war nicht nur in höchster Alarmbereitschaft, sondern auch bis auf den letzten Nerv absolut angespannt. Keiner von ihnen konnte sagen, was sie erwarten würde und genau das war es, was ihn reizbar machte – das Unbekannte.

„Lass uns einfach nachsehen.“, schlug er schließlich vor, da untätig herum stehen noch mehr an ihm zerrte. Handlung war gut. Handlung zwang ihn dazu, etwas von der Anspannung in Energie umzuwandeln, um zu funktionieren. Stillstand war also äußerst schlecht. Außerdem hatte er immer noch Adrenalin im Körper, das Paiges Fall in dieses Loch ausgelöst hatte. Auch das wollte abgebaut werden.
 

„Ich weiß es nicht. Aber der Typ schien nicht sonderlich beeindruckt von dem kleinen Sturz. Er wirkte genauso zielstrebig wie an der Oberfläche.“

Paige konnte sich nicht erklären, wie der Wasserspeier hier unten seinen Weg finden konnte, ohne zuvor hier gewesen zu sein. Aber andererseits hatten sie auch nur zwei Möglichkeiten. Entweder nach vorn, dorthin wo der Fremde verschwunden war, oder in die entgegen gesetzte Richtung. Was allerdings ihre Chancen Paiges Meinung nach verminderte. Das musste ungefähr die Richtung sein, die in mehreren hundert Metern unter die Hauptstraße zurück und vielleicht sogar in einen der Tunnel der Metro führte. Genau konnte man das aber auch nicht sagen. Immerhin konnten Biegungen und Wegänderungen auf sie warten, egal für welche Richtung sie sich entschieden.

Als sie sich nun in Bewegung setzten, blieb Paige wenn möglich einen halben Schritt vor Ryon, um ihm den Weg zu erleuchten. Ihr war aufgefallen, dass er sich ziemlich weit von ihr fern hielt. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass er ihre dämonische Seite mit den Flammen noch weniger mochte, als den Rest von ihr. Verständlich, wenn man bedachte, wie sie seine Hand zugerichtet hatte. Eindeutig schlechtes Gewissen begann an ihr zu nagen, auch wenn sie sich für ihre damalige Reaktion nicht schämen wollte. Es war ihrer Meinung nach angemessen gewesen. Jetzt würde sie doch nur derartig in die Luft gehen, wenn er ihr tatsächlich irgendwann ans Leder wollte.

Sie folgten dem Gang langsam und bedächtig. Immerhin konnten sie nicht wissen, was im Dunkeln vor ihnen lauerte. Selbst wenn es lediglich dieser Steindämon sein sollte, dem sie zu sehr auf die Pelle rückten, wäre das vermutlich nicht angenehm geworden.

Nach einer Weile konnte Paige allerdings nicht anders, als diese uralte Schutzfunktion auszuspielen, die auch die Menschen anwandten, wenn sie sich in unbekannte Gefilde vorwagten, die ihnen Angst machten.

Um sich selbst zumindest ein wenig zu beruhigen, fing sie an zu summen. Zuerst ganz leise, bis es zu einem vorsichtigen, aber klaren Singen wurde. Für sie selbst schob es die dunklen Schatten besser zur Seite, als die Flamme, die sie auf ihrer Handfläche vor sich hertrug.
 

Da sie beide mit äußerster Vorsicht vor gingen, konnte es natürlich nicht sehr schnell voran gehen, weshalb sie auch bereits eine ganze Weile unterwegs waren, ohne auf irgendetwas zu stoßen. Was die Situation eigentlich noch schlimmer machte, weil man das Gefühl bekommen konnte, gleich müsse irgendetwas passieren und je länger man darauf wartete, desto größer wurde dieses Unbehagen.

Ryons Blick schoss bereits unruhig hin und her, tastete alles ab, was er erwischen konnte, um auf mögliche Fallen oder Gefahren vorbereitet zu sein. Sein Geruchssinn half ihm nicht sehr viel weiter. Er konnte nur Paige wittern und den modrigen Geruch von Erde.

Zu wissen, dass über ihren Köpfen Leichen verscharrt waren, machte das Ganze nicht wirklich besser. Zum Glück war der Weg teilweise leicht abschüssig, was bedeutete, dass sie sich von den Gebeinen der Toten entfernten.

Als ein leises Summen von Paige zu ihm herüber drang, wollte er ihr schon sagen, sie solle damit aufhören, da er so noch weniger hören konnte. Das Geräusch ihrer beiden Schritte war in dieser Stille schon laut genug, um verdächtige Geräusche zu spät erkennen zu lassen, aber ihr Summen merzte auch noch den letzten Rest davon aus.

Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, registrierte er, wie das Kribbeln in seinen Fingern nach ließ und auch die vollkommene Angespanntheit sich in ihm etwas zurück zog. Es war verrückt, aber ihre Stimme zu hören, schien ihn körperlich etwas zu beruhigen. Wie bei einer Katze die trotz ihrer Angst schnurrte, um sich selbst die Furcht etwas zu nehmen. Also kannten auch Halbdämonen wie sie diesen Trick.

Vielleicht war es aber auch nur eine rein menschliche Reaktion. Er konnte es nicht sagen. Schwieg aber schließlich weiterhin, selbst als sie leise zu singen anfing. Ihre Stimme war sehr schön.
 

Irgendwann, nachdem er schon keine Steine und Erde mehr sehen konnte, kamen sie endlich an etwas, das man eine Abzweigung nennen konnte, an. Allerdings war keinerlei Hinweisschild aufgestellt, wo es nun zur ‚Dark Side of Paris‘ ging. Nicht einmal Fußspuren waren zu sehen, da der Boden im Laufe der Jahre von vielen Füßen ganz fest getrampelt worden war und Gerüche schienen sich hier rasch zu verflüchtigen.

„Was nun?“, durchbrach er die aufkommende Stille, nachdem Paiges Gesang ebenfalls verstummt war. Vermutlich wusste sie genauso wenig weiter, wie er.
 

Die beiden Gänge, die sich vor ihnen geöffnet hatten, gaben keinerlei Hinweis darauf, wo sie hinführten. Von ihrer Position aus konnte man nicht einmal sehen, ob sie nicht schon nach wenigen Metern wieder zusammen führten.

„Es sieht nicht so aus, als wäre der eine Durchgang öfter benutzt worden, als der andere. Wenn wir Glück haben, führt jeder von ihnen früher oder später zum Ziel.“

Automatisch und völlig unbewusst hatte Paige angefangen von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ihr war immer kälter geworden und gerade die Finger, über denen die kleine Flamme loderte, waren reinste Eiswürfel.

