Eine Bitte
Das Geschäft war bereits seit mehr als 30 Jahren geschlossen, nachdem der Besitzer verschwunden war. Man sagte zwar, dass sich sein Anwalt um alles gekümmert habe, doch es war nie etwas passiert. Seit dem zum letzten Mal die Türen verschlossen worden waren, hatte sich nichts verändert. Die Kleider der Schaufensterpuppen waren ausgeblichen und ließen ihre ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr erahnen. Ein paar Jugendliche hatten eine der Scheiben mit Steinen beworfen und besprüht, sodass nun kleine Löcher, von denen feine, rissige Linien ausgingen, neben schmierigen Graffiti zusammen mit den vergilbten und schimmeligen Ausstellungsstücken im Schaufenster ein bizarres, wenn auch ebenso trauriges Bild darstellten.
Nash fuhr mit dem schwarzen Cadillac in den Hinterhof, stellte ihn dort ab. Es musste nicht gleich jeder sehen, dass jemand hier war. Dass er hier war, war schon schlimm genug in seinen Augen, aber er hatte wohl oder übel keine Wahl. Wenn man Informationen suchte oder Hilfe brauchte, war das nun einmal die beste Adresse. Sofern man das nötige Kleingeld oder die richtigen Beziehungen besaß.
„Auf in die Schlacht“, murmelte er, als er ausstieg. Kurz hielt er inne und sah an dem Gebäude hinauf. Von dieser Seite sah es nicht gerade viel besser aus als von vorne. Graffitis, Dreck, Müll. Andererseits war es in der ganzen Umgebung nicht viel besser. Der Stadt fehlte eben das Geld, um sich auch um die Bereiche zu kümmern, die nicht zum Tourismuskern gehörten. Als würde es hier überhaupt welchen geben. Mit einem schweren Seufzer schlug er die Tür zu und ging zum Hintereingang. Das Glockenspiel über der Tür gab ein leises Klingeln von sich, als er sie öffnete und wieder schloss.
Im Inneren des Ladens sah es genauso aus, wie man es vom äußeren Eindruck erwartete. Alt und verstaubt. Lange Regale, vollgestopft mit den unterschiedlichsten Gegenständen bildeten ein kleines Labyrinth. Und auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkte, schien ein System dahinter zu stecken, wie Bücher, Kästchen, Statuen und anderes einsortiert waren. Die meisten Sachen kannte er schon, von daher waren sie für ihn uninteressant. Statt sich umzusehen, suchte er sich seinen Weg durch die Regale zum Verkaufstresen. Was er suchte, würde er nur hier finden.
An seinem Ziel angekommen, stellte er fest, dass auch hier niemand war. Nachdenklich zog er die Brauen hoch und blickte sich um, konnte aber nichts entdecken, was ihm weiterhalf. Also musste er warten. Dabei zog ein Kästchen auf der Mitte des Tresens seine Aufmerksamkeit auf sich. Er machte einen Schritt näher heran, nahm es in die Hand.
Es war ein einfacher Holzkasten mit einem Glasdeckel, sodass man hineinsehen konnte. Einige in Glas gehüllte Pfeilspitzen lagen in seinem Inneren. Nash konnte den Aufdruck auf den Phiolen nicht mehr lesen, da er schon zu vergilbt war. Von der Neugierde gepackt, ob vielleicht auf den unteren noch etwas stand, drehte er die Seite mit dem Verschluss zu sich um das Kästchen zu öffnen.
„An deiner Stelle würde ich das lassen, Clarence Nash.“ Die Stimme kam so unvermittelt, dass er zusammenfuhr und fast den Kasten fallen ließ. Eine Eule, die auf dem obersten Regal hinter dem Tresen saß, plusterte sich kurz auf, ehe sie die Flügel ausstreckte und sich zu ihm hinabfallen ließ. Mit ihren Krallen packte sie die Holzkiste und schwang sich hinauf, landete auf einem der großen Regale. „Es sei denn, du legst Wert darauf, einen elendigen Tod zu sterben.“ Die Schleiereule fuhr sich kurz mit dem Schnabel durch das Gefieder ihres linken Flügels, ehe sich ihre dunklen Augen auf ihn richteten.
„Qualvolle Tode?“, fragte er nach, sah zu ihr hinauf. Die Eule regte sich nicht mehr, ehe sie den Kopf zur Seite neigte.
