Im Auge des Sturms, III.
In den folgenden Wochen war Belphegor fast nie allein. Irgendjemand hielt es immer für nötig, ihn zu begleiten, und sie wechselten sich immer ab. Als hätten die Arschlöcher sich hinter seinem Rücken einen Schichtplan überlegt, um ihm ständig auf den Fersen zu sein, und um alles zu beobachten, was er tat.
Aber an sich tat Belphegor nicht besonders viel. Er ging oft schwimmen oder tauchen, verbrachte viel Zeit damit Tiere im Wasser zu studieren. Im Wasser zu bleiben tat gut. Die Halluzinationen blieben zwar bei ihm, aber sie zogen sich nicht um und waren nicht besonders beweglich, zumindest an guten Tagen. An schlechten Tagen gingen sie manchmal tatsächlich mit ihm schwimmen, aber normalerweise konnte er unter Wasser herumhängen und sah im Augenwinkel komplett angezogene Vollpfosten um ihn herumschweben, das war nicht besonders eindrucksvoll.
Er aß viel, weil das seine Hände beschäftigt hielt, und weil das Essen gut war. Nicht, dass er besonders hohe Ansprüche an Essen hatte. Als Kind war er nur das Beste gewöhnt gewesen, aber das hatte Fast-Food-Müll in seinen Augen nur noch verlockender gemacht, und nun aß er praktisch so gut wie alles.
Und wenn seine Laune drohte, abzustürzen, brachte er jemanden um. Kleine Fische, unbedeutende Menschen. Randfiguren im großen Spiel der Welt. Vermutlich hatte keiner von ihnen den Tod verdient, aber die Welt war nicht fair und man bekam nicht immer was man verdiente. Er hinterließ keine Spuren, nie. Früher hatte er hin und wieder eines seiner Wurfmesser da gelassen, oder ein Stück Draht, oder sogar ein ganzes Varia-Wappen, einfach um Leute wissen zu lassen, dass sie sich mit den falschen angelegt hatten. Signaturen waren wichtig gewesen in einem Verein wie der Varia.
Jetzt waren Signaturen nicht mehr wichtig. Bisher wusste niemand, dass Prince the Ripper in Kuba war und sich hier die Sonne aus dem Arsch scheinen ließ, und wenn es nach Bel ging, konnte das auch so bleiben. Er vermisste es zwar ein bisschen, dass Leute ihn erkannten und vor ihm kuschten wenn er sie nur angrinste, aber sich hier zu erkennen zu geben wäre zu gefährlich. Viel zu viel Stress und Aufwand, den er allein nicht auf sich nehmen wollte.
Und das war er ja jetzt.
Allein.
Abgesehen von Rasiel natürlich. Manchmal Mammon, immer noch. Manchmal auch seine Eltern, und Mitarbeiter im Schloss, an die er sich noch erinnerte.
Sie alle waren tot und hielten es trotzdem für nötig, ihn hier zu belästigen, ihn zu beobachten bei allem was er tat. Rasiel lachte ihn meistens aus, still, tonlos, weil sie keine Stimmen hatten, aber Mammon und seine Eltern waren schlimmer. Mammon und seine Eltern sahen enttäuscht aus.
Hin und wieder zog er in Erwägung, sich unters Volk zu mischen. Unters Unterwelt-Volk. Sich einen neuen Namen machen, irgendeinen, nur nicht Prince the Ripper. Er war ein guter Auftragsmörder, schon immer gewesen, und Menschen wie er wurden immer gebraucht.
Aber es fühlte sich nicht richtig an. Noch nicht, dachte er, vielleicht. Früher oder später musste er wieder irgendwo anfangen. Unglücklicherweise hatte er nicht unendlich Geld; die Varia hatte ihn sehr gut bezahlt, aber Belphegor gab gern viel aus und irgendwann würde er an die Grenzen seines Budgets stoßen.
Aber im Moment war die Zeit noch nicht gekommen. Die Unterwelt feierte den Weggang der Varia. Das wusste er. Manchmal fragte er sich, ob auch Squalo und Xanxus davon gehört hatten, und wie viele Menschen deshalb starben. Mit ihnen waren viele gefährliche Mafiosi aus dem Weg geräumt, und die Vongola wirkte geschwächt.
Ob letzteres stimmte, wusste Belphegor nicht, und es war ihm auch fürchterlich egal. Die Vongola hatte ihn nie groß interessiert. Sie hätte ihn interessiert, hätten sie die Ringkämpfe gewonnen, aber so war alles beim Alten geblieben und die Varia war sein einziges Zuhause gewesen.
Na ja.
»Shit happens«, sagte Belphegor zu seinem Kissen. Überraschenderweise antwortete es nicht, aber Bel war zufrieden damit, dass auch sonst niemand im Raum seinen Senf dazugeben musste. Keine Halluzinationen, im Moment. Ein Augenblick der Ruhe.
Sein Handy vibrierte.