Ihrer dämonischen Seite war die kühle und vor allem sonnenfreie Umgebung wie ein Dorn im Fleisch. Lange würde sie es in dieser Finsternis nicht aushalten. Vor allem dann nicht, wenn sie das Feuer aufrecht erhalten musste. Sie selbst hatte es schon oft ironisch gefunden, dass sie angreifbarer wurde, je besser sich ihr Körper gegen Angriffe rüstete. Als einfacher Mensch konnte sie es unter der Erde wesentlich länger aushalten. Auch wenn sie dann ebenfalls frieren musste. Zumindest büßte sie dann weder an Beweglichkeit noch bewussten Sinnen ein.

Aber über eventuelle Ausfälle machte sie sich im Moment wenig Sorgen. Bald hätten sie die Unterwelt bestimmt gefunden und dann konnten sie nicht nur die Informationen einholen, für die sie hergekommen waren, sondern es war auch ein heißes Essen oder ein Kakao drin. Davon würde Ryon sie selbst mit seiner gesamten Körperkraft nicht abhalten können.

„Lass' uns nach links gehen.“

Sie hatte keine logische Erklärung, warum links besser sein sollte als rechts. Aber es machte wahrscheinlich auch keinen Unterschied. Irgendeinen Weg würden sie nehmen müssen und der eine war so gut wie der Andere.

„Oder hast du Argumente für den Weg?“

Mit der flammenden Hand zeigte sie auf den rechten runden Eingang. Ein Stück ging sie auf die Gabelung zu, steckte auch ihre zweite Handfläche in Brand und breitete die Arme aus. So konnten sie ein wenig mehr sehen. Allerdings zeigte sich für Paige nichts, was ihre Entscheidung änderte.

Diesmal vorsichtiger als bei ihrem Vorstoß oben auf dem Friedhof, trat sie einen einzelnen Schritt in den linken Gang hinein. Dann noch einen, als fürchte sie, dass der Boden wieder unter ihr nachgeben könnte. Nichts dergleichen geschah und noch dazu blieb alles unheimlich still.

Sogar ihr Schlucken schien von den kalten Steinwänden wieder zu hallen. Genauso wie Ryons Schritte, als er ihr folgte.

Sie gingen schweigend weiter. Immer geradeaus, ohne auf eine neuerliche Weggabelung zu treffen. Immer wieder schienen sie näher an die Oberfläche zu kommen, bloß um dann wieder tiefer nach unten zu laufen.

Einmal wand sich sogar eine Art Treppe aus Wurzeln in die Erde hinunter, was Paige freudiges Herzklopfen bereitete. Das wurde aber am Ende der Stufen enttäuscht, wo sie bloß wieder in einem anderen dunklen Gang landeten.

Bevor Ryon es bemerken konnte, wechselte sie die flammende Hand und bewegte an der Rechten ihre Finger, bevor sie sie in die Manteltasche steckte. Sie konnte die Kälte sogar an ihrem Körper durch den Stoff der Jacke und ihres Oberteils spüren.

Ohne das verdächtig eingeschüchterte Schwingen in ihrer Stimme unterdrücken zu können, wandte sie sich an ihren Begleiter. Jetzt staunte sie nur noch mehr darüber, dass ihm die dunklen Haare auf den Unterarmen nicht in einer Gänsehaut zu Berge standen.

„Was, wenn wir hier nie wieder rausfinden?“
 

Da für ihn ein Weg genauso gut wie der andere erschien, erhob er keine Einwände was Paiges Wahl anging. Bisher deutete nichts daraufhin, dass es ihre Entscheidung irgendwie beeinträchtigen würde, wenn sie dem linken, statt dem rechten Pfad folgten. Das Ende von beiden lag im Dunkeln. Hoffentlich führte wenigstens einer von ihnen irgendwo hin.

Die Hoffnung und Zuversicht sank im gleichen Maße, wie die Anspannung in ihm wieder heran wuchs. Je länger sie gingen, ohne irgendwo anzukommen, umso rastloser wurde er. Paige hatte nicht wieder damit begonnen zu Summen, weshalb es unangenehm still blieb, während nur ihre Schritte zu hören waren.

Ryon war aufgefallen, dass seine Begleiterin vermutlich frieren musste, da sie leicht zitterte. Da sie sich aber nicht beschwerte, sagte er nicht viel dazu. Für ihn war es zwar auch nicht gerade angenehm warm, aber wenn man eine Kerntemperatur von ungefähr 41° C hatte, waren die paar Grade unter der Erde leicht zu ertragen. Außerdem war sie eine Feuerdämonin. Sie hatte mit ihrer Hitze sein Fleisch verbrannt, es wäre im Grunde daher ziemlich absurd, wenn sie fror. Bestimmt war es nur die Anspannung, die auch ihm in den Knochen saß. Also ging er wortlos weiter und folgte dem Licht, das sie spendete.

Wieder marschierten sie viele Minuten, ohne auf irgendetwas bemerkenswertes zu treffen. Die Steintreppe war ein kleiner Hoffnungsschimmer und zugleich der Hammer, der diesen wieder zerstörte, als sie nur in einen weiteren Gang führte. Ryon begann seine Geduld zu verlieren. Weshalb er schließlich auch stehen blieb, als er den Tonfall in Paiges Stimme nur zu genau deutete. Das war einfach genug, weshalb er auch darauf wartete, bis sie ebenfalls stehen blieb und sich zu ihm herum drehte.

Ryon starrte sie mit einem Mal einfach nur an. Reglos, ohne irgendetwas von den Gedanken preiszugeben, die sich hinter seiner Maske hin und her schoben. Er hatte sich gewaltig geirrt. Sie musste völlig durchgefroren sein.

„Deine Lippen sind blau.“

Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung und wenn er sich nicht irrte, zitterte sie sogar noch mehr, als vorhin schon.

„Lass uns umkehren, bevor du hier unten erfrierst. Es dürfte noch nicht so schwer sein, den Weg zurück zu finden.“

Er hatte einen guten Orientierungssinn, auch wenn er im Augenblick keine Garantie darauf geben würde. Zeitweise hatte seine Konzentration anhand des eintönigen Anblicks dieser Höhlen stark nachgelassen.

Er hätte wohl doch seinen Mantel mitnehmen sollen, denn selbst wenn sie jetzt in einem schnellen Tempo voran gingen, würden sie noch immer eine ganze Weile brauchen, um wieder zu ihrem Ausgangspunkt zu kommen. Hoffentlich war Paige bis dahin kein Eiszapfen.
 

Paiges Gesicht wurde an den Stellen von Schuppen überzogen, wo die Flammen ansonsten über ihre bloße Haut geleckt hätten. Sie berührte ihre zusammen gepressten Lippen, die nach Ryons Aussage die Kälte, die sich immer weiter in ihr Inneres hineinfraß, nur allzu deutlich zeigten.

Sie hatte schon seit einiger Zeit bemerkt, dass auch ihre Gelenke nicht mehr so geschmeidig funktionierten, wie sie es sonst gewohnt war. Als hätte sie eine Grippe, taten ihr die Knochen inzwischen bei fast jeder Bewegung weh.

