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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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11. Kapitel

„Und wie geht’s unserem Komapatienten?“, wollte Tyler merkwürdig tonlos wissen, während er wie ein Besessener in einer Rührschüssel den Teig bearbeitete.

Tenessey kam gerade zur Tür herein gestapft, schnappte sich noch den Rest des Kaffees der vom Morgen übrig geblieben war und schenkte sich eine große Tasse davon ein.

„Er ist einmal kurz aufgewacht, hat mich aber nicht gesehen. Danach war er auch schon wieder weg.“, berichtete der Arzt und schaufelte sich massenhaft Zucker in den Kaffee.

„Ich habe die Gelegenheit auch gleich genützt, und ihm eine Aufbauspritze gegeben. Vermutlich wird er die nächsten Tage entweder nicht in der Lage sein, etwas zu essen oder er wird wieder eine Fastenkur einlegen.“

Der Arzt setzte sich an den Tisch und beobachtete Tyler dabei, wie dieser den Teig nun in eine runde Kuchenform gab, glatt strich und in das vorgeheizte Backrohr schob.

„Gibt’s was zu feiern?“

Tennessey begann seinen Freund mit fachmännischen Blick zu mustern, als wolle er sicher gehen, dass Tyler jetzt nicht überschnappte. Warum sollte er sonst Kuchen backen?

„Klar doch.“

Sein Freund drehte sich mit einem Lächeln um. Es sah echt aus und kein bisschen verrückt.

„Immerhin ist unser Mister Kellogs Frostie endlich einmal zum Leben erwacht.“

Die Anspielung auf besagte Cornflakesmarke war mehr als nur zweideutig. Ihr kleiner Insiderwitz, bei dem sie sich hüteten, ihn laut vor Ryon auszusprechen.

„Du weißt aber schon, dass er gerade in seinem Bett liegt und sich lieber in die Ohnmacht flüchtet, anstatt sich den Tatsachen zu stellen?“, wollte Tennessey zur Sicherheit noch einmal wissen. Er kam bei Tylers Gedankenwelt im Moment nicht ganz mit.

„Ja, das kennen wir doch oder? Ist ja schließlich nichts Neues. Aber weißt du, entweder er packt es dieses Mal, oder geht ganz unter. Da ich an Letzteres nicht glaube, bin ich zuversichtlich, dass er sich endlich mit dem Geschehenen auseinandersetzt. Ich meine, du hast ihn doch beim Frühstück gehört. Er hat den Dachboden die ‚Galerie‘ genannt. Wann hast du ihn dieses Wort das letzte Mal sagen hören? Ich glaube, da hattest du noch nicht einmal graue Strähnchen. Außerdem können die Mädels sicher auch eine ordentliche Kalorienbombe gebrauchen. Hoffentlich mag Ai Schokolade.“

Tylers Gesicht bekam einen leicht verträumten Ausdruck, als sein Blick in die Ferne schweifte.

„Sag mal, träum ich oder sitze ich hier in einem Haus bei dem die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden?“

Ungläubig starrte er Tyler ins Gesicht, als wolle er ihm eine Antwort abringen. Dieser zuckte jedoch nur unschuldig mit den Schultern und machte sich fröhlich pfeifend daran, die Glasur für den Kuchen zuzubereiten.

Der Kerl war mehr als zweihundert Jahre alt und zeigte zum ersten Mal, seit Tennessey ihn kannte, so etwas wie Interesse am weiblichen Geschlecht. Noch dazu, einer werdenden Mutter.

Vielleicht lag er falsch, vielleicht drehten hier im Haus nicht langsam alle durch, sondern einfach nur er alleine.
 

Sie hatte sich beharrlich geweigert, einen Bericht über das abzugeben, was passiert war.

Völlig überflüssig sie danach zu fragen, wo sie doch selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was genau vor sich gegangen war.

Es hatte etwas mit dem Buch, ihrer Suche nach dem Amulett und wohl mit dem Haus ansich zu tun. Sonst hätte Ryon beim Betreten der Galerie nicht schon gezittert wie Espenlaub.

Wer wusste schon, welche Geister hier noch alles herum spukten?

Mit noch nassem Ärmel machte sich Paige wieder auf den Weg in die Bibliothek. Auf dem Gang hatte Tyler trotz der ganzen Aufregung schon sauber gemacht und bloß der Raum, den sie beide vorhin so überstürmt verlassen hatten, zeugte von irgendeiner Aktivität.

Für einen Moment blieb sie bei der Tür stehen, wie eine Stunde zuvor und sah sich nur die Szenerie an.

Die Truhe auf dem Tisch, angefüllt mit Blättern, alten Papierrollen und sogar ein paar Bildern.

Das Buch auf dem Teppich vor dem Sofa.

Entschlossen drückte Paige die Tür zur Bibliothek zu und trat anschließend ein paar Schritte vor.

Mit einem tiefen Seufzer schaltete sie das Licht auf dem Schreibtisch an und war dann bereit anzufangen.
 

„Sie verhalten sich beide ungewöhnlich. Findet ihr nicht?“

Ai saß mit Tennessey und Tyler in der Küche.

Die beiden Männer sahen sie nur mit einem Ausdruck von Zustimmung an. Allerdings wussten sie mehr als die Asiatin selbst. Zumindest was Ryons Zustand anging, der sich seit seinem Zusammenbruch vor ein paar Tagen nicht einmal hatte blicken lassen.

Paige verhielt sich ähnlich. Bei ihr wusste Ai allerdings, dass es reine Sturheit war, die sie antrieb und an diesen Holzstuhl in der Bibliothek fesselte.

Bloß zum Frühstück und Abendessen kam sie heraus und wollte auch sonst bei ihren – wie sie es nannte – Recherchen nicht gestört werden. Erst mitten in der Nacht kam sie in das Gästezimmer, das sie mit Ai teilte und fiel völlig erledigt ins Bett, um einzuschlafen, bevor sie sich überhaupt umdrehen konnte.

Ai war keine neugierige Natur, aber bald würde sie vermutlich doch nachfragen müssen, wenn ihr keiner erklärte, was hier vor sich ging. Von den beiden Männern, die ihr hauptsächlich Gesellschaft leisteten, wenn sie sich nicht gerade um Ryon kümmerten, erwartete sie gar keine wirkliche Auskunft. Womöglich würde sie ein wenig mehr Geduld am Ende weiter bringen.
 

