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Ein Mountie in Chicago

Ein seltsames Trio
von

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Runde 3

Runde 3
 

Tess stocherte leidenschaftslos mit einer Gabel im Feldsalat herum, der in einem Arrangement bunter Salate und Gemüsesorten auf einem Teller vor sich hin existierte, währenddessen Vecchio und Fraser sich wieder zu ihr gesellten und eine Zeit lang stumm dabei zusahen wie sie den wehrlosen Salat malträtierte.

Sie hob nicht den Blick, als Vecchio schließlich fragte: „Wolltest du nicht einen Donut?“, sondern spießte eine Cocktailtomate auf und nuschelte nur erklärend:

„Bin auf Diät.“

Tess war darauf gefasst, dass gleich eine Standpauke beginnen würde und legte sich gedanklich bereits ein paar Argumente zurecht, wie sie ihr Handeln rechtfertigen konnte. Ihre zerstörte Sonnenbrille war eines davon. Zur Unterstützung sah sie kurz aus dem Fenster und schaute dabei zu, wie die Räuber von Beamten der örtlichen Polizeidienststelle abgeführt wurden. Einer von ihnen musste erst medizinisch versorgt werden, was sie dazu brachte sich etwas unbehaglich in ihrer Haut zu fühlen. Aber verdammt. Die Männer hatten etwas kriminelles im Sinn gehabt. Der Zweck heiligte nicht immer die Mittel, aber heute schon. Gut, das gebrochene Nasenbein und der ausgekugelte Arm wären nicht unbedingt nötig gewesen. Vielleicht hatte sie sich wirklich etwas gehen lassen. Aber es war doch eine Gucci-Sonnenbrille gewesen.

„Das gerade eben“, begann Vecchio letztendlich und Tess schluckte. Jetzt ging es also los. „Das war... brillant!“

Tess verschluckte sich am Gemüse und griff beherzt nach Frasers halbvoller Kaffeetasse um sich mit einem Schluck Kaffee vor dem Erstickungstod zu retten. Keine gute Idee, denn der Kaffee lief ihr fast augenblicklich aus der Nase, was sie mit einem Taschentuch und einer schnellen coolen Geste des Haare zurückstreichens zu überspielen versuchte. Es gelang nicht ganz. Vecchio schien es nicht zu stören. Er sah sie nur begeistert an, als wäre er gerade auf eine Ölquelle gestoßen.

„Tatsächlich?“, fragte sie vorsichtig und versuchte unbeteiligt zu wirken und vom Thema abzulenken, während sie sich aus ihrer Lederjacke schelte und diese dann beiseite legte.

Sie bemerkte Frasers Blick auf ihrem nackten Unterarm und bedeckte mit der rechten Hand das tätowierte Narbengewebe knapp unter ihrer Armbeuge. Der Mountie sah schnell woanders hin und der nichts zu bemerken scheinende Vecchio lehnte sich selig zurück und strahlte bis über beide Ohren.

„Ich wusste schon immer, dass es hilfreich ist eine Frau im Team zu haben. Die bösen Buben wiegen sich in Sicherheit, denn sie sehen nur das kleine unschuldige Mädchen und ehe sie es bemerken, klicken auch schon die Handschellen und sie sitzen hinter Schloss und Riegel. Ich hab jetzt richtig Lust auf verdeckte Ermittlung. Fraser, sag doch auch mal was.“

Tess sah mit leicht geöffnetem Mund von Vecchio zu Fraser. Der Detective stieß den Mountie auffordernd mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Ja, Ray“, sagte dieser nur leicht überfordert und damit war alles gesagt, was Tess zum Schmunzeln brachte.

„Sag ich doch“, klatschte Vecchio in die Hände und lehnte sich sofort wieder nach vorn um Tess schließlich geheime ermittlungsinterne Informationen anzuvertrauen.

Tess begann zu stottern.

