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Ich hasse dich, verlass mich nicht

Lavi x Yuu
von

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Von der Traufe...

Die Wolken hingen bedrohlich am Himmel. Schwarz und tief schienen sie nach der Erde greifen zu wollen. Donnergroll breitete sich über der Stadt aus, Blitze zuckten durch die Nacht und ließen flüchtige Blicke auf das Geschehene erhaschen.
 

Ein leblos wirkender Körper lag auf dem kalten nackten Stein am Boden, der Regen durchtränkte die Kleidung, die langen schwarzen seidigen Haare, spülte Blut aus ihnen heraus. Ein roter Rinnsal verlief auf dem Asphalt.
 

Jeder, der Yuu kannte, wusste, dass dieses Bild mehr als ungewöhnlich war. Er lag am Boden und regte sich nicht mehr. Sein Schwert lag weder in seiner Hand, noch in seiner Nähe, es war einfach nicht da. Seine Haare lagen wirr und offen um seinen Kopf herum auf dem Boden und klebten durch den Regen an ihm. Er war bei Regen überhaupt draußen. Er hatte sich in eine Falle locken lassen. Und er hatte ein Lächeln auf den Lippen...
 

Und doch war so einiges wieder typisch für ihn. Der Feind war ausgelöscht. Die Aufgabe war erledigt. Kein Kratzer verunstaltete seine geradezu schneeweiße Haut. Sein Wille zu kämpfen war ungebrochen. Die Stille, aus welchem Grunde sie sich auch ausbreitete, umhüllte ihn wie eine unsichtbare Mauer. Sein Körper lag nicht minder grazil und anmutig, wie er sich sonst bewegte und kämpfte. Und die Worte, die die Stille durchbrachen, drangen nicht bis zu ihm durch...

...in den Regen

Komui seufzte, während er hinter den Stapeln von Papier und Unterlagen auf seinem Schreibtisch aufsah, und massierte sich die Schläfen: „Großartig... wenn Kanda wach wird, dann läuft er doch Amok!“ Hilflos sah Allen erst Lavi, dann Komui an und murmelte entschuldigend: „Es ist doch nur ein Schwert.“ Ehe Komui, der ihn entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen ansah, überhaupt antworten konnte, stemmte Lavi die Hände in die Hüfte und schüttelte ungläubig den Kopf: „Du weißt doch selber, wie vernarrt er in Mugen ist. Ich meine... er gibt seinem Katana einen Namen! Hallo?“ - „Ja, schon gut. Wir müssen es holen, bevor er etwas merkt...“ Komui lachte trocken: „Du meinst, bevor er aufwacht?“
 

Es klopfte. „Auch das noch...“ schoss es Komui durch den Kopf. Genervt knurrte er jedoch: „Herein.“ Ein Mann trat herein, in einen weißen Kittel gekleidet, offensichtlich ein Arzt. Er sah kurz in die Runde und räusperte sich: „Es gibt Neuigkeiten von Kanda.“ Er sah Komui fragend an, der jedoch nur kraftlos und ein wenig abwesend nickte: „Sie können berichten, die beiden können es ruhig hören.“ Eigentlich wollte er es sich nicht eingestehen, aber er hatte Angst. Mit Kanda war einfach nicht gut Kirschen essen... wenn er einen „guten“ Tag hatte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was passierte, wenn dieser richtig sauer würde und das wäre der Fall, wenn er den Verlust von Mugen bemerkte.
 

Der Arzt nickte und begann zu erklären: „Wir haben alle Untersuchungen abgeschlossen. Körperlich geht es ihm so weit ganz gut, wie bereits vermutet. Vorhin ist er kurz aufgewacht...“ Der Arzt stockte. Schon jetzt wollte Lavi ihm den Hals umdrehen, der Mann druckste ihm eindeutig zu viel herum. Wieso konnte er nicht einfach sagen, was los war? Was hatte Yuu-chan? Dann, endlich, fuhr der Arzt fort: „Er hat eine schwere Amnesie und wusste nicht einmal mehr seinen eigenen Namen.“
 

Während Komui sein Gesicht in den Händen vergrub und Allen einen doch besorgten Gesichtsausdruck bekam, merkte Lavi, wie mit einem Schlag seine gesamten Gesichtszüge ineinander fielen. Kein Grinsen, kein Lächeln. Mit offenem Mund starrte er den Mann in Weiß an, ihm blieben sogar die Worte im Halse stecken und das sollte schon etwas heißen. Und als Lavi dachte, es könne nicht schlimmer kommen setzte der Arzt seine Erklärung fort: „Bei einem solch umfangreichen Gedächtnisverlust wissen wir nicht, ob er sich jemals wieder erinnern wird. Aber man kann es versuchen. Gegenstände, Orte, alles kann eine Erinnerung auslösen. Voraussetzungen sind allerdings absolute Ruhe dabei, es kostet viel Energie. Und ein Vorgehen, das ihn Schritt für Schritt an seine Erinnerungen heranführt. Ich habe die Sorge, er könnte ansonsten kollabieren.“
 

Allen und Lavi schwiegen, teils aus Schuldgefühlen, aus Betroffenheit und blankem Entsetzen. Allen beschlich eine Ahnung. Er konnte sich kaum vorstellen, dass es sich um einen Zufall handelte. Aber dazu brauchte er Beweise. Und er nahm sich vor, diese so rasch wie möglich aufzutreiben. Anhaltspunkte, Indizien, irgendetwas.
 

Komui sah auf und schnaubte angestrengt, er wusste nicht genau, was er tun sollte. Eine Weile grübelte er angestrengt nach, ehe er noch etwas abwesend murmelte: „Wir können ihn ja nicht für Tage oder Wochen auf der Krankenstation lassen... dem täglichen Ablauf können wir ihn aber auch nicht aussetzen...“ Er knurrte äußerst unzufrieden. „Was schlagen Sie vor, Doktor?“ Der Arzt überlegte kurz, ehe er seufzte: „Das Beste wird sein, wenn sich jemand um ihn kümmert. Jemand, der viel über ihn weiß, um ihn allmählich mit Dingen zu konfrontieren, die ihn zumindest erinnern könnten.“ Allen lachte trocken auf: „Der Einzige, der das könnte, hat alles vergessen...“ Plötzlich kehrte das gewohnte Strahlen auf Lavis Gesicht zurück und seine Augen verrieten, dass er eine Idee hatte. Er wandte sich an Komui: „Ich würde das gerne versuchen.“
 

Stille. Alle Augen waren skeptisch auf ihn gerichtet und verrieten, dass diese Idee bescheuert war. Doch Lavi war sich irgendwie sicher, dass sie bescheuert genug war, um funktionieren zu können. Seufzend musterte Komui den Rotschopf: „Das war ein Witz, oder? Du hast doch gehört, was der Doktor gesagt hat... langsam und nicht mit der Tür ins Haus fallen. Wie kommst du auf die Idee, dass das klappen könnte?“ Lavi grinste bis über beide Ohren und kicherte: „Ach, Yuu-chan wird durch meine Art sicher schnell erinnert, außerdem sind wir Freunde. UND: als angehender Bookman sollte ich es wohl schaffen ihm ein paar Dinge aus seiner Vergangenheit zu erzählen, oder?“ Allen schüttelte ungläubig den Kopf: „Du bist doch lebensmüde...“ Der Arzt zuckte lediglich mit den Schultern: „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss zurück zur Krankenstation. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich entschieden haben...“ Schnellen Schrittes verschwand er aus dem Büro und ließ die drei wieder alleine zurück.
 

Komui seufzte hilflos: „Ich glaube nicht, dass ich das sage, aber... auf deine Verantwortung können wir es ja probieren, Lavi. Aber BITTE sei vorsichtig! Wir können es nicht riskieren, dass Kanda kollabiert. Es ist schon schlimm genug, dass ihr zwei vorerst ausfallt... und das mit Mugen...“ Nun sah Allen auf und nuschelte schon fast schüchtern: „Ich könnte mich bei Aufträgen ja mal umhören und umsehen, vielleicht kann ich etwas herausfinden. Das dankt mir das alte Ekel zwar eh nicht, aber er ist leider unersetzlich...“ Zum ersten Mal, seit Allen und Lavi mit Kanda zurück waren, sah Komui etwas entspannter aus. Er nickte: „Das wäre toll. Danke, Allen.“ Er sah Lavi an. „Und falls es bei dir irgendwie Schwierigkeiten geben sollte, dann lass es mich sofort wissen.“ Doch, mal wieder, grinste Lavi nur breit: „Ach, das wird schon schiefgehen.“ Komui seufzte: „Genau das befürchte ich ja...“

Dornröschens Schnarchen

Lavi konnte nicht anders, er musste grinsen. Viel zu unwirklich erschien ihm die ganze Szene, in der er sich befand.

Ein helles lichtdurchflutetes Zimmer.

Weiße Gardinen, die sich seicht im Wind des Frühlings wogen.

Zwitschernde Vögel und Betrieb auf dem Gang waren zu hören, doch Yuu-chan beschwerte sich nicht. Wie auch? Er war noch immer nicht wach.

Lag in einem dieser unsagbar ulkigen Krankenhaushemdchen in dem flauschigen Bett.

Seine langen schwarzen Haare glitten ihm wie Wasser von den Schultern.

Seine blasse Haut war von einer leichten Gänsehaut übersät.

Lavi saß auf einem kleinen Stuhl direkt neben ihm und hielt seine Hand.

UND: Yuu schnarchte wie ein Sägewerk.
 

Lavi musste darüber einfach grinsen, und erst recht, wenn er daran dachte, es ihm vorzuhalten, sobald sein Yuu-chan die Augen öffnen würde. Komui und die Ärzte würden schon sehen. Es würde keine fünf Sekunden dauern, bis Lavi dann wieder sein geliebtes „Che.“ zu hören bekam. Dann würde Yuu mit abweisendem Blick feststellen, wie Lavi ihn angrinste und wütend „Baka usagi!“ schnauben. Irgendwie freute sich Lavi darauf. Auch wenn Yuu immer unnahbar tat, aber er ließ sich von dem aufgedrehten Rotschopf doch immer wieder, und das mit Leichtigkeit, auf die Palme bringen.

Das Schnarchen hörte plötzlich auf und wich einer Art Wimmern. Voller Vorfreude beugte sich Lavi über den fast zierlichen Japaner, ließ rasch seine Hand los und grinste ihm erwartungsvoll entgegen. In diesem Augenblick wirkte sein Yuu-chan so friedlich, wie er versuchte seine Augen zu öffnen. Seine Lider zitterten ein wenig. Irgendwie erfüllte dieser Anblick Lavi mit einer wohligen Wärme.

So entspannt und hilflos sah der Schwarzhaarige göttlich aus.

Ja, göttlich.

Anders konnte man diesen filigranen und zarten Anblick nicht beschreiben.

Zumindest Lavi nicht.
 

Yuu öffnete langsam seine Augen. Zunächst geblendet, von dem vielen Licht im Zimmer, knurrte er kurz, gewöhnte sich jedoch rasch an die Lichtverhältnisse. Dann erkannte er etwas, das ihm irgendwie... merkwürdig erschien.

Ein rothaariger Wirrkopf grinste ihn über das ganze Gesicht an.

Wer war der Typ?

Was grinste der so breit?

Wo befanden sie sich?

Wie war er hergekommen und überhaupt...

Wer war er eigentlich selbst? Er hatte doch einen Namen... aber er fiel ihm einfach nicht ein...

Der Rotschopf grinste noch immer und lachte heiter: „Na, Yuu-chan? Erkennst du mich noch? Du hast geschnarcht, wie ein Bär im Winterschlaf.“ Dem Schwarzhaarigen schoss die Röte ins Gesicht. Yuu-chan? Was war das denn für ein wirres Gerede? Etwa so etwas wie ein Name?

Nein, er erkannte diesen Typen NICHT!

Geschnarcht? Na großartig, wie peinlich war das denn?
 

Lavi fiel sofort auf, dass sich die Gesichtsfarbe seines Freundes änderte. Seit wann wurde Yuu denn rot? Das hatte es noch nie gegeben, seit er ihn kannte nicht. Und wieder verlor der Rothaarige sein Grinsen schlagartig, als der Japaner zu sprechen begann: „Ich entschuldige mich, aber ich wusste nicht, dass ich schnarche. Das ist mir, ehrlich gesagt, jetzt sehr unangenehm, da ich Sie nicht einmal kenne...“

„Herzlichen Glückwunsch!“ schoss es Lavi durch den Kopf. „Zum ersten Mal in deinem Leben hast du es doch glatt geschafft mich mundtot zu machen...“

Nackte Angst

Es war bereits Abend und dämmerte, als Lavi und Yuu durch die Gänge des Ordens marschierten. Ganz nach Komuis Anweisung hatten sie gewartet, bis sich der Betrieb gelegt hatte und der Schwarzhaarige nicht sofort mit zig möglichen Dingen in Kontakt kam, was ihn möglicherweise mit zu vielen Erinnerungen auf einmal konfrontiert hätte.

Zumindest, dachte Lavi, hatte der Schwarzhaarige sich mit dem Gedanken angefreundet, dass er Yuu Kanda hieß und dass die beiden Freunde waren. Auch die vorläufige Ausrede, er habe durch einen Unfall sein Gedächtnis verloren, stimmte den Japaner vorerst ruhig.
 

Noch immer in dem unmöglichen Krankenhaushemdchen gekleidet, und ungeschickt seinen Hintern zu bedecken versuchend, seufzte Kanda: „Das ist alles so fremd hier...“

Lavi sah erschrocken auf.
 

Erst jetzt fiel ihm auf, wie ausgiebig er hinter dem Schwarzhaarigen hergelaufen war und seinen Blick einfach nicht von dessen teils entblößten Hintern nehmen konnte. Um einigermaßen auf klare Gedanken zu kommen, legte er Yuu kurzerhand seinen Mantel über die Schultern, schloss auf und lächelte ihn aufmunternd an: „Keine Sorge, Yuu-chan. Das wird schon wieder. Ich bringe dich auf dein Zimmer, da wirst du dich sicher wohler fühlen.“

Yuu nickte und lief schon wieder rot an: „Danke... auch für den Mantel.“ Irgendwie war dem Rotschopf dieser neue Kanda unheimlich.

Der war ja richtig.... nett!

Und unverschämt niedlich!

Zurückhaltend.

Dankbar.

Und mit einem verboten knackigen Hintern.
 

Erleichtert stellte Lavi fest, dass sie ihr Ziel erreicht hatten und blieb stehen. Yuu stoppte ebenfalls und sah ihn fragend an: „Hier ist also mein Zimmer?“ Grinsend nickte der Rothaarige: „Jawohl, dein ganz persönliches Reich.“ Unentschlossen blickte Kanda zwischen Lavi und der Tür hin und her. Mit zittrigen Fingern legte er die Hand an die Klinke und drückte sie hinunter. Mit einem leisen Knarzen öffnete sich die Tür und Yuu tapste vorsichtig einen Schritt hinein.
 

Eine ganze Weile passierte nichts und Lavi fragte sich bereits, was der Japaner da bloß im Halbdunkel machte, bis er diesen hilflos fragen hörte: „Bitte lach jetzt nicht, aber... Weißt du zufällig, wo der Lichtschalter ist?“ Leise schmunzelte der Rothaarige, stellte sich hinter Yuu und griff beherzt an ihm vorbei. Sich nach vorne beugend ertastete er den Lichtschalter und legte ihn um. Im Licht sah er, wie er sich an Kandas Rücken gepresst hatte, ganz vergessend, dass dieser noch dieses Hemd trug, das seinen Hintern...

Der Rothaarige trat einen Schritt zurück und grinste das sich zu ihm drehende und errötete Gesicht breit an: „Tut mir Leid, ich wollte nicht aufdringlich werden, war keine Absicht.“
 

Und dann tat der Japaner etwas, das Lavi den letzten Verstand raubte: er lächelte ihn mit rosa gefärbten Wangen schüchtern an und hauchte: „Schon okay.“ Der Rothaarige spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Seine Wangen glühten und er kämpfte gegen den Drang, diese Schönheit vor sich in seine Arme zu schließen. Oder mehr...

Wie so oft schon.

Und wie ebenso oft siegte wieder die Angst. Er kannte seinen Yuu-chan lange genug, um zu wissen, dass dieser Wunsch völlig absurd war.

Kanda wusste es nur nicht mehr, dass er alles und jeden hasste, das war alles.

Und alles, was Lavi nun tun würde, von dem er wusste, dass der Schwarzhaarige es nicht nur angeblich hasste, sondern mit Haut und Haaren verabscheute, würde ihn einen Kopf kürzer werden lassen.

Zumindest sobald Yuu sich erinnerte.

Also grinste Lavi mal wieder: „Dann schau dich mal um, Yuu-chan.“
 

Fast ehrfürchtig und nicht weniger grazil schritt der Schwarzhaarige langsam in das Zimmer, blickte sich wie ein scheues Reh genau um.
 

Lavi flitzte derweil an ihm vorbei und öffnete kurzerhand den Kleiderschrank. Er musste Yuu einfach etwas anderes zum Anziehen geben, sonst würde er noch über diesen herfallen. Von dem Japaner ungesehen raufte er sich die Haare. In was war er nur geraten.
 

Hatte er vorhin bereits gedacht, Yuu sähe göttlich aus, so war er sich nun sicher: irgendwie WAR er es auch.

Dieser Hintern alleine...

Die, Kanda nicht störenden, offenen wunderschönen und betörend duftenden Haare.

Diese Haut, schimmernd wie reiner Alabaster.

Dieser leichte Rotschimmer auf seinen Wangen.

Und diese filigranen Lippen, deren Lächeln Lavi niemals wieder vergessen konnte oder wollte.
 

Den Kopf schnell schüttelnd griff er rasch nach einem weißen Hemd, einer schwarzen Hose und ein Paar Shorts. Das würde helfen. Ganz sicher.

Er schloss den Schrank rasch wieder und blickte vorsichtig zu Kanda hinüber, als ihm das Blut in den Adern zu gefrieren drohte, er die Kleidung achtlos zu Boden fallen ließ vor Schreck.
 

Yuu stand vor ihm, starrte ins Nichts und zitterte nicht nur einfach, er bebte am ganzen Leib. Seine Augen waren weit aufgerissen und in ihnen war etwas deutlich zu erkennen, das Lavi wieder noch nie bei dem Schwarzhaarigen gesehen hatte: Angst.

Die pure Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Yuu-chan...“ keuchte er, trat vorsichtig an den Japaner heran und stellte sich vor ihn. Besorgt packte er ihn bei den Schultern und versuchte ihm in die Augen zu sehen.

„Yuu-chan, was ist mit dir?“ Keine Antwort, kein Blickkontakt.

„Yuu?“ Nichts.

„YUU!“ Er schüttelte ihn ein wenig. Lavi bekam allmählich Angst, doch nichts.

„YUU-CHAN! WAS IST?“
 

Der Rotschopf beobachtete, wie sich langsam ein trüber Schleier über die Panik in den Augen seines Freundes legte.

Wie ein Nebel ergrauten seine Pupillen.

Er blickte in Lavis Richtung, halb anwesend, halb fern von allem.

Noch immer zitterte sein Körper wie Espenlaub.

Dann, für Lavi nach einer gefühlten Ewigkeit, wisperte Yuu: „Dieser Ort ist so kalt...“ Innerlich raufte der Rotschopf sich die Haare. Was sollte das jetzt heißen? War Yuu einfach kalt? Aber wieso dann dieses Entsetzen in Kandas Gesicht, das ihm selbst den Magen herumdrehte?

Verzweifelt legte er einfach die Arme um seinen Gegenüber, der langsam weniger zitterte. Lavi atmete erleichtert auf. Und doch war ihm das ganze hier unheimlich.
 

Nur leise hörte er die zittrige und brüchige Stimme des Schwarzhaarigen: „Bitte... bring mich aus diesem schrecklichen Zimmer...“

Lavi löste sich leicht von ihm und vergaß sämtliche Angst vor den möglichen Auswirkungen, die das ganze nach sich ziehen könnte, sobald aus diesem Häufchen Elend wieder Yuu Kanda werden würde. Er legte eine Hand sanft auf die hell schimmernde Wange und lächelte aufmunternd: „Aber es ist doch dein Zimmer, was ist so schrecklich daran?“

Und plötzlich bekam es Lavi selbst langsam mit der Angst zu tun.

Eine silberne Träne erreichte seinen Daumen, der beruhigend über Yuus Wange strich.

Und dann noch eine.

Und noch eine...

Immer mehr...

Flehend sah der Schwarzhaarige auf und schüttelte leicht den Kopf: „Hier ist es nur kalt und man spürt überall den Tod, merkst du das nicht? Ich mag es hier nicht...“
 

Wortlos nickte Lavi und lächelte den Kleineren warm an. Äußerlich.

Innerlich war der Rotschopf mehr als aufgewühlt. Kanda mochte sein heiliges Zimmer nicht? Fand es schrecklich? Er musste morgen dringend mit Komui darüber sprechen.

Doch nun, in diesem Augenblick, war nur eines wichtig: er musste sich um seinen Yuu-chan kümmern.

Rasch hob er die Kleidung auf und schob den Japaner lächelnd auf den Flur: „Dann komm mit, ich bringe dich auf mein Zimmer, vielleicht gefällt dir das besser.“ Er machte das Licht aus, schloss die Tür und sah seinen Freund an.

Dieser hatte endlich aufgehört zu zittern und tat es doch glatt schon wieder: er lächelte. Dankbar. Warm... Und er hauchte: „Danke, Lavi.“

Schokoladenpudding und Butter

Die Luft war schmerzhaft kalt, sie kratzte nicht einfach in seinem Hals, sie schnitt ihn von seinen Lungen aus innerlich auf. Er kniete auf dem harten und nassen Asphalt, seine Hände zu zitternden Fäusten geballt. Der Regen prasselte fast hämisch auf ihn herab, peitschte auf seinen Rücken, um schließlich von seinen Haaren, seiner Nasenspitze, seinen Armen und seinen Beinen doch ihren Weg auf die Erde zu finden.
 

Er sah auf, in ein lachendes Gesicht. Doch er wusste einfach nicht, wer ihn dort so auslachte. Eigentlich war es ihm auch egal, er fühlte sich einfach nur beschämt. Aber weshalb?
 

Schwerfällig und unter großer Anstrengung richtete er sich auf, erhob seinen Körper und versuchte dem peitschenden Regen Widerstand zu leisten. Mit wackeligem Stand ignorierte er den körperlichen Schmerz. Er wusste wieder nicht, wieso, aber er würde mit erhobenem Haupt hier stehen und nicht, wie ein reuiger Hund am Boden kriechen. Egal was nun passieren würde.
 

Mit weit weniger entschlossenem Blick als gewollt sah er auf. Seine Augen waren glanzlos, vernebelt und leer. Sie spiegelten in keiner Weise mehr sein inneres Feuer, seine Willenskraft und seinen Kampfgeist wieder. Sie zeigten sein wahres Wesen. Hilflos, einsam und müde. Eine Seele, die nichts weiter war, als ein Schatten seiner selbst. Eine Seele, die sich sicher war, alles Leid dieser Welt gesehen, gespürt und erlebt zu haben.
 

Das lachende Geschöpf trat an ihn heran, musterte ihn. Tauchte genussvoll in die Welt seiner Augen ein und ergötzte sich eine Weile daran. Dann hörte er die Stimme des Fremden, sie klang irgendwie schummerig, verhallte direkt nachdem sie erklang und flüsterte gleichermaßen, wie sie schrie: „Entscheide dich. Soll ich dein Leiden beenden?“
 

Er sah den Fremden an. Müde nickte er einfach, ohne groß über die Worte nachzudenken. Ehe er etwas weiteres tun konnte, hörte der peitschende Regen plötzlich auf zu schmerzen. Sein Körper fühlte sich langsam leicht und gestärkt an. Eine ungemeine Energie strömte durch seine Adern. Und seine trüben Augen erkannten, was der Preis sein würde.
 

Die Hand schnellte auf ihn zu und bohrte sich durch seine Brust. Sein Herz, es verließ ihn von dieser Hand umschlossen. Mit einem Arm in seiner Brust, deren Hand an seiner Hinterseite verächtlich sein Herz auf den regennassen Boden fallen ließ, klärten sich seine Augen wieder auf. Der Arm zog sich aus ihm zurück. Die Lücke in seiner Brust schloss sich augenblicklich. Er sah auf den Fremden. Sein bissiger, kalter und kampflustiger Blick durchbohrte diesen. Dann verließ nur noch ein einziges Wort seine eigenen Lippen: „Che!“
 

Yuu richtete sich ruckartig auf, seine Augen weit aufgerissen und leicht benebelt. Er sah sich panisch um. Die Sonne schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in ein angenehm warmes Licht. Die Vögel zwitscherten und ein angenehmer frischer Frühlingswind schlich sich durch die Gardinen hindurch, um seicht über seine Haut zu streichen.
 

Er wischte sich über das Gesicht und erinnerte sich langsam an den Vorabend. Lavi hatte ihn hierher gebracht, das war Lavis Zimmer. Aber wo war der Rothaarige?
 

Mit zittrigen Beinen glitt der Schwarzhaarige aus dem Bett. Glücklicherweise trug er dieses alberne Krankenhaushemd nicht mehr, sondern einfache schwarze Shorts und ein weißes Shirt. Er schlurfte zum Fenster, ließ seine Hand von dem seidigen Stoff der Gardine kitzeln und schob sie vorsichtig zur Seite. Ihm war es, als versuche er die Luft selbst zu bewegen, so zart war der Stoff.
 

Sein Blick wanderte über den Park. Die Blätter der Bäume und das Gras reckten sich durstig und hungrig der Sonne entgegen, wogen sich im seichten Wind und belohnten ihn mit einem satten und saftigen Grün. Zärtlich legte Yuu eine Hand an die Fensterscheibe und sog diesen Anblick völligen Friedens richtig in sich auf. Es ließ ihn sogar völlig den beängstigenden und schrecklichen Traum vergessen, weshalb er überhaupt wach geworden war.

Hinter ihm öffnete sich die Tür. Langsam drehte er sich um.
 

Lavi schloss die Tür hinter sich und lächelte den Japaner an: „Hast du gut geschlafen, Yuu-chan?“ Dieser nickte leicht lächelnd: „Ja, danke.“ Der Rotschopf genoss einen Moment den Anblick, wie die schwarzen Haare seines Freundes sich leicht mit dem lauen Wind wogen. Sie umspielten schüchtern sein Gesicht und seine Hüften. Ein Anblick absoluter Perfektion, absoluter Schönheit und absoluter Unschuld.

Der Rotschopf schüttelte unmerklich den Kopf und erinnerte sich daran, was Komui ihm gesagt hatte.
 