Es waren keine unerträglichen Schmerzen, aber unangenehm war es allemal. Von dem immer stärker werdenden Zittern ihrer Muskeln vollkommen abgesehen. Im Moment war ihr sogar schon die Schwäche egal, die sie vor Ryon so überhaupt nicht verbergen konnte. Sie wollte einfach nur noch so schnell wie möglich hier raus. An einen Ort, wo es warm war und sie sich ein wenig ausruhen konnte.

Erst jetzt, wo sie nach dem langen, eintönigen Gehen einmal still stand, wurde ihr bewusst, wie müde sie war. Ihre Lider wurden von einer Sekunde auf die Andere so schwer wie Blei und sie stieß einen kleinen Seufzer aus, bevor sie nickte. Ja, sie sollten zurück gehen. Das hier war nur allzu wahrscheinlich doch der falsche Weg gewesen.
 

Jede Biegung kam ihr genauso bekannt vor wie die vorherige. Außerdem schienen sie inzwischen stundenlang gelaufen zu sein. Nach Paiges Meinung nach noch dazu im Kreis, denn so lang war ihr die Stecke auf dem Hinweg nicht vorgekommen. Vielleicht lag es aber auch nur an der Trostlosigkeit, die sich bei dem Gedanken in ihr breit machte, dass ihr Ziel bloß die Weggabelung und dann ein weiterer vielleicht endloser Fußmarsch sein würde.

Die Flamme auf ihrer Hand flackerte nun schon geraume Zeit in immer kürzer werdenden Abständen und ihr war so kalt, dass ihre Zähne hart aufeinander klapperten.

Selbst der dicke Mantel, den sie bis oben hin zugeknöpft und eng um sich geschlungen hatte, nützte überhaupt nichts. Die Kälte kam schon lange nicht mehr wirklich von außen, sondern wurde von ihrem immer kühler werdenden Blut bloß ununterbrochen weiter in ihrem Körper verteilt. Paige kam sich schon so vor, als wäre sie aus dem Stein gemacht, der sie umgab. Kalt und unbeweglich und tonnenschwer.

Im Gegensatz zu ihrem immer wieder strauchelnden Gang kamen ihr Ryons Schritte fast federleicht vor. Er ging neben ihr her, als wäre er die Fitness in Person. Und wenn sich ihre Gefühle in Farbe hätten ausdrücken können, wäre sie leuchtend grün vor Neid auf seine hohe Körpertemperatur geworden.

Mit der Schulter blieb sie an einem vorstehenden Felsen hängen und stolperte so stark, dass sie sich nur knapp vor dem Fall fangen konnte. Wütend auf sich selbst und ihre Schwäche zog sie wieder die andere Hand aus der Tasche und wechselte mit der, die sich unter den Flammen bereits kein Stück mehr spüren konnte. Selbst das Bewegen der Finger fiel ihr schwer und wenn sie ein wenig Leben in ihre Handflächen hauchen wollte, entkam ihr nur ein eisiger Hauch.

Sie musste nicht zu Ryons dunklen Augen aufsehen, um zu wissen, dass ihm ebenfalls klar war, dass sie es nicht mehr weit schaffen würde.

„V...V...Vi...“ Sie brach ab und biss sich mit einem Laut des Unmuts vor Wut selbst auf die blaue Unterlippe. Selbst das Sprechen war schon zu einer Herausforderung geworden?

Mit loderndem Ärger in den Augen presste sie jedes einzelne Wort gewaltsam hervor, ohne ihren Begleiter dabei allerdings direkt anzusehen.

„Du. Solltest. Allein. Gehen.“

Ein tiefer Atemzug, bei dem ihr Körper von einem Zittern regelrecht durchgeschüttelt wurde.

„Kannst. Mich. Später. Hier. Abholen.“

Sie würde nicht weggehen. Wenn sie sich einfach in einer Felsnische zusammen rollte, wäre sie wie eingefroren, bis er zurück kam. Und wenn er nicht zurückkommen sollte, blieb da immer noch eine andere Möglichkeit. Ein letzter Ausweg, der ihr selbst in ihrem jetzigen Zustand noch einen Schauer über den Rücken laufen ließ, der ihr Kälteempfinden völlig in den Schatten stellte.

Hoffentlich würde Ryon zurück kommen...
 

Obwohl er seine Gefühle so tief in sich vergraben hatte, wie er konnte, schien es noch immer nicht genug zu sein. Es war eine Folter, mit anzusehen, wie Paiges Schritte und ihre Haltung immer steifer wurden, wie die Flamme immer mehr flackerte, als würde ihr bald der Sauerstoff oder die Kraft ausgehen, um weiter zu brennen und das Klappern ihrer Zähne untermalte diesen völlig durchgefrorenen Eindruck nur noch mehr.

Während Ryon sich auf den Weg zu konzentrieren versuchte, kämpfte er innerlich mit seinen eigenen Dämonen, weshalb er manchmal fast die falsche Abbiegung genommen hätte. Aber bisher war er sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg waren, auch wenn sie nur noch langsamer voran kamen. Paige schien kaum noch vorwärts zu können.

Als sie auch noch fast gestolpert wäre, strebte sein innerer Kampf dem Höhepunkt entgegen. Eigentlich wäre alles absolut einfach gewesen. Er war warm, sie war kalt. Zusammen würde das wohl eine angenehme Temperatur ergeben. Allerdings bedeutete das, dass er ihr dabei näher kommen müsste.

Körperprivilegien, um genauer zu sein. Die niemand bei ihm hatte.

Sie ihr zu gewähren, wäre bei seiner Art gleichbedeutend mit Vertrauen. Das hatte sie nicht. Nicht in diesem Ausmaße.

Allerdings wurde dieser Umstand langsam zur Nebensache, während sie ihm mit Müh und Not einen völlig lächerlichen Vorschlag unterbreitete. Zumindest war er in seinen Augen lächerlich.

Glaubte sie wirklich, er brächte es fertig, sie hier einfach alleine zurück zu lassen, um was zu tun? Mit einem Plan dieser Tunnel und einer Tonne von Wärmeflaschen wieder zu kommen? Das war einfach unsinnig. Er würde nur mit ihr zusammen diesen Ort verlassen und wenn er sie mit den eigenen Händen tragen müsste. Wenn er seinen Stolz hinunter schlucken konnte, würde sie es einfach ebenfalls tun müssen.

Trotzdem war diese ganze Sache nicht so leicht, was an dem noch immer laufenden Kampf in ihm, nur zu deutlich erkennbar war.

Paige Körperprivilegien zu gestatten, würde definitiv eine Grenze überschreiten, die sie beide nicht wollten. Sie waren Partner, um ihrer Sicherheit willen. Danach würden sich ihre Wege für immer trennen. Vielleicht sollte er gerade deshalb nicht alles so eng sehen. Was machte es schon, wenn sie sich am Ende ohnehin nicht mehr begegneten?