„Denkst du, wir sollten es den beiden sagen?“, fragte Tyler in die angenehme Stille hinein, während er sich noch einen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus einer Glaskaraffe in sein Glas einschenkte.

Tennessey drehte eine vorsichtige Runde auf Ryons Bürostuhl, während er an die Decke starrte und an seinem eigenen Glas nippte.

„Nein. Es sei denn, er lässt sich nach einer ganzen Woche immer noch nicht blicken. Dann allerdings würde ich mir anfangen, Sorgen zu machen. Solange ist er noch nie in den Wäldern herum gestreift.“

Ein zustimmendes Murmeln von der schwarzen Ledercouch, die unter Ryons Bürofenster stand und auf die Tyler sich nun nieder ließ. Jetzt wo sein Glas wieder aufgefüllt war.

„Hast du eine Ahnung, was ihn so umgehauen hat? Die Galerie alleine kann’s ja wohl nicht gewesen sein. Immerhin habe ich während seiner Abwesenheit die Sachen ordentlich unter gebracht, damit nichts kaputt geht.“

„Keine Ahnung. Er wird es uns auch bestimmt nicht sagen.“

Tennessey stoppte den drehenden Sessel mit den Füßen und stützte sich auf dem Schreibtisch mit seinen Ellenbogen ab.

„Ich hasse diese Warterei. Sag mal, Tyler. Du kennst ihn doch schon seit seiner Geburt. Glaubst du, er baumelt da draußen im Wald an einem Ast?“

„Nö.“

Die Antwort kam schnell und absolut sicher. Daran gab es nichts zu rütteln.

„Sein Vater war schon ein sturer Hund. Sein Großvater war nicht besser und von seinem Urgroßvater will ich gar nicht erst reden und dann auch noch diese Frauen! Nein, Ryon würde sich nicht einfach an den nächsten Baum hängen. Selbst wenn er es sich jeden Tag, zu jeder Stunde mehr als nur sehnlichst wünschen würde. Wenn er es damals nach dem Tod seiner eigenen Tochter nicht getan hat, dann wird er es jetzt erst recht nicht tun. Er wird es mir zwar nicht glauben, aber die Zeit heilt letztendlich alle Wunden. Auch wenn sie gewaltige Narben hinterlässt. Wirst sehen, spätestens in den nächsten Tagen wird er wieder auftauchen und dort weiter machen, wo er aufgehört hat.“

Tennessey schwieg dazu, hob aber skeptisch seine Augenbraue. Er war sich da nicht so sicher.
 

Im Verlauf der letzten vier Tage und halben Nächte hatte sich Paige fast durch die gesamten Dokumente in der Truhe gearbeitet.

Zuerst hatte sie wild drauf los gelesen, einfach mit der obersten Schriftrolle begonnen, die ihr in die Finger fiel. Nachdem diese unzusammenhängende Leserei aber nichts brachte, hatte sie es mit System versucht. Angefangen bei ein paar Zeitungsmeldungen, die sie immerhin nach Datum ordnen konnte. Dann Briefe, bei denen sich ebenfalls die Reihenfolge feststellen ließ, auch wenn hier die jeweiligen Gegenstücke fehlten. Kleine Notizzettel, ein paar davon mit E-mail- oder Internetadressen.

Heute am späten Nachmittag war sie bei den Schriftrollen angelangt, die sie mit großer Sorgfalt auf dem Tisch ausbreitete, um sie nicht zu beschädigen.

Im Moment stand sie, eine Tasse Kakao in der einen, eine Lupe in der anderen Hand vor einem großen Pergament und versuchte erst einmal die Überschrift zu entziffern. Latein war noch nie ihre große Stärke gewesen. Aber glücklicherweise war sie hier in einer gut ausgestatteten Bibliothek.

Vorsichtig stellte sie die Tasse in sicherer Entfernung zum Papier auf dem Tisch ab und ging auf ein Regal zu, wo sie einige Wörterbücher hatte stehen sehen. Erleichtert zog sie einen leicht angestaubten Band der Sprache heraus, die sie benötigte.

Ihr Rückweg führte sie am Fenster vorbei.

Das Buch lag noch immer dort. Auf dem Fußboden, wo es liegen geblieben war, nachdem Ryon es hatte fallen lassen.

Nachdem sie gesehen hatte, was es in ihm auslöste, hatte Paige sich nicht durchringen können, es wegzuräumen. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass er sie verdächtigte, es gelesen zu haben. Das war seine persönliche Bundeslade und ging Paige nur etwas an, wenn er sie mit ihr zusammen öffnen wollte.
 

Stunden später, es musste bereits weit nach Mitternacht sein, stützte sie sich mit dem Ellenbogen auf dem polierten Tisch ab, da ihr bleischwerer Kopf sonst bestimmt auf das Pergament geknallt wäre.

Paige war unsäglich müde und ihre Augen brannten bei jedem winzigen Buchstaben, den sie zu entziffern versuchte, nur noch mehr. Aber es waren nur noch fünf Zeilen. Der Druck war auch nicht allzu schlecht und vergilbt. Bevor sie es nicht fertig gelesen hatte, wollte sie nicht ins Bett gehen. Dieser staubtrockene Text sollte sie am Morgen nicht erwarten, wenn sie sich mühevoll aus den Laken schälte.

Aber vielleicht konnte sie ihren Kopf nur ein bisschen auf ihrem Arm ausruhen. Bloß die Augen ein kurzen Moment schließen, damit sie frischer waren und nicht so brannten. Die Lupe war auch recht schwer, wie sie so in ihrer Hand lag...

Mit einem leisen 'Klonk' fiel die Lupe keine zwei Minuten später aus ihren Fingern auf das immer noch nicht fertig gelesene Dokument.
 

Als er lautlos die Bibliothek mit nackten Füßen betrat, war sein Haar taufeucht und kleine Blätter und Zweige hingen darin. Es war wild zerzaust, untermalte jedoch lediglich seine urige Ausstrahlung, die ihm eine gewisse Natürlichkeit verlieh.

Der Saum seiner Hose war zerrissen und der Stoff selbst mit Flecken übersät. Genauso wie sein zerschlissenes Hemd, das nur noch halbherzig zugeknöpft war.

Während er sich in dem Raum umsah, hüllte ein Duft aus Wald, feuchtem Moos und frischer Erde ihn ein. Vermischt mit seinem ganz eigenen Geruch.