{Flashback}
 

„Gut, wir müssen hoffen, dass sich Kanda so schnell wie möglich und so schonend wie nötig erinnert.“ Lavi schüttelte den Kopf, lächelte aber: „Mach dir keine Sorgen. Ich habe schon ein paar Ideen, was ich ihm zeigen kann. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ - „Mag sein, aber genau die haben wir eigentlich nicht. Fang heute am Besten mit der Cafeteria an. Ich werde Bescheid geben, dass ihr zwei erst nach den offiziellen Essenszeiten kommen werdet. Vielleicht ist das ein Anfang.“ - „Bestimmt. Wenn der seine scheußliches Essen verputzen kann, dann erinnert er sich bestimmt!“ Guter Dinge wollte Lavi das Büro verlassen. Komui hielt ihn jedoch noch einen Augenblick zurück: „Warte Lavi, eine Sache noch.“ Der Rothaarige war in der Tür stehengeblieben. Komui wirkte angespannt: „Behalte diese Persönlichkeitsveränderung bitte weiter im Auge. Ich weiß nicht richtig, was ich davon halten soll. Vielleicht bedeutet es nichts, vielleicht ist es aber auch von großer Bedeutung.“
 

{Ende Flashback}
 

Den Schwarzhaarigen anlächelnd gluckste Lavi vergnügt: „Du hast bestimmt Hunger, oder?“ Yuu hob eine Hand und hielt sie sich elegant vor den Mund, ehe er kicherte: „Ja, in der Tat, ich habe einen Bärenhunger.“
 

Innerlich seufzte Lavi auf, immer mehr merkte er, wie es ihm schwerer fiel diesem neuen Kanda, diesem Yuu zu widerstehen. Er war alles das, was sich der Rothaarige nur zu träumen gewagt hatte, wenn überhaupt. Ein wenig verträumt sah er seinem Freund dabei zu, wie er sich die Hose und das Hemd anzog. Und noch immer keine Anstalten machte, sich die Haare wieder zu einem strengen Zopf zu binden.
 

Statt dessen trat er an Lavi heran und nickte: „Ich wäre so weit.“ Lavi grinste: „Willst du wirklich mit offenen Haaren herumlaufen?“ Der Japaner lief schlagartig rot an und stotterte: „Oh... also... ich...“ Er sah sich hilflos um. „Ich wusste nicht, dass meine offenen Haare so stören...“ Entschuldigend hob Lavi die Hände, während Yuu nach einem Haarband zu suchen schien. Der Rothaarige kicherte unsicher: „Nein, so war das nicht gemeint. Du hast sie nur immer zusammengebunden früher. Ich habe schon immer gesagt, dass dir die offenen Haare viel besser stehen.“
 

Kanda sah auf und lächelte: „Wirklich?“ Innerlich gab Lavi sich eine Ohrfeige. Das würde ihm der Japaner noch ewig vorhalten, doch er nickte, ebenfalls lächelnd: „Ja, absolut. Du siehst toll aus.“ Schüchtern schlug der Schwarzhaarige die Lider hinab und schmunzelte leise, ehe er dem Größeren einen Kuss auf die Wange hauchte und flüsterte: „Danke.“
 

Verlegen kratzte dieser sich am Hinterkopf und grinste: „Für dich doch immer, Yuu-chan.“ Das Blut schoss ihm in den Kopf und Lavi entschied sich, bloß rasch in die Cafeteria zu gehen, ehe die ganze Situation noch peinlicher werden würde. Eine Portion Soba und die Welt würde schon wieder ganz anders aussehen.
 

Da gerade Unterricht war, schlenderten Lavi und Yuu ziemlich einsam und verlassen durch die Gänge, bis sie eine ebenfalls fast menschenleere Kantine erreichten. Unsicher folgte der Schwarzhaarige seinem Begleiter zur Essensausgabe, wo ihnen wortlos, aber mit argwöhnischen und neugierigen Blicken zwei Tabletts gereicht wurden.
 

Lavi wusste Yuus Blick nicht ganz zu deuten, der das Essen auf seinem Tablett etwas irritiert zu begutachten schien. Scheinbar war der Groschen noch nicht gefallen. Grinsend kam ihm eine Idee. Er wandte sich an den Japaner und lächelte: „Wo möchtest du dich denn hinsetzen?“ Es war unmöglich, dass Kanda seinen Lieblingsplatz vergessen haben würde. Die verschleierten Augen des Schwarzhaarigen wanderten durch den leeren Saal und schienen alles genau zu inspizieren, ein Gefühl für jeden einzelnen Platz zu suchen. Dann ging er wortlos auf einen Platz am Fenster zu, von dem aus man auf die Bäume draußen blicken konnte.
 

Der Rothaarige blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen. Wenn es einen Platz gab, der das genaue Gegenteil des Lieblingsplatzes seines Freundes war, dann der, an dem der Schwarzhaarige nun saß und auffordernd zu ihm blickte. „Verdammt, das ist schwieriger, als ich gedacht habe!“ murmelte Lavi leise, während er zu Yuu ging und sich ihm gegenüber niederließ.
 

Verzweifelt setzte der Rotschopf nun seine ganze Hoffnung auf den Geschmack dieser ekeligen Nudeln, die MUSSTEN einfach einprägend genug sein. Voller neuer Vorfreude grinste er sein Gegenüber breit an: „Guten Appetit!“ Yuu lächelte wieder: „Danke, gleichfalls.“ Lavi konnte sich gar nicht auf sein Essen konzentrieren, viel zu neugierig war er auf den Augenblick, in dem Kanda „seine“ Nudeln aß. Dieser dokterte zunächst ein wenig hilflos, aber rasch immer sicherer, mit den Stäbchen in der Schüssel herum, bis er sich eine Portion davon in den Mund schob. Lavi frohlockte innerlich schon und grinste den Schwarzhaarigen noch immer an, knallte jedoch schmerzhaft mit dem Kopf auf die Tischplatte, als dieser plötzlich grinsend, JA! Grinsend, sagte: „Schmeckt viel besser, als es aussieht.“
 

Mit einer dicken Beule am Kopf schaute der Rothaarige auf: „Das ist dein absolutes Lieblingsessen, Yuu-chan! Daran musst du dich doch erinnern...“ Fürsorglich überging sein Freund diese Aussage und strich Lavi vorsichtig über die Stirn: „Hast du dir weh getan?“ - „Yuu, hast du mir eigentlich zugehört?“ Lavi wurde leiser. „Und nein, geht schon, ist nur eine Beule.“
 

Kichernd zog Yuu seine Hand zurück und sah Lavi an: „Ich habe doch gesagt, dass es lecker ist.“ Seufzend sah der Größere ihn besorgt an: „Weißt du denn, wie das Zeug heißt?“ Nach einer weiteren Portion Nudeln schüttelte der Kleinere den Kopf: „Nö.“ - „Sag mal, stört es dich denn nicht, dass du dich an nichts erinnerst?“ Kanda zuckte mit den Schultern: „Du bist lustig, woher soll ich das wissen, wenn ich vergessen habe, was ich mal wusste? Außerdem hat der Arzt mir gesagt, dass es eine Weile dauern könnte, bis ich alles wieder in Erinnerung rufen kann.“ Frustriert machte sich Lavi direkt über seinen Schokoladenpudding her und knurrte: „Aber bisher haben wir noch gar nichts erreicht.“
 

Wieder lächelte Yuu, dieses mal zuversichtlich: „Ich gebe mir Mühe, wirklich, aber bisher ist da einfach noch nichts.“ Sein Blick wurde traurig und die Mundwinkel wanderten langsam nach unten. „Ich weiß, dass ich dir zur Last falle. Du hast bestimmt besseres zu tun... du musst mir wirklich nicht helfen, wenn du das nicht möchtest.“ Lavi blickte auf und es zerriss ihn innerlich, wie traurig ihn diese trüben Augen ansahen. Beherzt strich er über Kandas Hand und lächelte: „So ein Quatsch, ich mache das gerne für dich. Du bist nur so anders, als vor diesem... Unfall. Das macht mir Sorgen.“
 

Scheu wandte der Schwarzhaarige seinen Blick ab und ließ seine zierlichen Finger zwischen die seines Gegenüber gleiten. Eine angenehme Wärme durchströmte ihn, eine Frage brannte ihm unter den Nägeln. Sollte er sie wirklich stellen? Er spürte, dass sie beide eine innige Verbindung hatten, doch er wusste dieses Gefühl nicht recht zu deuten.
 

Langsam wanderte sein Blick wieder zu dem Rotschopf und sah ihm in sein nicht verdecktes Auge. Dieser Glanz, dieses Leben darin kamen ihm so vertraut vor. Und doch spürte er auch eine gewisse vertraute Distanz zu diesem funkelnden smaragdgrünen Stern. Er entschied sich, diese Frage noch eine Weile für sich zu behalten. Statt dessen schob er vorsichtig seine andere Hand in Lavis Richtung und schmunzelte leise: „Nicht erschrecken, du hast da noch Schokolade im Gesicht.“
 

Lavi zitterte und sein Herz schlug aufgeregt, als dieser zarte Finger über seine Lippen und seinen Mundwinkel strich. Ein fast erschreckender Gedanke schoss ihm durch den Kopf: „Scheiß auf Kanda! Dieser Yuu ist mir tausend Mal lieber...“ Er lächelte verlegen, als der Schwarzhaarige seine Hand wieder zurückzog: „Tut mir Leid, ich habe schon immer mit vollem Körpereinsatz gegessen.“ Ehe die Hand mit dem Rest Pudding endgültig verschwand, hielt er sie am Handgelenk fest und zog sie zu sich zurück, ohne seinen Blick von den Augen seines Gegenüber zu nehmen. Sein Grinsen kehrte zurück, als Yuu knallrot anlief, während er gedankenverloren dessen Finger mit seiner Zunge von dem übrigen Pudding befreite. Der Japaner war wie Butter in seinen Händen.
 

Ein gewisses Gefühlsgemisch aus Glück, Triumph und Lust machte sich in Lavi breit, doch er konnte und wollte es nicht ignorieren, sondern genoss es eine Weile, während der Kleinere ihm gegenüber einfach die Röte nicht von seinen Wangen bekam.

Ein schöner Tag für Begegnungen der dritten Art

Am Abend saßen Yuu und Lavi im Grünen und genossen die letzten Sonnenstrahlen, die den ausklingenden Frühlingstag verabschiedeten. Goldenes Licht hatte sich über sie gelegt, das sich im Wind neigende Gras kitzelte über ihre Haut.
 

Lavi hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte gedankenversunken in den fast wolkenlosen Himmel. Auch der zuvor besuchte Trainingsplatz im Wald hatte nicht den gewünschten Erfolg mit sich gebracht. Er seufzte leise, doch sein Optimismus war ungebrochen. Er kannte den Schwarzhaarigen viel zu gut, um die Hoffnung auf sein altes Ego aufzugeben. Doch irgendwie musste er gleichermaßen eingestehen, dass er das neue Ego zu sehr genoss, als dass er es einfach übergehen könnte. Mit jedem Augenblick verlor der Rotschopf mehr die Lust, es überhaupt weiter zu versuchen.
 

Yuu hatte die Augen geschlossen und die Hände auf dem Bauch gefaltet. Er spürte mit einer gewissen Entspannung, wie der Wind über seinen Körper strich. So langsam wusste er wirklich nicht mehr, wieso der Rothaarige so versessen darauf war, dass seine Erinnerungen zurück kommen sollten. Irgendwie hatte der Japaner durch Lavis bisherige Worte das Gefühl, nun das genaue Gegenteil von dem zu sein, das er vorher gewesen war. Wieso sollte man einen solch schrecklichen Menschen unbedingt zurückhaben wollen? Wieso war er überhaupt so gewesen, wo er doch nun das Gefühl verspürte, wirklich glücklich zu sein? War er einst wirklich so unglücklich über etwas gewesen? Wenn ja, was war es bloß?
 

Seine Lider hoben sich widerwillig und sein Blick wanderte zu dem Rothaarigen. Es war ein friedlicher und wunderschöner Tag. Ebenso, wie es ein friedlicher und wunderschöner Anblick war. Yuu seufzte leise: „Du, Lavi?“ Der Angesprochene neigte den Kopf in seine Richtung und lächelte: „Ja?“ - „Wie... wie war ich früher so?“ Über die Frage überrascht richtete der Größere sich auf und überlegte einen Augenblick. Dann schloss er die Augen, zog seine Beine an sich heran und legte seine Arme darauf ab: „Weißt du, Yuu-chan, du warst einzigartig. Stolz, erhaben, mutig und ungemein stur.“ Er kicherte. „Du hast immer versucht den Schein zu bewahren, dass niemand an dich herankommt und du nichts und niemanden magst.“ Nun sah er dem Schwarzhaarigen in die Augen: „Und du hast alle davon überzeugt, nur mich nie. Ich habe immer gewusst, dass unter der harten Schale ein weicher Kern liegt.“
 

Yuu nickte, während er die Worte auf sich wirken ließ: „Verstehe.“ Er stockte. „Nein, eigentlich verstehe ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich so war... so ein Ekelpaket.“ Kichernd rückte Lavi näher an ihn heran, legte seine Hand auf die Schulter der Kleineren und schmunzelte vergnügt: „Mach dir keine zu großen Sorgen. Ich habe dich immer so gemocht wie du warst.“ Wie fremdgesteuert wanderte seine Hand zu dem hellhäutigen und weichen Hals. „Und doch hätte ich nie erwartet, was diese kalte und unfreundliche Maske zu verstecken versucht.“ Er strich eine Strähne hinter das Ohr des Schwarzhaarigen. „Denn du hast es nicht nötig, diese Seite an dir zu verstecken.“
 

Mit hochrotem Kopf presste er seine glühende Wange an die warme Hand des Rotschopfs und nickte leicht lächelnd, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt: „Ich.. ich mag dich auch, Lavi.“ Der Angesprochene sah Yuu in die Augen. Wie war das? Er hatte es tatsächlich gesagt. Nach all der Zeit hatte er es endlich einmal gesagt! Und er hätte es immer und immer wieder hören können. Sein Auge funkelte und leuchtete vor Aufregung. Seine Hand schmiegte sich an das Gesicht seines Freundes, sein Daumen strich ihm zärtlich über die Wange.
 

Die wie Alabaster schimmernden Lippen des Japaners zitterten leicht, ebenso wie sein ganzer Körper, während der Rothaarige sich langsam über ihn beugte. Sie lösten den Blick keinen Moment voneinander. Yuu legte seine Hand auf die von Lavi, die noch immer an seiner Wange ruhte. Eine angenehme Stille legte sich über sie. Die Luft schien regelrecht zu knistern, die Welt um sie herum versank in Belanglosigkeit. Nur dieser Moment schien zu zählen, dieser perfekte und wundervolle Augenblick.
 

Lavi senkte seinen Kopf noch ein wenig und spürte sein Herz gegen seine Brust hämmern. Er hatte es immer gehofft, dass Yuu ihn mochte, doch mit diesen Worten hatte er niemals gerechnet. „Ich... ich mag dich auch, Lavi.“ klang es in seinen Gedanken noch einmal nach. Sehnsüchtig blickte er auf die zarten Lippen, die noch immer leicht zitterten. Nur noch wenige Zentimeter... von einer schier unüberwindbaren Distanz waren nur noch wenige Zentimeter übrig geblieben.
 

Doch ehe sie sich richtig nahe waren, ertönte plötzlich eine Stimme, die angenehme Stille durchbrechend: „Lavi? LAVI?“
 

Rasch zog sich der Rotschopf von seinem Freund zurück und blickte auf: „Hier bin ich.“ Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren kam auf sie zu gerannt, ehe sie nach Luft schnappend vor ihnen stehenblieb. Keuchend lächelte sie: „Ich habe dich schon überall gesucht.“ Lavi grinste breit: „Tut mir Leid, wir haben Yuus Trainingsplatz aufgesucht und sind danach hier hängengeblieben...“ Die junge Frau sah den Japaner mit einem Blick an, der ihm verriet, dass sie sich doch Sorgen machte, obwohl in erster Linie Distanz dominierte. Sie nickte ihm knapp zu: „Und wie geht es dir, Kanda?“
 

Die beiden jungen Männer rappelten sich auf und Yuu sah sie verunsichert an: „Danke, mir geht es so weit gut... aber ich weiß deinen Namen nicht, tut mir Leid.“ Sie hob skeptisch eine Augenbraue und verschränkte die Arme: „Lenalee. Und das muss dir nicht Leid tun, hat es ja sonst auch nie.“ Beschämt wandte Yuu den Blick ab und begann allmählich zu verstehen, was Lavi vorhin gemeint hatte. Er fasste einen Entschluss. Es war ja nicht zum Aushalten, wie reversiert sie sich ihm gegenüber benahm. Also sah er auf und schaute sie wieder an. Freundlich lächelte er: „Es freut mich, dich erinnerungslos kennenzulernen.“
 

Während Lavi leise kicherte ließ Lenalee ihre Arme sinken und sah Kanda verständnislos an. Hatte sie da gerade richtig gehört? Eine ganze Weile wusste sie wirklich nicht, was sie sagen oder machen sollte. Erst die Worte des Rothaarigen holten sie in die Wirklichkeit zurück: „Sag mal, wieso hast du eigentlich überhaupt nach mir gesucht?“ Sie sah ihn an und haute sich selbst gegen die Stirn: „Au weia, das hätte ich fast vergessen. Mein Bruder wünscht dich zu sprechen.“ Sie blickte noch einmal kurz zu Kanda, ehe sie fortsetzte. „Und ich glaube, Bookman ist auch da.“ Die Gesichtszüge des Rotschopfs entgleisten regelrecht und er prustete: „Verdammt, da muss ich mich beeilen.“ Er rannte kopflos zum Gebäude und rief nur noch aufgeregt: „Bring Yuu-chan bitte auf mein Zimmer. Dankeeee!“
 

Nachdem die beiden ihm noch eine Weile nachgesehen hatten, schaute Yuu die junge Frau entschuldigend an: „Tut mir wirklich Leid, aber ich konnte mir den Weg einfach noch nicht merken...“ Ihr Blick war noch immer von Skepsis geprägt, doch sie schüttelte leicht den Kopf: „Macht nichts, Kanda. Komm mit, ich bring dich hin.“ Ohne weiter darüber nachzudenken marschierte sie los und fühlte sich mit dem Japaner hinter sich irgendwie nicht ganz wohl.
 

Auf dem Flur brach der Schwarzhaarige schließlich das eiserne Schweigen: „Sag mal, wieso nennst du mich eigentlich beim Nachnamen, ist das so üblich hier?“ Abrupt blieb Lenalee stehen und fiel fast um, als Yuu sie anrempelte. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn entgeistert an: „Machst du Witze?“ Eigentlich kannte sie die Antwort ja selber: Kanda machte NIE Witze. Seufzend schüttelte sie den Kopf: „Bis auf Lavi hat dich niemand beim Vornamen genannt! Weil uns unser Leben lieb ist!“ Vorsichtshalber trat sie einen Schritt zurück, nicht, dass er sich plötzlich doch noch erinnerte. „Du hast es unter massiven Drohungen strengstens verboten. Dass Lavi noch lebt, ist eigentlich schon ein Wunder an sich.“
 

Yuu merkte deutlich, dass sie angespannt war. Aus Angst. Er seufzte und nickte betrübt: „Entschuldige, das wusste ich nicht.“ Sie hatten ihn nicht einfach nur nicht gemocht, sondern richtig gehasst, wie es ihm erschien. Weder Freundschaft noch Respekt waren zu spüren, sondern einfach nur Angst und Verachtung. Er sah wieder auf und lächelte sie gequält an: „Da vorne den Gang rechts und dann dritte Tür links, richtig?“ Lenalee nickte: „Äh, ja, genau, aber...“ - „Dann finde ich den Rest des Weges alleine, danke.“ Er sah sie aus vernebelten und glasigen Augen an. „Ich will dich ja nicht länger bedrängen.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren marschierte er weiter und die junge Frau sah ihm kopfschüttelnd nach. Nun war sie verwirrt und ebenso neugierig, was wohl ihr Bruder mit Lavi zu besprechen hatte.
 

Entschlossen stapfte sie los, bis sie vor dessen Büro stand und platzte ohne anzuklopfen einfach herein. Komui sah auf und murmelte verwundert: „Hallo Schwesterchen...“ Auch Lavi und Bookman schienen von ihr eine Erklärung zu erwarten, so wie die beiden sie ansahen. Lenalee schloss die Tür hinter sich und murmelte: „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber mir ist die ganze Sache mit Kanda wirklich unheimlich! Der... er... er war gerade NETT zu mir!“ Komui jedoch nickte nur: „Ich habe schon ein wenig von Lavi gehört. Und so langsam bin ich mir auch sicher, dass das nicht einfach nur ein Unfall war.“ Er lächelte aufgesetzt. „Ich wollte aber ohnehin mit dir sprechen, Schwesterchen. Du und Allen werdet Morgen abreisen. Es wurden Akuma in Prag gesichtet. Kümmert euch darum und haltet bitte auch die Augen offen, ob ihr etwas über Mugen oder Kandas merkwürdigen Zustand herausbekommen könnt. Alles weitere wird dir Allen dann, denke ich, Morgen erzählen können.“
 

Seine Schwester seufzte: „Gut, ich gehe ihn gleich noch besuchen und spreche mich mit ihm ab. Im Moment sind mir die Akuma irgendwie lieber, als Kanda... Also noch mehr, als früher.“ Sie nickte allen einmal zu. „Ich mache mich dann auf den Weg, bis später.“
 

Lavi wartete noch, bis die junge Frau die Tür hinter sich zugezogen hatte und lächelte dann: „Wo waren wir stehengeblieben?“ Er überlegte kurz. „Ach ja. Ich finde die Idee von Bookman nicht schlecht.“ Komui nickte: „Ja, ich finde sie auch gut. Also werden wir es so machen und ansonsten versuch es einfach weiterhin, Lavi. Wir brauchen Kanda einfach. Nicht auszudenken was passiert, wenn jemand herausfindet, dass er außer Gefecht gesetzt ist...“ Doch Lavi grinste nur zuversichtlich: „Ich kriege das schon hin, keine Sorge. Ich melde mich dann Morgen wieder.“
 

Nachdem auch Lavi das Büro verlassen hatte, sah Bookman besorgt auf und murmelte: „Mir gefällt diese Entwicklung nicht. Ich habe die Befürchtung, dass es sich eher um eine Art Bann oder ein Gift handelt. Ich werde mich mal auf die Bücher stürzen und schauen, ob ich etwas herausfinden kann.“ Komui nickte nachdenklich: „Die Befürchtung habe ich auch. Uns läuft die Zeit einfach davon...“ Der Ältere behielt eine weitere Sorge allerdings für sich. Er kannte den rothaarigen Wirbelwind mittlerweile zu gut, um nun zu übersehen, dass er mehr tat, als sich nur um die Gedächtnislücken des Japaners zu kümmern. Seine Stirn legte sich in Sorgenfalten.

Gülle im Zug, Blut unter der Dusche

Leise ratterten die Räder des Zuges über die Gleise. Eine etwas langweilige Landschaft sauste unentwegt am Fenster des kleinen Abteils vorbei, nur um gleich wieder in Vergessenheit zu geraten. Ein paar Bäume gruppierten sich hier und dort, meist jedoch erstreckten sich gähnend langweilige Felder von landwirtschaftlichen Betrieben so weit das Auge, trotz aller Aufmerksamkeit, reichte.
 

Der unangenehm beißende Geruch von Gülle und Dünger schaffte es sogar, sich in den vorbeifahrenden Zug zu schleichen und Allens Gesicht zu einer zerknautschten Grimasse zu formen. Der Geruch trieb ihm regelrecht die Tränen in die Augen und mit einer flinken Handbewegung kniff er sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nase. Irgendwie kam ihm Kanda in den Sinn. Eigentlich konnte er ihn fast schon vor sich sehen, wie er die Augen verdrehte und gesagt hätte: „Stell dich nicht so an, Moyashi!“ Alleine dieser Satz hätte Allen selbst wieder so aufgeregt, dass sie sich lauthals in die Wolle bekommen hätten. Irgendwie war wehleidig sein ohne Kanda nur halb so lustig.
 

Selbst Lenalee schien dieser Gestank nicht zu stören. Sie hatte den Ellenbogen auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster abgestellt und stützte ihren Kopf am Kinn darauf, um sich mit einem nachdenklichen Blick aus dem Fenster weit von diesem Abteil zu entfernen. Die Reise war bisher im Allgemeinen verdammt ruhig und fast schon sprachlos verlaufen. Und nun war seine Freundin so in Gedanken versunken, dass nicht einmal diese muffige Luft sie ins Hier und Jetzt holte.
 

Nach weiteren unerträglich stillen Minuten entschloss Allen sich, gegen diese bedrückte Stimmung etwas zu tun. Er versuchte, hinter seiner Hand, die noch immer in seine Nase kniff, ein aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen zu bekommen, beugte sich vor und stupste die junge Frau vorsichtig am Arm an.
 

Erschrocken zuckte die Dunkelhaarige zusammen und wandte ihren Blick in Allens Richtung. Einen Moment brauchte sie, um zu realisieren, wo sie sich überhaupt befand. Ihre Augen musterten den Weißhaarigen, der, zu ihr gebeugt, ihr gegenüber saß, sich umständlich die Nase zuhielt und mit einem entschuldigenden Blick in den Augen grinste. Sie konnte nicht anders und fing vergnügt an zu kichern, der Anblick war einfach zu komisch! Als dann auch noch ein nasales und näselndes „WAS?“ an ihr Ohr drang, hielt sie sich lachend den Bauch und ein paar Tränen pressten sich aus ihren Augen.
 

Unter normalen Umständen hätte Allen, natürlich gespielt, beleidigt die Arme verschränkt, aber seine Geruchsnerven waren ihm doch irgendwie lieb. Er wusste, wie komisch er aussah und sich anhörte. Froh über das heitere Lachen seiner Freundin, stimmte er nach einem missglückt skeptischen Blick einfach in das Lachen mit ein. Lenalee prustete nach einer Weile: „Danke, wieso du das auch immer gemacht hast, aber danke! Das hat gut getan...“ Ihr Bauchmuskeln schmerzten schon und langsam bekam sie, zwischen den letzten Schüben aus Kichern und Lachen, auch endlich wieder Luft.
 