„Du verpetzt mich also nicht bei Welsh?“

„Was? Verpetzen? Ich dich? Niemals! Sehe ich wirklich so aus, als wäre ich in der Lage einen Partner zu verpetzen?“

Tess konnte es sich nicht verkneifen leicht zu nicken und Vecchio sah wie ein geschlagener Hund aus der Wäsche.

„Also gut, vielleicht hab ich einmal... damals als... aber das ist echt schon lange her. “

Tess hatte begriffen, dass sein anfänglicher Widerwille vergessen war und schob ihren Salatteller beiseite, der sofort von Fraser interessiert beäugt wurde.

„Und diese Versicherungsbetrüger von denen Benny erzählt hat, habt ihr schon geschnappt?“, fragte Tess, doch eigentlich war es mehr eine Feststellung und sie schob ihren Teller bewusst noch weiter vor, direkt unter Frasers Nase.

„Oh, isst du das noch?“, griff Vecchio sofort nach der Scheibe Toast auf dem Teller und biss direkt vor Frasers entsetztem Gesicht hinein, legte die Scheibe jedoch angebissen zurück auf den Teller. „Ich hab jetzt eigentlich mehr Lust auf Chinesisch. Wie sieht's bei euch aus?“

„Bin dabei!“, sagte Tess sofort, griff nach Ihrer Jacke und sprang auf. Während sie darin nach Geld suchte, bemerkte nun auch Vecchio ihren Arm und hatte nicht einmal den Anstand so zu tun, als würde er nicht direkt auf die verheilte Wunde starren. Tess warf sich schnell die Jacke wieder um die Schultern und schob mit ihren rot lackierten Fingern einen zerknüllten Zehndollarschein unter den Serviettenspender. „Kann's losgehen?“
 

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„Ich verhungere“, informierte Vecchio unnötigerweise zum sechsunddreißigsten mal innerhalb der letzten halben Stunde.

Er balancierte, mit den Händen in den Taschen seiner viel zu bunten Jacke, auf seinen Ballen vor und zurück, während er und Tess auf dem Gehweg eines Stadtteils von Chicago warteten, den Tess Nachts eigentlich lieber nicht betreten hätte. Aber der Mountie schien hier zu wohnen und sie warteten auf ihn, während er etwas aus seinem Appartement holte, was er als Diefenbaker bezeichnet hatte. Zwei Obdachlose winkten ihnen freundlich zu und Tess nickte grüßend in deren Richtung, nicht wissend, ob die beiden gerade einen Überfall auf sie planten oder wirklich einfach nur nett waren.

Es war spät geworden. Der Tag war vergangen, ohne dass sie ein China-Restaurant auch nur kurz aus der Ferne gesehen hatten. Der geplante Bankraub hatte dann doch noch die ein oder andere Aussage und Berichterstattung gefordert. Und Fraser musste auf der Fahrt zurück zum Revier auch unbedingt mehrmals anhalten, um unrechtmäßig vor einem Hydrant parkende Autobesitzer darauf hinzuweisen, dass sie gerade eine Ordnungswidrigkeit begingen und er ihnen sehr verbunden wäre, wenn sie woanders parken würden. Wüste Beschimpfungen, eine Verfolgungsjagd mit anschließender Verhaftung und einen, aus einem fahrenden Wagen springenden, Mountie später, war der Tag so gut wie gelaufen und Vecchio hatte beschlossen Feierabend zu machen.

„Ich hab gar kein Geld mehr dabei, Ray“, sagte Tess und schloss ihre Jacke, während sie überlegte, mit welcher Bahnlinie sie eigentlich wieder nach Hause kam.

„Kein Ding, ich lad' dich ein. Ich lad' euch alle ein“, meinte Vecchio großzügig. „Doch wenn Benny seinen kanadischen Hintern nicht bald wieder hierher bewegt, hat sich mein Magen selbst verdaut und Detective Vecchio war einmal.“

„Vererbst du mir deine Briefmarkensammlung?“, fragte Tess kindlich und machte große Augen.