Das tiefsitzende und äußerst unwohle Gefühl in ihm, versuchte ihm etwas zu sagen, aber er konnte es nicht hören, da er es nicht wollte. Weshalb er alle Emotionen beiseite schob und sich auf Paige konzentrierte. Hier heraus zu kommen, war im Augenblick das Einzige, was sie beide wollten. Also war es folglich nur logisch, wenn er Paige half, um sie beide hier sicher heraus zu bringen. Danach würden sie weiter sehen.

„Mach die Flammen aus. Ich brauche kein Licht, um etwas zu erkennen.“

Erst jetzt fiel Ryon auf, dass er seine Begleiterin schon eine ganze Weile nur unbewegt angesehen hatte, während er seinen Entschluss fasste. Er würde Paige helfen, aber nur, wenn sie die Flammen verschwinden ließ.

Nicht nur, dass er nicht verbrannt werden wollte, offenbar schien es ihr auch Kraft zu kosten, sie am Leben zu erhalten. Sonst würde die Flamme wohl nicht so flackern.

„Ich werde dich hier nicht zurück lassen, also bitte ich dich, mir wenigstens dieses eine Mal zu vertrauen. Ich will dir nicht schaden.“

Sie hatte keine Ahnung, was für eine Überwindung ihn sein nächstes Handeln kosten würde, dennoch wartete er auf so etwas wie ein Einverständnis von ihr, dass er ihr helfen durfte. Egal was er verlangte.
 

Mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte, wartete Paige auf eine Reaktion. Ihre Füße wollten sie kaum noch tragen und die Flamme auf ihrer Handfläche wurde immer kleiner. Im flackernden Schein des winzigen Feuers sah sie Ryons matte Augen, die zwar in ihre Richtung blickten, sie aber nicht wahrzunehmen schienen. Genau konnte sie das aber auch nicht sagen.

Ihr Atem ging zitternd und Paige blinzelte mit Gewalt gegen die Müdigkeit an, die sie in die Knie zwingen wollte. Sie wusste genau, dass es vorbei war, sobald sie sich hinlegte. Dann würde sie schlafen, bis jemand sie weckte. Oder bis irgendeine Wärmequelle ihr wieder Leben einhauchte.

Wie immer hörte sich Ryons Aussage wie ein Befehl an. Er bat sie nicht die Flamme zu löschen, sondern verlangte es von ihr. Ohne Gründe dafür anzugeben.

Anstatt zu tun, was er gesagt hatte, schien sich ihr Körper regelrecht aufzubäumen. Sie sollte ihre Deckung aufgeben?

Paige spürte, wie die Schuppen für mehrere Augenblicke über ihren gesamten Körper brachen. Wellen von juckender Panzerung wanderten über ihre Haut und verstärkten die eisige Kälte nur noch, bis sie ihr letztes Bisschen Kraft zusammen gekratzt und ihre dämonische Seite bis auf die winzige Flamme in ihrem Handteller zurück gedrängt hatte. In ihrem Zustand hätte sie sich ohnehin nicht mehr gegen ihn verteidigen können...

Noch einmal hob sie ihre Hand, sodass die Flamme genau auf der Linie lag, wo sich ihre Blicke kreuzten. Dann ließ sie das Flämmchen verlöschen.
 

Wie sehr sie ihm selbst misstraute, zeigte ihr Schuppenkleid, das einen Moment lang jeden Zentimeter ihrer Haut überzog und ebenso schnell wie ein flüchtiger Schatten wieder verschwand. Ein letztes Zeichen ihres Widerstands.

Für sie war das also ebenso schwer, wie für ihn. Vielleicht hatten sie mehr gemeinsam, als sie glaubten, doch selbst wenn dem nicht so sein sollte, sein Entschluss wurde dadurch nur noch bestärkt. Ryon konnte es sich nicht wirklich erklären, aber er wollte das Vertrauen, das sie ihm schenkte, als sie schließlich die Flammen erlöschen ließ, auf keinen Fall enttäuschen.

„Danke.“, hauchte er kaum hörbar. Er brachte es kaum über seine Lippen, war es doch ein Eingeständnis an seine Erleichterung darüber.

Während sich seine Augen nun an die vollkommene Dunkelheit und somit den schwarzgrauen Schatten gewöhnen mussten, knöpfte er lautlos sein Hemd auf. Paige brauchte Wärme und das schnell. Ob es ihr nun bewusst war oder nicht, sie schwankte bereits bedenklich stark und sah so aus, als würde sie auf der Stelle einschlafen.

Menschen würden bei dieser Art von Unterkühlung nie wieder daraus erwachen. Selbst wenn das bei ihr nicht der Fall sein sollte, er würde sie nicht schlafen lassen. Nicht, wenn es endgültig sein könnte.

Vorsichtig streckte er seine Hände nach den ihren aus, doch bevor er sie berührte, hielt er dicht darüber inne.

„Ich werde versuchen, dich etwas aufzuwärmen, also bitte erschreck nicht. Ich lasse dich jederzeit wieder los, wenn du das wünscht.“

Er musste verrückt sein, ihr die Wahl zu überlassen, während er sich selbst dazu zwingen musste, schließlich nach ihren Händen zu greifen. Alles in ihm wollte sich einen Moment lang dagegen sperren, aber als er ihre erschreckend kalte Haut auf seiner förmlich brennen fühlte, fiel jeder Wiederstand mit einem Mal von ihm ab. Seine Finger schlossen sich nur noch enger um die ihren und hüllten sie schützend ein.

Ihre Hände... Sie waren überraschend klein in den seinen. Damit hätte er nicht gerechnet. Sie hatte stets immer so stark auf ihn gewirkt, dabei war sie keinesfalls nur ein kratzbürstiger Drachen, sondern eine Frau mit schlanken Fingern und feinen Handgelenken. Vermutlich war ihr starker Charakter an seiner falschen Annahme schuld. Aber das war jetzt unwichtig.

Ryon führte ihre Hände zusammen, so dass er sie in seinen halten und näher zu seinem Gesicht führen konnte. Er trat einen Schritt auf Paige zu, während er seinen warmen Atem auf ihre Finger hauchte und dabei mit seinen vorsichtig etwas die Wärme hinein massierte. Währenddessen ließ er sie keinen Moment lang aus den Augen.

Auch wenn sie ihn absolut nicht sehen konnte, wollte er doch gewarnt sein, sollte es für sie zu viel werden. Was er durchaus verstehen würde. Ihn selbst kostete es nicht gerade wenig Kraft, noch einen Schritt näher an sie heran zu treten. Dennoch tat er es, denn sie schwankte schon sehr bedenklich.

Ryon schluckte hart, als er seine rechte Hand löste, da auch seine Linke dazu ausreichte Paiges Finger wärmend zu umschließen.