Allen ließ sich erschöpft tiefer in den Sitz gleiten und wagte einen Schnuppertest, ehe er sie ansah und grinste: „Riechst du das denn nicht? Du warst so in Gedanken versunken, dass du diesen Gestank gar nicht wahrgenommen hast.“ Er beobachtete seine Freundin, wie sie zaghaft die Nase reckte und rasch bemerkte, was er meinte. Angeekelt schlug sie ihre Hände vor Mund und Nase und quiekte: „Oh Gott, da muss ich ja wirklich abgedriftet sein!“ Die beiden kicherten noch eine Weile, ehe der Weißhaarige langsam wieder einen ernsten Blick auflegte: „Worüber hast du eigentlich nachgedacht?“
 

Lenalee atmete ein letztes Mal tief ein und aus, ehe sie wieder ihren Blick nach draußen richtete und versuchte, sich die Übelkeit durch diesen Geruch nicht anmerken zu lassen: „Ach, weißt du, ich denke über Gestern nach. Ich war so erschrocken, wie nett Kanda zu mir war, dass ich fast noch mehr Angst vor ihm hatte, als früher immer.“ Sie sah ihren Freund aus den Augenwinkeln an. „Aber nun, da ich mal eine Nacht darüber geschlafen habe... War ich wohl sehr unhöflich zu ihm, obwohl er wirklich sehr charmant und lieb gewesen ist.“ Sie registrierte den skeptischen Blick ihres Gegenüber. „Du hast ihn noch nicht getroffen, Allen. Ich habe es Komui auch nicht geglaubt, als er es mir erzählte. Aber ich habe es selbst miterlebt. Er sieht aus wie Kanda, er geht wie Kanda, er klingt wie Kanda... aber er ist es einfach nicht mehr!“
 

Allen hörte aufmerksam zu, glauben konnte er das Ganze trotzdem irgendwie nicht richtig. Seine Freundin lachte trocken auf und murmelte: „Er hat 'Danke', 'Bitte' und 'Entschuldigung' gesagt. Er hat gemerkt, dass ich mich in seiner Nähe nicht wohl fühle und er hat... ja, er hat mich daraufhin nicht angefahren, sondern sich entschuldigt und hat mich einfach alleine gelassen.“ Sie seufzte. „Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe echt ein schlechtes Gewissen, so schroff gewesen zu sein. Ich denke, ich werde mich bei ihm entschuldigen, sobald wir zurück sind.“
 

Nun fielen die Gesichtszüge des jungen Mannes zusammen und er sah die Dunkelhaarige verständnislos an: „Du machst doch Witze, oder? Komm schon, ich... ich KANN mir einfach nicht vorstellen, dass das wirklich so anders ist mit ihm.“ Doch seine Freundin schüttelte den Kopf: „Du wirst es vielleicht noch selber sehen, Allen. Das ist ein ganz anderer Mensch...“ Sie sah ihn eindringlich an. „Er hat gefragt, wieso ich ihm beim Nachnamen nenne!“ Geruchsnerven hin oder her, aber Allen konnte nicht anders und ließ seine Arme in seinen Schoß sinken, um seine Begleiterin mit großen Augen und offenem Mund anzusehen.
 

Und dann seufzte Lenalee resignierend: „Und vorhin ist mir dann mit Schrecken klar geworden, dass ich den alten Kanda gar nicht zurück will. Das Kämpfen kann der neue doch wieder lernen. Wieso also diesen Stinksteifel zurückholen?“ So langsam, aber wirklich nur langsam, bekam Allen ein Gefühl dafür, welche Ausmaße Kandas Veränderungen zu haben schienen. Dann seufzte auch er und spielte in Gedanken einfach einmal durch, wie das Leben wohl mit einem sympathischen Kanda wäre. Doch ihm fiel einfach nichts ein. Trotz der Erzählungen der jungen Frau weigerte sich sein Gehirn, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
 

So legte sich langsam wieder Schweigen über die beiden jungen Exorzisten, während der Zug ihnen eine Pause von der langweiligen Landschaft und dem erdrückenden Gestank gönnte und in einem kühlen, dunklen Tunnel verschwand.
 

Am Abend ließ sich Yuu erschöpft auf das Bett sinken, während Lavi noch voller Energie und gut gelaunt im Badezimmer verschwand. Er sah dem Rotschopf mit einem leichten Lächeln auf den Lippen nach und schüttelte den Kopf. Es war wirklich lieb, wie sehr dieser sich bemühte, ihm zu seinen Erinnerungen zu verhelfen.
 

Doch auch das Inspizieren der GESAMTEN Außenanlage hatte nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Den lieben langen Tag waren sie über Sportplätze, Trainingsplätze, Parkanlagen und durch den Wald gestreift. Aber nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal das Gefühl von Vertrautheit, das er zumindest in Lavis Gegenwart spürte. Alles andere fühlte sich nach wie vor fremd und neu an. Der Schwarzhaarige seufzte leise. So langsam fragte er sich, ob er sich nicht genug Mühe gab. Mit jedem Misserfolg spürte er, wie deprimierter sein Freund darüber wurde.
 

Lavi hatte sich entkleidet und stand nun unter der warmen und doch erfrischenden Dusche. Nach diesem Marathon hatte er diese auch dringend nötig. Es konnte doch so langsam nicht mehr sein, dass Yuu sich an rein gar nichts erinnern konnte. Kannte er den Japaner wirklich so viel schlechter, als er immer geglaubt hatte? Hatte er sich in all der Zeit letztlich so sehr getäuscht?
 

Den Kopf schüttelnd versuchte er die Gedanken zu verscheuchen. Es war keine normale Amnesie, sagte der Rothaarige sich in Gedanken immer wieder. Und diese wundervolle Seite hatte er hinter Kandas eisiger Schale ja immerhin auch schon lange vermutet. Und trotzdem frustrierte ihn dieser Status Quo ungemein. Sein Blick wanderte zur Badezimmertür. Nein, nicht nur. Mit jedem Misserfolg stieg sein Unbehagen, sein Zwiespalt. Mit jedem Misserfolg musste er sich mehr eingestehen, wie sehr sein Herz vor Freude hüpfte, sein Magen fröhlich Achterbahn fuhr und seine Gedanken noch weniger dort waren, wo sie sein sollten.
 

Mit jedem Misserfolg stieg seine Hoffnung, dass Yuu mehr in ihm sah, als nur seinen besten Freund. Und mittlerweile war es wirklich schwer für Lavi geworden, nicht einfach die Bemühungen einzustellen. Einfach dieses unglaubliche Geschenk anzunehmen und... Er stockte. Noch war die Angst zu groß, um es überhaupt gedanklich in Worte zu fassen. Doch das Bild war schnell aufgetaucht und brannte sich in seine Erinnerung, verursachte ein gleichwohl angenehmes, wie peinliches Ziehen in seiner Mitte.
 

Yuu indes stand am Fenster und schaute in die Dunkelheit. Ein paar Sterne funkelten ihm neckisch entgegen, der Vollmond schob sich langsam hinter einem Gebäudeteil hervor. Fast schien es dem Japaner, als beeile sich das Gestirn, um endlich komplett auf seinen trüben Augen zu reflektieren, um ihnen wenigstens noch ein wenig Glanz zu verleihen. Sein Blick fiel auf die Spiegelung seines Gesichts auf der Fensterscheibe.
 

Dieser Mensch, den er sah, war ihm so völlig fremd. Wie konnte dieses zierliche Gesicht zu einem solchen Scheusal gehören, vor dem andere Menschen Angst hatten? Er seufzte. Wie konnten solche Augen nur so viel Angst und Schrecken verbreiten? Wie konnte solch ein Mund nur so grausame Dinge von sich geben? Wieso hatte die Seele hinter dem trüben Schleier seiner Augen nicht das geringste Interesse, wieder zu einem solchen Menschen zu werden?
 

Das Knarzen der Badezimmertür riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam drehte er sich um und musterte Lavi, der mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt vor ihm stand und das Wasser aus seinen Haaren achtlos zu Boden tropfen ließ. Der Rotschopf grinste ihn breit an: „Du kannst jetzt.“ Yuu nickte, griff sich das Handtuch vom Bett und hielt kurz inne.
 

Lavi stand noch immer in der Tür und beobachtete seinen besten Freund. Auch wenn er merkte, dass die ganze Sache diesen irgendwie aufwühlte, wirkte er trotzdem innerlich viel ausgeglichener als früher. Nicht so deutlich und präsent, aber stimmiger. Als habe der Japaner endlich Frieden mit sich und seiner Umwelt geschlossen, keine Lust mehr aus dem Leben einen ewigen Kampf zu machen. Yuu blieb schüchtern vor ihm stehen und wandte mit geröteten Wangen den Blick ab. Es war zum verrückt werden, wie es den Rotschopf immer wieder umhaute. Beherzt trat er näher an den Schwarzhaarigen heran, bis sie nur noch wenige Millimeter voneinander trennten.
 

Die lauwarmen Wassertropfen landeten nicht mehr auf dem Fußboden, sondern auf Yuus weißem Hemd und hinterließen dunkle Flecken. Eine Gänsehaut bildete sich auf dem gesamten Körper des Kleineren und er schluckte schwer. Der glänzende und noch feuchte Oberkörper vor ihm lenkte ihn ungemein ab. Aber er konnte ihn ja nicht einfach berühren, so wie er es gerne getan hätte. Oder etwa doch? Er hatte sich einfach noch immer nicht getraut, diese brennende Frage zu stellen. Wieso musste sie ihm auch immer erst dann wieder in den Sinn kommen, wenn er nicht einmal mehr „Guten Tag.“ fehlerfrei über die Lippen bringen konnte? Seufzend duckte er sich und huschte an dem Größeren vorbei, schloss rasch die Tür und lehnte sich an sie.
 

Mit einem breiten Grinsen starrte der Rotschopf die Badezimmertür an und schüttelte den Kopf. Himmel war der Japaner süß, wenn er verunsichert war. Wenn sich nicht bald eine Änderung der Situation einstellte, so würde Lavi keinen Gedanken mehr an Vergangenes oder mögliche Konsequenzen verschwenden, das wusste er einfach. Und irgendwie konnte er es sich auch jetzt schon nicht mehr verkneifen, einfach ein bisschen nonverbal mit seinem besten Freund zu flirten. Die Diskussionen hinterher würden einfach viel zu viel Spaß machen! Gemächlich und mit einer enorm guten Laune zog der Rothaarige sich um.
 

Yuu stieg in die kleine Duschkabine und zog den Vorhang zu. Noch immer zierte ein leichter Rotschimmer seine Wangen. Eine kalte Dusche würde ihm gut tun und wieder auf andere Gedanken bringen. Mit gesenktem Blick drehte er das Wasser langsam an. Ein paar lauwarme Tropfen erreichten seine schneeweiße Haut und wieder bildete sich überall eine Gänsehaut. Langsam rieselte das Wasser auf ihn hinab, bis er komplett nass war und seine Haare an seinem Rücken, auf seinen Schultern und an seinen Wangen klebten. Allmählich drehte er die Temperatur herunter, gleichsam die Wassermenge herauf.
 

Als er sich an die Temperatur gewöhnt hatte, drehte er den Wasserfluss mit einem Mal ganz auf, wobei sich augenblicklich und ruckartig seine Augen panisch weiteten.
 

Der Regen prasselte fast hämisch auf ihn herab, peitschte auf seinen Rücken, um schließlich von seinen Haaren, seiner Nasenspitze, seinen Armen und seinen Beinen doch ihren Weg auf die Erde zu finden.
 

Alles verschwamm um ihn herum, es war ihm, als stünde er wirklich im Regen. Als wäre er wirklich dort, wo er neulich in seinem Traum gewesen war. Und plötzlich durchzuckte ihn derselbe körperliche Schmerz. Yuu verkrampfte, griff hilflos um sich, bis der den Duschvorgang in die Finger bekam und sich mit aller Kraft dort hinein krallte. Der Schmerz ließ einfach nicht nach, sein Atem ging schwerfällig und sein Herz raste. Seine Arme und Beine begannen unter der Tortur zu zittern, sein Blick wanderte ins Nichts, nur vor seinem Inneren Auge spielte sich die Realität aus dem Traum für ihn erneut ab.
 

Mit zusammengepressten Zähnen sank der Japaner langsam in sich zusammen. Das kalte Wasser der Dusche peitschte auf seinem Rücken, wie es der Regen aus seinem Traum getan hatte. Und dann steigerte sich der Schmerz um ein vielfaches, eine weitere Welle durchflutete seinen ganzen Körper und sein Geist gab unter dieser Qual nach. Er warf schmerzerfüllt den Kopf in den Nacken und schrie einfach nur noch auf. Ein Schrei, der Tote hätte wecken können. Ein Schrei, der nur ansatzweise ahnen ließ, was für Schmerzen ihn gerade durchströmten, die ihm die Füße unter dem Körper wegrissen. Mit einem dumpfen Knall erreichte er den Boden unter sich, mit dem halb heruntergerissenen Vorhang noch immer in den verkrampften, zitternden Fingern.
 

Lavi würde diese Schreie niemals wieder vergessen. Die Angst, die Panik, die ihn übermannten und das Bild, das sich ihm bot, als er ohne zu überlegen in das Badezimmer gestürmt war. Immer wieder schrie das zierliche Geschöpf in der Duschwanne auf, krallte und presste sich in und an den herabgestürzten Vorhang, zitterte am ganzen Körper und wischte mit den langen schwarzen Haaren das eigene Blut versehentlich auf. Der Rotschopf musste seine Starre über diesen Anblick erst überwinden, ehe er wie von Sinnen zur Dusche rannte, das Wasser abstellte und sich zu Yuu herab beugte.
 

„Yuu-chan! Yuu-chan!!!!“ krächzte Lavi hilflos. Der Kleinere vor ihm zitterte noch immer erbärmlich. Mit einem Satz erhob Lavi sich wieder, stürmte aus dem Bad und kehrte mit seiner Bettdecke zurück. Vorsichtig hob er seinen besten Freund aus der Duschwanne heraus und wickelte ihn in seinen Armen schnell in die Decke ein, ehe er ihn an sich presste. Er drückte dem Schwarzhaarigen einen Kuss auf die Stirn und hauchte verzweifelt: „Yuu-chan, was ist denn passiert?“
 

Natürlich erwartete er keine Antwort, also untersuchte der Rothaarige rasch, woher eigentlich das Blut kam. Erleichtert stellte er zumindest fest, dass es keine Verletzung am Schädel war. Erst als er in das filigrane Gesicht blickte, erkannte er, woher es gekommen war. Eine dünne Schicht des Lebenssaftes hatte ihre Spur vom Mundwinkel des Japaners bis zu seinem Kinn und seinem Hals hinterlassen, hatte allerdings bereits wieder aufgehört zu bluten.
 

Behutsam hob der Rothaarige seinen Freund hoch und trug ihm zum Bett. Yuus Körper hing kraftlos herab, doch ein leises Atmen versicherte Lavi, dass es schlimmstenfalls eine Ohnmacht war. Ebenso vorsichtig legte er Kanda auf seinem Bett ab und strich ihm zärtlich die noch vom Wasser klebenden Strähnen aus dem Gesicht. Erst jetzt fiel ihm auf, wie kalt die weiche Haut eigentlich war. Lavis Blick wanderte über den ganzen, in die Decke gehüllten, Körper und merkte, dass Yuu noch immer zitterte. Rasch löschte er im Bad und im Zimmer das Licht und legte sich ohne zu zögern hinter den Schwarzhaarigen, schloss ihn in seine Arme und schmiegte sich unter der Decke an ihn. Erst als das Zittern des Kleineren endlich aufhörte, fielen dem Rotschopf vor Anstrengung die Augen zu.

Peinlichkeiten, Wahrheiten, Zärtlichkeiten

Yuu schlug müde seine Augen auf. Die Sonne wärmte seine kühlen Wangen und irgendetwas kitzelte ihm in der Nase, doch sein Blick war noch zu verschleiert, um Genaueres erkennen zu können. Noch ein wenig schlaftrunken sah er sich trotzdem, aus vermutlicher Gewohnheit, um. Wieso war das letzte, an das er sich erinnern konnte, sein Gang unter die Dusche? Er knurrte kurz. Eigentlich sollte er sich mittlerweile daran gewöhnt haben, dass er ständig Erinnerungslücken feststellte. Aber bisher konnte er sich ja an alles erinnern, seit er nach dem Erwachen in dem Krankenzimmer als Erstes Lavis breites Grinsen gesehen hatte. Ihm gefiel dieser Umstand eindeutig nicht besonders.
 

Ein ganz leichter, aber warmer Lufthauch streifte seinen Nacken, so dass sich seine Nackenhaare aufrichteten. Ein angenehmer Schauer jagte ihm über den Rücken. Für einen Moment schloss der Schwarzhaarige seine Augen und genoss die regelmäßigen Luftstöße.
 

So langsam erinnerte er sich auch wieder daran, was alles am Vortag passiert war. Er war mit Lavi den ganzen lieben langen Tag unterwegs gewesen, sich verschiedene Plätze angesehen und wieder keinen Erfolg auf der Suche nach seinen Erinnerungen gehabt. Eigentlich fand der Japaner es tief in seinem Herzen gar nicht schade, dass er nicht wieder zu einem Griesgram mutierte. Es war einfach schön gewesen, seine Zeit mit dem Rotschopf zu verbringen. Und erst jetzt fiel Yuu auf, dass er sich viel zu sehr an diesem vielschichtigen, faszinierenden roten Haar und dem komplementär funkelnden Auge geweidet hatte, um zu fragen, was auf diesen Plätzen eigentlich trainiert wurde.
 

Missmutig stellte Kanda fest, dass seine Gedanken ja schon wieder an diesem Anblick hängenblieben. Diesem feurigen Rot... Kopfschüttelnd tadelte er sich zu etwas mehr Konzentration. Dann fiel es ihm wieder ein. Als sie im Zimmer zurück waren, hatte Lavi sich direkt in die Dusche verzogen und er hatte noch eine Weile am Fenster gestanden und den nächtlichen Himmel betrachtet. Das Fenster... War es gestern nicht verschlossen gewesen?
 

Ruckartig öffnete er seine Augen und kontrollierte seine Erinnerung. Und tatsächlich war das Fenster definitiv NICHT geöffnet. Was war denn das aber in seinem Nacken? Und an seiner Nase? Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was ihm vor seiner Nase hing. Diese Farbe würde er unter hunderten erkennen! Das waren die Haare seines Freundes! Dann konnte dies ja nur bedeuten, dass der vermeintliche Wind in seinem Nacken...
 

Langsam drehte er sich um. Seelenruhig lag der Rotschopf hinter ihm und atmete ihm im Schlaf fröhlich grinsend in den Nacken...
 

Vor lauter Schreck kreischte der Japaner laut auf, rückte reflexartig ein gutes Stück zur Seite und landete mit einem lauten Poltern unsanft auf dem Zimmerboden. Was hatte das denn zu bedeuten? Hatte Lavi etwa etwas mit seiner Erinnerungslücke zu tun? Er würde doch nicht etwa...
 

Der Rothaarige wurde von dem Kreischen urplötzlich wach und schoss aus der Waagerechten in eine sitzende Position, quiekte aufgescheucht und sah sich panisch um. Ein Schrei, ein Knall, was war hier los? Sein Blick neigte sich zur Seite, bis ihm mit einem Mal eine selbst für ihn ungewöhnliche Röte ins Gesicht schoss und seine Wangen erhitzt glühten.
 

Benommen schüttelte Yuu den Kopf und knurrte, während er seinen grimmigen Blick auf Lavi richtete. Schlagartig wurde der Rothaarige von einer Panik übermannt, diesen Blick kannte er. „Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso muss sich dieser Trottel ausgerechnet in einer SOLCHEN Situation erinnern?“ schoss es ihm durch den Kopf und kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er schluckte schwer, doch er bekam einfach kein Wort über die Lippen, da sich ein dicker Kloß in seinem Hals festgesetzt hatte. Nicht einmal den Hinweis konnte er aussprechen, dass der Japaner noch völlig unbekleidet vor ihm saß.
 

Doch eigentlich war es eh nicht mehr nötig. Ein weiteres Kreischen entfuhr dem Schwarzhaarigen, als er endlich an sich herabschaute. Er war NACKT! Wie von Sinnen griff er mit hochrotem Kopf nach der Bettdecke, auf der sein Freund es sich bequem gemacht hatte, und zog sie mit einem kräftigen Ruck über seine untere Körperhälfte. Durch das ruppige Ziehen beförderte er den Rotschopf jedoch auf ähnlichem Wege unsanft aus dem Bett, wie er es selbst verlassen hatte. Brummend und mit einem dumpfen Knall landete Lavi zwischen seinen Beinen.
 

Der Rothaarige blickte auf und traf den Kandas. Sie beide glühten über das ganze Gesicht scheinbar um die Wette. Und doch konnte der Größere in den Augen seines Freundes nicht nur Verlegenheit erkennen, sondern auch Angst. Der Japaner sah ihn aus glasigen Augen an und hatte seinen Mund leicht geöffnet, fast so, als wolle er irgendetwas fragen, sich aber nicht trauen. Allmählich dämmerte es dem Rotschopf. Ginge er davon aus, dass Yuu nicht mehr wusste, was ihm unter der Dusche passiert war, und dann nackt neben ihm aufgewacht ist ohne sich klar zu sein, was wirklich passiert ist... Würde sein Yuu-chan wirklich so etwas von ihm denken?
 

Vorsichtshalber ging Lavi auf Abstand, setzte sich mit dem Rücken an sein Bett gelehnt hin, hob entschuldigend die Hände und grinste hilflos: „Yuu-chan, es ist nicht das, wonach es gerade vielleicht aussieht für dich...“ Der Kleinere schien sich ein wenig zu entspannen, löste seinen verunsicherten und misstrauischen Blick jedoch kein Stück von ihm. Irgendwie wurde der Rothaarige wütend darüber. Nach all den schönen Stunden schien ihm sein bester Freund tatsächlich zuzutrauen, dass er ihm etwas eintrichterte, um was auch immer mit ihm zu tun... Oder getan zu haben.
 

Wütend und enttäuscht fauchte er den Schwarzhaarigen an: „Pass mal auf, du bist Gestern einfach unter der Dusche in Ohnmacht gefallen, hast dich vor Schmerzen schreiend in deinem eigenen Blut gewunden und warst völlig unterkühlt. Eiskaltes Wasser hattest du dir über den Kopf laufen lassen und gezittert, als wäre dein Körper ein einziger Muskel, der sich unter Qualen verkrampfte. Weißt du eigentlich, was für eine Angst ich hatte? Ich dachte, dass es aus mit dir wäre, da hatte ich keinen Kopf mehr dafür, auf die Kleiderordnung zu achten.“ In seinen Augen blitzten ein paar Tränen auf, ehe er hauchte: „Tu so etwas nie wieder!“
 

Beschämt wandte der Japaner den Blick ab. Es schien, als hatte Lavi seine Befürchtungen an seinem Gesicht ablesen können und war über diese Angst berechtigt enttäuscht. Er hätte sich ohrfeigen können, diesen Gedanken auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in sein Bewusstsein gelassen zu haben. Ein unsicheres und entschuldigendes Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, während er nach der Hand des Größeren griff, sie sanft streichelte und wisperte: „Du... du hast mir geholfen?“ Lavi nickte nur knapp. Er war zwar noch enttäuscht, aber das Gefühl dieser zierlichen Finger auf seiner Hand war alleine schon Entschuldigung genug. Und eine riesige Erleichterung, denn Yuu erinnerte sich scheinbar noch immer nicht.
 

Statt dessen rückte sein bester Freund näher an ihn heran, strich ihm mit seiner anderen Hand angenehm zärtlich über die Wange und wischte die Tränen weg, die Lavi unbemerkt vergossen hatte. „Verzeih mir, ich wollte dir nicht solche großen Sorgen bereiten.“ säuselte die Stimme seines Freundes unglaublich sanft, warm, liebevoll und, in Lavis Ohren, unsagbar erotisch. Im selben Tonfall hauchte Yuu weiter: „Und verzeih mir bitte auch, dass ich auch nur für eine Sekunde so etwas Schlechtes von dir denken konnte...“
 

Der Schwarzhaarige merkte unglaublich erleichtert, wie sein Freund wieder lächelte und sein Auge glücklich funkelte. Er versank in den Augen des Kleineren und plötzlich ersetzte ein schelmisches Grinsen sein leichtes Lächeln. Er beugte sich vor, bis seine Lippen das Ohr des Japaners berührten und seufzte: „Ich glaube, dann habe ich wohl einen gut, oder?“
 

Schwer schluckend nickte Yuu. War es möglich? Würde der Rotschopf etwa das tun, was er sich insgeheim irgendwie wünschte? Seine Stimme klang noch immer verboten gut in seinen Ohren nach. Die warme und weiche Hand, die sich sanft an seine Wange legte brachte sein Gesicht wieder richtig vor Verlegenheit zum Glühen. Ein elektrisierendes Kribbeln durchströmte seinen ganzen Körper, sein Blut raste, kochte regelrecht, alleine bei der Erwartung, was nun passieren würde.
 

Grinsend ließ Lavi seine Hand zum Nacken des Schwarzhaarigen wandern und nahm zufrieden dessen anregende Gänsehaut wahr. Sanft glitten die dunklen seidigen Haare durch seine Finger, während er sie in den schmalen Nacken krallte. Ein leises Seufzen hauchte ihm aus dem perfekten Mund entgegen. Für einen Augenblick versuchte der Rothaarige sich die Bedenken seines Vorhabens ins Gedächtnis zu rufen, doch an dieser Stelle schien er „leider“ ebenfalls an Erinnerungslücken zu leiden.
 

Die Luft zwischen ihnen knisterte wieder, war heiß und stickig. Und endlich schien es dem Rotschopf unwahrscheinlich, dass jemand sie, mal wieder, stören würde. Mit einem entschlossenen Ruck zog er den glühenden Japaner zu sich und versiegelte dessen Lippen mit seinen eigenen.
 

Yuus Augen weiteten sich, erschreckt über die Plötzlichkeit der Aktion. Auch sein Mund öffnete sich ein Stück, reflexartig, um einen Protest loszuwerden. Sofort nutzte sein Freund diese Chance und schob zärtlich seine Zunge vor, um mit ihr die Mundhöhle des Schwarzhaarigen neugierig und sehnsüchtig zu erkunden. Und nach einigen Sekunden schloss dieser seine Augen genießend, um letztlich das Gerangel in seinem Mund aktiv zu erwidern. Zaghaft und schüchtern.
 

Ein aromatischer Duft nach Zitronengras, Kirschen und Ingwer stieg Lavi in die Nase, einen betörend süßen Geschmack konnte er wahrnehmen. Das ließ ihn alle Zweifel endgültig vergessen. Seine freie Hand legte sich auf die entblößte Brust des Kleineren, ein heißes Kribbeln durchfuhr ihn dabei. Langsam wanderte sie über den Oberkörper, ertastete diese verboten reine und samtweiche Haut, um auch in Yuu eine Spur innerer Hitze zu hinterlassen.
 