Bel hatte keinen Klingelton, weil ihn nie jemand anrief. Als er noch gearbeitet hatte, hatte es öfter mal Kurznachrichten gegeben, sonst kaum etwas. Der einzige, der ihn manchmal angerufen hatte, war Luss gewesen, und dann war er für gewöhnlich einfach nicht rangegangen. Irgendwann hatte er Lussurias Nummer einfach gelöscht.
Er hatte keine Ahnung, wer ihn jetzt anrufen sollte, vielleicht war es einfach nur irgendeine Telefonrundfrage. Faul drehte er sich auf die andere Seite und fischte sein Handy zwischen den Laken hervor, um das Display zu checken.
MAMA ruft an.
Sollte das ein verdammter Scherz sein.
Belphegor konnte sich nicht daran erinnern, jemals jemanden als „MAMA“ in seinem Handy gespeichert zu haben. Wen denn schon?
Aber es musste eine eingespeicherte Nummer sein, sonst würde er den dämlichen Namen ja nicht sehen.
Was zur Hölle.
War das Teil der Halluzinationen? Hatte er nun Wahnvorstellungen darüber, dass seine Mutter ihn anrief? Er konnte das Scheißteil vibrieren hören, hieß das, seine Halluzinationen breiteten sich auch auf sein Gehör aus?
Und viel wichtiger, sollte er rangehen?
Während er noch überlegte und sein Handy mit einer Mischung aus Panik und Ärger anstarrte, hörte es auf zu vibrieren. Stattdessen bekam er eine SMS, weil ihm jemand auf die Mailbox gesprochen hatte.
Was zur Hölle.
Zugegeben hätte er es niemals, aber seine Hand zitterte ein wenig, als er seine Mailbox aufrief und sich das Handy ans Ohr hielt, halbherzig vorbereitet auf eine akustische Wahnvorstellung von seiner enttäuschten aber sehr toten Mutter.
»Beeeeel-chaaaaan!«
Oh.
Das war nicht seine Mutter.
Jedenfalls nicht seine leibliche.
»Ich wollte nur hören, wie es dir mittlerweile geht! Wir haben schon so lang nicht mehr gequatscht! Na ja, ich versuch’s später nochm–«
Bel schnitt der Nachricht das Wort ab und rief stattdessen die Nummer an, sein Gesichtsausdruck mittlerweile pures Missfallen.
»Beeel–!«
»Ich hatte deine Nummer gelöscht.«
»Ja, das war furchtbar! Also hab ich sie wieder eingespeichert.«
»Du hast dich selbst als „MAMA“ auf meinem Handy eingespeichert.«
»Ja!«
»Ohne dass ich’s bemerkt hab.«
»Du wirst mir doch nicht böse sein, oder?«
Manchmal fand Bel es schwer, sich daran zu erinnern, dass dieser Mann Menschen tötete und flachlegte.
»Vergiss es. Was willst du?«
»Oh, ich wollte nur hören, wie es dir so ergangen ist. Immerhin hab ich seit Wochen nichts mehr von dir gehört, was treibst du so?«
Bel schwieg und sah aus dem Fenster. Wie war es ihm ergangen? Nicht so pralle, fand er.
»Ich bin okay«, sagte er. »Bin nach Kuba geflogen und häng seitdem in ‘nem Hotel rum.«
Irgendwie armselig, dachte er, dass er nach Wochen immer noch im Hotel lebte. Er könnte woanders hinfliegen, oder sich hier eine Wohnung besorgen. Aber irgendwie bekam er ja den Arsch nicht hoch.
»Oooh, das klingt wunderbar«, meinte Lussuria.
Pause.
»Was machst du so?«, fragte Bel. Das mindeste, was er tun konnte, war vorzugeben, Lussurias Leben interessierte ihn, schätzte er.
»Och, ich bin noch in Europa, ich nehm hier und da ein paar Aufträge an, um mich über Wasser zu halten. Ist ganz schön, ich hab Paris gesehen!«
»Paris ist hässlich.«
»Ja, ein bisschen.«
Die Spur eines Lächelns huschte über Belphegors Gesicht, während er das Strandleben außerhalb seines Fensters betrachtete. »Ich hab überlegt, ob ich hier auch wieder ins Business einsteige«, sagte er langsam. »Aber ich bin mir nicht sicher. Fühlt sich komisch an.« Ohne die Varia. Ohne euch. Bel wollte niemanden enttäuschen, oder verraten, dachte er, eine Sekunde lang, bevor er den Kopf schüttelte. War ihm doch egal, wen er enttäuschte oder verriet. Die Varia hatte keinen besonderen Platz in seinem Gewissen oder gar Herzen, wenn dort irgendjemand mit seinem Handeln nicht einverstanden war, konnte es ihm gepflegt am Arsch vorbeigehen. Niemand in der ehemaligen Varia war wichtig genug, um seine Taten zu beeinflussen. So war das.
»Ach, Schätzchen«, sagte Luss, »du solltest tun, was dich glücklich macht.«
Und schon fühlte sich die Aussicht auf einen Job ein klein wenig unkomplizierter an.
Neben dem Fenster schwebte ein verschwommener, unechter Mammon, aber er sah nicht mehr allzu enttäuscht aus.