„Ich lege gleich meinen Arm um dich.“, warnte er sie vor, da sie seine Bewegung unmöglich sehen konnte.

„Sonst fällst du mir gleich um.“

Seine Stimme war noch immer gesenkt und doch so kalt, wie der krasse Gegensatz zu seiner körperlichen Hitze. Aber daran konnte er nun einmal nichts ändern. An ihrer eigenen Kälte hingegen schon, weshalb er schließlich mehr als zögerlich seinen Arm um ihren Rücken herum führte und sie schließlich näher an sich heran zog.

Selbst ihre Kleidung rieb eiskalt auf seiner nackten Haut.

Bis seine Hitze dort hindurch kam, könnte es einige Minuten dauern. Es gäbe natürlich eine Möglichkeit, die Sache zu beschleunigen. Aber dazu müsste sie ihren Mantel öffnen und ob er das wirklich wollte, konnte er nicht sagen, weshalb er sich auch nicht dazu durchringen konnte, sie um Erlaubnis zu fragen. Selbst diese völlig harmlose einseitige Umarmung ließ seine inneren Schilde in ihrer Grundfeste erschüttern, da Gefühle von der anderen Seite dagegen drängten und ihn überfluten wollten.

Welche Art von Gefühlen konnte er nicht sagen. Vielleicht nur so etwas banales wie Scham, Abneigung oder Nervosität, aber auf jeden Fall etwas, dass er nicht zulassen wollte. Dass er körperlich vor Anspannung leicht zu zittern anfing, reichte ihm schon völlig an Reaktion. Ganz ohne Emotionen, die womöglich auch noch mitmischen wollten. Das konnte er im Augenblick wirklich nicht gebrauchen. Sonst würde er ihr womöglich sofort wieder ihre Privilegien entziehen und dann müsste sie hier unten wirklich auf ihn warten. Was er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könnte. Also hielt er still und Paige einfach fest. Solange sie sich nicht von ihm abwandte, war da noch die Hoffnung, dass sie alleine durch diese wagen Berührungen schon wieder etwas Wärmer wurde. Selbst wenn es lange dauern könnte.
 

Als Antwort auf seine Ankündigung, kam von ihr nur ein zitterndes Summen. Mehr brachte ihr von Kopf bis Fuß schlotternder Körper nicht mehr zustande.

Ihre Augen versuchten die absolute Dunkelheit zu durchdringen, um zu sehen, ob er wirklich nur vorhatte sie aufzuwärmen. Und wie er das genau vorhatte. Eigentlich wäre es ihr in diesem Augenblick lieber gewesen, wenn er ihre Vorschlag angenommen hätte. Er konnte vorgehen und sie später holen. Wenn er eine warme Decke und heißes Wasser mitbrachte, würde er sie schon auf die Füße bringen. Wie wollte er sie denn jetzt aufwärmen?

Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein. Was auch seine Bitte mit der gelöschten Flamme erklären würde. Aber das würde er doch nicht wirklich tun...

Eisschrank wollte sie mit seiner Körperwärme wieder zum Laufen bringen?

Wären ihre Lippen nicht so taub gewesen, sie hätte bei dem Gedanken gern breit gegrinst.

Erstmal hatte sie überhaupt keine Chance seine Bewegungen selbst so nah vor ihr zu erkennen. Sie hörte nur leises Rascheln, als er sich bewegte und keine Sekunde später nahm er ihre Hände. Also wollte er das tatsächlich tun?

Na, ihr war es egal. Der Gedanke an warme Haut hatte sogar etwas Wohliges, das sie nur noch mehr schwanken ließ, als sie lange blinzelte.

Paiges Lider waren so schwer, dass sie nur mit halb geöffneten Augen dorthin sah, wo sie ihre eigenen Hände in denen von Ryon wusste. Die Wärme seines Atems schien an ihren eiskalten Fingern förmlich abzuprallen, denn sie spürte zwar den Hauch, er drang aber nicht durch ihre Haut, um irgendeine Wirkung zu tun. Wenn seine Körpertemperatur irgendetwas geholfen hätte, müsste sie eigentlich ein unangenehmes Stechen in ihren Nervenenden spüren. Aber nichts dergleichen passierte, auch wenn sie durchaus die Hitze seiner Handflächen wahrnehmen konnte.

Dass er sie umarmen wollte, kam wie zähflüssiger Honig in Paiges Hirn an und war ihr so egal, wie es sich bei Ryon anhörte.

Es fühlte sich eigentlich so an, als wäre die Kälte gar nicht mehr so schlimm. Wenn sie es richtig bedachte, war das Gefühl so gut wie völlig aus ihr verschwunden. Pelzig wäre wohl der Begriff gewesen, den sie für ihr Körpergefühl angegeben hätte, wenn ihr auch nur im Geringsten nach sprechen gewesen wäre. Dafür war sie allerdings viel zu müde.

Paige blieb aufrecht stehen, während ihr Gehirn auf Winterschlaf stellte und ihr die Augen zufielen.

Ihr Herz hatte schon seit einer Weile begonnen seinen Rhythmus zu verlangsamen und noch weniger Blut durch ihren Körper zu schicken. Lediglich an der Tatsache, dass sie langsam aber sicher aufhörte zu zittern und blass und kalt wie eine Porzellanpuppe wurde, konnte man erkennen, dass sie nicht mehr bei sich war.
 

Sie rührte sich keinen Millimeter mehr. Sogar das Zittern ihres Körpers hatte aufgehört und erst jetzt, da er darauf achtete, war ihm auch bewusst, wie langsam ihre Atmung geworden war. Genauso wie ihr Herzschlag.

Ihr fielen die Augen zu.

„Paige?“

Der Druck in seiner Brust wurde stärker, je drängender Gefühle aus ihm hervor brechen wollten. Ryon hielt sie mit aller Gewalt zurück, denn er wusste auch so, was er empfinden würde. Er machte sich Sorgen.

Langsam ließ er ihre Hände los, woraufhin ihre Arme kraftlos ihren Körper entlang nach unten sanken und wie leblos daran hängen blieben.

Ihr Kopf fiel plötzlich zur Seite auf ihre Schulter und hätte er den Arm nicht um sie geschlungen, sie wäre vermutlich einfach zu Boden gesackt.

„Paige!“

Ryon schüttelte sie sachte, während er ihr Gesicht berührte. Ihre Wangen waren eiskalt, als würde man über eine Eisskulptur streichen.

Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Würde ihr Herz nicht immer noch sehr zaghaft weiterschlagen, man könnte sie für tot halten.

Obwohl es ihn enorme Überwindungskraft kostete und er vermutlich später noch gründlich dafür bezahlen würde müssen, zog er sich mit Paige zusammen in einen dunkleren Winkel des Höhlensystems zurück. Mitten auf dem Präsentierteller wollte er nicht stehen, wenn er das wirklich tun würde, was er gleich vor hatte. Aber im Augenblick wären ihm Paiges eigensinnige Worte lieber, als dieses wehrlose Eisbündel in seinen Armen.