Ryons Blick fiel auf das Buch, das halb unter dem kleinen Tisch noch immer so da lag, wie er es zurück gelassen hatte. Die Truhe war verschwunden.

Sie stand am Fuße des Schreibtischs, wo Flame ruhig zwischen Büchern und Pergamenten schlief, noch immer mit einer Lupe direkt neben ihrer Hand. Sie sah erschöpft aus.

Lautlos ging er zu dem kleinen Tisch und bückte sich. Das Leder fühlte sich kalt in seinen warmen Händen an, als er das Buch zuschlug und darauf legte.

Er betrachtete es nur einen Moment lang, ehe er sich zu der schlafenden Frau umwandte und näher heran kam.

Dem Anblick nach zu urteilen, war sie fast den Inhalt der Kiste durch. Darin war alles schön zusammen geräumt wieder abgelegt worden. Ganz anders, als er es vorgefunden hatte, nachdem er mit der Kiste in die Bibliothek geeilt war.

Ob sie etwas heraus gefunden hatte? Vielleicht aber auch nicht, dennoch war er ihr dankbar, für ihre Mühen.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, ging Ryon neben ihr in die Hocke, um ihr schlafendes Gesicht besser betrachten zu können.

Sie sah friedlich aus, ganz anders, als er es an ihr kannte. Wagte er es deshalb sachte ihre Schulter zu berühren, ohne Verbrennungen zu fürchten?

Sie sollte nicht hier schlafen. Der Stuhl sah auch so schon unbequem genug aus. Aber sie wachte nicht auf.

„Flame?“, flüsterte er leise. Alles andere wäre ihm in dieser Stille wie ein Schrei vorgekommen.

Sie wachte nicht auf.

Kein Wunder, dass war nicht ihr Name. Den kannte er nicht. Trotzdem wollte er sie nicht die ganze Nacht hier so ungeschützt schlafen lassen. Also richtete er sich wieder auf, knipste die Schreibtischlampe aus und griff vorsichtig nach ihr.

Flame war um Vieles leichter, als er angenommen hatte. Was vermutlich daran lag, dass er bisher stets versucht hatte, sie mit Gewalt von sich herunter zu bekommen. Jetzt, wo er nicht mit ihr kämpfen musste, wurde er sich bewusst, wie viel kleiner diese Frau im Gegensatz zu ihm wirkte und trotzdem hatte sie ihm ganz schön eingeheizt. Erstaunlich.
 

Ai war noch wach, als er das Zimmer betrat.

Sie musste auf Flame gewartet haben, denn sie wirkte zunächst nicht überrascht, als jemand die Tür öffnete. Als sie jedoch ihn erblickte, mit ihrer Freundin in den Armen, schienen ihr die Worte zu fehlen.

Das machte nichts.

Ryon war nicht nach Reden zu Mute. Stattdessen legte er Flame in ihrem Bett ab, zog ihr die Decke bis zu den Schultern hoch und verließ so leise wie er gekommen war, wieder das Zimmer.

Es wurde Zeit, den Wald von seiner Haut zu waschen und wieder in die Zivilisation zurück zu kehren. Die Zeit des Stillstands musste ein Ende haben. Immerhin hatten sie etwas zu erledigen.
 

„Guten Morgen.“

Tyler ließ beinahe die Bratpfanne mit dem frisch gebratenen Speck fallen, als er zu Ryon herum fuhr. Auch Tennesseys Tasse klapperte auf dem Unterteller, den er soeben mit Kaffee überflutet hatte.

„Doc, ich glaube, ich halluziniere. Hast du irgendeine Spritze dagegen?“, verlangte Tyler mit großen Augen zu wissen.

„Hätte ich eine, würde ich sie mir selbst geben.“

Ryon ignorierte die offensichtliche Anspielung der Beiden und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine, um sich selbst einen großen Becher davon einzuschenken. Frische Milch fand er in der Tür des Kühlschranks und wo Tennessey war, konnte der Zucker auch nicht mehr weit sein.

Als er sich mit dem Milchkaffee auf seinen Stammplatz an den Tisch gesetzt hatte, blickte er seine Freunde wieder an, die ihn völlig entgeistert anstarrten.

„Was?“, wollte er wissen.

„Ach gar nichts.“, murmelte Tyler.

„Ich dachte nur, du würdest dich gleich in eine asiatische Schönheit verwandeln, da ich garantiert träume.“

Er wandte sich wieder seiner Pfanne zu und legte ein paar Würstchen hinein.

Tennessey betrachtete Ryon dagegen auch weiterhin mit diesem ganz speziellen Blick, als würde er ihn gerade auf einem OP-Tisch aufschneiden und nachsehen, was sich unter der Oberfläche verbarg.

Viel Glück, beim Suchen, alter Mann.

„Ich bin wirklich enttäuscht.“, brummte der Arzt schließlich sichtlich verärgert.

„Und ich bin hungrig.“, gab Ryon ungerührt zurück.

Er wusste, worauf sein Freund hinaus wollte. Die pechschwarzen Augen, der emotionslose Gesichtsausdruck, der Blick als wäre überhaupt nichts passiert. Das alles war für ihn kein gutes Zeichen.

Ryon sah das anders. Im Augenblick konnte er wieder klar denken. Er fühlte nur noch einen dumpfen Schmerz in seiner Brust, den er ertragen konnte. Was er dafür aufgegeben hatte, war ihm nur zu deutlich bewusst, aber es wäre nicht das erste Mal, dass er seine andere Seite tief in sich vergraben hielt, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Im Augenblick war ein nüchterner Verstand besser, als aufwühlende Gefühle, die ihn wahnsinnig machten. Immerhin musste er herausfinden, wie er das Amulett beschützen konnte und die ersten wichtigen Informationen hatte er dank Marlenes Buch gefunden…
 

Paige war einigermaßen verdutzt, als sie in ihrem Gästebett aufwachte. Anscheinend war sie wohl doch noch aufgestanden und hatte sich hierher geschleppt. Daran konnte sie sich gar nicht erinnern.

Selbst wenn sie das Pergament noch zu Ende gelesen hatte, fielen ihr jetzt, wo sie versuchte, sich zu erinnern, keine Inhalte mehr ein.

Mit einem Stöhnen kniff sie die Augen zu und schob sich das Laken bis zur Hüfte hinunter, bevor sie die Beine aus dem Bett schwang.