Als die beiden den Kuss lösten, keuchten sie und rangen nach Luft, ohne dabei jedoch den Blick voneinander zu lösen. Der Rotschopf lächelte: „Tut mir Leid, aber ich konnte nicht anders, Yuu-chan.“ Die rötlichen Wangen färbten sich noch etwas dunkler, als der Japaner sinnlich hauchte: „Und wieso entschuldigst du dich dafür?“ Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Noch immer ruhten die Hände des Größeren in seinem Nacken und an seinem Oberkörper, drückten plötzlich etwas fester zu und hinderten ihn so daran, einfach auszuweichen.
 

Lavi beugte sich vor und presste sich an den zierlichen Körper, zwang ihn auf sanfte Weise sich hinzulegen. Er lag halb auf dem Schwarzhaarigen und es schien ihnen, als stünde sie beide lichterloh in Flammen. Verlangend verwickelte der Rotschopf den unter sich Liegenden in einen innigen und feurigen Zungenkuss, nicht mehr in der Lage, seine Hände zurückzuhalten. Gierig erkundeten sie jeden Millimeter seines entblößten Freundes, ertasteten die Bauchmuskeln, glitten hinab auf den sündigen Hintern, der ihm schon seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging.
 

Wieder lösten sie den Kuss und Yuu keuchte auf, nickte dem Größeren mit verschleiertem Blick einfach nur noch zu, der sofort verstand. Langsam wanderte seine Hand unter die Decke, strich über den Schenkel, um sich ihren Weg zu dessen Innenseite zu bahnen. Zaghaft, aber entschlossen umschlossen seine Finger letztlich das pochende Fleisch des Schwarzhaarigen. Genüsslich sah Lavi, wie sein Yuu-chan mit lechzendem Blick zu ihm schaute, den Mund öffnete und....
 

Laut schnarchte?????
 

„Was zum Henker...?“ schoss es ihm durch den Kopf, als er verschlafen seine Augen öffnete. Er lag noch immer, wie am Vorabend, an Yuu gekuschelt in seinem Bett, die Sonne schien zum Fenster herein und seine Hand...
 

„Scheiße...“ war der nächste Gedanke des Rotschopfs. Er hatte seine Hand doch glatt in seinen eigenen Shorts versenkt und nicht den Japaner zwischen den Fingern, sondern, wie hochgradig peinlich, sich selber. Mit hochrotem Kopf zog er schnell seine Hand aus seiner Hose und keuchte leise. „MAN! Das war ein Traum!“ keifte er innerlich. Und dieser Traum hatte ihn angemacht, aber immens. Noch immer kochte sein Blut. Wie peinlich!!
 

Zu seiner Erleichterung jedoch schnarchte die schwarzhaarige Schönheit neben ihm noch seelenruhig und wurde auch nicht wach, als er umständlich über sie kletterte, um mit rotem Gesicht im Badezimmer zu verschwinden.
 

Nachdem er sich seines erdrückenden Problems entledigt hatte, fiel Lavi auf, wie verwüstet das Badezimmer eigentlich aussah. Das war ihm am Vorabend gar nicht aufgefallen. Und auch gerade eben nicht... Den Kopf heftig schüttelnd versuchte er, bloß nicht wieder an diesen Traum zu denken und beschloss, sich erst einmal anzuziehen und ein wenig aufzuräumen. Das war zwar an sich gar nicht sein Ding, aber alles besser, als noch einmal in eine solche Misere zu geraten. Erschöpft schlurfte er aus dem Bad und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Das Augenpaar, das auf ihn gerichtet war, sah ihn skeptisch und doch irgendwie... amüsiert an. Stotternd murmelte der Rotschopf: „Gu...Guten Morgen... wie... geht es dir?“
 

Yuu sah etwas zerknirscht auf und brummte: „Morgen. Ich habe ziemliche Kopfschmerzen.“ Er hielt kurz inne, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen, da Lavi ohnehin schon über das ganze Gesicht glühte. „Sag mal, gibt es einen Grund, weshalb ich nackt in deinem Bett liege und du im Badezimmer...“ Panisch kreischte der Rothaarige auf: „Oh Gott, nein! Also ja... ich meine... nein... nicht so...also...“ Hyperventilierte er da gerade? „Yuu-chan, verstehe das nicht falsch! Verflixt. Du... erinnerst du dich nicht? Du bist in Ohnmacht gefallen gestern... unter der Dusche...“ Seine Stimme wurde immer leiser.
 

Der Japaner schien zu überlegen, als es ihm plötzlich tatsächlich wieder einfiel. Das kalte Wasser, die Erinnerung an diesen Traum. Er sah auf: „Doch, jetzt wo du es sagst.“ Er stockte. „Ich hoffe, du hast dir nicht zu große Sorgen gemacht.“ - „Ich bin fast wahnsinnig geworden, aber es geht dir besser und das ist die Hauptsache.“ Er blickte in das makellose Gesicht, als ihm auffiel, dass noch immer eine leichte rote Spur zu sehen war. Lächelnd nickte er seinem besten Freund zu: „Du bist hingefallen und hast da noch ein bisschen Blut... geh dich am Besten erst einmal waschen, das Chaos da drin mache ich gleich weg.“
 

Empört sah der Schwarzhaarige ihn an: „Kommt gar nicht in Frage. Ich mache dir solche Sorgen und lasse dich alles aufräumen? Nichts da!“ Plötzlich lief auch er rot an. „Ich wäre dir nur sehr dankbar für...“ - „Oh, natürlich!“ Rasch hatte er ein Paar Shorts aus der Schublade gezogen und es Yuu zugeworfen, ehe er lächelte: „Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du so versessen auf das Aufräumen bist, dann zieh ich mich an und werde mich kurz mit Komui absprechen, was wir uns heute ansehen werden, okay?“ Ein zauberhaftes Lächeln umspielte die Lippen des Japaners: „Einverstanden.“
 

Guter Dinge kehrte Lavi nach einer Stunde zu seinem Zimmer zurück. Von Allen und Lenalee hatten sie zwar noch nichts gehört, aber er wusste, dass sie gut auf sich aufpassen konnten und würden. Und er war zufrieden damit, dass er Yuu ab sofort in den Alltag und den Sinn und Zweck des Ordens einweihen sollte. Die Angst vor einem Kollaps hatte sich schließlich fast komplett gelegt und viel gab es außerhalb der Tätigkeit als Exorzist nicht mehr, das er über den Schwarzhaarigen wusste.
 

Und doch legte der Rotschopf die Stirn ein wenig in Sorgenfalten. Die Szene vom Vorabend wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Wenn er es sich genau überlegte, so hatte es eine frappierende Ähnlichkeit mit der Reaktion, die Yuu am ersten Abend in seinem Zimmer gezeigt hatte. So intensives Grübeln war er nicht gewöhnt, sein Kopf schien schon richtig zu qualmen. Es machte alles einfach noch keinen Sinn, irgendetwas fehlte. Nur eines war ihm klar: es musste etwas mit dem Verschwinden von Mugen zu tun haben.
 

Am Abend war Yuu nach den ganzen Informationen und der zweiten Besichtigungstour durch den Orden mit diesem Wissen völlig erschöpft ins Bett gegangen und schlief tief und fest. Und wie von Komui bereits vermutet, erinnerte auch all das den Schwarzhaarigen an rein gar nichts. Nicht einmal der Name seines geliebten Katana hatte irgendeine Reaktion in ihm hervorgerufen.
 

Die Nachricht über den Gedächtnisverlust des Japaners hatte sich während ihres Rundgangs wie ein Lauffeuer verbreitet. Es hatte Lavi arg missfallen, wie die anderen seinen Freund auf den Fluren regelrecht belagert hatten. Wie ein Tier im Zoo hatten sie ihn angeschaut, sogar versucht anzufassen. Der Rotschopf sah auf, er saß auf der Bettkante und genoss die Ruhe, die eingekehrt war, während er Yuu beim Schlafen betrachtete. Er musste dem Schlafenden für den nächsten Tag ein bisschen Freiraum verschaffen, sonst würden wieder alle ihn so belagern, das wollte der Rothaarige einfach nicht. Er hatte da auch schon eine Idee...
 

So kam es, dass Lavi und Yuu am nächsten Morgen, nachdem die anderen im Orden beschäftigt waren, gemütlich durch den kühlen Wald streiften und die Ruhe in vollen Zügen genossen. Eigentlich wusste der Rotschopf, dass er sich allmählich sehr eigenmächtig verhielt, was seine Aufgabe als Gedächtnisstütze anging. Und doch war ihm eines immer wichtiger geworden: diese Zeit mit Yuu zu genießen, so lange er es konnte.
 

Nach einer ganzen Weile erreichten sie endlich den Ort, den Lavi als Ziel ihres Ausflugs auserkoren hatte: ein kleiner Bach, der sich auf einer Lichtung zu einem kleinen See staute und im Licht der Sonne wie ein blauer Kristall funkelte, von Bäumen gesäumt und Moos umschmeichelt. Yuu sah sich einen Augenblick lang mit angehaltenem Atem um, der Anblick war einmalig. Er sah seinen Freund an und lächelte: „Es ist wundervoll hier. Danke, das war eine tolle Idee!“ Froh über diese Aussage grinste Lavi wieder über das ganze Gesicht: „Das freut mich zu hören.“ Er griff nach der Hand seines Freundes, der wieder einmal rot anlief. „Komm, lass uns ein wenig ins Wasser gehen.“
 

Er zog den Schwarzhaarigen hinter sich her, bis sie am Ufer standen. Während Yuu noch ein wenig misstrauisch das Wasser inspizierte, zog der Rotschopf bereits seine Schuhe aus, krempelte seine Hose hoch und legte seinen Mantel ab, ehe er den Schwarzhaarigen auffordernd ansah: „Nun zier dich nicht so, das Wasser beißt nicht.“ Er watete ein paar Schritte in den nicht sonderlich tiefen See und sah seinen besten Freund herausfordernd lächelnd an.
 

Dieser zog sich nun ebenfalls die Schuhe aus, krempelte seine Hose hoch und trat an das kühle Nass heran. Mit einem Fuß kontrollierte er die Temperatur und quiekte: „Das ist ja eiskalt!“ Lachend nahm Lavi wieder seine Hand und zog ihn einfach zu sich: „Stell dich nicht so an.“ Ungeschickt stolperte der Japaner auf ihn zu, hielt sich jedoch gerade eben so auf den Beinen. Ein wenig zerknirscht murmelte er: „Das kriegst du wieder.“ Ehe der Rothaarige wusste, wie ihm geschah, schubste sein Freund ihn mit voller Wucht und er fiel hinterrücks komplett ins Wasser. „Argh!“ kreischte er. „Yuu-chan! Das war unfair!“ Sie sahen sich grimmig in die Augen, bis beide herzhaft zu lachen begannen. Und Lavi eine Wasserschlacht startete, die auch seinen Freund rasch komplett ins Wasser beförderte.
 

Die beiden begaben sich weiter in die Mitte des Sees, wo das Wasser ihnen doch bis zur Brust reichte und tief genug für den Klamauk war, und döppten sich gegenseitig immer wieder unter, „beschossen“ sich mit Wasserfontänen und lachten ausgelassen über den riesigen Spaß, den ihnen das Rumtoben bereitete.
 

Erneut setzte Yuu zum „Angriff“ an, sprang auf den Rotschopf zu und versuchte ihn unter Wasser zu kriegen, doch dieser hielt eisern dagegen und hielt plötzlich den Atem an als er merkte, wie sich die Beine seines Freundes um seine Taille schlangen. Das Drücken der Arme und Hände auf seinem Kopf bekam er gar nicht mehr richtig mit. Statt dessen wanderte sein Blick auf den Oberkörper des Kleineren und stellte fest, dass das weiße Hemd einen guten Blick auf die darunterliegende Brust zuließ, da es durch das Wasser fast durchsichtig geworden war.
 

Erst als Yuu beleidigt knurrte kehrte der Rotschopf in die Realität zurück: „Du bist unfair, Lavi! Nun geh doch endlich unter...“ Eigentlich hilflos grinsend, aber versucht lässig, blickte er auf: „Du bist einfach zu schwach, Yuu-chan.“ - „Gar nicht wahr.“ - „Wohl wahr!“ Ungeniert griff der Rothaarige seinem Freund an die Füße und kitzelte diesen, der auch wild kreischend zu zappeln und strampeln begann. Innerlich seufzte Lavi teils erleichtert teils traurig auf, zumindest waren sie wieder auf einen gesunden Abstand gekommen.
 

Außer Puste keuchte der Japaner nach einer Weile erschöpft: „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich brauche eine Pause...“ Lavi nickte zustimmend und die beiden schwammen und wateten gemütlich zum Ufer zurück, wo sie sich an einer sonnigen Stelle ins Moos fallen ließen und mit hinter den Köpfen verschränkten Armen in den Himmel blickten.
 

„Du, Lavi...“ brach die Stimme des Schwarzhaarigen plötzlich die Stille. Der Angesprochene neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte: „Ja?“ - „Ich möchte dir für alles danken. Ich glaube, ich bin der glücklichste Mensch auf dieser Welt.“ Er sah dem Rotschopf in die Augen. „Und so langsam glaube ich, dass es nicht so ist OBWOHL ich mich nicht erinnern kann, sondern gerade WEIL dem so ist.“ Ein Rotschimmer legte sich auf seine Wangen, doch sein Lächeln war warm und selig. „Und das alles dank dir.“ Seine Hand griff nach der seines Freundes und sie verhakten ihre Finger ineinander, während Lavi lächelnd hauchte: „Ach, Yuu... ich bin nur glücklich, dass du bei mir bist und ich dir helfen kann. Ich werde diese Zeit niemals vergessen, das verspreche ich dir.“
 

Und es war kein leeres Versprechen, das er seinem besten Freund gab. Er hatte ein kleines Geheimnis, das ihm dabei sehr behilflich sein würde, diese Zeit für immer zu bewahren. Aber das wussten außer ihm nur noch Komui und Bookman, und das sollte vorerst auch so bleiben.

Zwischen Waffenstillstand und Schicksal

Am nächsten Tag waren Allen und Lenalee von ihrem Auftrag zurück und hatten Komui Bericht erstattet. Dieser nickte nachdenklich. Irgendetwas war faul und keiner, auch er selbst nicht, hatte eine Idee oder nur ansatzweise eine Spur, was das sein könnte. Er sah seine Schwester seufzend an: „Erst das mit Kanda und jetzt seid ihr schon die dritte Einheit, die von einem falschen Alarm zurückkehrt. Ich bin so langsam mit meinem Latein am Ende.“
 

Doch Allen war, wie so oft, zwar besorgt, aber optimistisch: „Mach dir keine Sorgen, es ist nicht das erste Mal. Interpretiere da nicht mehr hinein, als nötig.“ Auch Lenalee stimmte dem Weißhaarigen zu: „Ich denke, er hat Recht. Immerhin haben wir auch nichts gefunden, das irgendwie mit Mugen oder Kanda zu tun haben könnte.“ Sie stockte. „Wo wir gerade dabei sind: wie geht es ihm eigentlich und wo kann ich ihn finden?“ Ihr Bruder sah auf und seufzte noch intensiver: „Ihm geht es wirklich gut, er ist kerngesund. Aber gestern haben wir ihn mit dem Orden und seiner Aufgabe als Exorzist konfrontiert... aber nichts. Nada. Als ob es Kanda nie gegeben hätte!“ Er wischte sich genervt mit der Hand über das Gesicht. „Statt dessen geht er mit Lavi im Wald planschen...“
 

„Bitte WAS?“ prustete Allen völlig ungläubig los. Irgendwie sah der Anblick zu komisch aus, so dass Lenalee wieder anfing zu kichern. Während der junge Exorzist beleidigt die Arme verschränkte, nickte Komui seiner Schwester zu und lächelte: „Die beiden haben nur noch Flausen im Kopf, ob ihr es glaubt oder nicht. Ich habe die beiden heute in den Trainingsraum neben der Sporthalle geschickt, alleine um sie mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen.“ Die junge Frau nickte lächelnd: „Gut, dann werden wir sie mal dort suchen gehen. Komm, Allen.“
 

Sie zog ihren sprachlosen und noch immer verdatterten Freund aus dem Büro ihres Bruders und schleifte ihn ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich her, die Treppe zum Keller hinab und den langen dunklen Flur entlang, der zur Sporthalle führte. Schon von Weitem konnte sie heiteres Lachen hören, doch sie ging davon aus, dass eine Klasse gerade in der Halle ihr Unwesen trieb. Der Weißhaarige lief mittlerweile wieder aus eigenem Antrieb, schüttelte jedoch noch immer ungläubig den Kopf und murmelte: „Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ihr übertreibt bestimmt immens, das geht überhaupt nicht.“
 

Seine Freundin wollte ihm gerade antworten, als sie die Tür zum Trainingsraum öffnete und wie angewurzelt stehen blieb. Das laute Kichern verstummte und Lavi und Yuu sahen sie ertappt an, während sie zwischen einer Unmenge aus Schaumstoffbällen standen und gerade dabei waren, sich mit ihnen zu bewerfen. Allen rieb sich die Augen, sah sich das Bild noch einmal an, rieb wieder, schaute, rieb und schaute erneut. Verlegen grinste der Rotschopf: „Wir... testen die Geräte auf ihre Tauglichkeit...“ Yuu ließ den Ball in seiner Hand mit hochrotem Kopf hinter seinem Rücken verschwinden und lächelte entschuldigend. Ein paar Sekunden herrschte absolute Stille und die beiden Erwischten befürchteten schon eine gehörige Standpauke, als die Dunkelhaarige plötzlich herzhaft anfing zu lachen und prustete: „Du bist ein miserabler Lügner, Lavi! Aber ihr seht einfach zu ulkig aus!“
 

Und als die beiden in ihr Lachen einstimmten, versagte Allens Gesichtsmuskulatur ganz. Völlig perplex betrachtete er diese surreale Szene und war fix und fertig mit den Nerven. Was zum Geier war hier nur los?
 

Nachdem die Bälle wieder alle an ihren Platz geräumt waren, saßen die Vier auf einer Bank und Lenalee nutzte diese Chance ohne Umschweife: „Ach, Kanda?“ Yuu sah auf: „Ja?“ Sie lächelte warm: „Ich wollte mich noch entschuldigen bei dir, weil ich neulich so unhöflich war.“ Sein erwidertes Lächeln wirkte zwar ein wenig gequält, aber er nickte ihr freundlich zu: „Du brauchst dich nicht entschuldigen, so langsam weiß ich, wieso hier so einige ziemlich verhalten auf mich reagieren. Wenn sich einer entschuldigen muss, dann bin das wohl ich.“ - „Einigen wir uns doch einfach auf einen Waffenstillstand...“ Sie hielt ihm ihre Hand entgegen, die er freudig schüttelte und mit strahlende Augen hauchte: „Gerne.“
 

Mit einem lauten „RUMMS“ lag Allen plötzlich auf dem Boden und jaulte: „Wann wache ich endlich auf? Oder ist das hier ein schlechter Scherz?“ Er knurrte. „Und noch etwas... AUA!“ Alle kicherten ausgelassen, als er sich wieder richtig hinsetzte und Kanda misstrauisch musterte: „Das ist mir unheimlich...“ Yuu sah ihn entschuldigend an und lächelte: „Das habe ich schon ein paar Mal in den letzten Tagen gehört, Allen.“ - „ALLEN? Seit wann nennst du mich ALLEN?“ Mit einem vergnügt unschuldigen und fragenden Blick sah der Japaner ihn an: „So heißt du doch, oder nicht?“ Lavi grinste breit: „Ja, so heißt er, Yuu-chan. Aber du hast ihn immer Moyashi genannt.“ Der Schwarzhaarige hob eine Augenbraue: „Bohnenstange???“
 

Allen verschränkte sauer die Arme und knurrte: „Ja, Bohnenstange!“ Doch als Yuu ihn sanft anlächelte und leise „Entschuldigung.“ murmelte, ließ seine Anspannung nach und er sah den ehemaligen giftigen Schwertkämpfer versöhnlich an: „Du... entschuldigst dich dafür?“ - „Natürlich, ist ja nicht sonderlich höflich so etwas zu sagen. Wenn du magst schließen wir doch auch einfach einen Waffenstillstand, was meinst du?“ Zögerlich griff der Weißhaarige nach der Hand des Japaners, schüttelte sie dann jedoch und hauchte, von der Tatsache umgehauen, dass sie wirklich gerade Körperkontakt hatten: „Einverstanden.“
 

Den Nachmittag verbrachten die vier damit, Yuu noch ein wenig über den Orden und ihre bisherigen Abenteuer zu erzählen. Es wirkte manchmal so, als lese man einem kleinen Kind ein Abenteuerbuch vor, so gespannt lauschte der Schwarzhaarige den Geschichten. Doch nichts von dem Gehörten kam ihm auch nur ansatzweise bekannt vor. Und trotzdem genoss er die Zeit, da es spannend war zu erfahren, was für ein Mensch er einmal war. Er lernte seine „alte“ Seite ein wenig neu kennen, da er bisher immer dachte, er sein nur ein unhöflicher Sturkopf gewesen. Doch die Tatsache, dass er gleichsam ein begnadeter Schwertkämpfer war, ließ ihn sein altes Ich ein wenig versöhnlicher betrachten und empfand sogar ein wenig Respekt.
 

Am Abend hatten sich alle zurückgezogen und hingen ihren Gedanken nach. Lenalee saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare, während sie den Tag noch einmal Revue passieren ließ. Es war ein toller Tag gewesen, so viel Spaß hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Sie war froh darüber, dass sie sich mit Kanda versöhnt hatte und musste sich eingestehen, dass sie ihn sogar mittlerweile richtig gern hatte. Leise kicherte sie, als sie sich noch einmal an das Bild erinnerte, das sie vor sich hatte, als sie den Trainingsraum betraten. Vielleicht war dieses ganze Durcheinander ja gar nicht so schlecht, wie ihr Bruder glaubte. Vielleicht war es eine Chance für einen Neuanfang...
 

Allen lag in seinem Bett und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, während er in Gedanken seine Zimmerdecke anstarrte. Er konnte es noch immer nicht ganz glauben, dass er Stunden mit Kanda verbracht hatte und die beiden statt zu streiten miteinander gelacht hatten. Und so merkwürdig ihm das erst erschienen war, so gut tat es ihm jetzt. Konnte es an einem solchen Yuu Kanda wirklich etwas Schlechtes geben, das viele in große Sorgen stürzte? Konnte man nicht einfach diese Tatsache annehmen und aus ihm einen netten Exorzisten machen? Konnte diese neue Situation wirklich einfach so schön sein, wie sie sich anfühlte oder war sie wirklich zu schön, um wahr zu sein?
 

Seufzend schloss der Weißhaarige die Augen. Er fasste einen Entschluss. Der „neue“ Kanda sollte seine Chance kriegen, alleine schon, weil er sich so aufrichtig und nett entschuldigt hatte. Und er hatte auch schon eine tolle Idee, wie er dem Schwarzhaarigen sein Entgegenkommen zeigen könnte...
 

Auch Lavi und Yuu waren bereits zu Bett gegangen. Mit ineinander verschränkten Händen schlief der Japaner bereits friedlich neben dem Größeren. Liebevoll sah der Rothaarige seinen besten Freund an und lächelte. Es musste alles sehr anstrengend für Yuu sein, das wusste Lavi genau. Zärtlich strich er ihm eine Strähne aus dem Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Wie gerne würde er dem Kleineren sagen, was er fühlte, doch er traute sich einfach noch nicht. Viel zu groß war seine Angst noch, dass es ihm über kurz oder lang die Freundschaft kosten könnte. Sowohl zu dem „neuen“, als auch zum „alten“ Kanda. Und dafür war die gemeinsame Zeit im Moment einfach viel zu schön und zu kostbar, um sie leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
 

Während seine Augen zufielen und er in den Schlaf sank, widersprach er seinem Freund innerlich allerdings noch einmal. Nicht Yuu war der glücklichste Mensch auf Erden, das war eindeutig er, Lavi, selbst. Mit der zierlichen hellhäutigen Hand in seiner eigenen schlief der Rotschopf schließlich lächelnd ein.
 

Während sich das Loch in seiner Brust schloss und er trocken einfach nur „Che!“ von sich gab, fiel ihm erst auf, dass er mit dem Fremden nicht alleine war.
 

Um ihn herum sahen ihn einige bekannte und weniger bekannte Gesichter an: Lavi, Allen, Lenalee, Komui, Miranda, Tapp Dopp und noch einige mehr, die er gerade nicht zuordnen konnte. Ihre Blicke waren besorgt und sie traten näher an ihn heran. Was wollte dieser Haufen von ihm? Fasste Allen ihn gerade wirklich an der Schulter an? Was sollte der Mist hier?
 

Mit einem geradezu tödlichen Blick strafte er die Bohnenstange und fauchte: „Fass mich nicht an, Moyashi!“ Allen hielt inne, sah ihn aus traurigen Augen an: „Aber Yuu...“ WAS? Wer hatte ihm das Recht gegeben ihn SO zu nennen? Wollte er ihn etwa wieder ärgern? Wütend schnaubte der Schwarzhaarige: „Baka, ich bin KANDA! Hast du das vergessen?“
 

Die Blicke der Leute um ihn herum änderten sich schlagartig, als wäre ihnen ein Licht aufgegangen. Wer hatte denen denn in den Kaffee gespuckt? Wieso konnten die ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er hasste es, so angestarrt zu werden. Er hasste es besonders von IHNEN angestarrt zu werden.
 

Und endlich wichen sie unter seinem kalten und bedrohlichen Blick zurück. „Geht doch.“ murmelte er, während er sich umsah. Irgendetwas fehlte ihm noch, seine Hand spürte, dass dort etwas hingehörte, doch er fand es einfach nicht. Wütend fauchte er: „Wo ist es?“ Wieder die weinerliche Stimme der Bohnenstange: „Das wissen wir nicht, Yu... Kanda.“ Er packte den Kleineren am Kragen und keifte ihn wütend an: „Wie, ihr wisst es nicht? Was soll das heißen?“ Angst flammte in den Augen des Weißhaarigen auf, die nach einigen Sekunden in blanke Wut umschwenkte: „Hör auf Kanda! Himmel, du bist so ein Idiot! Ich dachte, wir wären jetzt Freunde!“ - „Falsch gedacht!“
 

Allen riss sich aus seinem Griff und sah die anderen wütend an: „Ich habe es euch doch gesagt, dass er uns nur hintergeht! Verschwinden wir von hier. Soll er doch alleine sein, wenn er unbedingt will.“ Ein letztes Mal sah er den Japaner wütend an: „Ich hasse dich, Kanda!“
 

Yuu verschränkte die Arme und wandte den Blick ab. Wovon redete der Kurze nur wieder? Als ob es eine Neuigkeit wäre, dass alle ihn hassten. Dass jeder Mensch sich von ihm abwandte. Dass jeder ihn alleine ließ. Dass er selbst dafür sorgte, der wohl einsamste und stärkste Mensch dieser Welt zu werden. Es kümmerte nicht, wie er sich fühlte, es durfte weder ihn noch andere kümmern. Das war doch ganz normal.
 