„Nein, die bekommt Fraser schon. Du kannst die Kronkorken haben. Einigt euch bitte friedlich. Nicht, dass es noch zum Erbschaftsstreit kommt.“

Tess lachte und boxte Vecchio gegen den Oberarm, als er einstimmte. Dann öffnete sich die Haustür und ein weißer Blitz jagte auf Tess zu, um sie zu begrüßen.

„Ach, du meine Güte“, äußerte sie, als sie das Tier erkannte und in die Hocke ging um durch dessen kurzes Fell zu streichen, während ihr Ohr von einer nassen Zunge abgeschleckt wurde.

„Wow“, stellte Vecchio anerkennend fest. „Das nenn' ich 'Liebe auf den ersten Blick'.“

Die Vorderpfoten des Tieres standen auf ihren Oberschenkeln, während sie es weiter kraulte und Fraser dabei beobachtete, wie er die Haustür hinter sich zuzog und sorgfältig abschloss.

Tess liebte Tiere und gab dem weißen Fellknäuel einen flüchtigen Kuss auf den Kopf, bevor sie sich erhob und an Fraser gewandt meinte:

„Schöner Wolf.“

„Oh, er ist ein Wo-“, begann dieser auch augenblicklich seinen Standardsatz, realisierte jedoch dann, dass Tess durchaus bemerkt hatte, dass Diefenbaker ein wildes Tier war.

Tess grinste nur, während Vecchio sich beklagte, dass er viel zu lange gebraucht hatte um den Wolf zu holen.

„Oh, wir hatten einen kleinen Disput“, meinte Fraser, nachdem er seine Sprache wieder gefunden hatte und seinen Stetson in den Händen mehrmals um die eigene Achse drehte, bevor er ihn endgültig wieder aufsetzte. Tess widerstand in einer heldenhaften Anstrengung dem Drang anerkennend zu pfeifen. Das war irgendwie ziemlich beeindruckend. „Thema dieser kleinen Auseinandersetzung waren Karamell-Toffess und Donuts und...“ Fraser hielt mitten im Satz inne, überlegte mit erhobenem Finger und sah schließlich zu Tess, bevor er erklärte, dass sie sich nie von einem Wolf das Leben retten lassen sollten. „Er lässt einen bezahlen und bezahlen und bezahlen.“

Tess nickte verstehend.

„Ich werd's mir merken. Aber sag mal. Hast du für Dief eine Ausnahmegenehmigung?“

Vecchio schluckte lautstark und vor Tess' Nase erschien fast augenblicklich eine abgestempelte, eben angesprochene Genehmigung. Die Frau nahm sie aus Frasers behandschuhten Händen und beäugte sie kurz, bevor sie über dessen Rand hinweg direkt in Frasers blaue Augen blinzelte und zu kichern begann.

„Die ist gefälscht. Warst du das, Ray?“

Der Mountie schien nicht zu wissen, wie er sich in dieser Situation zu verhalten hatte, also schwieg er und wartete bis Vecchio die gefälschten Papiere mit einer schnellen Bewegung aus Tess' Händen riss.

„Jetzt reicht's aber!“, schimpfte er und steckte den Wisch in Frasers Brusttasche, was dieser ohne zu murren über sich ergehen ließ. „Pack die weg. Können wir das jetzt bitte einfach totschweigen und gehen?“

„Diese Fotokopiergeräte sind wirklich eine tolle Sache, was?“, erzählte Tess weiter und tat nicht so, als hätte sie gerade etwas Illegales aufgedeckt.

„Bitteee. Ich will etwas zwischen die Zähne bekommen, bevor die Sonne implodiert.“

Fraser hatte unterdessen den Zettel wieder aus seiner Brusttasche gekramt, vorsichtig gefaltet und in einer anderen Tasche erneut verstaut. Musste ja alles seine Ordnung haben.