Der Holzboden war kühl unter ihren Sohlen, aber so früh am Morgen konnte es eigentlich nicht mehr sein. Paige fühlte sich einigermaßen ausgeruht und frisch. Und ihr stand der Sinn nach Kaffee und Frühstück. Ohne das schwarze Gebräu würde sie heute nicht ganz in die Gänge kommen. Die letzten paar Nächte hatten sie einfach zu sehr geschlaucht. Und zu allem Übel hatte sie noch nicht einmal besonders interessante Dinge herausfinden können. Mal von einer Mixtur abgesehen, die auf einem einzelnen Blatt verzeichnet gewesen war.

Gähnend schlappte sie zuerst ins Bad und dann in Richtung Küche, wo sie bereits ein paar Meter vor der Tür den Duft von Speck einfing.

Als sie gerade nach dem Knauf der Tür griff, blieb sie mitten in der Bewegung wie eingefroren stehen.

Unentschlossen, was sie tun sollte, sah sie auf ihre Hand, die immer noch den Knauf festhielt.

Sie hatte ganz deutlich seine Stimme gehört. Ryon war zurück oder aus den Tiefen des Hauses wieder aufgetaucht. Ai und ihr hatte man nicht gesagt, wohin oder ob er überhaupt verschwunden war. Paige hatte angenommen, dass er sich von dem Schock in seinem Zimmer erholte. Jedenfalls war er alles Andere als präsent gewesen. Im Gegensatz zu jetzt. Und genau das machte sie unsicher.

„Paige?“

Sie machte sogar einen Satz und ließ die Tür los, als Ai so unvermittelt neben ihr auftauchte und sie ansprach.

Ihr Herz raste von dem Adrenalinschock und sie hielt sich für zwei Sekunden die Hand vor die Brust und atmete tief durch.

„Was ist denn los?“

Es kam ihr so vor, als müsse sie flüstern. Vielleicht hatte man in der Küche sogar ihren Namen gehört. Ai hatte die Vorsicht wohl aufgegeben und sich nicht gerade leise verhalten.

„Ich... Ryon ist wieder da.“

Das dicke schwarze Haar fiel der Asiatin in einer Welle über die Schulter, als sie den Kopf ein wenig schräg legte.

„Aber das ist doch schön. Dann geht es ihm besser.“

Paige hätte sich die eigenen dunklen Haare raufen können.

„Klar ist das... schön.“

Gerade dieses Wort zu benutzen fiel ihr nicht gerade leicht. Es war gut, dass er wieder auf den Beinen war. Beruhigend in gewissem Sinne, aber ob gerade 'schön' es für Paige traf? Für Ai offensichtlich schon.

„Aber?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hast du etwa kein Problem..?“

Paige zog ihre Freundin am Arm ein wenig von der Tür weg, damit man ihr Gespräch nicht doch noch mitbekam und versuchte sich dann mit hängendem Kopf und ausweichendem Blick zu erklären. Ihr Flüstern war zischend und eindringlich.

„Immerhin ist er vor meinen Augen zusammen gebrochen. Wie verhalte ich mich denn jetzt? Wir sind keine Freunde ... und ich glaube nicht mal, dass er vor denen gern so eine Schwäche zeigt.“

Gott, was war sie froh, dass er nicht wusste, dass sie ihm Erbrochenes vom Gesicht gewischt hatte.

Ais breites Lächeln war überraschend. Das war wahrscheinlich auch ihr Vorteil, der es möglich machte, dass sie Paige auf die Küchentür zu und in den Raum hinein schob. Bevor die Anderen sie bemerkten, raunte sie ihr noch ihre Antwort ins Ohr.

„Du hast das doch bis jetzt sehr gut gemacht.“

Völlig perplex über diese Aussage, blieb Paige neben der Tür stehen, bis jeder ihr einen guten Morgen gewünscht hatte und sie gar nicht anders konnte, als das zu erwidern.

Mit einem 'Guten Morgen' setzte sie sich auch an den Tisch, bloß um dann gleich wieder aufzustehen und sich eine halbe Tasse Kaffee einzugießen.

Sie mochte dieses Getränk nicht besonders und so aufgewühlt, wie sie sich durch Ryons Anwesenheit gerade fühlte, dürfte sie eigentlich auch das Koffein nicht brauchen.

Unter ihren langen, schön geschwungenen Wimpern hervor, sah Ai freundlich zum Mann am Kopf der Tafel hinüber und sprach ihn an, als wäre es das Einfachste der Welt.

„Schön, dass du wieder mit uns isst. Tyler hatte mit uns allein schon wieder Langeweile.“
 

Sie wirkte ausgeruht, als sie mit ihrer Freundin die Küche betrat. Zumindest sah Flame besser aus, als gestern noch, wo sie erschöpft geschlafen hatte. Auch wenn er so etwas wie Nervosität an ihr riechen konnte.

Es war auch nicht für ihn ganz leicht, ihr heute Morgen zu begegnen. Immerhin hatte er nicht vergessen, was das letzte Mal passiert war, als sie sich gesehen hatten. Allerdings flammten in ihm keine Gefühle hoch, die ihn noch mehr verunsichert hätten. Er hielt sie wohlweißlich unter Verschluss.

„Eigentlich glaube ich nicht, dass Tyler Langeweile hat, seit ihr zwei hier seit. Aber mir ging sein Essen auch schon ab.“

Er nickte seinem Freund zu und schob sich ein Stück Speck in den Mund. Heute würde er mehr essen müssen, als normal, da schon die paar Tage ausgereicht hatten, um ihn leicht zu schwächen und sein Gewicht zu reduzieren.

Das war noch ein Nachteil seiner Natur. Er brauchte ständig haufenweise Kalorien, um seinem schnellen Stoffwechsel gerecht zu werden. Wenn er die nicht hatte, baute sein Körper sofort ab und er verlor an Kraft und Energie. Deswegen beobachtete Tennessey jeden einzelnen seiner Bisse mit Argusaugen.

Da er heute keine Probleme hatte, sich an der Tischkonversation zu beteiligen, war die Atmosphäre auch halbwegs als annehmbar zu bezeichnen. Aber je näher das Ende des Frühstücks heran rückte, umso deutlicher lag etwas in der Luft.

Er musste mit Flame über ihre weitere Vorgehensweise sprechen und ihr erzählen, was er herausgefunden hatte, was wiederum keine leichte Sache sein würde. Doch solange er sich auf ihre Aufgabe konzentrierte und objektiv blieb, würde es schon irgendwie gehen.