Vorsichtig, auch wenn sie vermutlich ohnehin nichts mehr spürte, legte Ryon seine Begleiterin auf den fest gestampften Boden ab und beugte sich über sie. Er holte noch einmal tief Atem und schloss seine Augen, während er sich zu sammeln versuchte.

Und wie er dafür büßen würde.

Mit zittrigen Fingern begann er ihren bis obenhin zugeknöpften Mantel zu öffnen. Was darunter hervor kam, war nicht nur ein ungewohnter Anblick für ihn, sondern auch wirklich nichts, womit er gerechnet hätte. Kein Wunder, dass sie sich in einen lebenden Eiszapfen verwandelt hatte. Sie trug immerhin kaum etwas am Leib. Es bedeckte zwar alles, was bedeckt gehörte, aber wärmend waren ihre kurz geschnittenen Sachen nicht. Selbst ihre nackten Waden waren eiskalt!

Da es jetzt ohnehin kein Zurück mehr gab und er Paige auch nicht in ihrem Zustand ins Hotel zurück bringen konnte, ohne schwer zu beantwortende Fragen aufkommen zu lassen, zog er ihr den Mantel aus, was anhand ihrer leicht steifen Glieder nicht gerade einfach war. Danach streifte er sein eigenes Hemd ab und hängte es ihr zusammen mit ihrem Mantel um ihre Schultern, ehe er sie vom Boden auf seinen Schoß zog und ihren dürftig bedeckten Oberkörper gegen seinen lehnte. Ihr Kopf sank dabei an seine Halsbeuge, wo Ryon ganz schwach ihren eisigen Atem auf seiner Haut spüren konnte.

Unter den losen Kleidungsstücken, die ihren Rücken bedeckten, schlang er seine nackten Arme um ihren Körper, um zusätzlich für Wärme zu sorgen. Es war, als würde man eine Marmorstatue umarmen. Denn irgendwie schienen sie vollkommen inkompatibel zu sein.

Obwohl er Hitze wie ein Generator ausstrahlte, hatte es den Anschein, als würde es sie nur oberflächlich berühren und selbst das nicht richtig. Als würden sie sich gegenseitig abstoßen. Aber davon ließ Ryon sich nicht aufhalten. Stattdessen begann er damit, ihren Rücken sanft zu reiben, um die Durchblutung anzuregen, nachdem er ihre Hände so zwischen ihren Körpern arrangiert hatte, dass sie direkt auf seiner Brust lagen und sich dort ihre Finger an ihm direkt anwärmen konnten, sofern es überhaupt etwas brachte.

„Paige…“

Er flüsterte ihr ihren Namen direkt ins Ohr. Es würde alles sicher sehr viel leichter werden, wenn sie wieder bei Bewusstsein war.

Schaltete der Körper im Schlafmodus nicht einen Gang zurück? Ryon hatte keine Ahnung, aber ihm wäre zumindest sehr viel leichter zumute, wenn sie wieder ein Lebenszeichen von sich geben würde, das nicht von ihrer schwachen Atmung oder dem viel zu langsamen Herzschlag kam.

„Komm schon, Paige.“

Schon etwas energischer strich eine seiner Hände über ihren Rücken, die Oberarme, über ihre eiskalten Beine, um auch diese nicht zu vernachlässigen. Langsam, aber sicher begann sich etwas an ihrer Temperatur zu ändern.

Zumindest rein Oberflächlich, war sie nicht mehr so kalt, wie noch vor wenigen Minuten, weshalb er die Kleiderschichten nur noch enger um sie hüllte, während er sie fest hielt.

Sein eigenes erhitztes Blut rauschte ihm dabei in dieser Stille viel zu laut in den Ohren, während sein Herz nur so hämmerte und für noch mehr Hitze sorgte.

Die ganze Situation brachte ihn völlig durcheinander, aber solange er sich der Aufgabe widmen konnte, Paige wieder Leben einzutrichtern, hielt sich die Verwirrung in Grenzen. Am Besten er schaltete seinen Verstand gar nicht erst ein, denn wenn er länger darüber nachdenken würde, wäre er am Ende absolut nicht sicher, wie er reagieren sollte.

Das hier überstieg jegliche Privilegien, die er seit langem ihm vertraute Personen gewährt hatte. Dabei gehörte Paige noch nicht einmal zu diesem kleinen Kreis.
 

Ihr Herz schlug langsam, aber gleichmäßig, um ihre lebenswichtigen Funktionen aufrecht zu erhalten. Paige spürte in ihrer Kältestarre nichts von der Verwirrung ihres eigenen Körpers, der mit dem schnellen Temperaturwechseln, den Ryon ihm aufbürdete ziemlich zu kämpfen hatte. Die Umgebungstemperatur der Höhle lag immer noch unter dem für sie benötigten Minimum. Ihr Blut hatte sich den Umständen angepasst und bewegte sich mit den gleichen Graden durch ihren Körper, während ihr Hirn so wenig Energie wie möglich damit verbrauchte sie im Schlafmodus zu halten. Das Ganze war eine natürliche Schutzfunktion, die ihre vollblütigen Verwandten im Winter vor dem Kältetod bewahren sollte. Erst wenn die Temperatur wieder in annehmbare Gefilde kletterte, wurde der Stoffwechsel angeregt und der Erstarrte aufgeweckt.

Nun wurde sie aber in Ryons Umarmung auf seinem Schoß in eine Art Wärmekammer gesteckt, die ihren Körper einigermaßen verwirrte.

War es zu früh die Kältebarrikade aufzugeben? Oder wäre es doch besser sich den Gegenheiten anzupassen und sie aufwachen zu lassen?

Fett, an dem ihr Organismus für eine Weile zehren konnte, hatte sie sowieso zu wenig auf den Rippen.

Das war auch eher der entscheidende Punkt als Ryons Reiben über ihren Rücken und anderen Glieder, dass Paige zuerst leicht und dann immer heftiger zu zittern begann. Ihre Muskeln versuchten dabei zu helfen sich wieder auf menschliche Maße aufzuheizen.

Als die Nervenenden sich überschlangende Signale versendeten, riss das Bewusstsein an ihrem schlafenden Geist wie ein überspanntes Gummiband.

Da ihr Kopf und Oberkörper mit den lebenswichtigen Organen zuerst mit Wärme versorgt wurden, spürte sie das Stechen als erstes dort. Winzige spitze Nadeln schienen sich in jeden Zentimeter ihrer Haut zu bohren, während sie immer noch zitterte wie Espenlaub.

Mit einem Stöhnen schob sie sich ein wenig näher an denjenigen heran, der sie da aufwärmte, auch wenn ihr nicht klar war, dass es eine lebende Wärmequelle war, die sie da gerade unter Schmerzen wieder in den Wachzustand zurück holte. Sie wand sich in dem Zustand des Hin- und Hergerissenwerdens zwischen Flut vor dem, was ihr Schmerzen bereitete und dem Bedürfnis nach genau dem.