„Hat er was mit den Ohren?“, wunderte sich Tess plötzlich und völlig aus dem Zusammenhang gerissen und deutete auf den am Boden sitzenden Diefenbaker. „Rays Stimmlage hat in der letzten Minute mehrmals extrem geschwankt und seine Ohren haben nicht einmal gezuckt. Er ist doch nicht-“

„Doch, er ist taub“, bestätigte Fraser und Vecchio schien unmenschliche Qualen zu leiden.

„Nein, bitte sag nicht, dass du auch sehenden Auges durch die Welt gehst und sogar mitbekommst, wenn ein Floh hustet. Kommst du vielleicht auch aus Kanada? Ihr seid nicht zufällig verwandt, oder? Ihr macht mich echt fertig. Meine Nerven gehen kaputt. Ich hab schon wieder dieses nervöse Zucken an der Augenbraue, seht ihr? Jetzt muss ich mich wahrhaftig mit zwei von der Sorte rumschlagen.“

„Was meint er denn?“, wollte Tess an Fraser gewandt wissen, während Vecchio sich die Stirn rieb und eine Atemtechnik anwandte, die an einen Geburtsvorbereitungskurs erinnerte.

„Ich weiß es nicht“, gab der Mountie zu und sie setzten sich in Bewegung, da Vecchio beschlossen hatte den Weg nach Chinatown einzuschlagen und sie ihm schon folgen würden.
 

~
 

„Oh je“, entfuhr es Fraser, als sie nach, Vecchios Aussage zufolge, einer gefühlten Ewigkeit das China-Restaurant ihrer Wahl erreicht hatten, und ein Tierverbotsschild am Eingang nicht zu übersehen war.

Vecchio hielt am Eingang inne und sah zurück, während Fraser auf den Wolf einredete und Tess geduldig, und als sei es das Normalste auf der Welt mit einem tauben Wolf über Hygienevorschriften zu debattieren, daneben wartete.

„Meine Nerven...“, war nur kurz von Vecchio zu hören, dann schien er entschieden zu haben, dass er die nächsten fünf Minuten auch noch überleben würde und wartete einfach, mehr oder weniger geduldig.

„Siehst du das Schild? Das betrifft auch dich“, informierte Fraser Diefenbaker und Tess sah zu Vecchio und meinte „Ist er nicht putzig?“ um ihn noch ein bisschen weiter auf die Palme zu bringen.

Vecchio sah schnell weg, schloss die Augen, atmete tief ein und dachte sich an einen anderen Ort. Panama. Oder so.

Diefenbaker ließ einen nicht erfreuten Laut vernehmen.

„Nein, nein, deine Einstellung ist falsch. Die Vorschrift hat einzig und allein gesundheitliche Gründe“, versuchte Fraser weiterhin den Wolf zu überzeugen und Tess nickte in dem Versuch ihn dabei zu unterstützen.

„Genau, du stinkst“, tauchte Vecchio wieder aus Panama auf und machte diesen Versuch zunichte.

„Ray, bitte. Er fühlt sich jetzt ausgeschlossen“, erklärte Fraser und gestikulierte zwischen beiden hin und her.

„Das ist doch nicht verwunderlich. Er ist nun mal ein Tier“, stellte Vecchio fest und Diefenbaker gluckste unglücklich bevor er den Kopf hängen ließ.

„Siehst du, jetzt hast du's geschafft. Zufrieden?“

Vecchio nickte befriedigt über diesen kleinen Sieg und schien sich jetzt endlich über seine so greifbar nahe Vogelnestsuppe freuen zu können.