Er spürte, wie einer nach dem anderen verschwand, sich in Luft auflöste. So war es doch besser. Besser für ihn, für die anderen, für seine Aufgabe. Es war sein Schicksal und er maß sich nicht an, dieser Bürde zu widersprechen. Er war nicht in der Position über den Verlauf der Dinge zu entscheiden, er musste sie hinnehmen wie sie waren. Und sein Schicksal bedeutete eben auch Einsamkeit.
 

Erschöpft blickte er wieder nach vorne und stockte. Was wollte der dumme Hase denn noch hier? Innerlich seufzte der Schwarzhaarige, es hätte ihm klar sein sollen, dass Lavi sich mal wieder quer stellen würde. Weniger wütend, als vielmehr von einer tiefen Traurigkeit erfüllt murmelte er: „Verschwinde, baka usagi.“ Die Antwort, die er bekam, war gleichzeitig standhaft, entschlossen, wütend, besorgt und unendlich liebevoll: „Nein, Yuu-chan.“

Everybody hurts... sometimes

~Hallo ihr Lieben!
 

Es freut mich, vielleicht dem einen oder anderen Leser eine unterhaltsame Geschichte zu bieten. Und siehe da, wir feiern das 10. Kapitel! Also, ich zumindest. Und da ich bisher (wenn auch wenige) nur positive Rückmeldungen bekommen habe, werde ich einfach so weitermachen, wie bisher. Die Spannung steigt. Denn nichts ist so, wie es scheint ;) Oder doch? Wer weiß?
 

Übrigens: ich habe mal künstlerische Freiheit walten lassen und Allen einen „richtigen“ Geburtstag gegeben :P Nur zur Info ;) Und es wir sehr traurig. Wer mag kann sich zum letzten Teil dieses Kapitels „Everybody Hurts“ von R.E.M. Anhören... Es passt wunderbar zu der ganzen Szene, finde ich.
 

So, ein kurzes Wort noch meinerseits: Ich möchte mit dieser Geschichte meinen Freunden danken, die in schweren Zeiten immer hinter mir standen und für mich da waren, auch wenn ich das nicht so gesehen habe. HEL
 

Und nun viel Vergnügen beim Weiteren Verlauf der Geschichte,
 

LG

Galenhilwen~
 

Übernächtigt stand Yuu im Badezimmer und schaute nach einer, glücklicherweise, erholsamen Dusche in den Spiegel. In das fremde Gesicht. Sein Gesicht. Kandas Gesicht. Seufzend senkte er den Blick, mit jedem Tag konnte er diesen Anblick weniger ertragen. Er sagte ihm, dass er Gefangener in einer fremden Hülle war, in die er nicht gehörte. Er zeigte ihm, was für eine Persönlichkeit Kanda gewesen war, doch für Yuu gab es keinen Platz, obwohl er sich nicht einmal an sein altes Ich erinnerte.
 

Nur in seinen Träumen fand die Auseinandersetzung zwischen seinen Anteilen statt. Und ganz klar hatte dort Kanda die Oberhand gewonnen. Es war also eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Yuu wieder verschwinden würde. Und er konnte nichts dagegen machen, es fühlte sich an, als wüsste er, dass er schon bald zum Tode verurteilt war, nur nicht GENAU wann. Es war keine einfache Todesstrafe, es war eine grausame Folter. Und diese Träume waren das Instrument zu diesen Qualen, die er durchlebte. Und Lavi war es, auf eine noch morbidere und perfidere Art, ebenso. Denn Lavi war das, was er durch seinen „Tod“ jeden Tag sehen, aber dennoch verlieren würde, wenn sich seine Befürchtung bewahrheiten würde. Und das wäre unerträglich.
 

Angezogen und mit einem gequälten Lächeln verließ er das Bad wieder, um Lavi an seiner Zimmertür zu finden, wo er sich angeregt mit Lenalee und Allen unterhielt. Er drehte sich herum und strahlte glücklich über das ganze Gesicht: „Yuu-chan, da bist du ja, wir haben gerade von dir gesprochen.“ Der Schwarzhaarige begrüßte den Besuch und lächelte leicht: „Na, ich hoffe nur gutes...“ Der Rotschopf grinste breit: „Na hör mal, ich würde nie ein schlechtes Wort über dich verlieren!“ Die anderen kicherten und Yuu war sich nicht ganz sicher, was er von der Situation halten sollte, also schaute er lediglich fragend drein und wartete ab.
 

Allen lächelte besonnen und nickte ihm zu: „Da heute kein Unterricht ist und endlich der Frühling das Wetter erträglich macht hatten Lenalee und ich uns überlegt, draußen ein kleines Picknick zu veranstalten und unterwegs, als wir vorbeikamen... na ja, da haben wir uns spontan entschlossen mal bei euch nachzufragen, ob ihr vielleicht mitkommen wollt.“
 

Erleichtert atmete der Japaner innerlich auf. Er wurde tatsächlich eingeladen und das von Allen. Es freute ihn sehr, nach allem, was Lavi ihm erzählt hatte. Also lächelte er und nickte zustimmend: „Das klingt toll, von mir aus gerne.“ Ohne eine Vorwarnung zog Lavi ihn aus dem Zimmer und folgte mit ihm im Schlepptau den beiden anderen Exorzisten. Etwas unwirsch folgte er den anderen und befreite sich mit geröteten Wangen vom Griff der Rothaarigen, der ihn weiterhin nur überglücklich angrinste. Woher nahm der bloß immer diese gute Laune? Selbst jetzt erschien es Yuu wie ein Wunder, dass ein Mensch eigentlich immer pure Lebenslust versprühte... und andere damit auch noch erfolgreich ansteckte, statt sie ausschließlich zu nerven. Nun, wahrscheinlich gab es eine Ausnahme, das konnte er sich nach allem Gehörten und Erlebten gut vorstellen und war keineswegs erfreut darüber.
 

Rasch jedoch verflogen die Gedanken darüber, dass er möglicherweise irgendwann schizophren werden würde, wenn er weiter so intensiv grübelte, als sie ins Freie traten und von einem herrlichen Frühlingstag begrüßt wurden. Die Sonne hatte die Luft auf angenehme 20°C aufgewärmt, die Luft war angenehm erfrischend und der Wind streichelte sanft über Wald und Flur. Nur wenige Wolken tummelten sich über ihnen, und selbst die schienen diesen schönen Tag zu genießen, in dem sie sich gemächlich vom Wind treiben ließen.
 

Mit Picknickkorb und Decke bewaffnet, streunten Allen, Lenalee, Yuu und Lavi eine Weile durch den Wald, erzählten sich Geschichten, lachten, spielten Verstecken, pflückten Blumen und frische Pilze und erreichten nach einer guten halben Stunde eine kleine Lichtung, die im Normalfall in 10 Minuten zu erreichen gewesen wäre. Aber an diesem Tag kümmerte sich darum niemand, jeder wollte einfach nur unbeschwert genießen und Spaß haben.
 

Während Yuu und Lavi die Decke ausbreiteten, richteten Allen und Lenalee das Essen und die Getränke an. Gemeinsam platzierten sie alles in der Mitte, um sich anschließend mit den anderen darum hinzusetzen. Lenalee lächelte entschuldigend: „Leider haben wir kein Soba dabei Yuu, ich hoffe, du wirst trotzdem etwas finden.“ Er winkte etwas hilflos ab: „Mach dir keine Sorgen, als 'Untermieter' bei Lavi verhungert man schon nicht.“ Alle kicherten und der Rotschopf tat gespielt beleidigt: „Untermieter? Das würde ja heißen, ich bekäme Geld dafür, dass deine Socken in meinen Zimmerecken Verstecken spielen.“ Lange konnte er den gespielt bösen Blick einfach nicht aufrecht erhalten, prustete statt dessen lachend los und hielt sich den Bauch.
 

Beherzt griff Yuu bei Paprika, Brot und Frischkäse zu. Beim Obst war er zurückhaltender, bis Lavi ihm kurzerhand einfach ein Stück Wassermelone in den Mund schob und fies grinste: „So kannst du wenigstens sagen, du hast es probiert und für schlecht befunden.“ - „Grmpf. Daf gift Rache.“ Entschlossen tunkte er einen Paprikastreifen in Wasabi und hielt ihn dem Rothaarigen vor die Nase, der den Kopf zurückzog und empört quiekte: „Wage es dich nicht! Wer hat ihm das gesagt?“ Der Japaner lächelte süffisant: „Du selber.“ Er krabbelte weiter auf seinen Freund zu, der angewidert aufsprang und sich im Zickzack um die naheliegenden Bäume schlängelte, während Yuu ihn mit dem getunkten Gemüse verfolgte.
 

Lenalee kugelte sich vor lachen schon fast ins Essen und auch Allen liefen die Tränen durch diesen wahrheitsgemäß einmaligen Anblick in Strömen die Wangen herab. Ein aufgebrachtes Kreischen ertönte, ehe Lavi zwischen den beiden auf der Decke landete und sich hastig eine ganze Flasche Wasser einverleibte. Zwischendurch schimpfte er wie ein Rohrspatz: „Das... kriegst du wieder!... Wie unfair!... Du bist so gemein zu mir!... Das gibt Rache...“ Während Lenalee und Allen langsam aber sicher vor Bauchkrämpfen mit dem Lachen aufhören mussten, folgten sie dem, natürlich gespielt übertriebenen, beleidigten Blick des Rothaarigen zu einem Baum, hinter dem Yuu vorsichtig den Kopf herausstreckte und einen atemberaubenden Blick bot.
 

Sofort fielen Lavi alle Gesichtsmuskeln wieder in sich zusammen und er starrte den Japaner mit offenem Mund an. Die zierlichen Finger krallten sich in die Baumrinde, ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen, seine Haare wehten vor malerischer Kulisse leicht im Wind und ein schüchternes Rot zierte seine Wangen. Leise kicherte er: „Hab dich erwischt.“ Nur für Allen und Lenalee hörbar hauchte Lavi apathisch: „Und wie, Yuu-chan.“ Die beiden neben ihm tauschten einen irritierten Blick aus, der sich bei beiden binnen weniger Sekunden änderte. Von fragend über überlegend zu verstehend, um schließlich überrascht wieder aufeinanderzutreffen.
 

Yuu ließ sich wieder auf seinem Platz nieder und auch Lavi robbte mit brennendem Mund wieder dorthin, wo er zuvor gesessen hatte. Nachdem sich alle mit einem mehr zusagenden Essen gesättigt hatten und die Reste wieder im Korb verstaut waren, saßen die Vier nebeneinander und genossen das Wetter, die Natur und die Ruhe. Nach einer Weile des Schweigend entschied Allen sich dazu, seinen Plan vom Vorabend in die Tat umzusetzen, der neue Kanda hatte sich mehr als bewiesen und es würde ihm eine Freude sein, dem Japaner diese Frage zu stellen.
 

Sein blickte schweifte zu dem Schwarzhaarigen und er legte ein warmes Lächeln auf: „Du, Yuu, darf ich dich etwas fragen?“ Dieser sah ihn fragend und auch etwas besorgt an, nickte dann aber: „Sicher, Allen.“ - „Ich... ich würde gerne wissen, ob du zu meiner Geburtstagsfeier kommen würdest...“ Erleichtert atmete der Japaner auf und kicherte verlegen: „Ach so. Klar, wenn du mich dabei haben möchtest gerne.“ - „Sonst würde ich nicht fragen. Ich gebe euch nachher noch eine schriftliche Einladung, also keine Sorge. Du brauchst auch kein Geschenk...“
 

Plötzlich wurde die Stille von einer Stimme durchbrochen: „Lenalee? Allen? Wo seid ihr denn, verdammt?“ Der weißhaarige sah auf: „Ist das nicht Miranda?“ Lavi nickte: „Ich glaube schon, auch wenn ich sie noch nie habe brüllen hören...“ Lenalee grinste: „Das nennst du brüllen? Na, pass mal auf: HIER SIND WIIIIIIR! HIER DRÜÜÜÜÜBEN!“ - „Danke, jetzt hab ich einen Tinnitus...“ Allen grinste: „Was hast du gesagt? Ich höre nichts mehr!“ Während die beiden weiter Späße machten, erreichte Miranda die Gruppe und keuchte erschöpft, als sie vor der Decke stehen blieb. Nach Luft hechelnd raunte sie: „Na endlich... Komui sucht euch schon überall.“ Der Weißhaarige hob eine Augenbraue: „Wir sind zu Viert, ihr wird schon nichts passieren.“ - „Darum geht es doch gar nicht. Es gibt eine Besprechung, weil wieder Akuma aufgetaucht sind.“
 

Schmollend verschränkte Komuis Schwester ihre Arme: „Können die uns nicht einmal einen freien Tag gönnen?“ Allen seufzte: „Wie es aussieht wohl nicht... wir müssen nur eben noch zusammenpacken.“ Doch Lavi winkte beruhigend ab: „Lass gut sein und geht. Das erledigen wir schon. Ihr könnt euch die Sachen abholen, wenn ihr wieder zurück seid.“ - „Ist gut, danke.“ Auch Yuu lächelte: „Kein Problem.“ Keinem entging Mirandas fragender Blick in seine Richtung, doch Lenalee zog sie energisch hinter sich her und kicherte: „Ich erkläre dir das unterwegs.“
 

Nachdem die drei außer Sichtweite waren, legte sich wieder eine angenehme Stille über den kleinen Platz im Wald. Lavi sah seinen besten Freund von der Seite an und lächelte: „So schnell kann es gehen, dass die Arbeit ruft. Es tut gut, mal so etwas wie 'Urlaub' zu haben.“ Der Schwarzhaarige erwiderte seinen Blick skeptisch: „Ach, wirklich?“ - „Klar. Die Arbeit macht Spaß, ja, aber für ein paar Tage mal ein ganz normales Leben haben... um nichts in der Welt würde ich dieses Erlebnis eintauschen.“ Doch Yuu lachte trocken auf und seufzte: „Das empfindest du als normal? Ich belagere seit Tagen dein Zimmer, halte dich von allem ab und mache allen Sorgen. Und erinnern kann ich mich auch nicht. Ich bin anscheinend nicht mehr im Ansatz wie vor meinem Gedächtnisverlust und du redest von Normalität?“
 

Lavi griff nach Kandas Hand und schmunzelte leicht: „So war das auch nicht gemeint. Vielleicht ist es für meine Verhältnisse nicht normal, aber so habe ich mir ein normales Leben immer vorgestellt.“ Er schloss die Augen. „Unbeschwertheit, Spaß, Freizeit, Freunde...“ Er spürte, wie Yuu seine Hand wieder zu sich zurück zog und seine Beine anwinkelte, diese mit seinen Armen umfasste und seinen Kopf auf den Knien ablegte. Der Blick in seinen Augen war trüb und sowohl traurig, als auch nachdenklich. Der Rotschopf rückte näher an ihn heran und legte seine Hand auf dessen Schulter ab: „Was bedrückt dich?“
 

Der Schwarzhaarige seufzte: „Weißt du... ich habe seit dem ersten Tag eine Frage... und gleichzeitig große Angst sie zu stellen...“ - „Wieso hast du Angst davor?“ - „Weil ich nicht weiß, ob ich mit der Antwort umgehen könnte...“ Lavi hockte sich vor seinen besten Freund, befreite dessen Beine aus der Umklammerung und strich ihm sanft über die Wange: „Du brauchst vor mir doch keine Angst zu haben, Yuu-chan...“ Er legte seine Hand auf die Brust des Japaners und drückte ihn sanft zu Boden, setzte sich auf dessen Hüfte und lächelte ihn von oben liebevoll an, genoss die deutlich sichtbare Verlegenheit auf den eigentlich hellhäutigen Wangen. Langsam beugte er sich weiter hinab, bis er mit seiner Stirn die des Anderen berührte und dessen aufgeregten Atem hörte und spürte.
 

Yuu wusste plötzlich genau, dass er diese Frage niemals stellen würde, wenn er es nicht in diesem Augenblick täte. Er würde die Antwort nicht mehr hören wollen, im Grunde kannte er sie bereits ganz genau, das sah er in den Augen des Anderen, spürte es in den Berührungen und las es auf seinem Gesicht. Doch noch konnte er es verhindern, dass ihrer beider Zwiespalt noch schlimmer werden würde, als er es ohnehin bereits war. Ehe Lavis Lippen seine trafen, legte er seine Hand auf dessen Mund und keuchte aufgeregt: „Es tut mir Leid, Lavi, aber ich muss vorher etwas wissen...“ - „Was?“ - „Also... bevor ich mein Gedächtnis verloren habe... warst du... ich meine... waren wir...“ - „Du meinst, ob wir zusammen waren?“ Mit einem dicken Kloß im Hals nickte der Schwarzhaarige zögerlich.
 

Der Blick des Rothaarigen senkte sich betrübt, seine Stimme war nicht mehr als ein Wispern: „Nein...“ Mit angehaltenem Atem starrte Yuu seinen Freund an. Genau diese Antwort hatte er so befürchtet und dennoch gehofft, sie würde nicht fallen. Mit zittriger Hand schob er Lavi wieder von sich herunter und hauchte mit Tränen in den Augen: „Bitte verzeih mir, es tut mir wirklich unsagbar Leid... aber dann kann ich das nicht machen...“ Nicht einmal die Tränen konnte Lavi dem Japaner von den Wangen streichen, da dieser sich bereits erhoben hatte und auf dem Weg zurück zum Orden war. Tief in seinem Inneren wusste Lavi, dass Yuu die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte und dass es diesem ganz offensichtlich nicht weniger weh tat, als ihm selbst. Und doch hasste er ihn gerade dafür, das Richtige getan zu haben. Er hasste sich selbst dafür, in diesem Leben gefangen zu sein und nicht seinem Herzen folgen zu dürfen. Und er hasste sich selbst dafür, welchen Weg er für sich beschlossen hatte, als er Yuu noch nicht kannte. Es war nicht fair.
 

Die Tränen liefen leise an seinen Wangen hinab und landeten auf der Decke, auf der er nun alleine mitten im Wald lag und in den Himmel starrte. Ja, es war wirklich nicht fair. Und am Wenigstens fair war es, dass er nicht einmal Yuu verantwortlich machen konnte, ihm nicht böse sein durfte. Denn dieser handelte einzig aus einem Gedanken heraus: wenn sie es jetzt nicht aufhielten, dann würde es irgendwann zwangsweise passieren und das hätte ihnen beiden das Herz noch viel mehr gebrochen, als nun. Aber gab es überhaupt eine Steigerung dieses Gefühls? War gebrochen nicht gebrochen, egal in wie viele Scherben das Herz zersprang? Egal wie groß die Bruchstücke letztlich sein mochten? Konnte Liebe so grausam sein? Konnte Yuu nicht einmal in seinem Leben etwas unüberlegt tun? Nur dieses eine Mal...
 

Weinend kniete Yuu im Zimmer auf dem Boden, die Hände vor sein Gesicht gelegt und von unzähligen Tränen benetzt. ER hasste SICH dafür, dass er unbedingt diese Frage hatte stellen müssen. Dass er es unbedingt wissen musste, dass er aus der verschwiegenen Wahrheit eine ausgesprochene hatte wandeln müssen. Er wusste doch, dass es eine aussichtslose Sache gewesen wäre, nur hätte er sie einfach genießen können, so lange es ihnen möglich gewesen wäre. Und nun war nicht nur er am Boden zerstört, sondern hatte Lavi einfach mit sich gerissen.
 

Noch immer liefen ihm Tränen an den Wangen herab und landeten auf seinen Händen und am Boden, sein Herz schmerzte unerträglich und sein Magen drehte sich angewidert herum. Es war das Richtige für sie gewesen, aber es fühlte sich nicht im Geringsten so an. Er wollte Lavi doch nur davor bewahren, hinterher, wenn Kanda wieder auferstand, nicht noch mehr verletzt zu werden. Und doch würde er ihn mit Sicherheit nun hassen für das, was er getan hatte. Auch wenn er wusste, dass der Rotschopf verstanden haben mochte, wieso er das einfach hatte tun müssen. Kanda würde diese Gefühle nicht mehr zulassen. Kanda würde Lavi mehr denn je weh tun. Und dafür liebte Yuu ihn viel zu sehr, um ihm dem aussetzen zu wollen. Verzweifelt seufzte und schluchzte er all seine Trauer laut hinaus und sackte in sich zusammen.
 

Wieso nur, wieso konnte statt ihm, Yuu, nicht einfach Kanda für immer sterben? Wieso war er fort und doch so nah, wie niemals zuvor? Wieso quälte er selbst seine eigene, milde Seite unter solcherlei höllischen Schmerzen? Wieso wollte er selbst das letzte bisschen Menschlichkeit in sich töten, das ihm die Verbitterung nehmen könnte? Wieso wollte Kanda ihn nicht akzeptieren und wieso konnte Kanda Lavi nicht genauso lieben, wie er?

Entscheidungen

~Tut mir Leid, ist ein etwas kürzeres Kapitel, aber es geht bald weiter :) Und es wird noch richtig spannend, versprochen. Aber erst einmal viel Spaß mit Kapitel 11!
 

LG

Galenhilwen~
 


 

Zwei Tage lag das Picknick nun bereits zurück. Allen und Lenalee wollten morgen von ihrem Auftrag zurückkehren und Lavi war so dankbar wie noch nie in seinem Leben dafür. Zwei Tage, in denen ein Blick reichte, um in zwei Menschen Wogen der Zerstörung auszulösen. Zwei Tage, in denen jedes Wort verschluckt wurde, denn es wären Worte über das gewesen, das sie aufzuhalten versuchten. Zwei Tage, in denen die wohl glücklichsten Menschen dieser Welt erkennen mussten, dass der Aufprall in der Realität grausam und unerbittlich war. Zwei Tage, in denen der Rothaarige immer wieder an der Zimmertür von Kanda stand und sein ganzer Körper sich zusammenzog, wenn er die Schreie und das Weinen hörte. Die Schmerzensschreie und das abgrundtief verzweifelte Weinen. Und gegen beides fühlte er sich einfach nur machtlos.
 

Seit zwei Tagen hatte sich sein Yuu-chan in dem Horrorzimmer eingeschlossen, nicht gesprochen, nicht gegessen, nicht geschlafen, nicht gelacht. Und Lavi hielt es nicht mehr aus, wie sehr sich seine Schönheit nicht nur quälte, sondern auch ihn dabei den Boden unter den Füßen wegriss. Er ertrug diese Schreie nicht mehr, die den ganzen Orden bereits in Panik versetzt hatten. Er ertrug die Fragen nicht mehr, die ihm alle stellten und am Allerwenigsten ertrug er die Leere in seinem Zimmer, in seinem Bett, in seiner Seele und in seinem Herzen. Er würde nicht einfach aufgeben, er würde kämpfen. Dazu hatte er sich entschlossen und es war ihm völlig egal, ob der sture Japaner an seiner Haltung festhalten würde oder nicht.
 

Wieder einmal stand Lavi vor der Zimmertür des Schwarzhaarigen und hörte, wie dieser einfach nur nach Hilfe rief, mit tränenerstickter Stimme. Ohne zu klopfen öffnete er die Tür und blieb einen Augenblick entsetzt stehen. Kein Licht brannte, aber der Schein, der aus dem Flur auf die Gestalt am Boden einfiel reichte, um sich ein Bild machen zu können. Wie ein Embryo zusammengekauert lag Yuu mitten im Zimmer und schien darauf bedacht zu sein, nichts anderes außer dem Boden unter sich zu nahe zu kommen, so klein hatte er sich gemacht. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben, seine Kleidung war von Tränen gezeichnet, sein Körper zitternd, seine Gliedmaßen kraftlos wirkend.
 

Der Rotschopf vernahm erneut ein leises „Hilfe...“ ehe er sich über seinen Freund beugte, ihn vorsichtig auf seine Arme hob und ohne Umschweife auf sein Zimmer zurück brachte. Unterwegs redete er leise und versucht beruhigend auf Yuu ein: „Scht, es wird alles wieder gut, ich bin doch da. Gleich haben wir es geschafft.“ Eine Hand krallte sich in sein Shirt und die Stimme des Schwarzhaarigen war kraftlos: „Lavi... bitte verzeih mir...“
 

In seinem Zimmer legte Lavi seinen Freund aufs Bett, deckte diesen zu und bettete dessen Kopf, nachdem er sich hingesetzt hatte, auf seinem Schoß. Zärtlich strich er ihm immer wieder mit dem Daumen über die Wange und säuselte leise: „Ach Yuu-chan, mir tut es auch Leid. Aber ich lasse dich nicht wieder los und schon gar nicht alleine, das verspreche ich dir.“ - „Aber was ist, wenn...“ - „Das ist mir egal. Mit Kanda werde ich schon fertig. Vertrau mir einfach.“ Der Schwarzhaarige seufzte leise, ehe er müde nuschelte: „Das tue ich doch.“ Die Erschöpfung übermannte ihn und er schlief im Schutz von Lavis Schoß, Zimmer, Nähe und Berührungen ein.
 