Allerdings war da immer noch sein Nervenzusammenbruch direkt vor ihren Augen. Den wollte er ihr weder erklären, noch darüber sprechen. Aber wenn er dazu einfach schwieg, würde sie das so einfach hinnehmen?

Ryon hoffte es, denn letztendlich würde ihr ohnehin nichts anderes übrig bleiben. Im Augenblick konnte und wollte er nicht darüber sprechen. Was er nach dem Frühstück auch deutlich machte, nachdem sie schweigend den Weg zur Bibliothek hinter sich gebracht hatten.

„Mir ist aufgefallen, dass du schon fast mit der Kiste durch bist. Hast du etwas Nützliches herausfinden können?“

Seine Stimme blieb absolut neutral, während er sich vollkommen auf Flames Gesichtszüge konzentrierte, um nicht das kleine Buch auf dem Tisch anzusehen. Er bekam immer noch Herzklopfen, wenn er daran dachte, obwohl seine inneren Abwehrmauern dicker denn je waren und massiv stand hielten.
 

„Nein, nichts, was uns Nützlich sein könnte, befürchte ich. Ein paar Zeitungsausschnitte, über Todes- oder Unfälle. Allerdings liegen die schon über sieben Jahre zurück. In dem Dokument, das ich gestern durchgesehen habe, wird das Amulett beschrieben. Allerdings habe ich manche Abschnitte wegen der kryptischen Ausdrucksweise und der doch recht antiken Sprache nur ansatzweise verstanden. Hat es denn zwei sehr unterschiedliche Seiten?“

Sie war sich wirklich nicht sicher, wie sie die paar Andeutungen auf der Rolle verstehen sollte. Gestern nacht war sie ziemlich fertig gewesen und hatte sich kaum noch konzentrieren können.

So ähnlich wie jetzt, wo sie sich unter seinen schwarzen Augen wie beim Röntgen vorkam.

War das ein Wettkampf, wer es zuerst nicht mehr aushielt und wegsah?

Wie Paige bereits erwartet hatte, war Ryon mit keinem Wort auf seinen Zusammenbruch eingegangen. Also auch nicht im Bezug darauf, was ihn verursacht hatte. Aber es musste etwas mit dem Buch zu tun haben, das dort auf dem Tisch lag. Wie sollte sie die Frage, die sie stellen wollte, nur so vorsichtig formulieren, dass sie keine Angst davor haben musste, er würde als Reaktion darauf vor ihren Augen wieder zusammenklappen?

„Was ist mit dir? Irgendwas über das Amulett?“

Das schloss hoffentlich erkennbar aus, dass sie etwas über seinen Zustand wissen wollte. Er hätte es ihr sowieso nicht erzählt. So weit konnte sie ihn bestimmt einschätzen.
 

Von wem die Todes- und Unfallanzeigen auf den Zeitungsausschnitten waren, hatte er schon früher gewusst, jetzt allerdings verstand er auch den Zusammenhang.

Wie hatte er das nur nicht sehen können? Er war wirklich blind gewesen.

„Zwei unterschiedliche Seiten, sagst du?“

Ryon blickte an sich hinab, wo er das Amulett zwischen den obersten geöffneten Knopfreihen von seiner Sicht aus sehen konnte. Ihm wäre nie aufgefallen, dass es zwei unterschiedliche Seiten hätte. Auch wenn er nicht ganz verstand, auf was für Seiten sich Flames Frage eigentlich genau bezog.

Nachdenklich lehnte er sich an die Kante des Schreibtischs und griff in den Ausschnitt seines Hemds.

Zum ersten Mal hatte er keine Angst davor, es in die Hand zu nehmen UND anzusehen. Er fühlte kaum etwas dabei. Was jedoch mehr war, als eigentlich sein sollte, doch im Augenblick ignorierte er diese Tatsache.

„Das Amulett wurde in einer Anderswelt unter der Stadt Paris erworben. Allerdings habe ich noch keinen Hinweis darauf gefunden, was so besonders daran sein soll.“ Da Ryon in Flame inzwischen weniger eine Diebin als eine helfende Hand sah und sie daher gedanklich auch nicht mehr als solche bezeichnete, hielt er das Schmuckstück vor ihr hoch, damit sie es besser sehen konnte. Sie würde es ihm ohnehin nicht mehr abnehmen. Darauf vertraute er inzwischen, selbst wenn er sich darin irren sollte. Es würde ihr ohnehin nicht gelingen, auch ohne, dass er Gewalt anwandte.

„Außerdem kenne ich nun den Namen deiner ehemaligen Auftraggeberin. Sie heißt Boudicca.“

Damit ließ er wohl eine Bombe hochgehen, ohne dass er sein neu erworbenes Wissen erklärte. Aber damit konnte er sich jetzt nicht aufhalten.

Flame den ganzen Zusammenhang zu erklären, wäre zu viel, als das er es hätte bewältigen können. Es reichte, dass er sich bei dem Namen absolut sicher war. Marlene hatte hellseherische Fähigkeiten besessen. Sie würde sich in solchen Dingen niemals irren, denn bis zum Schluss hatten sich ihre Visionen bewahrheitet, auch wenn sie manches nicht hatte kommen sehen…
 

Das Amulett baumelte vor Paiges Gesicht, während sie nicht wagte, näher als einen halben Meter an Ryon heran zu gehen und sich ein wenig vorlehnte, um es eingehend zu betrachten. Es war fein gearbeitet und wirklich hübsch, wenn man auf solch verschnörkelten, alten Schmuck stand.

„Du scheinst Recht zu haben, ich kann auch keine auffällige zweite Seite erkennen. Vielleicht hieß es auch etwas Anderes. So sicher bin ich mir da nicht.“

Und gleich anschließend an diese Unsicherheit schmiss er ihr Informationen an den Kopf, der ihre gesamte Arbeit der letzten Tage und Nächte scheinbar unwichtig machten.

Er wusste also nicht nur, wo das Amulett herkam, sondern auch, wer es wollte. Wieder dachte Paige sofort daran, was sie dann überhaupt noch hier machte. Mal davon abgesehen, dass sie vor Neugier geradezu brannte.