Als sie die Augen aufschlug war es immer noch stockfinster. Sie blinzelte ein paar Mal, konnte aber trotzdem nicht erkennen, wo sie sich befand. Während sie versuchte zu ermitteln, wer, wann und wo sie war, lag sie still da und horchte auf die Geräusche der Umgebung.

Etwas hielt sie, lag fest um ihre Schultern und drückte sie gegen etwas Warmes. Ihre Finger bewegten sich nur Millimeter, um die weiche Oberfläche zu erforschen, auf der sie lagen. Der Geschmack der Wärme kam ihr bekannt vor. Endlich konnte sie das Geräusch zuordnen, das sie schon die ganze Zeit hörte. Atmen, das nicht von ihr kam.

"Hallo.", hauchte sie leise.
 

Das Zittern ihres Körpers war die erste richtige Reaktion, die er an ihr wahrnehmen konnte und zugleich auch eine sehr gute Nachricht. Zittern war gut. Es bedeutete, ihre Muskeln versuchten sich selbst wieder aufzuheizen, in dem sie sich bewegten.

Als Paige sich dann auch noch leise stöhnend an ihn drängte und somit langsam wieder zu sich kommen zu schien, wurde er selbst ganz starr. Eine Hand kam auf ihrem Nacken zum Stillstand, während die andere direkt mitten in der Bewegung auf ihrem Oberschenkel liegen blieb. Nach dem Kribbeln überall in seinem Körper und der Unruhe zu urteilen, wurde er nervös.

In einem Punkt hatte er sich also schon einmal geirrt. Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, dass Paige wach wurde. Nun, natürlich würde das bei dem Aufwärmprogramm sicher nützlich sein, aber andererseits war es plötzlich etwas ganz anderes, sie auf seinem Schoß liegen zu haben, gegen seine Brust gedrückt und mit direktem Hautkontakt zu ihr, wenn sie das nicht als bewusstloses Bündel tat, sondern stattdessen alles voll und ganz mit bekam.

Das Ganze begann ihn deutlich zu überfordern.

Ryon konnte nicht an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen, so gerne er es auch gekonnt hätte. Weshalb er es ihren Körpern überließ, Paige wieder aufzuwärmen, während er sich bewusst darauf kontrollierte, seine Instinkte und Triebe nicht hoch kochen zu lassen. Denn dass inzwischen seine Beherrschung nur noch von einer dünnen Barriere aufrecht gehalten wurde, die ihn vom Rest seines wahren Wesens abschirmte, wurde er sich mit deutlicherem Schmerz immer mehr bewusst.

Gerade in dieser Angelegenheit konnte er sich keine Gefühle leisten, aber gerade weil er dazu gezwungen war, Paige auf diese Weise zu helfen, forderte die Situation sie heraus. Als würde etwas tief in seinem Innersten herum wühlen und sie hervor zerren wollen.

Der Kampf mit seinen hochschäumenden Gefühlen wurde je unterbrochen, als er Paiges leise Stimme direkt auf seiner Haut zu spüren schien. Inzwischen hämmerte sein Herz regelrecht gegen seinen Brustkorb, aber seine Atmung ging ruhig.

Ryon brachte keinen Ton heraus, obwohl er den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Allerdings fehlten ihm die passenden Worte dazu, weshalb er ihn schließlich wieder schloss und sich leicht bewegte, um sich eine bequemere Position zu bringen. Seine Hand rutschte dabei weiter ihren Oberschenkel nach unten, direkt auf ihre aneinanderliegenden Knie. Ihr Oberkörper war inzwischen schon deutlich wärmer, aber ihre Beine strahlten noch immer eine Eiseskälte aus, weshalb er sie schließlich ebenfalls an sich heran zog, so dass Paige fast wie ein zierliches Knäuel auf seinem Schoß lag.

„Deine Zehen… Spürst du sie?“

Nun, zumindest war ihm etwas eingefallen, über das er sprechen konnte, ohne irgendetwas von dem Chaos in sich selbst zu zeigen.

Vielleicht sollte er ihr die Schuhe ausziehen und dort mit der durchblutungsfördernden Massage weiter machen. Nicht, dass ihr am Ende noch irgendetwas abfror.
 

Seine Stimme war wie ein Schlag ins Gesicht. Sofort wurde Paige wieder ins Hier und Jetzt gerissen, als sie Ryon und auch sich selbst erkannte. Der Nebelschleier in ihrem Hirn und die verschlafenen Reaktionen waren wie weg geblasen, als sie sich bewusst wurde, was passiert sein musste.

Die Wärme, die ihr in die Wangen stieg und dort brannte, war alles Andere als angenehm. Nur einmal war sie in Gegenwart eines Anderen unvorbereitet in Kältestarre verfallen. Damals war ihr das aber nicht annähernd so peinlich gewesen wie jetzt in diesem Augenblick. Und dass Ryon sie offensichtlich mit seiner Körperwärme aus ihrem Tiefschlaf zurück geholt hatte, machte die Sache nicht besser.

Völlig nervös und mit fahrigen Bewegungen versuchte sie sich von ihm zu lösen. Ihren Kopf von seiner Schulter zu nehmen, nicht mehr an seinem Oberkörper zu lehnen, der sich unter ihren Händen fest, glatt und doch nachgiebig anfühlte. Scheiße, war er etwa nackt?!

Um bloß nichts Falsches oder am besten gar nichts an seinem Körper zu berühren, zog sie ihren Mantel mit einer Hand fest um sich und versuchte dann ohne sich abzustützen aufzustehen. Obwohl es stockdunkel war und sie nichtmal ihre Hand vor Augen sehen konnte, geschweige denn ihren aufopferungsvollen Begleiter, kniff sie peinlich berührt und mit glühendem Gesicht die Augen zusammen, bis sie neben ihm auf der Erde saß.

"Ehm..."

Das Zittern ihrer Stimme kam nicht annähernd von der Kälte, die sie immer noch empfand. Vor lauter Unwohlsein wusste sie kaum wohin mit sich.

Zu allem Überfluss konnte sie ihre Beine noch nicht richtig spüren. Von den Zehen ganz zu schweigen.

Mit ihren immer noch leicht steifen Fingern massierte sie ihre Knie und Beine hinunter, während sich ihre Gedanken überschlugen. Was genau hatte er getan? Seine Stimme war wie immer völlig ruhig und emotionslos gewesen. Vielleicht war ihm das alles gar nicht peinlich.

Paige versuchte sich vehement einzureden, dass sie Ryon ungefähr so egal wie einer der Kieselsteine unter seinem Hintern war. Wenn das klappte, konnte sie ihm vielleicht irgendwann wieder ins Gesicht sehen. Warum drängte sich nur der Geschmack seiner Wärme, sein Geruch und das Gefühl seiner Haut unter ihren Fingerspitzen so in ihr Hirn? 'RAUS DA!'