„Was soll das heißen, nein?“ Wutschnaubend ging er auf den Rotschopf zu, mit geballten Fäusten. Doch Lavi grinste ihn, wie so oft, süffisant und herausfordernd an: „Du wirst schon wissen, welche Bedeutung das Wort hat, Yuu-chan.“ - „Hör auf mich so zu nennen!“ - „Och nö.“ Rasend vor Wut packte er die Nervensäge auf zwei Beinen am Kragen und fauchte: „Hau einfach ab, baka usagi. Lass mich endlich in Frieden!“
 

Doch der Rothaarige blieb stur: „Frieden sieht anders aus, meinst du nicht? Was stört dich so daran einfach ein bisschen Glück und wirklichen Frieden zuzulassen, statt immer einsam und unglücklich zu sein?“ Er stieß den Hasen von sich und brüllte: „Was redest du da? Mir ging es nie besser.“ - „Doch, Yuu-chan, und ich habe es gesehen.“ - „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“ - „Und du lenkst ab. Wieso willst du einsam und alleine sein?“ Der Japaner strich sich übers Gesicht und knurrte: „Sobald es zurück ist bring ich dich um, das schwöre ich dir, baka!“ - „Das war keine Antwort auf meine Frage.“ - „Verdammt, es ist doch egal! Was willst du hören? Gerade du solltest wissen was es bedeutet an ein Schicksal gebunden zu sein.“
 

Lavi sah auf und lächelte warm: „Aber ein Schicksal bedeutet nicht, dass man nicht den freien Willen haben kann, um eigene Entscheidungen zu treffen. Du bist Yuu-chan und nicht 'Kandas Schicksal'.“ Aufgebracht stieß der Schwarzhaarige den anderen zu Boden und brüllte: „Das ist eine Lüge! Du lügst!! Ich bin nur so weit gekommen, weil ich meine Entscheidungen abgelegt habe.“ Der dumme Hase lächelte tatsächlich noch immer: „Du hast dich also entschieden dich nicht zu entscheiden. Du hast dich immer wieder entschieden, den anderen und mir zu helfen, obwohl du uns so hasst. Kein Mensch kann einfach nichts machen, selbst das Ausbleiben einer Reaktion ist eine Reaktion.“
 

Yuu hielt sich die Ohren zu und brüllte hilflos auf den Rotschopf ein: „HÖR AUF! UND JETZT HAU AB! GEH ENDLICH!“ - „Das kann ich nicht. Denn ich li... - „SAG ES NICHT!“ - „Verdammt, Yuu-chan! Ich sage es dir! Wenn nötig so lange, bis du es mir glaubst! Ich liebe dich!“ Der Schwarzhaarige sackte zusammen und schien seine Finger in den harten Boden bohren zu wollen: „Wieso? BAKA! WIESO? Bist du so dumm oder tust du nur so?“ Er knurrte und fauchte vor Wut ganz aufgebracht. „Ich hasse alles und jeden!“ Die Blicke der beiden jungen Männer trafen sich. „Und dich, baka usagi, hasse ich von allen am Meisten!“
 

Während der Rothaarige nach Luft und Fassung rang, drehte der Japaner seinen Kopf zur Seite, damit sein Freund das schmerzverzerrte Gesicht nicht sehen konnte. Und die Träne nicht, die dem Schwertkämpfer die Wange hinunterlief.
 

Es war schon nach Mitternacht und Lavi hatte noch kein Auge zu bekommen. Noch immer saß er auf dem Bett und streichelte über die Wange des Schwarzhaarigen. Alles war ruhig, und der Mond schien sanft in das kleine Zimmer herein.
 

Plötzlich begann der Körper Yuus wieder erbärmlich zu zittern. Der Rothaarige kehrte von seinen Gedanken zurück und sah besorgt in das Gesicht auf seinem Schoß. Immer heftiger wand der Kopf sich hin und her, die Züge von gleichzeitig Schmerz, Angst und Wut verzerrt. Hilflos versuchte er den Japaner ruhig zu halten. Doch je mehr er dies versuchte, umso stärker wälzte dieser sich hin und her. Und dann hörte Lavi ihn zum zweiten Mal in seinem Leben, diesen erschütternden Schrei, der ihm durch Mark und Bein fuhr, schlimmer als all die anderen der letzten zwei Tage.
 

Nun wurde der Rotschopf panisch. Was war bloß mit Yuu-chan los? War der innere Konflikt in dem Schwarzhaarigen von solch immensen Ausmaßen? Wie konnte er ihm helfen? Verzweifelt und mit einer klaren Panik im Auge begann er einfach den Anderen an den Schultern zu packen und zu schütteln, während er immer wieder rief: „Yuu! Yuu-chan!Wach auf!“
 

Mit einem Ruck fuhr sein Freund mit panisch aufgerissenen Augen auf und sah sich nach Luft ringend überall um. Yuu verstand nicht sofort, was passiert war. Er war nicht mehr in Kandas Zimmer... er war wieder bei... „Lavi?“ hauchte er kraftlos. Der Rotschopf sah ihm eine Weile, noch immer von Angst gezeichnet, in die Augen, ehe dieser die Arme um ihn schlang und fest an sich drückte. Beruhigend strich er dem Schwarzhaarigen über den Kopf, welcher sich noch versuchte vor der Nähe und der Berührung zu wehren, und raunte: „Yuu-chan... egal was kommt, ich werde immer für dich da sein, hörst du?“
 

Der Japaner blickte auf und schüttelte den Kopf: „Aber wieso? Nach allem, was ich getan habe?“ Das warme und liebevolle Lächeln, das seinem Freund ins Gesicht geschrieben stand, tat ihm so unendlich gut und sagte mehr, als es jedes Wort fähig gewesen wäre. Und trotzdem drang Lavis Stimme klar und deutlich an sein Ohr: „Yuu-chan. Ich liebe dich. Das habe ich immer und daran wird sich nichts ändern. Und wenn das die Einzige Möglichkeit ist dir dies zeigen zu können, dann sei es eben so. Ich lasse dich nicht los. Ich gebe dich nicht auf, selbst wenn du wieder der Alte sein wirst...“ Die Gegenwehr an Lavis Brust ließ allmählich nach, der Schwarzhaarige schien sich zu entspannen.
 

Yuu war ganz in Gedanken versunken. Er rief sich die Szenen aus seinem Traum ins Gedächtnis. Auch dort wollte der Rotschopf ihn nicht aufgeben. Doch dort hatte Kanda das Sagen. Hier nicht. Hier war im Moment nur er und konnte doch getrost ignorieren, was sein altes Ego von seinen Entscheidungen hielt. Hier konnte er nicht einfach darüber hinwegsehen, dass Lavi sein Wort hielt, indem dieser ihn gerettet hatte, aus diesem eisigen Gefängnis in Kandas Zimmer befreite. Er wollte Lavi nicht verlieren, sein Glück nicht verlieren.
 

Dankbar und vertrauensvoll erwiderte er die innige Umarmung und zauberte dem Rotschopf ein Lächeln auf dessen Gesicht. Dann sah Yuu entschlossen auf und nickte: „Du hast Recht. Ich gebe auch nicht auf, versprochen.“ Ein feines Leuchten blitzte in den verschleierten Augen des Schwarzhaarigen auf. Er war genauso ein Teil Kandas, wie sein altes Ich. Und er hatte sich entschlossen, Entscheidungen FÜR sich zu fällen. Für sich, für Lavi und für die Gefühle, die Kanda nicht einfach verbannen konnte. Und während er seinem alten Ego den Kampf ansagte, schmiegte er sich an die warme Brust, genoss die schützenden Arme um sich und spürte das Glück, das er beinahe völlig aufgegeben hätte.
 

Lavi grinste leicht, aber selig. Und doch entschied er sich, erst einmal nur die wiedergewonnene Nähe zu genießen und das Wissen, dass sie einfach zusammengehörten. Es würde einen Weg geben, das wurde ihm mit jedem Atemzug mehr bewusst. Niemals wieder würde er dieses Glück aufgeben. Langsam schloss er seine Augen und hauchte einfach, ohne weiter darüber nachzudenken, ein weiteres Mal: „Ich liebe dich, Yuu-chan.“ Für ein paar Sekunden wurde es absolut still, bis endlich die Stimme des Schwarzhaarigen leise und zart erklang: „Ich liebe dich auch, Lavi.“

Allens Geburtstagsfeier

Einen Tag später waren Allen und Lenalee erneut von ihrem Auftrag zurück, und erneut hatte sich die Aktion als falscher Alarm herausgestellt. So langsam konnten sie Komuis Sorgen verstehen, doch gerade Allen hatte eigentlich ganz andere Dinge im Kopf. Es bescherte ihm zwar auch ein schlechtes Gewissen, aber er wollte sich seine Geburtstagsfeier nicht auch noch durch die Akuma vermiesen lassen.
 

Zwei Tage hatte er sich mit seiner Freundin wild auf die Vorbereitungen gestürzt, um allen einen wundervollen Abend zu bescheren. Nun fanden sich in seinem Zimmer Getränke, Chips und Schokolade, Gläser, Spiele und ein saftiger Schokoladenkuchen. Überall hingen Girlanden und Luftschlangen. Zufrieden seufzte er, als alles fertig war und sah Lenalee lächelnd an: „Ich kann es kaum erwarten! Das wird ein witziger Abend.“ - „Ich freue mich auch schon. Und jetzt werde ich mich auch gebührend in Schale schmeißen. Ich hoffe das tust du auch! Bis nachher.“ Sie verließ den Weißhaarigen, der sich umgehend am Kleiderschrank bediente und im Badezimmer verschwand.
 

Lavi hatte sich gerade die Haare versucht zu kämmen und war mit dem Ergebnis so zufrieden, wie er es bei diesem Gewirr auf seinem Kopf sein konnte. Grinsend musterte er sich noch einmal im Spiegel. Es war ungewohnt, ohne den Exorzistenmantel herumzulaufen, aber im positiven Sinne. Ein blaugraues bedrucktes Shirt schaute unter seiner weißen Kapuzenjacke hervor. Die Jeans, die er trug, war zwar verwaschen und hatte hier und dort den einen oder anderen kleinen Riss, aber es war seine Lieblingshose. Gerade weil sie bereits davon zeugte, wie oft er sie getragen hatte, mochte er dieses Kleidungsstück so gerne. Am seiner Stirn zierte ein grünes Tuch den Anblick und abgerundet wurde alles durch die bequemen Schuhe, die wenigstens genauso verlebt waren, wie seine Hose.
 

Er verließ das Bad und fand Yuu auf dem Bett sitzend vor, der abwesend auf seine Füße starrte und seufzte. Etwas besorgt nahm er neben seinem Freund Platz und lächelte aufmunternd: „He, Yuu-chan, freust du dich nicht auf die Feier?“ Der Angesprochene sah auf und lächelte gequält: „Oh, doch, natürlich. Wird sicher lustig.“ Zaghaft legte der Rotschopf seinem Freund die Hand auf die Schulter und hauchte: „Was bedrückt dich? Ist es das, was ich gestern gesagt habe?“ Wortlos nickte der Japaner. „Ach, Yuu-chan. Es tut mir Leid. Für mich ist das doch genauso schwierig, wie für dich.“ Wieder erschien das gequälte Lächeln auf den Lippen des Schwarzhaarigen, als dieser seufzte: „Das weiß ich doch, Lavi. Nur ich verstehe nicht, wieso wir kämpfen wollen, ohne uns dabei nahe sein zu dürfen?“
 

{Flashback}
 

Lavi strich durch die langen und schwarzen Haare. Er lag auf seinem Bett, der Kopf des Kleineren ruhte auf seiner Brust und dessen Körper schmiegte sich an seinen. Selig sog er den Duft von Ingwer, Zitronengras und Kirschen in sich auf, während er erschöpft seufzte: „Yuu-chan?“ - Mmh?“ - „Wir sollten damit aufhören. Ich weiß, wir kämpfen für unsere Liebe, aber ich möchte nichts tun, das es mir mit Kanda vielleicht eines Tages unmöglich macht, ihn zu überzeugen.“ - „Aber, Lavi...“ - „Denk doch einmal drüber nach. Küsse ich dich, küsse ich auch ihn. Das würde er mir nie verzeihen...“ Stille breitete sich aus. Yuu wusste, dass der Rotschopf irgendwie Recht haben könnte, aber kämpfen sah für ihn trotzdem irgendwie anders aus. Seufzend drehte er sich von Lavi weg und schloss seine Augen. War es überhaupt möglich, dass sie zusammenbleiben konnten? Gab es irgendeine Hoffnung?
 

Der Rothaarige vermisste augenblicklich die Nähe des Japaners. Traurig sah er auf diesen hinab. Es war nicht schön für ihn zu sehen, wie verletzt die Schönheit in seinem Bett lag und vollkommen entkräftet wirkte. Er neigte doch sonst nicht dazu, wieso zweifelte er in dieser Sache aber alles an, was er tat? Wieso konnte er Yuu ebenso wenig alles geben, was er hatte, wie er ihn einfach ziehen lassen konnte, um dem Problem zu entgehen? Er hatte nie Probleme damit gehabt, eine Entscheidung zu fällen. Doch nun schwankte er zwischen zwei Möglichkeiten, die ihm beide Angst machten, da er einfach nicht absehen konnte, was es für Konsequenzen haben würde.
 

{Ende Flashback
 

Yuu erhob sich und zog Lavi hinter sich her: „Komm, wir wollen Allen den Abend nicht verderben und Trübsal blasen. Er kann da nichts für.“ Der Rothaarige nickte etwas verstimmt, folgte seinem Freund jedoch auf dem Fuße. Mit einem aufgesetzten Grinsen nickte er: „Du hast Recht, heute lassen wir es krachen.“
 

Er musterte den einstigen Schwertkämpfer mit verträumtem Blick. Die langen seidigen Haare tanzten mit jedem Schritt, den dieser tat. Wieder trug Yuu seine schlichte, aber elegante Garderobe bestehend aus einem weißen Hemd und einer schwarzen Hose. Mehr schien dem Rotschopf auch nicht nötig zu sein, um die Eleganz und erhabene Präsenz des Schwarzhaarigen zu unterstreichen. Es war genau das Richtige für diesen.
 

Rasch erreichten sie Allens Zimmer und wurden dort freudig empfangen. Zur Begrüßung gab es ein Glas Sekt, mit dem sie auf das Wohl des Geburtstagskindes anstießen. Außer Lavi, Yuu, Allen und Lenalee waren noch Miranda und Tapp Dopp anwesend. Mehr hätten auch wirklich nicht in das Zimmer gepasst.
 

Die sechs setzten sich gemütlich auf den Fußboden und begannen mit dem klassischen Spiel „Wer bin ich?“, dem Auftakt zu einem gemütlichen und lustigen Abend. Bis Lenalee auf die Idee kam, sie könnten doch eine heitere Runde Flaschendrehen spielen. Bis auf Lavi und Yuu waren alle gleich begeistert von der Idee. Der Rotschopf und der Schwarzhaarige jedoch tauschten einen Blick aus.
 

Der Japaner erkannte sofort in dem funkelnden grünen Auge die nagenden Zweifel aufblitzen, während die anderen um ihn herum bereits aufbauten. Seufzend erhob er sich und lächelte entschuldigend: „Spielt schon einmal ohne mich, ich brauche ein bisschen frische Luft.“ Er spürte den Blick auf seinem Rücken, denen sie ihm zuwarfen, allen voran Lavi. Doch er wollte weder sich, noch den Rothaarigen in eine Situation führen, die alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Taktischer Rückzug. Das war das Einzige, was ihm dazu einfiel. Schweren Herzens verließ er das Gebäude und ließ sich an dem Baum im Gras nieder, an dem sie neulich noch gesessen und sich zum ersten Mal fast geküsst hätten.
 

Lavi sah in die Runde und seufzte: „Das ist nicht zum Aushalten mit Yuu-chan.“ Lenalees Blick war fragend: „Wieso das denn nicht? Hallo? Am Liebsten wäre es mir, wenn der Alte gar nicht wieder auftaucht!“ Allen nickte zustimmend: „Eben. Wie kann es da nicht zum Aushalten sein?“ Der Rotschopf seufzte erneut: „Ach, das ist alles so kompliziert.“ Nun zierten die Gesichter der anderen Gäste breites Grinsen, ehe der Weißhaarige kicherte: „Was ist denn mit dir los? So kennt man dich gar nicht. Da muss einer aber schwer verknallt sein!“ Hilflos erwiderte Lavi das Grinsen: „Ist das SO offensichtlich?“ Wie aus einem Mund schallte es ihm entgegen: „JA!“ Er kicherte: „Aber was soll ich machen? Wenn Yuu-chan wieder so wird wie früher, wer weiß, ob er mich dann noch will?“
 

Lenalee verschränkte schnippisch die Arme: „Jetzt tu aber mal nicht so blöde.“ Er sah sie fragend an. „Na ja. Erstens kannst du das nie wissen, wenn du ihn nicht fragst, oder? Zweitens wird es immer unwahrscheinlicher, dass er sich je erinnern wird. Und Drittens nehmen wir mal den worst case an: du offenbarst dich ihm und er erinnert sich irgendwann doch.“ Sie piekte ihn in die Schulter. „So hast du zumindest eine wundervolle Zeit mit ihm verbringen können, genieße es doch einfach. Außerdem hat gerade dir Kanda schon so oft gedroht und dir trotzdem Sachen durchgehen lassen, dass es sicherlich darauf auch nicht mehr ankommen würde.“
 

Unsicher schaute Lavi in die Runde, doch jeder einzelne von ihnen nickte ihm zu. Ein wieder selbstsicheres und hoffnungsvolles Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht: „Danke, ihr seid die Besten.“ Er stockte. „Habt ihr etwas dagegen, wenn ich...“ Allen grinste: „Du bist ja immer noch nicht weg!“ Fröhlich sprang der Rotschopf auf, um nach seiner großen Liebe zu suchen. Irgendwie gefiel ihm dieser Gedanke mit genau dieser Umschreibung. Alles andere wäre seiner grundlegenden Gefühlswelt einfach nicht gerecht geworden.
 

Yuu hatte bemerkt, dass sein Ausflugsziel keine besonders intelligente Wahl gewesen war. Alles hatte ihn nur ständig an die schöne Zeit mit seinem Liebsten erinnert. Traurig und mit gesenktem Blick schritt er wieder über den Flur im Orden, als er plötzlich umgerannt wurde und zu Boden fiel. Etwas mürrisch sah er auf, verfiel jedoch augenblicklich in einen Zustand der Verwunderung und der Hoffnung, als ein strahlender funkelnder grüner Smaragd ihn aus dem Halbdunkel ansah und ihm dabei half aufzustehen.
 

Etwas irritiert über den unsagbar glücklichen Blick des Rothaarigen hauchte Yuu vorsichtig: „Lavi, was...“ - „Scht... Es tut mir Leid, Yuu-chan.“ Ihre Blicke trafen sich, voll von unendlicher Zuneigung und zwangloser Vertrautheit. Während Lavi den Japaner sanft an die Wand drückte, raunte er zärtlich: „Ich liebe dich. Wenn ich Kanda schon nicht nahe kommen kann, dann möchte ich wenigstens die Zeit nutzen, die wir noch haben. Und nicht noch mehr von ihr vergeuden.“ Es brachte ihn noch immer um den Verstand, wenn der Schwarzhaarige verlegen wurde. Der Rotschimmer auf dessen Wangen sprachen für sich, ebenso wie das leichte Funkeln der sonst trüben Augen.
 

Sanft glitten Lavis Finger zum Nacken seines Gegenüber, während er sein Gesicht langsam nach vorne schob. Sein Herz raste, pochte ungehalten gegen seine Brust, er zitterte leicht und versank in dem Meer aus blauschwarzem Haar, und Haut wie Alabaster schillernd. Die letzten Zentimeter, die noch fehlten, seit Tagen. Nun würden auch sie sich in Wohlgefallen auflösen.
 

Zitternd, aber voller Glück und Vorfreude schloss Yuu seine Augen. Er spürte die Wärme des Rotschopfs, die Liebe, das Vertrauen und die Erleichterung. Wie das Kribbeln eines leichten Stromschlages durchfuhr es ihn, als sich ihre Lippen sehnsüchtig berührten. All die Trauer ließ einer Erleichterung Platz, die ihm die Knie weich werden ließ. Er sackte leicht zusammen und spürte, wie Lavi ihn vorsichtig festhielt. Nach dieser ersten zaghaften Berührung trafen ihre Lippen abermals aufeinander, um eine Hitze zwischen ihnen zu entfachen, einen Rausch und eine befreiende Erkenntnis. Es war die Wirklichkeit und sie kämpften um ihre Gefühle, sie ließen sie zum ersten Mal richtig zu.
 

Lavi spürte und schmeckte die weichen Lippen und es war noch viel schöner, als er sich das je zu träumen gewagt hatte [Tschuldigung, die Anspielung musste einfach sein, hrhr!]. Zaghaft strich er nun auch mit seiner Zunge über den sündigen Mund, der ohne Angst oder Reue Einlass gewährte. Tausende kleine Nadelstiche übersäten den Rothaarigen von seiner Zunge aus über seinen ganzen Körper, während seine Zunge auf die des Japaners traf. Langsam wanderte seine Hand, mit der er sich nicht abstützte, an die Hüfte seines Gegenüber, von wo aus sie zärtlich unter dessen Shirt glitt. Er spürte, wie Yuu dessen Arme um seinen Nacken legte und ihn noch ein Stück näher zu sich zog.
 

Es war weniger ein Kuss aus Leidenschaft oder Wollust, sondern aus Zuneigung und abgrundtiefer Liebe zueinander. Langsam und jeden erkundeten Millimeter genießend umgarnten ihre Zungen sich, erfreuten sich an der Wärme im Mund des anderen, berührten sich mit derselben Zärtlichkeit, wie es ihre Besitzer zu tun pflegten. Die Welt um sie herum verlor jegliche Bedeutung, denn alles von Interesse waren sie beide und die Zärtlichkeiten, die sie noch eine Weile austauschten. Als hätten sie Angst, dass alles anders sein könnte, sobald sie diesen Platz verließen und die Küsse einstellen würden.
 

Bookman schritt eilig den Flur hinab. Er musste dringend mit Komui sprechen. Sie hatten es bereits geahnt, doch nun wusste er es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Es gab einen Bann, der Erinnerungen verschließen konnte und diesem schien der Schwertkämpfer zum Opfer gefallen zu sein. Die Stirn des Mannes legte sich in Sorgenfalten. Was aber hatte das Ganze für einen Zweck? Und was hatte es mit Mugen und dessen Verschwinden zu tun? Ging es tatsächlich alleine darum, dass Kanda aus dem Weg geschafft werden sollte? Aber wieso um alles in der Welt tauchten dann im Moment nur Fehlalarme auf?
 

Wie gesagt, er musste dringend mit Komui darüber sprechen, auch wenn es bereits spät war. Sie durften keine Sekunde verlieren, so viel war klar. Denn noch waren sie des Rätsels Lösung nicht auf der Spur.
 

Sein Blick richtete sich wieder auf, nur noch diese Kreuzung, dann wäre Bookman da. Gedankenverloren richtete er seinen Blick zur Seite, als er die sich kreuzenden Gänge passierte, und er mit weit aufgerissenen Augen einen Moment inne hielt. Sah er da gerade richtig? Rasch verschwand er hinter der Ecke, um ein weiteres Mal von dort um die Ecke zu schauen und seiner Erinnerung doch vorsichtshalber Gewissheit zu verschaffen. Doch tatsächlich standen sie dort: Yuu und sein Schüler Lavi.
 

Nicht nur, dass der rothaarige Chaot die Regeln missachtete, nein. Bookman konnte genau erkennen, dass die beiden unter normalen Umständen niemals gesehen worden wären. Nicht, ohne dass wenigstens Kanda frühzeitig etwas bemerkt hätte. Gab es da womöglich einen Zusammenhang? Wie er es auch drehte und wendete, zwei Dinge waren klar. Erstens musste er mit Komui umgehend sprechen und Zweitens fehlte ihnen ein entscheidender Hinweis, der die Lage aufklären würde.

Die Zeit, die wir noch haben

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Zeit, die wir noch haben - non-adult

„Und dich, baka usagi, hasse ich von allen am Meisten!“
 

Während der Rothaarige nach Luft und Fassung rang, drehte der Japaner seinen Kopf zur Seite, damit sein Freund das schmerzverzerrte Gesicht nicht sehen konnte. Und die Träne nicht, die dem Schwertkämpfer die Wange hinunterlief.
 

Er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, um ihre Aufgabe zu einem guten Ende zu führen. Er war es nicht wert, um sich oder seine Wünsche über das Ziel zu stellen. Und nur indem er Lavi verletzte konnte er verhindern, dass dieser es für ihn vielleicht eines Tages wurde.
 

Der Rothaarige weinte ungehalten. Kanda meinte fern von allem auch zu hören, wie dieser Fragen stellte, nach ihm rief und mit ihm sprach. Aber schon jetzt waren die Worte so fern, wie sie es einst waren und das war gut so. Sie drangen nicht mehr bis in sein Herz hinein, sondern verklangen in seinen Ohren. Und seine Zunge weigerte sich wieder, ebenfalls wie früher, den bohrenden Fragen Lavis eine Antwort zu gewähren. Er durfte nicht darauf eingehen, nicht darüber nachdenken. So hüllte er sich in sein so bekanntes Schweigen und seine so bekannte Ignoranz. Sie waren sein Schild, hinter dem er sicher genug war, um mit seinem Schwert angreifen zu können, das einzig der Aufgabe diente.
 

Er sah gefasst auf und erhob sich langsam. Lavi stand ihm nun direkt gegenüber, funkelte ihn aus verletzten und wütenden Augen an. Nun hatte er auch den letzten Menschen verloren, der freiwillig hinter den schützenden Schild getreten war. Das wurde ihm nur zu klar, als die Hand des Rotschopfes auf ihn zu schnellte und einen roten Abdruck auf seiner Wange hinterließ. Doch er rührte sich nicht. Er zwinkerte nicht einmal. Er hatte es kommen sehen, es sogar billigend in Kauf genommen. Müde beobachtete er wie aus einer anderen Welt, wie der Rothaarige vor ihm stand, schrie und weinte, flehte und verfluchte. Doch er hörte es nicht mehr. Vor allem fühlte er es nicht mehr.
 

Und er wusste auch nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, bis der Fremde plötzlich aus dem Hintergrund wieder zu ihnen trat. Ihn schmückte ein wissendes Lächeln, das einem mitfühlenden Blick wich, ehe er Lavi zu sich zog und in die Arme schloss. Und als dieser diese Geste erwiderte, fuhr ein kurzer, aber intensiver Stich durch Kandas Körper, der sich in seinem Herzen festsetzte, ehe er langsam nachließ. Die klaren Augen blickten desinteressiert auf. Er war wieder der Alte. Und sollte es irgendjemand wagen zu versuchen den Menschen hinter seinem Schild zu nahe zu kommen, so würde er das tun, was er immer getan hatte: sie mit dem nötigen Nachdruck und der erforderlichen Unfreundlichkeit wieder auf Distanz bringen. Sie dazu bringen ihn zu hassen.
 

Und während er sich abwandte und den Schauplatz verließ wurde ihm klar, dass es vermutlich kaum einer mehr versuchen würde. Nicht einmal mehr der dumme Hase. SEIN dummer Hase. Es tat ihm Leid. Irgendwo in den tiefen Abgründen seiner Seele, aber vor allem seines Herzens tat es ihm Leid. Und er würde Lavi dies, auch wie früher immer, auf seine Art zeigen und ihn stets beschützen. Und dessen komische Freunde. Auch wenn Lavi es bis an sein Lebensende nicht erkennen würde, aber Kanda wäre immer da. Unfreundliche Worte, aber zaghafte Taten. So war es immer und so würde es immer sein...
 