Die ganze Kramerei in der Schatzkiste und den alten Dokumenten, hatte sie in die Sache weiter hinein gezogen, als es bestimmt so manch Anderes geschafft hätte. Ihre Schwäche für Bücher hatte sich mit ihrer Liebe für Rätsel gepaart. Und dass sie auch noch ein paar Bösewichten einen Strich durch die Rechnung machen konnte, war bloß das bisschen Zuckerguss auf dem Muffin.

Sie zog sich zurück und schwang sich auf den Tisch, direkt neben Ryon, der immer noch an der Kante lehnte. Mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt, blickte sie versonnen auf ihre Handfläche und ihre Finger.

Während sie sprach, begannen Schuppen sie zu überwachsen und ihre Nägel, mit denen sie eine winzige Flamme von einem Finger zum nächsten und dann wieder im Kreis über ihre Handfläche zurück zum Daumen hüpfen ließ, wurden schwarz und scharf.

„Boudicca... Hört sich schon nicht sonderlich sympathisch an, finde ich. Und die ist die verträumte Oberhexe dieses bösen Ordens?“

Die Flamme ruhte schwebend in ihrer Handfläche, als sie zu Ryon aufsah.

„Wir werden sie aber doch nicht in Paris finden, oder? Sie ist irgendwo hier. Ich denke nicht, dass sie sich so weit von dem Amulett entfernen würde.“

Sie starrte wieder in die Flamme in ihrer Hand und ließ sie abwechselnd anwachsen und schrumpfen.

„Was willst du als Nächstes tun?“
 

Nachdem sich Flame neben ihn gesetzt hatte, ließ er das Amulett wieder in seinem Halsausschnitt verschwinden und starrte aus dem Fenster, obwohl es am anderen Ende des Raumes lag. Allerdings stellten sich sofort sämtliche Härchen in seinem Nacken und den Armen auf, als Flame bezeichnenderweise eine Flamme in ihrer Handfläche entstehen ließ. Wieder hatten sich ihre Hände zu dem verwandelt, das seinem Gesicht ganz schön zu gesetzt hatte.

Wäre Ryon emotional nicht gerade so hohl wie ein Kürbis zu Halloween, er hätte es nicht geschafft, neben ihr sitzen zu bleiben.

Ob sie sich darüber bewusst war oder nicht, der Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt und auch wenn ihm im Augenblick von ihr keine Gefahr drohte, so würde er es dennoch nicht vergessen können.

Sie war gefährlich und vor wenigen Tagen hatte sie ihm noch das Fleisch von den Rippen brennen wollen. Egal was inzwischen passiert war, das konnte er nicht vergessen und er sollte es vielleicht auch nicht.

Sie war noch immer eine Fremde, immerhin wusste er noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Aber sie war nun auch seine Partnerin, wenn es darum ging, diese ganzen Rätsel aufzuklären. Denn offenbar machte sie nicht den Eindruck, als wäre für sie die Sache bereits erledigt.

„Ich denke auch nicht, dass sie den Hauptsitz ihres Ordens verlassen würde, aber ihre Spitzel und Schergen ganz bestimmt.“

Ryons Blick zuckte noch einmal kurz zu Flames Händen hinüber, ehe er sich von der Tischkante löste und zum Fenster am anderen Ende des Raumes ging. Sein Blick fiel auf den See.

„Wir wissen also, dass der letzte Besitzer des Amuletts in Paris lebt oder gelebt hat. Wenn wir also mehr darüber heraus finden wollen, müssen wir uns wohl auf die Suche nach diesem Kerl machen. Ich nehme nicht an, dass dir der Name Crilin etwas sagt?“
 

„Nein, sagt mir leider nichts.“

Paige schloss ihre Hand und erstickte damit die kleine Flamme. Mit leerem Blick sah sie dabei zu, wie sie sich wieder in ganz normale, menschliche Hände verwandelten.

„Wahrscheinlich ist es zu erwarten, dass man Leute nach uns suchen lässt. Immerhin hat man meine Leiche nicht gefunden...“

Jetzt sprang sie auch vom Tisch und rollte vorsichtig das Pergament zusammen. Sie legte es in die Truhe zu den anderen Dokumenten und sprach dann ruhig weiter.

„Glaubst du, dass sie dort noch nicht gesucht haben? Ich meine in Paris. Vielleicht ist dieser Crilin gar nicht mehr am Leben und wir würden die Reise völlig umsonst auf uns nehmen.“

Dabei würde ihr so eine Reise sehr gefallen. Es hätte zwar nicht unbedingt mit diesem emotional instabilen Eisklotz sein müssen, aber Fakt war nunmal, dass sie aus der Stadt noch nie wirklich heraus gekommen war. Kaum aus der 'World Underneath', wenn man ehrlich war.

„Und da ist noch ein Problem...“

Er hatte sich wieder zu ihr umgedreht und was sie als nächstes sagen würde, war ihr so unangenehm, dass sie von einem Fuß auf den anderen trat. Sie fühlte sich so, als hätte sie Ryon sowieso schon völlig überstrapaziert.

„Ich werde zu dem Ganzen finanziell auf keinen Fall was beisteuern können.“

In ihrem Kopf verfluchte sie sich, dass sie aus Scham rot wurde. Sie konnte nichts dafür, dass sie arm war. Aber es erinnerte sie wieder daran, dass Ryon sie diesbezüglich für einen Nichtsnutz hielt.

Mit aller Kraft versuchte sie seinem Blick aus den matten schwarzen Augen so lange wie möglich Stand zu halten.

Wenn er sie dafür verurteilte, dann würde er eben allein gehen müssen.
 

„Um ehrlich zu sein, mache ich mir weniger Gedanken darüber, ob sie dort bereits gesucht hatten. Immerhin wissen sie, dass das Amulett hier ist und ich es nun besitze. Selbst wenn sie bei ihrer Suche diesen Crilin zur Strecke gebracht haben, wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, ob nicht doch irgendeine Spur in dieser Stadt zu finden ist. Wenn auch nur ein kleiner Hinweis. Wir sollten also auf alle Fälle dorthin reisen.“

Ryon wurde nachdenklich, während er in Gedanken schon die Reisevorbereitungen traf. Flame holte ihn jedoch sofort wieder aus der Grübelei zurück, als sie ein weiteres Problem ansprach. Welches?

Er drehte sich zu ihr um, damit er ihr in die Augen sehen konnte, bemerkte so aber auch, dass es ihr offensichtlich unangenehm war, darüber zu sprechen. Ihre Körperhaltung drückte eindeutig Unbehagen aus, genauso wie es ihre Witterung tat.