"Ja, danke, geht gleich wieder.", sagte sie leichthin, als hätte ihr Blackout überhaupt nie stattgefunden.
 

Wie ausgewechselt wurde Paige plötzlich ganz schön lebhaft, dafür, dass sie gerade noch in so eine Art Starre verfallen war. Obwohl er eigentlich nur froh darüber sein konnte, dass sie sich von ihm losmachen wollte, ließ er sie eher unfreiwillig los. Sie war noch nicht einmal annähernd so weit aufgewärmt, dass sie es bis aus diesem unterirdischen Labyrinth heraus schafften, ohne dass sie wieder vor Kälte umfiel.

Denn auch wenn ihre Wangen nun schon mehr Farbe zu haben schienen, sah der Rest von ihr noch genauso blass und steif aus. Bestimmt waren sogar ihre Lippen noch immer blau.

Vielleicht hätte er wirklich nicht versuchen sollen, sie zu wecken.

„Um ehrlich zu sein, das bezweifle ich.“

Seine Stimme war nun wieder kräftiger, obwohl er immer noch das Gefühl hatte, Paige überall auf seiner Haut zu spüren.

Die Kälte hatte seiner eigenen Hitze zwar nichts ausgemacht, aber dafür war er umso empfänglicher für ihre Nähe gewesen, da der Kontrast so stark zu spüren war. Von ihrem Geruch einmal vollkommen abgesehen. Im Augenblick witterte er sogar nur noch ganz wage ihre Umgebung, so intensiv hing er immer noch in seiner Nase.

„Hör zu, Paige.“, begann er vorsichtig, weil er sie nicht verärgern wollte, da das hier sonst nie etwas wurde.

„Du kannst dich kaum richtig bewegen. Deine Füße sind bestimmt vollkommen durchgefroren, also hast du zwei Möglichkeiten. Entweder wir wärmen dich soweit auf, dass wir diesen Ort verlassen können oder ich muss dich tragen.“

Ob sie es mit diesen Eisklötzen an den Beinen zu Fuß schaffte, stand für ihn nicht einmal zur Debatte. Er sah doch ganz genau, wie stark sie immer noch vor Kälte zitterte und nun, da sie sich seiner Wärme entzogen hatte, würde ihre eigene Temperatur schon bald wieder ins Gegenteil umschlagen.

Anscheinend war ihr Körper nicht in der Lage, seine Kerntemperatur konstant zu halten, wenn es zu kalt wurde. Das war auch bei Menschen der Fall, aber nur bei wirklich extremen Bedingungen und nicht bei den paar Grad über Null, die hier unten herrschten. Dazu müssten sie schon mehrere Stunden lang reglos hier unten verbringen. Einem Wandler wie ihm, machte selbst das nichts aus. Eher würde er hier verhungern.
 

Paige starrte in der tiefschwarzen Umgebung auf den Fleck, wo sie normalerweise ihre Hand gesehen hätte, die ihr Knie umschlungen hielt.

Er hatte Recht. In ihrem jetzigen Zustand würde sie nicht weit gehen können. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass es sogar ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie aufstehen konnte. Ihre Zähne schepperten schon wieder recht stark aufeinander und sie konnte spüren, wie mit Ryons auch ihre eigene Körperwärme sie wieder verließ.

Wäre die beißende Kälte nicht so nachdrücklich und unüberwindlich gewesen, hätte sie sich für seinen zweiten Vorschlag entschieden. Der Weg konnte nur noch ein paar Meter oder eine Strecke von mehreren Stunden betragen. Sie konnte von Ryon nicht verlangen, dass er sie auf unbestimmte Zeit durch die Gegend trug. Selbst wenn sie annahm, dass ihm das bei seiner Statur kaum etwas ausgemacht hätte.

Also doch aufwärmen...

Ihr Atem entwich in einem resignierenden Schnauben, während sie mit leicht bebenden Lippen zu dem Punkt hinüber sah, an dem sie sein Gesicht vermutete. Sie konnte nicht einmal einen Schemen erkennen. Hätte sie die Augen geschlossen, hätte das keinen Unterschied gemacht.

Immer noch war sie hin und her gerissen, während sich die Kälte vom Boden aus wieder durch ihren Körper fraß.

Sie hatte keine Wahl. Und wenn er ihr hätte etwas tun wollen, dann war die Gelegenheit vorhin zum Greifen nah gewesen. In ihrer Starre hätte er sonstwas mit ihr anstellen können...

Von der Erkenntnis überraschend getroffen, erstarrte Paige für eine Sekunde völlig. Sogar ihr Zittern setzte einen Herzschlag lang aus, als sie in ihren immer noch recht tauben Körper hinein horchte. Kälte, schmerzende Haut und Gelenke, Kopfweh... aber nichts, was Ryon verursacht haben könnte.

"Okay..."

Ohne sich einen Gedanken zu gestatten, kroch sie mit den Händen voran auf ihn zu. Sie hörte das Scharren seiner Schuhe auf dem Boden, als sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt sein musste. Auf ihren Fingerkuppen konnte sie bereits seine Wärme spüren.

Zog er sich doch zurück?

Er schwieg beharrlich. Auch als sie ihn schließlich doch berührte und wieder die Augen zusammen kniff, damit sie selbst nicht zu sehr darüber nachdachte, was sie vorhatte.

Wie...? Ihre Hand berührte seinen Oberschenkel kaum, wanderte leicht wie eine Feder daran hinauf, bis sie seinen Bauch fand, der ihrem Empfinden nach vor Hitze glühte.

Die zweite Hand fand im Dunkeln seine Brust und auch seine Schulter, an der sie sich festhielt, um sich zurück auf seinen Schoß zu ziehen.

Er hatte sich die ganze Zeit kein Stück bewegt, sein gesamter Brustkorb hob und senkte sich angespannt bei jedem Atemzug, den er tat, so dass sie deutlich das Muskelspiel darunter spüren konnte.

Paige ignorierte es. Immerhin war das doch sein Vorschlag gewesen.

Sie streifte ihre Schuhe ab, warf aber den Mantel auch darüber, als sie sich selbst auf Ryon zusammen rollte und mit dem Kleidungsstück eine Hülle formte, die seine Wärme noch mehr speichern sollte.

Die Nase tief in den Stoff des Mantels vergraben, versuchte sie seine Gegenwart zu übersehen, überhören, überriechen.

Sie wollte ihn nicht schmecken, sich nicht bewusst darüber sein, dass sie sich so nah waren. Schon allein bei dem Kampf gegen dieses Bewusstsein stieg ihr wieder die Röte in die Wangen. Bloß gut, dass Ryon das alles zumindest scheißegal war.



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