Lavi blickte Yuu besorgt von der Seite an. Die dunklen Ringen unter den Augen des Japaners verrieten ihm, dass er offenbar eine schlechte Nacht hinter sich gehabt haben musste. Und er ahnte, was der Grund für gewesen war. Vermutlich hatte der Schwarzhaarige wieder einen seiner in letzter Zeit häufiger vorkommenden Albträume gehabt. Fürsorglich drückte der Rotschopf die Hand ein wenig fester, die in seiner lag, lächelte dem Anderen aufmunternd zu und hauchte: „Ich mache mir Sorgen um dich.“
 

Sie hielten vor Komuis Büro an und sahen sich in die Augen. Yuu erwiderte das Lächeln und schüttelte den Kopf: „Das brauchst du nicht. Ich habe nur nicht so gut geschlafen. Aber das ist mir egal, so lange ich bei dir bin.“ Zaghaft legte er seine Hand auf die Brust des Größeren, der lächelnd nickte und sich herunter beugte, um ihm einen zärtlichen Kuss zu geben. Noch immer erschien es beiden, als würden sie träumen, wenn sie das taten. Sie kosteten jede Sekunde aus, ehe sie sich langsam voneinander lösten und Lavi etwas enttäuscht grinste: „Ich würde das ja wirklich gerne fortsetzen, aber Komui wartet sicher schon auf uns.“
 

Während Yuu nickte klopfte der Rotschopf an und sie betraten das Büro, nachdem sie die Aufforderung dazu bekommen hatten. Bookman und Komui sahen die beiden besorgt an. Der Ältere räusperte sich und hüstelte: „Gut, ich denke wir haben das Nötige besprochen. Du weißt, wie ich darüber denke und mehr kann ich nicht tun, es ist deine Entscheidung.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
 

Komui waren die fragenden Blicke seiner Besucher nicht entgangen. Er seufzte lächelnd: „Nun, Bookman hat eine Spur entdeckt, was es mit deinem Zustand auf sich haben könnte, Kanda.“ Dieser erwiderte den Blick mit einer Mischung aus Neugier, Sorge und Angst. Doch unbeirrt fuhr Komui fort: „Es gibt einen Bann, der Erinnerungen blockieren kann. Ich möchte euch noch nicht mit Einzelheiten verwirren. Wichtig ist nur, dass die Erinnerungen nicht gelöscht, sondern versiegelt werden.“ Er sah die beiden eindringlich an. „Und diese Versiegelung kann in jeglichem Gegenstand erfolgen, den man sich vorstellen kann.“ Er stockte und ließ den beiden einen Augenblick zum Überlegen.
 

Plötzlich riss Lavi sein Auge weit auf und schlug sich gegen die Stirn: „Aber klar doch: Mugen!“ Komui nickte: „Die Vermutung haben wir auch. Das bedeutet im Grunde: finden wir Mugen, so finden wir hoffentlich auch die Erinnerungen.“ Gequält lächelte Yuu in die Runde: „Das ist doch... toll?!“ Lenalees Bruder schien dessen Enttäuschung gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern nickte erneut: „Es ist eine riesige Erleichterung. Bald wird wieder alles so wie früher sein und du wirst endlich wieder einsatzbereit sein.“ Er sah die beiden erneut eindringlich an. „Die Zeit drängt auch. Wir haben nämlich noch ein weiteres Problem.“ Lavi schaute fragend: „Welches denn?“ - „Nun, die Akuma tauchen plötzlich vermehrt auf, aber immer sind es falsche Alarme. Und im Moment sind alle Exorzisten unterwegs. Doch ich habe noch eine Meldung erhalten. Es sind welche nicht weit von hier gesichtet worden.“ Er seufzte. „Ich weiß, was ich von euch verlange, aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als euch diese Aufgabe zuzuteilen.“
 

Während Yuu nicht viel verstand von dem, was Komui da so erzählte grinste Lavi über das ganze Gesicht und winkte ab: „Ach, mach dir keine Sorgen, das kriegen wir hin. Yuu-chan kann eh nicht viel passieren und mit den paar Akuma komme ich schon klar.“ - „Ich will es hoffen... Es sind zwei Stunden Zugfahrt. Macht euch bitte sofort auf den Weg und gebt Bescheid, wenn es Probleme geben sollte, habt ihr verstanden?“ Die beiden jungen Männer nickten.
 

Lavi sah auf. Schon seit sie losgefahren waren wirkte Yuu so ungemein abwesend. Er seufzte, legte ein heiteres Lächeln auf und stupste den Japaner vorsichtig an: „He, Yuu-chan. Was schaust du denn so traurig, das steht dir gar nicht.“ Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf das wunderschöne und blasse Gesicht, ehe der Schwarzhaarige seufzte: „Ich bin enttäuscht, dass es wohl bald vorbei sein wird.“ Der Rotschopf setzte sich neben seinen Freund und nahm dessen Hand, ehe er hauchte: „Ich habe dir gesagt, dass ich die Zeit mit dir genießen möchte. Lass dir von diesen Gedanken nicht die kostbare Zeit stehlen, die wir noch haben.“ - „Aber es ist so wenig...“ - „Und gerade deshalb sollten wir sie nicht verschwenden.“
 

Nachdenklich blickte Yuu auf seine Füße. Lavi hatte ja Recht, aber es fiel ihm so schwer nicht daran denken zu müssen, dass es ihn bald wahrscheinlich nicht mehr geben würde. Zumindest würde er wieder irgendwo in der Versenkung verschwinden, da Kanda einfach stärker als er war. Er seufzte. Die Zeit nutzen... Die Röte schoss ihm ins Gesicht, als ihm eine Idee in den Sinn kam. Noch nicht ganz sicher, ob diese Idee auch wirklich gut wäre, schaute er auf und in Lavis Auge. Wie so oft fand sich in diesem Meer aus Grün die Antwort klarer, als nirgendwo sonst. Er atmete tief durch, ignorierte die Verlegenheit in sich und die Wärme auf seinen Wangen. Leise sprach er: „Lavi... du hast Recht. Und deshalb möchte ich...“ Er stockte. Alleine der Gedanke ließ ihn noch verlegener werden.
 

Der Rothaarige schaute dem Japaner fast schon vergnügt dabei zu, wie er versuchte ihn um einen Gefallen zu bitten. Wenn er nicht schon längst in diesen wundervollen Menschen verliebt gewesen wäre, spätestens jetzt hätte er gar nichts anderes mehr machen können. Zärtlich legte er seine Hand auf die erwärmte Wange und strich sanft darüber, während er leise kicherte: „Du bist so süß, wenn du verlegen bist, Yuu-chan. Was möchtest du?“ Der Schwarzhaarige schluckte schwer und wisperte: „Ich... ich möchte, dass wir... dass du...“ Er stockte erneut. Wieso fiel ihm die Frage nur so schwer, das war ja nicht mehr auszuhalten.
 

Lavi jedoch kicherte wieder und wusste eigentlich schon längst, was der Japaner fragen wollte. Er lächelte: „Bist du dir sicher?“ Yuu nickte. Grinsend erhob der Rotschopf sich, griff nach einem „Bitte nicht stören“ Schild, hängte es draußen an die Tür und zog die Vorhänge zu. Er drehte sich um, schloss auch die Vorhänge vor dem Fenster und kniete sich vor seinen Liebsten. Dieser lächelte mit noch immer geröteten Wangen und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. Lavi lächelte, zog sich seinen Mantel aus und breitete ihn auf dem Boden aus, ehe er Yuu von seinem Sitz zog und ihn sanft auf diesen herunterdrückte, bis er auf dem Schwarzhaarigen saß.
 

Während seine Hände sanft über die Brust des Schwarzhaarigen strich, beugte Lavi sich zu Yuus Gesicht herunter und legte seine auf dessen Lippen. Sanft verbreitete sich eine leichtes Kribbeln in ihm, glücklich über den zwar nun bekannten, aber dennoch betörenden Geschmack und die unglaubliche Weichheit der Haut des Anderen. Er schloss seine Augen und stupste den Mund des Japaners neckisch mit seiner Zunge an. Mit sofortigem und willigem Einlass suchte seine Zunge die des Schwarzhaarigen, um sie zärtlich und genießend zu umgarnen.
 

Sie verloren sich in einem zärtlichen und leidenschaftlichen Miteinander, nur auf diesen Moment konzentriert und ohne dabei von irgendwelchen Personen oder Gedanken gestört zu werden.
 


 

Nach dem wilden Gerangel auf dem Boden des Abteils blickte Yuu in ein von Lust und Liebe noch immer völlig verschleiertes grünes Meer, das von einem glücklichen Lächeln unterstrichen wurde. Er lächelte matt: "Ich liebe dich, Lavi." - "Ich dich auch, Yuu-chan." Der Rothaarige legte sich erschöpft neben ihn und schloss des Japaner in seine Arme.
 

Glücklich schloss Yuu seine Augen und lächelte. Das konnte ihm niemand wieder nehmen, nicht einmal Kanda. Niemand auf dieser Welt. Jeder Millimeter seines Körpers würde sich an diese Erfahrung, diesen Beweis ihrer Liebe erinnern und nicht mit dem Bewusstsein seiner Selbst vielleicht verschwinden.

Mugen in des Fremden Händen

Die Luft vibrierte. Obwohl Yuu selbst nichts mehr über seine Zeit als Exorzist wusste, so konnte er doch genau die Gefahr spüren, die über ihnen lag. Sie erfüllte die Luft, die er atmete. Dröhnte im Erdreich, auf dem er stand. Ließ sämtliche Lebewesen verstummen, die in der Nähe waren. Ergriff von jeder Zelle besitzt, aus der sein Körper bestand. Die Gefahr war nicht zu sehen und doch allgegenwärtig.
 

Mit festem Griff hielt Lavi seinen Hammer, sah sich angespannt um und versuchte etwas zu entdecken. Doch seit sie den Bahnhof verlassen hatten wirkte das kleine Dorf wie ausgestorben, als sei es nie bewohnt gewesen. Und doch war die Atmosphäre voller Präsenz, voller Energie. Er hielt den Atem an, da er das Gefühl hatte, jeder Luftstoß, den er von sich gab, wäre so laut wie das Grollen des Donners gewesen. So genau er wusste, dass dies unsinnig war, so unangenehm war ihm dieses Gefühl trotzdem.
 

Trotz aller Aufmerksamkeit glitt sein Blick für einen kurzen Moment zu Yuu. Es war mittlerweile so ungewohnt für den Rotschopf diesen wieder in der Uniform zu sehen. Und auch wenn es nicht Mugen war, das der Schwarzhaarige in seinem festen Griff hielt, so lag das Schwert dennoch elegant und sicher in den fast schneeweißen Händen. Einzig die offenen Haare ließen Lavi wissen, dass neben ihm noch immer Yuu und nicht wieder Kanda stand. Die Macht des Unterbewusstseins war wirklich erstaunlich.
 

Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Lavi sah auf und auch Yuu lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Gasse, aus der plötzlich eine ganze Horde Akuma auf sie zu stürmten. Wohl wissend, dass er im Moment der deutlich erfahrenere Kämpfer war stellte der Rothaarige sich schützend vor den Japaner und wehrte die erste Welle ab. Er war nicht undankbar, dass es sich nicht einmal um Akuma auf Level 1 handelte und sie sich zumindest um Vergiftungen keine Sorgen machen brauchten. Es waren wirklich keine wirklich gefährlichen Gegner, was ihn schon wunderte. Doch die Zeit, sich um die offensichtliche Schwäche der Akuma zu machen, hatte er schlicht und ergreifend nicht. Er musste sich auf den Kampf konzentrieren.
 

Yuu blieb hinter Lavi. Für einen Augenblick musste er sich an den Anblick ihrer Gegner gewöhnen. Er wusste, dass dem nicht so war, doch er hatte das Gefühl so etwas noch nie gesehen zu haben. Rasch jedoch fing er sich wieder und parierte, zu seiner eigenen Verwunderung, fast problemlos einen Angriff. Es fühlte sich endlich, nach all der Zeit, wieder etwas so vertraut an, wie sein Zusammensein mit dem Rothaarigen.
 

Mit deutlich mehr Selbstbewusstsein schloss er zu diesem auf und beteiligte sich immer aktiver am Kampf. Es schien ihm fast, als sei dies so natürlich wie das Mittagessen mit seinen Stäbchen. Nichts, das ihm irgendwie schwer fiel oder so fremd war, wie der Orden. Viel eher das Gefühl endlich in seinem Element zu sein.
 

Die beiden lichteten die Reihen der angreifenden Akuma immer mehr, kämpften Seite an Seite und schienen sich wortlos aufeinander einstellen zu können. Ein Gegner nach dem anderen sank leblos zu Boden und Yuu konnte nicht von sich behaupten, dass es ihm keinen Spaß machen würde auf eine perfide Art und Weise. Es fühlte sich zu vertraut an, zu richtig.
 

Und plötzlich wurde ihm eines klar: er ergab sich der Leidenschaft Kandas. Nicht er beherrschte diesen Kampf, diesen Umgang mit dem Schwert und auch nicht er genoss den Rausch der wirbelnden Klinge in seiner Hand. Nicht er wusste mit Lavi kommentarlos zu kämpfen. Nicht er selbst wusste instinktiv, dass sie erst dann fertig waren, wenn alle Akuma vernichtet waren. Und schon gar nicht er vernichtete einfach. Das war alleine Kanda. Er war plötzlich allgegenwärtig. Als seinen sie für einen kurzen Augenblick auf gleicher Augenhöhe im selben Körper.
 

Zu spät bemerkte er, dass er nicht ganz Recht hatte. Kanda nämlich hätte sich nie mitten im Kampf so unachtsam ablenken lassen, Yuu jedoch war an seinen Gedanken hängen geblieben. Ein Akuma schoss an Lavi vorbei, direkt auf ihn zu. Der Schwarzhaarige riss noch sein Schwert empor und lenkte den spitzen und scharfkantigen Arm seines Gegners von seinem Herzen weg. Statt dessen bohrte sich der Knochen schmerzhaft in seine Schulter.
 

Lavi, der die restlichen Gegner vernichtet hatte, eilte zu ihm und erledigte auch das letzte Skelett, das sich auf den Japaner gestürzt hatte, ehe er diesen stützte und besorgte ansah: „Yuu-chan, es tut mir Leid, ich habe es zu spät gesehen.“ Der Schwarzhaarige sah auf, lächelte und zog unter höllischen Schmerzen den Rest des Akuma aus seiner Schulter, ehe er erschöpft hauchte: „Mach dir keine Sorgen. Du hast mir doch selbst erzählt, dass sich das schnell bei mir erledigt. Warten wir einfach einen Moment ab.“
 

Die Tür des Büros wurde aufgerissen. Lenalee und Allen stürmten herein und schienen überhaupt kein Interesse dafür zu haben, dass Komui und Bookman in einer Besprechung waren. Völlig außer Atem keuchte die junge Frau: „Wir... wir haben Neuigkeiten! Wichtige Neuigkeiten!“ Komui sah auf und hob beschwichtigend die Hände: „Immer mit der Ruhe, Schwesterchen. Komm erst einmal zu Luft.“ - „NEIN! Das... ach verdammt...“ Sie japste und atmete ein paar Mal tief durch, ehe sie hauchte: „Wir haben Mugen gesehen.“
 

„WAS??“ kam es von ihrem Bruder und Bookman gleichermaßen. Allen nickte, ebenfalls nach Luft ringend: „Ja, wir wissen jetzt wo Mugen ist. Aber wir haben keine Ahnung, was das bedeutet.“ Bokkman verdrehte die Augen und keifte: „Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! WER hat Mugen?“ - „Tyki.“ Wieder sprachen die beiden Älteren wie aus einem Mund: „TYKI?“ - „Wenn ich es euch doch sage. Ja, Tyki hatte Mugen bei sich. Aber er ist verschwunden, ehe wir es ihm abnehmen konnten.“
 

Lenalee nickte und sah ihren Bruder besorgt an: „Er grinste nur frech und meinte, er habe heute noch etwas vor. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint, aber es steht wohl außer Frage, dass es nichts Gutes sein wird.“ Komui nickte nachdenklich: „Aber was soll das alles nur? Jetzt wissen wir, wer Mugen in seinem Besitz hat und ich verstehe trotzdem noch nicht, was das zu bedeuten hat. Was bringt der ganze Aufwand?“
 

Für ein paar Minuten kehrte Stille ein. Alle dachten angestrengt nach. Plötzlich sah Bookman auf und hauchte: „Könnte es etwa sein...“ Die anderen sahen ihn fragend an: „Was denn? Hast du eine Idee?“ Der Älteste sah entsetzt in die Runde: „Wenn meine Befürchtung stimmt, dann hast du eine Fehlentscheidung aller erster Güte getroffen, Komui!“ Er sah den jungen Mann mit ängstlichem Blick an: „Wir müssen unbedingt Verstärkung zu Lavi und Kanda schicken, bevor es vielleicht zu spät ist!“ Besorgt nickte Komui: „Allen, Schwesterchen, dann übernehmt ihr das. Aber wieso, ich verstehe noch immer nicht...“
 

Seit einer geschlagenen halben Stunde warteten Yuu und Lavi nun bereits darauf, dass sich etwas tat, doch nichts geschah. Noch immer klaffte die große Wunde an der Schulter des Schwarzhaarigen, der sich in der Zwischenzeit erschöpft auf den Boden gesetzt hatte. Fragend sah er seinen Liebsten an und hauchte: „Dauert das immer so lange?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf, während er hin und her ging und sorgenvoll zu Boden starrte. Etwas abwesend aber tief besorgt murmelte er: „Nein, das tut es nicht. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich niemals mitgenommen.“ Er sah den Japaner an und versuchte zu lächeln: „Aber wir haben sie ja alle besiegt. Dann fahren wir am Besten einfach zurück und lassen dich im Orden versorgen. Komui wird sicher auch wissen wollen, was hier passiert ist.“
 

Yuu nickte leicht: „Das ist wahrscheinlich das Beste. Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder. So leicht bin ich nicht unterzukriegen, auch jetzt nicht.“ Er ließ sich von Lavi auf die Beine in dessen Umarmung ziehen. Der Rothaarige küsste ihn auf die Stirn und lächelte nun wieder zuversichtlicher: „Du hast ja Recht, ich sollte nicht so panisch sein. Ich möchte nur nicht, dass dir etwas passiert. Das würde ich nicht ertragen.“ Der Kleinere erwiderte sein Lächeln und kicherte leise: „Ich liebe dich.“ Sanft küsste er die Lippen des Rotschopfs, der zufrieden in den Kuss zu grinsen begann, ehe er ihn genießend erwiderte.
 

Ein Händeklatschen riss sie aus ihren Gedanken und ihrer Zärtlichkeit. Fragend sahen die beiden sich um, entdeckten zunächst aber nichts. Nur eine Stimme ertönte mit abgrundtief spöttischem Ton: „Wie niedlich. Da schäme ich mich ja fast, die traute Zweisamkeit so einfach unterbrechen zu müssen. Und doch muss ich es tun, denn ich habe nicht den ganzen Tag Zeit und so langsam habe ich lange genug auf meinen Spaß gewartet.“ Eine Gestalt trat aus der Gasse, aus der zuvor die Akuma gestürmt waren und Yuus Augen weiteten sich mit einem Mal. Die Gestalt lachte trocken: „Ich freue mich, dass du mich erkennst.“ Er hob Mugen empor und grinste düster: „Ich habe da etwas gefunden, das dir gehört, Yuu Kanda.“
 

Der Japaner begann am ganzen Leib zu zittern, was seinem Freund zwar nicht entging, dieser es gleichzeitig aber nicht wirklich verstand. Wütend zischte Lavi der Gestalt entgegen: „Was soll das, Tyki?“ Yuu registrierte die Worte gar nicht mehr. Sein Blick hing starr auf dem für ihn Fremden, der ihm dennoch so schmerzlich bekannt vorkam. Er hatte ihn schon mehr als einmal gesehen. Nicht am Tage, nicht auf offener Straße. Und plötzlich wurde er von einer unsagbaren Panik übermannt. Einer Panik vor diesem merkwürdigen Fremden. Dem Fremden aus seinen Träumen.
 

~Huhu.

Ich weiß, Cliffhanger sind fies und gemein ^.^ Aber was ist ein Showdown ohne Cliffhanger? ;) So langsam lüftet sich das Geheimnis. Ich bemühe mich um rasche Fortsetzung.
 

LG

Galenhilwen~

Die Entscheidung

Bleich und verstört starrte Yuu Tyki, den Fremden, noch immer an, der freudlos lachte und langsam auf sie zukam. Mit noch immer spöttischer und überheblicher Stimme sprach dieser: „Wisst ihr, ich habe so lange überlegt, wie ich euch loswerden könnte. Ihr Exorzisten seid nicht nur mir ein Dorn im Auge. Aber ihr seid Menschen und somit habt ihr eine Schwachstelle.“ Wieder lachte er. „Nur du, Kanda, du hast mir den letzten Nerv geraubt. Nicht nur, dass du dich ständig im Griff hattest. Nein, selbst meine Fähigkeiten waren gegen dich so gut wie wirkungslos.“ Er blieb in etwa 5 Metern Entfernung vor den beiden stehen und musterte den Japaner abschätzig.
 

Dann hauchte er: „Aber damit ist endgültig Schluss.“ Wieder entfuhr Tyki ein düsteres Lachen. „Ich habe ebenso lange überlegt, wie ich diesen Moment gerne gestalten würde. Es wäre ein Leichtes, dein mickriges Leben nun zu beenden, aber das würde einfach keinen Spaß machen. Deshalb werden wir es ein bisschen unterhaltsamer machen.“ Ehe die beiden anderen reagieren konnten wurde Lavi plötzlich von einem ganzen Geschwader an Tease umzingelt. Der Noah grinste: „Solltest du dich einmischen, Rotschopf, dann hetze ich meine kleinen Lieblinge auf deinen Liebling.“
 

Lavi ballte seine Hände zu Fäusten und fauchte: „Was soll das? Solltest du ihm auch nur ein Haar krümmen, dann...“ - „Um seine Haare würde ich mir an deiner Stelle die wenigsten Sorgen machen.“ Er schritt, noch immer mit Mugen in der Hand, auf Yuu zu und raunte: „Ich schlage dir einen Deal vor, Kanda.“ Der Schwarzhaarige trat einen Schritt zurück und schaute hilfesuchend zu seinem Freund, der ihm jedoch, wie befürchtet, nicht helfen konnte. Es kam also nun ganz alleine auf ihn, Yuu, an. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er hatte ja nicht einmal eine Ahnung, was dieser dunkelhäutige merkwürdige Typ von ihm wollte. Nur eines wusste er instinktiv genau: Dieses Schwert, das der Fremde in der Hand hielt, war SEINES. Das, von dem seit seinem Erwachen alle sprachen.
 

Tyki schien Yuus Situation und Ratlosigkeit sichtlich zu genießen und hauchte amüsiert: „Ich könnte es dir wiedergeben, Kanda. Aber Eines nach dem Anderen.“ Er kicherte. „Hast du in letzter Zeit gut geschlafen?“ - „Was willst du von mir?“ - „Nicht so voreilig. Denke bei jedem Wort, welches ich fortan sagen werde, stets gut an deine Träume.“ Die Augen des Schwarzhaarigen weiteten sich und Lavi sah fragend zu ihm herüber: „Yuu-chan, wovon spricht er?“ Der Noah lachte: „Los, Kanda. Erzähle es ihm ruhig.“ Die Knöchel an Yuus Händen traten bereits weiß hervor, ehe er wütend herauspresste: „Mistkerl!“ Er wandte sich an Lavi. „Ich habe davon geträumt, dass ich wieder zu Kanda wurde, Lavi. Er da...“ Er deutete auf Tyki. „...hat mir meine Erinnerung wiedergegeben. Doch ich habe dich als Kanda von mir gewiesen und gesagt, das ich dich...“ Er stockte. „Kanda sagte, er würde dich von allen am Meisten hassen.“
 

Yuu ertrug den Anblick nicht, den sein Liebster ihm bot. Er wusste nicht einmal, was diesem nun durch den Kopf ging, aber er konnte es sich vorstellen. Und deshalb würde er ihm wohl niemals wieder in die Augen sehen können. Doch ehe er sich weiter darum kümmern konnte, ertönte Tykis Stimme wieder: „Schön, da wir das nun geklärt haben kommen wir doch zu meinem Deal.“ Er lachte, als der Japaner ihn hasserfüllt anfunkelte, sprach aber gelassen weiter: „Du darfst dich sogar entscheiden, Kanda. Wenn das mal nicht freundlich ist, dann weiß ich auch nicht. Ich kann dir deine Erinnerungen zurückgeben.“ Er hob Mugen wieder ein Stück an. „Sie sind hier drin. Berührst du es, so werden sie zurückkehren. Nimmst du dieses Angebot an, wirst du wohl in der Lage sein deinen Schatz zu retten.“ Das Lachen, das ihm nun aus der Kehle entrann war absolut finster und von Durchtriebenheit geprägt. „Gleichzeitig wirst du dich an nichts mehr erinnern können, was du seit deinem kleinen 'Unfall' erlebt hast. Es wird gelöscht und du wirst wieder ganz der Alte sein.“
 

Yuu sah den Noah noch immer von Zorn erfüllt an und knurrte: „Und die zweite Möglichkeit?“ - „Nun, Möglichkeit zwei offeriert dir ein sorgenfreies Leben, wie du es seit Kurzem führst. Und du musst dich darauf verlassen, dass dein Herzblatt fähig genug ist, um euch beide zu retten.“ Der Schwarzhaarige schloss die Augen. Was waren das denn für Möglichkeiten? Beide gefielen ihm nicht. Er wollte um nichts in der Welt diese Zeit vergessen, zu dem Monster aus seinen Träumen werden.
 

Aber im Gegensatz dazu setzte er Lavis Leben aufs Spiel. Er vertraute auf dessen Fähigkeiten, aber es gab immer die Chance, dass etwas passieren könnte. Im Prinzip genauso, als würde er seine Erinnerungen zurückbekommen. Hin und her gerissen arbeitete sein Kopf auf Hochtouren. Die Stimme Tykis erklang wieder: „Ich warte, Kanda.“ Er schluckte schwer. Sein Körper zitterte, seine Nackenhaare stellten sich auf und seine Zähne presste er aufeinander.
 