Als sie endlich mit der Sprache heraus rückte, hätte er vor Erleichterung aufgelacht, wenn er denn Lachen würde, so aber sah er sie schweigend an.

Wieso sollte das für sie ein Problem sein? Niemals hätte er von ihr verlangt, für ihre Reisekosten aufzukommen. Selbst wenn sie mehr Geld besessen hätte, um mit Ai an einem anderen Ort zu leben.

„Das hätte ich auch nicht von dir verlangt.“, durchbrach er schließlich das unangenehme Schweigen. „Selbst wenn du für deine Lebenserhaltungskosten nicht schwer arbeiten müsstest.“

Er drehte sich wieder zum Fenster. Zwar mochte er es nicht zeigen, aber ihm selbst war das Thema auch nicht angenehm. Immerhin konnte er nicht nachvollziehen, wie es für jemanden sein musste, tagtäglich ums Überleben zu kämpfen.

Ryon war in eine reiche und wohlhabende Welt hineingeboren und nur seinen gutherzigen Eltern war es zu verdanken, dass ihm dieser Umstand niemals zu Kopf gestiegen war. Er bildete sich keinesfalls etwas auf den Reichtum seiner Familie ein, denn er hatte ihn sich nicht selbst verdient, obwohl er seit Beendigung seines Studiums gearbeitet hatte.

„Du wirst einen Reisepass brauchen.“, wechselte er schließlich das Thema.

„Wenn du mir ein paar fiktive Daten über dich aufschreibst, kann ich dir bis morgen einen besorgen. Außerdem wirst du frische Kleidung brauchen…“

Wobei sie dann doch wieder beim Thema wären. Würde sie von ihm überhaupt etwas annehmen?
 

Wie zu erwarten, tat Ryon auch diese Bedenken mit vollkommener Emotionslosigkeit ab. Er sah sie mit seinen schräg geformten Augen eine Weile an, bevor er ihr eröffnete, dass er gar nicht wollte, dass Paige irgendetwas zu der Reise beisteuerte.

Ihr kam der Gedanke, dass der schweigsame Riese mit diesem einsamen Schloss mitten im Wald vielleicht ganz dankbar für etwas Gesellschaft war. Auch wenn es skuril wirkte, dass er gerade die Frau mit in die 'Stadt der Liebe' nahm, die noch vor wenigen Tagen versucht hatte, ihn zu braten. Aber das war aus guten, verständlichen Gründen geschehen und irgendwann würde er ihr das vermutlich sogar verzeihen können.

Sie würden gezwungen sein relativ viel Zeit miteinander zu verbringen. Mit einem schiefen und beinahe zweifelnden Gesichtsausdruck folgte Paige mit den Augen den Schemen seiner Silhouette. Ob sie irgendwann sogar so etwas wie Freunde sein würden?

Immerhin waren sie von Feinden schonmal zu Partnern aufgestiegen. Ein großer Schritt, den sie da geschafft hatten. Wenn sie es recht bedachte, konnte sich Paige selbst im Nachhinein nicht erklären, wie sie das tatsächlich hinbekommen hatten. Zumal es ihr selbst so vorkam, als wäre es mühelos gewesen. Anders als es normalerweise vor sich ging, wenn man sich mit jemandem engagierte.

Jetzt, wo er von ihr verlangte, sich eine neue Identität zurecht zu legen, kam es ihr noch lächerlicher vor, mit ihrem richtigen Namen länger hinterm Berg zu halten.

Sie ging zu ihm hinüber und lehnte mit verschränkten Armen gegen ein Regal direkt neben dem Fenster. So standen sie nebeneinander und sahen auf den See hinaus, an dessen Ufer sie ihren Deal geschlossen hatten.

Die Stille war weder unangenehm noch belastend. Sie schien die beiden sogar auf eine nicht ganz nachvollziehbare Weise zu verbinden. Trotzdem war es nicht schwer, sich erneut zu äußern.

„Ich bin deiner Meinung. Paris ist das Beste, was wir haben. Sollte dieser Crilin nicht mehr aufzufinden sein, weiß vielleicht jemand in der Unterwelt von ihm.“

Mit einem Lächeln, das den Schelm hinter ihren Augen kein Stück verbergen wollte, sah sie zu Ryon hoch.

„Du bist doch gut darin, Leute auszuquetschen, um zu finden, wen du suchst.“

Sie selbst und vor allem ihre Wohnung nach dem kurzen, aber heftigen Zusammenstoß an der Spalte in der Schachtmauer aufzufinden, hatte Geschick erfordert. Oder große Überredungskünste. Was bei Ryon schätzungsweise nicht unbedingt mit rücksichtsvoller Konversation einherging. Sie mochte gar nicht wissen, was derjenige für Ängste ausgestanden hatte, der letztendlich mit ihrem Wohnort herausgerückt war.

„Daher nehme ich auch an, dass du meinen Decknamen kennst.“

Mit den nun wieder weichen Fingerspitzen tippte sie sich in einer überlegenden Geste an die Unterlippe. Der Name 'Fe' war ja nicht absolut aus der Luft gegriffen. Dann konnte sie ihn auch weiter benutzen. In abgewandelter Form natürlich.

„Wie gefällt dir 'Flora Burke'? Ich finde, das passt zu mir.“

Wieder sah sie in den Garten hinaus und strickte weiter an der Identität für den illegalen Pass. Dass Ryon so schnell daran kommen konnte, wunderte Paige nicht im Geringsten. Mit Geld konnte man nunmal so gut wie alles kaufen.

Seine Haltung änderte sich in einer Weise, die sie erneut aufblicken und seinen Augen begegnen ließ.

Sie sahen wirklich fast matt aus. Groß und schwarz. Absolut nichtssagend, selbst wenn man intensiv darin zu lesen versuchte. Ganz anders, als der golden flammende Blick, den er vor seinem Zusammenbruch durch eben diesen Raum geworfen hatte.

Da war wohl nach dem Lesen dieser Lektüre etwas aus ihm heraus gebrochen, das er sonst nicht gerne zeigte.

Paige hätte es gern einmal gesehen. Erlebt, wie Ryon sich verhielt, wenn er auch nur irgendein Gefühl nach außen dringen ließ. Ok, vielleicht sollte es zu Anfang wenn möglich eine positive Empfindung sein, damit er sich nicht wieder übergeben musste und dann ohnmächtig wurde.