„So wie's aussieht, ja“, bestätigte er und Fraser setzte sich in Bewegung um ihm die Tür aufzuhalten. „Danke. Oh, und pass' auf, dass du die Karte nicht verkehrt herum liest.“

Diefenbaker verzog sich schmollend in eine Ecke und legte sich wartend auf den harten Asphalt, während Tess sich vornahm ihm ein Stück Hühnchen mitzubringen. Sie steuerte ebenfalls auf den Eingang zu, erlaubte dass der Mountie ihr den Vortritt ließ und sagte:

„Herzlichen Dank.“

„Oh, bitte“, sagte dieser, erleichtert dass seine Höflichkeit nun doch wieder angenommen wurde und folgte den beiden Detectives in die erste Etage.
 

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Tess sah sich im Raum um.

An den Wänden hingen riesige bunte Fächer mit chinesischen Schriftzeichen. Auf den Fensterbrettern und Tischen standen Mingvasen und Kerzen sorgten für ein zusätzlich angenehmes Ambiente. Nur fehlte es leider an zusätzlichen Gästen. Die drei waren die einzigen.

Während Vecchio sich bei dem Restaurantbesitzer beschwerte, dass die Vogelnestsuppe aus war, sah Tess zu Fraser, der wiederum zu Vecchio blickte und seine gefalteten Hände ruhig auf dem Tisch abgelegt hatte. Ein kleines Drama hatte sich abgespielt, als er Tess hatte helfen wollen Platz zu nehmen. Dieses hatte darin sein Ende gefunden, dass Vecchio lautstark mit der Faust auf den Tisch geschlagen und sich über seine ach so labilen Nerven beklagt hatte. Schließlich hatten sich Tess und Fraser hingesetzt und sofort versprochen wieder brav zu sein.

„In jedem Baum sind Vogelnester“, lamentierte Vecchio weiter und Mr Lee, der Restaurantbesitzer, begann unbehaglich dreinzublicken. „Na schön. Bringen Sie uns einfach drei Portionen Mandarinente.“

„Bedaure. Keine Ente“, berichtete Mr Lee in typisch chinesischem Akzent weiter und wartete, was er auf seinen Notizblock schreiben konnte, während sich der Küchenjunge kurz zu seiner Pause bei ihm abmeldete.

„Wie wär's mit einem Hotdog?“, verfiel Vecchio in Sarkasmus und machte eindeutige Gesten, dass er total genervt war und eigentlich nur etwas zwischen die Kiemen bekommen wollte.

„Ray, darf ich?“, bot Fraser an und griff nach einer liegen gelassenen Speisekarte.

„Ja, nur zu Benny“, tat Vecchio es ab und durchforstete seine eigene Karte weiter. „Aber die ist auf Chinesisch.“

„Ja, das sehe ich“, bestätigte der Mountie und zog kurz die Augenbrauen in die Höhe. Seine Augen schossen auf der Karte umher und während Vecchio sich noch sorgte, dass er aus Versehen etwas mit Innereien bestellen könnte, orderte er in, für Tess' Ohren, perfektem Chinesisch eine Auswahl an Gerichten die wirklich klangvolle Namen hatten und demnach einfach nur gut sein konnten.

Mr Lee nickte glücklich über die getroffene Wahl und verzog sich in Richtung Küche, während Vecchio nur sprichwörtlich mit den Ohren wackeln konnte und ungläubig über das Ende seiner noch aufgeschlagenen Karte hinüber zu Fraser blickte.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte er nur wissen und Tess lugte kurz über Frasers Schulter.

„Er hat sich an die Tageskarte gehalten“, beantwortete sie Vecchios Frage und er wandte sich an sie.

„Und jetzt zu dir“, begann er und ihr wurde bewusst, dass es gleich unbehaglich werden konnte, also kehrte sie ihm den Rücken zu und meinte zu Fraser:

„Und wo hast du Chinesisch gelernt?“

Er ging nur zu gern auf ihre Frage ein und Vecchio lehnte sich wieder zurück und beobachtete den Kellner dabei, wie er ihnen Tee brachte und einschenkte.