Plötzlich sprach Lavi ihn überraschend warm an: „Yuu-chan, nimm deine Erinnerungen zurück.“ Verständnislos sah er den Rothaarigen an: „Wie bitte?“ - „Nimm sie. Wir werden einen Weg finden, das verspreche ich dir.“ Tränen sammelten sich in den Augen des Japaners, der aufgebracht zu schimpfen begann: „Warum sagst du das? Hast du mir vorhin nicht zugehört? Er wird dir weh tun und das will ich nicht!“ - „Vertrau mir doch, es wird alles gut werden.“ - „Ich vertraue dir, aber ich vertraue Kanda nicht, verdammt! Ich... ich will dich nicht verlieren, versteh das doch!“ Noch immer ruhig nickte der Rothaarige: „Doch, das verstehe ich, denn ich möchte dich auch nicht verlieren. Aber das werde ich, wenn du deine Fähigkeiten nicht zurückbekommst. Das kann ich nicht verantworten.“
 

Die Tränen liefen an seinen blassen Wangen herab und landeten lautlos auf dem Boden. Yuu wusste nicht, wie Lavi so gelassen sein konnte. Aber trotzdem schien dieser sich seiner Sache so sicher zu sein. Wenn er doch nur wüsste, woher diese Sicherheit kam, denn er selbst verspürte nichts davon in sich selbst. Seufzend schloss er abermals die Augen. Er vertraute Lavi. Und er wusste, dass dieser nichts tun würde, was ihm schaden würde. Allein die Angst vor den Dingen aus seinem Traum hielten ihn noch immer zurück. Er seufzte und öffnete die Augen wieder.
 

Yuu war gerade dabei, eine Antwort anzusetzen, als plötzlich hinter ihm Allen und Lenalee angerannt kamen und keuchend riefen: „YUU! LAVI!“ Genervt verdrehte Tyki die Augen: „Großartig, die nicht auch noch. Bleibt stehen, wo ihr seid, oder ihr könnt euch von eurem Freund hier verabschieden!“ Augenblicklich hielten die beiden inne und besahen sich die Szene genau. Etwas irritiert suchte Allens Blick den von Lavi: „Was ist hier los?“ Der Rotschopf fasste kurz zusammen: „Tyki hat Yuu-chan vor die Wahl gestellt. Entweder er kriegt seine Erinnerungen wieder, vergisst aber die letzten Wochen oder aber er bleibt wie er ist und ich muss zusehen, wie wir hier heile herauskommen.“
 

Lenalee sah auf und wirkte recht zuversichtlich: „Jetzt sind wir ja hier, dann ist die Entscheidung doch einfach. Wir helfen euch! Zusammen hauen wir Tyki eins auf die Mütze! Lass dir nicht die schöne Zeit stehlen, die du hattest, Yuu.“ Yuu sah sich um und schnaubte. Da hatte er sich gerade entschieden und nun kamen die beiden daher und brachten alles wieder ins Wanken. Doch ehe er antworten oder weiter nachdenken konnte rief Lavi aufgebracht: „NEIN! Lenalee, sieh ihn dir an, die Wunde ist gut eine Stunde alt! Er hat seine Fähigkeiten verloren und das ist zu gefährlich!“ Die junge Frau stutzte und Allen murmelte: „Aber wenn er doch alles vergisst?! Wir beschützen euch!“
 

Genervt winkte der Rothaarige ab und sah Yuu in die Augen: „Yuu-chan, hör mir gut zu. Ich liebe dich und ich weiß, dass du mich liebst. Hör bitte nicht auf die beiden. Vertraue mir und nimm deine Erinnerungen zurück.“ Tyki gefielen die Bemühungen von Lavi gar nicht. Kanda sollte nicht zurückkehren. Sein Plan sah doch ganz anders aus. Er war sich sicher gewesen, die Entscheidung wäre ohne Probleme auf die zweite Möglichkeit gefallen und er hätte mit dem nervtötenden Japaner endgültig kurzen Prozess gemacht.
 

Etwas aufgebracht fauchte er: „Kanda! Ich will eine Antwort! Jetzt! Oder dein Liebster wird keine Gelegenheit mehr haben dich vollzuquatschen!“ Entsetzt sah Yuu den Noah an und schluckte. Eine Entscheidung. Jetzt. Die er eigentlich gar nicht treffen konnte oder wollte. Aber er musste. Seufzend schloss er die Augen und hauchte: „Ich liebe dich, Lavi. Bitte verzeih mir...“ Mit festem Blick sah er zu Tyki auf und sprach gefestigt: „Ich wähle Möglichkeit eins. Ich will meine Erinnerungen zurück.“ Und mit einem Mal schien alles wie in Zeitlupe zu laufen. Empört schrien Allen und Lenalee auf, versuchten zu ihm zu stürmen. Lavi lächelte und rief: „Ich liebe dich!“ Tyki jedoch platzte plötzlich vor Wut und brüllte, zeterte und fluchte. Er war an den Handel gebunden, sein Plan war wieder nicht aufgegangen.
 

Und doch wollte Tyki es nicht auf sich beruhen lassen. Mit einer unsagbaren Wut, die durch seine Adern schoss, trat er an Yuu heran und holte aus. Keiner hatte gesagt, wie er ihm das Schwert wiedergeben würde. Mit einem kräftigen Stoß rammte er es in den Körper des Schwarzhaarigen, der seine Augen geschockt weit aufriss, für ein paar Sekunden wie versteinert verharrte und dem Noah in die Augen sah. Der Dunkelhäutige konnte beobachten, wie sich der verschleiernde Nebel aus den Tiefen der Seele und deren Spiegel verzog und ein klarer, starker und willensstarker Glanz in diese zurückkehrte.
 

Yuu entfernte sich ein Stück von dieser Welt. Und doch kam ihm dieses Gefühl unheimlich bekannt vor. Der Schmerz ließ langsam nach, auch wenn er nicht zu versiegen fähig war. Eine unbändige Wut und ein abgrundtiefer Hass vermischte sich mit seinem Blut, um in jede Zelle seines Körpers zu spülen. Er war sich nicht mehr sicher, wieso er hier war, aber der Noah vor ihm ließ ihn wissen, dass es auch völlig egal war. Hinter ihm kreischten Allen und Lenalee, doch auch das war ihm egal. Die benahmen sich immer wie kleine Kinder. Lavi steckte in der Klemme. Das war ja nichts Neues. Wieder einmal musste er dem dummen Hasen wohl den Pelz retten. Sein Körper fühlte sich schwächlich an, doch das änderte sich von Sekunde zu Sekunde. Langsam glitten die feinen hellen Finger zum Griff seines geliebten Katana. Wieso auch immer, es steckte in seinem Bauch. Dort gehörte es eindeutig nicht hin. Langsam zog er es wieder heraus, was von den anderen lediglich mit ungläubigen Blicken bedacht wurde. Er grinste. Als würde ihn so etwas umhauen.
 

Ein ihm unbekanntes Gefühl jedoch krampfte sich in seinem Magen fest und er wusste, dass es nicht durch seinen Katana verursacht wurde. Er wusste nur, dass es zu ignorieren galt, bis sie hier weg waren. Der Auftrag. Er wusste ihn nicht mehr, aber es war egal. Im Prinzip war es immer dasselbe, wieso also sich Gedanken um Details machen. Er taumelte ein paar Schritte zurück, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, dass ihm die Verletzung wirklich etwas aus machte. Er fixierte Tyki, der noch immer ziemlich wütend aussah, doch auch das war ihm herzlich egal. Für ein paar Sekunden sahen die beiden sich regungslos in die Augen, während der Kindergarten hinter ihm endlich Ruhe zu geben schien.
 

Dann stieß er den Noah von sich, schwang sich ruckartig zu Lavi, um diesen von den Tease zu erlösen. Das hätte der zwar auch selber schaffen müssen, aber sei es drum, dann half er dem Wirrkopf eben mal wieder. Zu seiner Verwunderung tat er es sogar aus einer gewissen Sorge heraus, da er das Gefühl hatte, der Hase war nur seinetwegen in diese Lage gekommen. Da war er es ihm eben schuldig. Das redete er sich zumindest zufrieden ein. Die Begleichung einer Schuld klang eben einfach besser und war sinnvoller, als dass er darüber nachdenken musste, wieso er sich sonst Sorgen um Lavi machte.
 

Die Tease waren rasch erledigt, Tyki zog sich wütend brüllend zurück und der Kindergarten feierte Wiedersehen. Abschätzig sah er zu diesem Bild herüber. Wieder verstärkte sich dieses Gefühl in seiner Magengegend. Er half dem dummen Hasen, aber Moyashi wurde freudig empfangen. Alles so wie immer. Alles wie gewohnt. Alles so, wie es richtig war. Alles so, wie er es wollte. Und vor allem alles so, wie es sein MUSSTE. Er hauchte: „Che... baka usagi.“ Der Rotschopf sah ruckartig zu ihm und, natürlich, grinste breit, während er rief: „Yuu-chan.“ Der Schwarzhaarige war zu schwach, um sich zu beschweren. Und ehe er ohnmächtig wurde, blickte er in das grüne funkelnde Auge, das ihn entsetzlich liebevoll betrachtete und in ihm den Griff um seinen Magen ins Unerträgliche steigerte. Was war das? Es fühlte sich so... vertraut an... positiv vertraut... untypisch vertraut... untypisch warm und gut... Es wurde schwarz.

VonVergangenem und Zukünftigem...

Yuu öffnete seine Augen, die zunächst so gar nicht wollten, wie er. Doch nach ein paar Versuchen gehorchten sie ihm wieder und sein Blick klärte sich langsam auf. Sein Zimmer... es fühlte sich an, als sei er eine Ewigkeit nicht hier gewesen, aber das war unmöglich. Wo sonst hätte er denn bitte sein sollen? Als wäre er länger als nötig irgendwo gewesen, was nicht sein Reich gewesen wäre. Lächerlich.
 

Langsam richtete er sich auf und hob sein Shirt hoch. Eine kaum mehr sichtbare Narbe war alles, was noch von seiner Verletzung zeugte. So mochte er es. Alles wie gewohnt. Er stutzte und hielt inne. Fast alles. Warum um alles in der Welt war dieses nervige Ziehen in seiner Magengegend noch immer da? Er würde doch wohl nicht krank werden. Rasch schüttelte er den Kopf. Er und krank, ha! Viel eher würden sich die wirren roten Wuschelhaare auf Lavis Kopf in Ordnung bringen lassen. Wohl kaum. Er knurrte genervt. Und wieso war dieser dumme Hase im Grunde das Erste, das ihm in den Sinn kam? Und wieso wurde bei diesem Gedanken aus dem Ziehen ein noch nervigeres Kribbeln?
 

Etwas skeptisch blickte er erneut an sich herab. Welcher Wahnsinnige hatte ihm eigentlich die Haare geöffnet? Eines war klar, sollte ihm heute einer krumm kommen, dann würden Köpfe rollen. Seine Hand wanderte zum Nachtschränkchen, in dem er immer einen Vorrat an Haarbändern verstaut hatte, als er innehielt und verdutzt das Buch und den Umschlag betrachtete, die auf dem Schränkchen lagen. Diese Sachen waren eindeutig nicht von ihm, was nur bedeuten konnte, dass es irgendjemand gewagt haben musste sein Zimmer zu betreten. Er schnaubte. Das konnte sich doch eigentlich nur einer erlauben.
 

Er griff nach dem Umschlag und holte den Brief heraus. Die Schrift verriet sofort, dass seine Ahnung richtig war. Lavi. Trotzdem las er die gekritzelten Worte sorgfältig durch, vergaß dabei sogar sein Vorhaben die Haare zusammenzubinden. Als er fertig war legte er den Brief zur Seite und sah auf das Buch, während er hauchte: „Baka usagi...“
 

{Rückblende}
 

Komui sah Bookman und Lavi an: „Wir müssen dringend herausfinden, was es mit dieser Persönlichkeitsveränderung auf sich hat. Das ist irgendwie kompliziert.“ Bookman nickte: „Ich habe da vielleicht eine Idee. Wir sollten die Veränderungen schriftlich festhalten und dokumentieren. Vielleicht ergibt sich aus einer Auflistung schwarz auf weiß ein klareres Bild.“ Er sah Lavi an. „Und ich bin dafür, dass wir beide unabhängig voneinander unsere Beobachtungen festhalten, um sie hinterher zusammenzufassen. Es wäre außerdem eine gute Übung für dich.“ Der Rotschopf nickte eifrig: „Das klingt gut! Das können wir gerne machen...“
 

Innerlich war der Rothaarige jedoch viel weiter. Er würde nicht nur die Beobachtungen zu Papier bringen. Nein. Er würde jeden Tag bis ins kleinste Detail festhalten. Er wusste nicht wieso, aber er war sich irgendwie sicher, dass er es nicht bereuen würde. Komui nickte: „Das wäre vielleicht nicht verkehrt...“
 

Die Tür wurde ohne zu klopfen aufgeschlagen und Lenalee kam aufgebracht herein. Komui sah auf und murmelte verwundert: „Hallo Schwesterchen...“ Auch Lavi und Bookman schienen von ihr eine Erklärung zu erwarten, so wie die beiden sie ansahen. Lenalee schloss die Tür hinter sich und murmelte: „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber mir ist die ganze Sache mit Kanda wirklich unheimlich! Der... er... er war gerade NETT zu mir!“ Komui jedoch nickte nur: „Ich habe schon ein wenig von Lavi gehört. Und so langsam bin ich mir auch sicher, dass das nicht einfach nur ein Unfall war.“ Er lächelte aufgesetzt. „Ich wollte aber ohnehin mit dir sprechen, Schwesterchen. Du und Allen werdet Morgen abreisen. Es wurden Akuma in Prag gesichtet. Kümmert euch darum und haltet bitte auch die Augen offen, ob ihr etwas über Mugen oder Kandas merkwürdigen Zustand herausbekommen könnt. Alles weitere wird dir Allen dann, denke ich, Morgen erzählen können.“
 

Seine Schwester seufzte: „Gut, ich gehe ihn gleich noch besuchen und spreche mich mit ihm ab. Im Moment sind mir die Akuma irgendwie lieber, als Kanda... Also noch mehr, als früher.“ Sie nickte allen einmal zu. „Ich mache mich dann auf den Weg, bis später.“
 

Lavi wartete noch, bis die junge Frau die Tür hinter sich zugezogen hatte und lächelte dann: „Wo waren wir stehengeblieben?“ Er überlegte kurz. „Ach ja. Ich finde die Idee von Bookman nicht schlecht.“ Komui nickte: „Ja, ich finde sie auch gut. Also werden wir es so machen und ansonsten versuch es einfach weiterhin, Lavi. Wir brauchen Kanda einfach. Nicht auszudenken was passiert, wenn jemand herausfindet, dass er außer Gefecht gesetzt ist...“ Doch Lavi grinste nur zuversichtlich: „Ich kriege das schon hin, keine Sorge. Ich melde mich dann Morgen wieder.“
 

{Rückblende Ende}
 

Wortlos schlug Yuu die letzte Seite des Buches um, klappte dieses anschließend zu und legte es auf den Nachttisch. Ebenso wortlos und ohne eine sichtbare Reaktion zu zeigen stand er auf, zog sich seinen Mantel über und verließ das Zimmer. Wortlos und desinteressiert nahm er die fragenden Blicke seiner Mitschüler wahr, ignorierte diese aber ausnahmsweise. Er würde noch genug Möglichkeiten haben sie davon abzuhalten so etwas jemals wieder zu wagen. Sein strenger Zopf wippte bei jedem Schritt hin und her.
 

Zielsicher stoppte er vor einer Tür und hielt einen Moment inne, ehe er forscht klopfte. Die Tür öffnete sich und ein strubbeliger Rotschopf schaute ihn aus einem glänzenden grünen Auge an. Wo war der Anschiss, den er vorbereitet hatte? Er hatte völlig vergessen, was er brüllen wollte. Just in dem Augenblick, als er in dieses unendliche Grün blickte und tief in sich eine Erkenntnis winzig und klein in der Dunkelheit funkelte.
 

Jedes Wort, das er gelesen hatte war wahr. Jedes einzelne Wort, die er bis vor 10 Sekunden noch als Lüge und unsagbare Frechheit eingestuft hatte. Doch es war real, es war passiert. Das erkannte er in diesem Meer aus Angst, Liebe und Hoffnung. Und er erkannte es an der Tatsache, dass Lavi nicht so dämlich grinste, sondern ungemein ernst und erwachsen schaute.
 

Yuu knurrte: „Baka usagi...“ Nicht einmal das klang im Ansatz so unfreundlich, wie er es geplant hatte. Doch irgendwie empfand er es nicht einmal als wirklich tragisch. Ein Teil von ihm hatte Entscheidungen getroffen, die er gerne getroffen hätte, wenn er es sich erlaubt hätte. Doch das hatte er nie. Die Frage war nun: Sollte er sie rückgängig machen, wie geplant? Oder sollte er sich auf die Veränderung einlassen, wie heimlichst ersehnt? Noch immer hingen ihre Blicke aufeinander, reglos. Kanda zweifelte. Er fasste es selbst nicht, aber er zweifelte. Und das Gefühl in seinem Magen ließ ihn wissen, dass die Zweifel keine Schwäche waren. Woher wollte sein dummer Magen das denn wissen? Woher wollte Lavi das wissen? Und er selbst erst? Er wusste, dass es seiner Natur widersprach und er wusste, dass er einen Preis dafür zu zahlen hatte. War er wirklich bereit diesen zu zahlen?
 

War das Glück, das er offenbar gespürt haben musste, es wirklich wert seine Sicherheit ein Stück weit aufzugeben? Oder war die Frage falsch gestellt... War seine bisherige Sicherheit es wert, sein Glück dafür aufzugeben? Langsam hob sich seine Hand. Ein Beweis, das wäre alles, was er bräuchte. Ein Beweis, um zu wissen, dass er es beginnen könnte zuzulassen. Ungewohnt zitternd erhob sich seine Hand in Lavis Richtung, dessen Blick die Angst langsam zu verlieren schien und dessen Auge einen stillschweigenden Glanz absoluten Glücks annahm. Seine Fingerspitzen berührten die glühende Wange des Rothaarigen und Yuu musste keuchen.
 

Die Welle, die ihn durchströmte, war überwältigend. Wärme, so fremd und doch vertraut, so beängstigend und doch das Schönste dieser Welt. Plötzlich wusste er es. Er kannte die Berührung dieser weichen Haut wirklich. Er wusste nicht aus eigener Erinnerung woher, aber er kannte sie dennoch. Und es weckte Sehnsucht in ihm, verscheuchte jeden Zweifel und trieb ihn dazu doch tatsächlich als Kanda eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung dem Glück eine Chance zu geben, ohne sich dabei verbiegen zu müssen. Eine Art Friedensvertrag mit Yuu in sich zu schließen, den er deutlicher als jemals zuvor in sich spürte. Wahrscheinlich würden sie nie die engsten Freunde werden, aber das Kriegsbeil konnte versuchsweise begraben werden. Denn jederzeit könnte er eine neue Entscheidung treffen, das wurde ihm langsam klar.
 

Er legte seine Hand nun ganz an Lavis Wange, ohne den Blick zu lösen. Er wusste, dass er sich so manches Mal überwinden müsste und doch war ihm seit er hier stand klar, dass auch der Rotschopf sich dessen absolut bewusst war. Wortlos ließ er sich in das vertraut unbekannte Zimmer ziehen, nachdem der Größere ihm einen hauchzarten Kuss gegeben hatte, nicht viel mehr als eine flüchtige und unheimliche Berührung und eine immense Überwindung für den Schwarzhaarigen. Aber es war die Entscheidung zu einem ersten Schritt...
 


 

{Der Brief}
 

Hallo Yuu-chan,
 

ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, ohne dass du den Brief sofort wieder zur Seite legst. Die letzte Zeit war sehr kompliziert und ich bin mir nicht sicher, ob du alles verstehen wirst, da du dich an diese Zeit nicht erinnern wirst.
 

Du standest zuletzt vor einer wichtigen Entscheidung und du hast sie getroffen. Ich habe dir zu dieser Entscheidung geraten. Statt deine Fähigkeiten und vielleicht dein Leben zu verlieren habe ich dir geraten deine Erinnerungen, die du verloren hattest, zurückzunehmen. Dadurch jedoch hast du vergessen, was wir in den letzten Wochen erlebt haben. Ich durfte eine Seite an dir kennenlernen, die du immer zu verstecken versucht hast, der du nie in deinem Leben eine Chance gegeben hast und die ich immer hinter deiner Fassade vermutet habe.
 

Ich habe immer gewusst, dass du etwas vor uns versteckst und dass du dich dadurch zu schützen versuchst. Diese Seite an dir ist es auch Wert beschützt zu werden, Yuu-chan. Aber nicht um jeden Preis. Etwas einzusperren mag vielleicht sicher sein, aber es verletzt den Gefangenen trotzdem, denn er ist einsam und isoliert. Ich erwarte nicht von dir, dass du es jetzt verstehst, was ich schreibe und ich erwarte auch nicht von dir, dass du es toll finden wirst, was in diesem Buch auf dich wartet.Schon gar nicht erwarte ich, dass alles so sein wird, wie in dieser Zeit. Ich erwarte nur eine einzige Sache: lies es bis zur letzten Seite durch und urteile erst, nachdem du die ganze Wahrheit erfahren hast.
 

Ich werde diese Zeit niemals vergessen, denn sie hat mich sehr glücklich gemacht. Weil sie dich glücklich gemacht hat. Und du hast es verdient glücklich zu sein. Du bist es Wert glücklich zu sein. Und du darfst glücklich sein, auch wenn du eine Aufgabe und eine Bestimmung hast.
 

Du hast dich einmal dazu entschieden, dieses Glück anzunehmen. Auch wenn du es nicht mehr weißt. Und deshalb habe ich dir geraten deine Erinnerung zurückzunehmen. Weil ich voller Hoffnung und Zuversicht bin, dass du dich auch ein zweites Mal dazu entscheiden wirst. Du wirst wissen, wo du mich finden kannst. Ich warte auf dich. Das würde ich immer.
 

In Liebe

Lavi
 

{E-N-D-E}
 

~Aloha,
 

ich danke allen fleißigen Lesern, die mich unterstützt haben, die einfach nur durch die Geschichte unterhalten wurden und die sich an der Geschichte erfreut haben.
 

Ich hoffe, ich konnte euch ein paar unterhaltsame Momente bescheren und habe euch eine spannende und fesselnde Geschichte geboten.
 

In diesem Sinne GLG

Galenhilwen~



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von:  Dante
2012-04-02T10:35:38+00:00 02.04.2012 12:35
ja stimmt aber ich hoffe das Yu Kanda seine erinnerungen zurück gewinnt und die liebe von Lavi erwiedert :)

Von:  Dante
2012-04-01T23:06:08+00:00 02.04.2012 01:06
naja ich finde es gut und ich hoffe es wird interessanter
Von:  Kai-san
2011-12-27T00:46:51+00:00 27.12.2011 01:46
Ich war richtig gefesselt von der story * .*
Eigentlich wollte ich nur ein/zwei kapitel lesen und dann heia machen, doch ich kam dann nicht mehr von deiner ff weg *____*
Der schreibstiel gefällt mir sehr von dir und ich freue mich wenn du noch mal eine Lavi x Kanda ff schreiben würdest :)

Lieben gruß :)
Von:  Rabbit
2011-04-09T14:45:49+00:00 09.04.2011 16:45
Owwww wie toll. D//X
Das Kapitel ist echt schön!
Und Lavis Brief war so schön. :3 Er hat so schöne Worte gewählt... Da kann man glatt neidisch auf Yuu werden. ;3
*auch so'n tollen Brief mal haben will XD*

Und schön das Yuu sich so positiv entschieden hat!
Eine echt tolle FanFic. > U <

Und falls du wieder eine Lavi & Kanda FF hoch lädst, gib mir bitte bescheid. <3 <3
Von:  Rabbit
2011-04-09T14:28:33+00:00 09.04.2011 16:28
OKAY bevor ich jetzt lese. Ich geh nach dem letzten Kommi wieder zur Pers. Seite und plötzlich ist da der Epilog.

Das hat mir ehrlich voll einen WTF-Moment gegeben! /D
*LOL*

*lesen geh*
Von:  Rabbit
2011-04-09T14:27:06+00:00 09.04.2011 16:27
Ah wow? Kapitel da. XD

Okay mit meiner Vermutung wegen Lavi lag ich falsch. OoO

Und Yuu hat seine Erinnerung wieder. Ich frage mich ehrlich, was nun alles passieren wird. x_X
Ob Yuu sich erinnern wird oder ob ihn jemand aufklären wird, was passiert ist...
Wieder so ein Cliffhanger, so einfach ist das. /D

Und freue mich wieder auf das nächste Kapitel. :3
Von:  Rabbit
2011-04-09T14:00:08+00:00 09.04.2011 16:00
C- Cliffhanger! ;_; Wie gemein! T _T Du... Du Sadist du! *nod nod*

Ah das Kapitel ist so spannend. DX
Und wieder sind Fragen aufgetaucht, als das die alten beantwortet wurden! XD
Warum verheilt Yuus Wunde nicht? > _< Der Lotos ist ja noch da... Glaube ich!
Ach man. XD
*brav auf Antworten wartete, die wohl in den nächsten Kapitel kommen*

Und Tyki ist endlich aufgetaucht... Mit Mugen! OoO
Ich frage mich ehrlich was er vor hat.
Ich vermute mal das sein eigentliches Ziel Lavi ist? Bookman hat nämlich sehr aufgeregt reagiert. ö _ö

Ich freue mich schon echt stark auf das nächste Kapitel. <3
Von:  Rabbit
2011-04-04T10:26:32+00:00 04.04.2011 12:26
Wow ich mag es, wie du Kanda schreibst! Er ist so schön nicht OOC. <3
Und seine Gefühle und Reaktionen passen einfach perfekt!

Und die Szene in der Lavi und Yuu miteinander geschlafen haben ist echt schön. :3
Bin schon gespannt was nun vielleicht bei deren Auftrag passieren könnte UND wie Kanda zu sein Erstes Mal steht. <3 XD
Von:  Rabbit
2011-04-04T10:23:41+00:00 04.04.2011 12:23
*FanFic nachhol* Man bist du fleißig!

Oh je.... Bookman hat sie erwischt. DX
Aber schön das Yuu und Lavi wieder zueinander gefunden haben. :3
Von:  Rabbit
2011-03-26T21:17:54+00:00 26.03.2011 22:17
Mach dir nichts draus! @Wenig Feedback
Bei Animexx ist das recht normal, finde ich. Aber auch bei vielen anderen Seiten. :3
Sicher werden noch einige deine FF finden... :D Ich suche auch gerne mal FFs raus, die schon älter sind. XD

Die Idee dieser FF finde ich echt toll! Das Yuu sein eigenes, damaliges "Ich" nicht mag und angst davor hat. Bin ehrlich gespannt wie Yuus echtes "Ich" auf dieses neue und sehr liebevolles "Ich" reagiert.
Zudem auch was Tyki damit zu tun hat und wo Mugen ist! OoO
Ach, Fragen über Fragen! Bin auf weiter Kapitel gespannt. :3


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