Die Zeit, die sie ihm in die Augen gestarrt hatte, erschien ihr inzwischen so lang, dass sie die Stille wieder mit etwas unterbrechen wollte. Bevor sich doch noch eine peinliche Situation entwickelte.

„Paige.“

Es kam keine Reaktion, da er den Sprung gar nicht nachvollziehen konnte. Selbst Verwirrung war an seinen Zügen nicht abzulesen. Schade; es hätte das Lächeln, das sich in ihre Gesicht schlich, noch breiter machen können.

„Mein Name. Ich heiße Paige.“

Da wieder keine körperliche Reaktion kommen würde, drehte sie sich zurück zum Fenster.

„Meine Kleidergröße werde ich dir aber nicht verraten. Für Paris kaufe ich lieber selbst ein, wenn es dir Recht ist.“
 

Sie ließ auf eine mögliche Reaktion warten, was seine Worte betraf. Weshalb er sich vermutlich Gedanken darüber machen sollte, ob er sich mit Flame in den nächsten Minuten wieder auf einem verbalen Kriegszug befinden würde. Worauf er im Augenblick eigentlich nicht wirklich Lust hatte. Ryon war erschöpft. Auf eine nicht körperliche Art.

Flame kam zu ihm herüber und lehnte sich locker mit verschränkten Armen an ein Bücherregal, während sie seinem Blick folgte und ebenfalls den See betrachtete. Sie schwieg noch immer.

Wenn man sie beide so sah, könnte man wohl nicht wirklich glauben, dass sie sich vor ein paar Tagen höchstens so nahegekommen waren, um sich gegenseitig zu verletzen. Im Augenblick herrschte aber deutlicher Frieden zwischen ihnen.

Er konnte auch keinerlei Abwehr gegen diese Frau mehr spüren, auch wenn er sich wohl noch lange zweimal überlegen würde, sie anzufassen. Außer wenn sie friedlich schlief. Dann fielen alle Bedenken von ihm ab, aber das war nichts Ungewöhnliches. Vermutlich war er im Schlaf ebenfalls ganz anders, als im Wachzustand.

Ihre Augen lächelten mit ihrem Mund um die Wette, als er ihr einen kurzen Seitenblick zuwarf.

Fand sie es tatsächlich amüsant, wie er zu seinen Informationen kam? Offensichtlich, denn sonst würde sie nicht so aussehen. Dabei hatte sie in seiner Gegenwart noch nicht wirklich viel Grund zum Lächeln gehabt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass ausgerechnet er es ausgelöst haben sollte.. Er war nicht der Mensch, der andere zum Lächeln brachte. Nicht mehr…

Ob er ihren Decknamen kannte? Natürlich. Fe.

Wieso man sie allerdings so nannte, war ihm immer noch ein Rätsel. Diese Frau sah alles andere als wie eine Fee aus. Genauso wenig wie eine ‚Flora Burke‘, wenn er schon einmal dabei war.

Mit ihrer gesunden Hautfarbe, dem schwarzen Haar, den dunklen Augen, der für eine Frau schon relativ gut gewachsenen Größe und nicht zuletzt ihren Fähigkeiten, war sie alles andere als feenhaft, oder?

Ryon sah wieder zu ihr, um sie mit völlig neuen Augen zu mustern. Ja, ihr Haar war glänzend schwarz und unglaublich glatt. Bestimmt gab es ein seidig weiches Gefühl, wenn man mit den Fingern hindurch fuhr.

Ihre Hautfarbe glich der Farbe von Milchkaffee, gerade da man es nicht wirklich als Sonnenbräune bezeichnen konnte. Es war eher ihre natürliche Hautfarbe, die ihr Aussehen für andere sicher interessant machte.

Wenn sie bleich wie die Wand gewesen wäre, hätte sie vermutlich wie eine Kreatur der Nacht ausgesehen.

Ihre Gesichtszüge waren fein, konnten aber auch energisch sein und so manchen das Fürchten lehren, aber andererseits, wenn sie lächelte, wirkte es herzlich und freundlich. Fast erhielt man den Eindruck von Offenheit, obwohl sie für ihn dadurch auch nicht weniger ein Rätsel blieb.

Doch dann waren da noch ihre Augen. Von einem dunklen, erdigen Ton. Im Gegensatz zu seinem schwarzen, kalten und leeren Blick, war der ihre warm und trotz der Geheimnisse doch so voller Leben. Außerdem glitzerten darin goldene Sprenkel, die man aber nur erkennen konnte, wenn man ihr ganz nahe kam, oder so wie er, ein ausgezeichnetes Sehvermögen hatte.

„Paige.“

Dieses Wort riss ihn aus seinen Gedanken und zugleich von ihrem Anblick los. Was hatte sie gerade gesagt?

Verwirrt versuchte er ihr zu folgen, weshalb er auch froh sein konnte, dass sie ihm eine genauere Erklärung zu dem Wort abgab.

Ihr Name war also Paige?

Wie merkwürdig, dass er sich erst an diesen Namen gewöhnen musste. Als würde man versuchen, neue Schuhe anzuziehen, die sich erst als bequem erweisen würden, wenn man lange genug darin herumgelaufen war. Immerhin hatte er sie nun schon eine ganze Weile in Gedanken ‚Flame‘ genannt.

Ryon brauchte noch einen Moment, bis er sich wieder auf das Gespräch von vorhin konzentrieren konnte.

„Für den Pass muss ich die auch nicht wissen. Aber ein Geburtsdatum wäre sehr hilfreich.“

Außerdem hatte er trotz ihrer Einwände nicht vor, sie alleine in die Stadt fahren zu lassen. Da er ohnehin noch einiges erledigen musste, konnten sie den Weg auch ruhig zusammen antreten.

„Wir können noch heute in die Stadt fahren und alles nötige besorgen.“

Er musste zudem auch noch in dem Hotel auschecken, wo er seit dem Verlassen seiner Wohnung angeblich wohnte. Dort hatte er auch noch ein paar neue Kleider von seinem Schneider liegen und das Buch aus der Bibliothek, wo er geglaubt hatte, etwas über das Amulett gefunden zu haben. Inzwischen war er sich jedoch sicher, dass es sich hierbei um ein anderes Schmuckstück handelte. Zudem würde auch Ai ein paar neue Kleider brauchen.



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