„Meine Großeltern haben in China mitgeholfen eine Bibliothek aufzubauen. Vor der Revolution. Sie haben mir Chinesisch beigebracht, als ich noch ein Kind war. Ein bisschen davon ist noch hängen geblieben, aber das Meiste hab ich inzwischen leider vergessen.“

„Aber es reicht noch um nicht zu verhungern“, mischte Vecchio sichwieder ein und alle nahmen einen Schluck Tee.

Schließlich wurde es ruhig, doch man merkte, dass Fraser etwas auf dem Herzen hatte. Er sah immer wieder Richtung Fenster und leckte sich nervös über die Lippen.

„Glaubt ihr, es geht ihm gut?“, fragte er schließlich.

„Wem?“, wollte Vecchio wissen.

„Na Diefenbaker“, platzte es aus Tess heraus und sie konnte nicht glauben, dass er so ignorant war.

„Man, er ist ein wildes Tier“, sagte der Detective nur und machte den Eindruck, als wäre damit alles gesagt.

Fraser nickte verstehend, sah jedoch immer noch zum Fenster und deutete sogar mit dem Finger in die Richtung in der er seinen Wolf vermutete.

„Er sah gar nicht glücklich aus.“

Vecchio warf die Hände in die Luft. Eine Geste mit der er zeigen wollte, dass er annahm, dass bei diesem Thema Hopfen und Malz verloren war.

„Und jetzt zu dir“, begann er deshalb wieder und Tess bekam große Augen.

„Schicker Anzug, Ray“, startete sie einen erneuten Versuch das Thema zu umgehen und schrie beinahe Halleluja als das Essen nahte und sie rettete.

Vecchio lief aufgrund von Frasers Menüwahl das Wasser im Mund zusammen und er gestand sich ein, dass mit gefülltem Magen ein Verhör des neuen Partners viel besser vonstatten ging.

Also aßen sie stumm die aufgetischten Gerichte und wurden nur unterbrochen, als Vecchio plötzlich aufschrie.

„Da! Was war das? Ich hab's genau gesehen! Das Bling-Bling in deinem Mund!“

Tess verdrehte genervt die Augen, bevor sie etwas dazu etwas.

„Das nennt man Piercing.“

„In der Zunge? Fraser. Sag was.“

Angesprochener musste erst einmal runter kauen und tupfte sich mit einer Serviette die Mundwinkel bevor er sich räusperte und zu fragen wagte:

„Was genau soll ich sagen?“

„Zum Thema 'Piercing', bitte. Irgendetwas.“

„Also gut“, stimmte der Mountie zu und es fehlte nur noch, dass er vor Beginn seiner kleinen Rede mit den Fingergelenken knackte. „Das gezielte Durchstechen verschiedener Haut- und Körperstellen wie Lippen oder Ohren als traditioneller Körperschmuck wird seit Jahrtausenden von zahlreichen Kulturen und Ethnien praktiziert. Die frühesten Belege in Form von Schmuck oder Zeichnungen lassen sich bis auf 7000 Jahre zurückdatieren. Völkerstämme-“ Er brach abrupt ab, da Vecchio ihm seine Handfläche zeigte und damit zum Schweigen brachte. Offenbar war es nicht das gewesen, was er hatte hören wollen.

„Und zu welchem Völkerstamm zählst du dich?“, fragte er deswegen direkt an Tess gewandt, diese ignorierte die Frage jedoch komplett und antwortete einfach nicht, sondern aß weiter. „Wie alt bist du eigentlich? Zwölf?“

„Ray“, wies Fraser Vecchio kurz auf seine Manieren hin, wurde jedoch unterbrochen.

Auf der Straße brach Tumult los. Etwas splitterte, eine Frau schrie und ein Wagen brauste davon.

Fraser und Tess sahen fast gleichzeitig alarmiert auf, drehten die Köpfe zueinander und meinten zugleich:

„Glas!“

Mr Lee war drauf und dran ihnen noch Gläser zu bringen, Fraser sprang jedoch, nach seinem Hut greifend, auf und lief zum Fenster.