„Ja. An diesen Spitzen haften Krankheiten, für die es keine Heilung gibt. Auch heute nicht. Weder mit Magie, noch mit der Medizin der Menschen. Weil viele von ihnen längst vergessen sind“, erklärte sie, glitt lautlos herab. Bevor ihre Füße den Boden berührten, schien ihre Gestalt sich leicht zu verflüssigen und es war schließlich eine schwarze Katze, die mit einem eleganten Satz auf den Tresen sprang. „Aber dies ist sicher nicht die Frage, die dich hierher bringt, Clarence“, stellte sie fest, beobachtete ihn mit ihren gelben Augen.
Kurz schwieg er, schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein. Und es ist keine Frage, sondern eine Bitte“, fuhr er fort. Jäh wurde er allerdings unterbrochen, als sie vom Tisch sprang und in einer dunklen Ecke verschwand. Nash hörte sie fauchen, gefolgt von dem panischen Quicken einer Maus.
„Lästiges Ungeziefer“, seufzte die Katze, kam ohne Beute zurück und nahm ihren Platz wieder ein. „Man wird es wirklich nie los. Aber tut mir leid, ich habe dich unterbrochen. Worum willst du mich bitten?“
Nash sah sie nachdenklich an, seufzte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie genau wusste, weswegen er hier war. Sie war jemand, der über alles bescheid wusste. Nichts blieb ihr verborgen. Selbst wenn man mit einer Frage den Laden betrat, von der man ausging, es gäbe keine Antwort darauf, sie hatte eine. Das machte ihre Informationen so wertvoll und begehrt, selbst wenn man sich im Klaren war, dass wirklich jeder an sie ran kommen konnte, wenn er nur ein gutes Angebot machte.
„Es geht um einen Jungen“, begann er, wurde dann wieder von ihr unterbrochen.
„Einen Jungen?“, fragte sie nach, lachte leise. „Clarence Nash interessiert sich nicht für irgendeinen Jungen. Er interessiert sich nur für sich selbst und was für ihn am besten ist“, sprach sie in belehrendem Ton weiter, als wäre er nicht anwesend.
„Amari“, ermahnte er sie scharf und sie lachte laut auf.
„Angst hat er“, rief sie aus. Das Lachen wurde zu einem Krächzen, als sich ihre Gestalt wieder änderte. Die Elster schoss knapp über seinem Kopf hinweg und verschwand über den Regalen. „Doch wovor? Wovor? Sag es mir, Clarence“, rief sie aus dem Verborgenen.
„Ich habe keine Angst“, knurrte er, sah sich aufmerksam um, versuchte heraus zu finden, wo sie war.
„Was ist es dann? Ist es dir eine Last, dich um ein Kind zu kümmern, das seine Mutter verloren hat? Oder geht es um deine Vergangenheit? Was ist es, wovor der große Clarence Nash Angst hat?“ Ein dunkles Knurren folgte den Worten und er fuhr herum. Im selben Moment sprang der schwarze Wolf aus dem Schatten, prallte gegen das unsichtbare Kraftfeld, welches Nash im letzten Moment errichtet hatte. Benommen schüttelte das Tier den Kopf, umkreiste ihn lauernd.
„Ja, ich habe Angst“, sagte er ruhig. „Aber nicht davor. Ich will, dass du ein neues Zuhause für ihn findest“, erklärte er dann. „Mir ist egal, was du dafür willst und wie lange es dauert. Er soll an einen Platz, an dem er sicher ist und von all dem hier ferngehalten wird.“ Der Wolf entspannte sich, setzte sich auf seine Hinterläufe. „Und das ist er bei mir nicht. Warum geht dich nichts an. Es reicht, wenn du weißt, dass er nichts mit unserer Welt zu tun haben soll.“ Aus dem Wolf wurde ein Fuchs, als er wieder auf den Tresen sprang.
„Das wird dich einiges kosten. Und ich entscheide selbst, was ich von dir will.“ Das Tier gähnte, rollte sich zusammen, blickte ihn aber weiterhin aufmerksam an. „Doch du kannst nicht verhindern, dass er herausfinden wird, was er ist. Er ist dein Sohn, Clarence. In ihm fließt dein Blut und das seiner Mutter. Und glaub mir. Nur weil du ihn fortschaffst, wird er dem, was ihn verfolgt, sicher nicht entkommen. Also überleg es dir gut, ob du das wirklich willst.“
„Ich bin mir sicher“, nickte er und wandte sich ab.
„Du wirst diese Entscheidung noch bereuen“, rief der Fuchs ihm nach, als er den Laden wieder verließ und die Tür hinter sich zuzog.