„Entschuldigt.“

„Oh nein, Benny. Nicht wieder durchs Fenster“, konnte Vecchio noch rufen, während Tess dem Mountie verwirrt hinterher sah und dieser das Fenster bereits geöffnet hatte und dadurch entschwunden war. „Das macht der ständig. In Kanada scheint's keine Türen zu geben.“

„Da lang, bitte“, bat Mr Lee, als auch Vecchio und Tess sich erhoben und deutete auf den normalen Ausgang.

Vecchio lief durch den Gastraum, Tess steuerte jedoch auf das Fenster zu und stand bereits auf dem Sims, noch bevor Vecchio überhaupt bemerkt hatte, dass sie nicht mehr hinter ihm war. Sie sah nach unten und erspähte, wie Fraser über seine Schulter abrollte und beinahe von einem davonrasenden Fahrzeug erfasst worden wäre. Er rannte los um die Verfolgung aufzunehmen und einen beherzten Sprung später, fand Tess sich in der Markise des Ladens wieder, machte an dessen Ende eine Rolle und landete glücklicherweise direkt in Vecchios Armen, der gerade aus dem Restaurant gestürmt kam.

„Ray, eine Entführung“, machte sie ihn auf das Geschehene aufmerksam, als er sie völlig perplex auf dem Gehweg absetzte. „Ruf Verstärkung.“

Dann nahm Tess die Beine in die Hand und der Nachtwind wehte ihr um die Ohren, als sie der roten Uniform folgte, die gerade um die nächste Ecke bog.

„Hier 342. Wir brauchen Verstärkung“, hörte sie Ray noch in sein neumodisches Funktelefon brüllen, dann war sie außer Hörweite.

Die Verfolgung führte sie durch diverse dunkle Seitengassen und als sie um eine weitere Ecke bog, dachte sie, sie hätte die Spur verloren. Der Fluchtwagen und der Mountie waren einfach verschwunden. Scheiße. Der Mann hatte aber auch ein Tempo drauf. Bei Gelegenheit würde sie ihn fragen, ob er mal mit ihr Joggen ging.

An einem Abstellplatz für Mülltonnen kam sie schliddernd zum stehen und sah die Feuerleiter einer Hauswand empor, während sie sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht strich und zu einem Knoten im Nacken band.

Dort stand, im zweiten Stock und mit sich und der Welt im Einklang, der verlorene Mountie und lauschte mit geschlossenen Augen in die Nacht.

Wenn Tess den Anblick seltsam fand zeigte sie es nicht, sondern wartete ruhig bis er wieder über die Feuerleiter, einen Maschendrahtzaun und diverse Mülltonnen zu ihr herunter geklettert kam. Er schien überrascht sie zu sehen und fragte:

„Du bist mir gefolgt?“

„Na klar“, gab sie zu verstehen und boxte ihn in den Oberarm. „Bist doch schließlich so was wie ein Hobby.“

Da er den Witz nicht verstand und wie ein Auto schaute, räusperte Tess sich und lenkte das Gespräch wieder auf wichtige Themen.

„Hast du was Brauchbares gehört?“

„In der Tat“, gab Fraser zu verstehen und sie liefen den Weg zurück, den sie vorher gerannt waren.

„War es ein 'Quiiiiieeetsch'?“

„Nein, es war vielmehr ein 'Wuuusch, Wuuusch', gefolgt von einem etwas höheren Ton“, erklärte der Kanadier und schien selber etwas irritiert über ihre Frage, doch Tess nickte nur verstehend und machte den Eindruck, als wäre dies die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Stumm gingen sie ein paar Blocks nebeneinander her, bis Tess plötzlich fragte:

„Benny?“

„Ja?“, hörte der Mountie auch bei ihr auf diese Anrede und sah sie mit großen Augen von der Seite her an.

„Kann dein Wolf Lippenlesen?“
 

~ Ende der 3. Runde ~



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