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Das Tagebuch des Orpheus

Erinnerungen eines Musikers
von

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1. Eintrag

Mein Name ist Osahra. Das bedeutet: ‚Gott hört’. Aber im Moment bin ich nicht Oshara, sondern ein kleines Mädchen in einer fernen Welt, die ich mir nicht erklären kann. Ich erkenne nichts wieder.

Überall sind Ruinen und Trümmer einer mir fremden Stadt und ich schließe aus der Dunkelheit und der über mir liegenden Decke, dass diese Stadt unterhalb der Erde liegt. Mir ist kalt. An meinem Mantel klebt Schnee. Als Osahra hab ich noch nie in meinem Leben Schnee gesehen oder gefühlt, aber ich weiß, dass es Schnee ist, da oberhalb dieser Stadt nur dieses kalte Nass zu finden ist. Langsam wird mir warm… es herrscht Krieg und ich bin mitten drin.

Ich stehe auf einem Dach und blicke den ungleichen Kämpfen zwischen Mensch und Bestie zu. Feuer entbrennt. Explosionen sind zu hören, die mich kurzzeitig erblinden lassen. Meine Ohren sind sehr gut. Überall sind Farben, die ich durch meine Ohren sehen kann. Ich hebe meine Arme, beginne auf einem mir unbekannten Instrument zu spielen und erweise damit den Gefallenen meine Ehre. Ich weiß, dass ich für den Tod spiele, aber das ist nun einmal meine Aufgabe.

Auf einmal ein Knurren. Einer der Bestien ist aufs Dach geklettert und greift mich an. Ein Schuss, die Bestie fällt und mir gegenüber steht ein Mann, so still und leise, dass er Grau erscheint. Er lächelt nicht. Wir schauen uns nur an. Als Osahra weiß ich, wer dieser Mann ist, aber als dieses Mädchen kann ich ihn nicht erkennen. Er ist für mich Fremd und er hat mich gerettet. Dann beginne ich erneut zu spielen…
 

Ich weiß, dass dies nur ein Traum war, aber es war ein Traum, der mich verfolgt und gefangen hält. Nicht dieser eine… eine ganze Reihe an Träumen, die unmöglich zu erklären sind. Ich Träume von einer Welt, die es einmal gab oder die es einmal geben wird. Real fast und doch nicht greifbar. Aber sie sind nun einmal Bestandteil meines Lebens und aus diesem Grund werde ich sie nieder schreiben.

Mein Körper schmerzt, die Ketten haben sich mir ins Fleisch gebrannt und dennoch bin ich einer der wenigen, die noch genügend Kraft haben, um hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Ein Freund, die mich vor vielen Jahren einmal besuchte, hatte einmal gesagt: Die Hoffnung geht zu letzt zu Grunde, der Kampf erschafft das Leid. Ich habe gekämpft. Für mein Dorf, für das Leben meiner Frau und meiner Kinder und für die Ehre, doch ich konnte nicht siegen. Gegen diese Bestien konnte niemand siegen.

Ich muss acht geben. Hier bin ich einer von vielen. Moral und Ehre haben sich mit der Freiheit verflüchtigt und jeder ist sich nur selbst der nächste. Ich verteidigte meine Ecke, so gut es ging und nun sind sie alle still. Der Weg ist nicht mehr lang… Wir ahnen alle, dass nur ein geringer Teil von uns den morgigen Tag überleben wird. Wir ahnen, dass einige von uns grausam sterben werden und der Rest ein ewiges Keinleben haben wird. Das Ziel ist nicht mehr fern und ich beneide alle, die noch heute Abend sterben werden…
 

Ruhe… einen Moment habe ich Ruhe. Nun bin ich allein und sitz in einem kargen, feuchtkalten Raum, in dem sich nur ein Strohbett befindet. Nenn ich es Glück oder Pech? Meine Freiheit ist verwirkt und dennoch… ich lebe. Ich habe Hoffnung, genug Hoffnung, um dieses Schriftstück weiter zu schreiben. Und ich habe mich Entschieden, dass ich alles aufschreiben werde, auch in der Befürchtung, dass kaum einer es wird lesen können. Irgendwann vielleicht einmal, findet es ein Gelehrter, der mit dem Tagebuch weiß etwas anzufangen und damit dann einen Weg findet, diese Kreaturen, diese Götter vom Antlitz der Welt zu tilgen.

Auch mein Dorf hatte einen Gott gehabt. Gütig und Wohlgesonnen. Er hat zwischen uns gelebt und nahm sich nur das, was er wirklich benötigte. Wir gaben gerne, denn er war unser Beschützer und Hüter der alten Geschichten. Er war alt gewesen, doch sein Aussehen ähnelte dem eines jungen Knaben. Er half auf dem Feld und sorgte für gute Ernten und wie auch viele anderen, hatte er mich und meine Frau Rahima getraut und unsere Kinder getauft. Mein ältester Sohn nahm unser Gott als Zögling auf, gab ihm Kraft, Gesundheit und ein ewiges Leben an unser Gottes Seite. Er sorgte wirklich gut für uns, doch damit war er ein Dorn in den Augen der restlichen, fremden Götter, die über das Meer kamen und über unser Dorf herfielen wie Fliegen über Elefantendung.

Als sie kamen, war ich einer der wenigen, die im Dorf bei den jüngeren Kindern geblieben waren. Ich war Musiker und Medizinmann und versorgte eine ältere, kränkliche Dame, deren Seele bald zu den Urvätern und zu ihrem geliebten Mann aufsteigen würde. Meine Frau und mein Sohn waren jedoch auf dem Feld nahe der Klippe und sie waren auch einer der ersten, die die fremden Schiffe sahen, die sich vom Norden her auf uns zu bewegten. Mein Sohn kam ins Dorf gerannt. Er rief nicht, er weinte nicht. Er kam auf mich zu, blickte mich mit kalten Augen an, als würde er mich nicht erkenne. Ich war damals auf ihn zugegangen und hatte ihn an die Schultern gefasst, wollte ihn aus der Trance schütteln, brach er leblos zusammen. Die Alte, die ich pflegte, begann zu schreien. Oder ich war es gewesen. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ja… ich glaube, ich war es gewesen, der schrie. Ich wusste, was das hieß. Was dem Tod meines Sohnes voraus gegangen sein musste. Nur eine Erklärung. Mein Sohn war gebunden gewesen und mein Sohn war gestorben, denn er musste unserem Gott folgen. Mit Sicherheit waren sie alle den Bestien aus dem fernen Land zum Opfer gefallen. Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe. Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe. Wie von einer fremden Macht gelenkt trommelte ich die restlichen Dorfbewohner zusammen. Wir mussten fliehen, doch meine Gedanken drehten sich um meine Frau, meine Kinder… Hoffnung.

Sie würden sicherlich irgendwo sein, hatten sich versteckt. Mein Sohn war ihnen zum Opfer gefallen, aber meine Frau, wundervolle Rahima. Sie liebte das Leben und war schlau und gewitzt. Sicherlich hatte sie sich irgendwo versteckt, verborgen und wartete nun auf mich.

In der Ferne hörte wir das Geheul und das Kreischen der Bestien, der Sklaven dieser Kreaturen, dieser falschen Götter. In mir kochte die Wut, entfachte in mir das Feuer des Hasses. Ein paar der Dorfbewohner, die von dem Lärm alarmiert worden waren, versuchten mich aufzuhalten, doch ich riss mich los und rannte den Sklaven entgegen. Sie töteten mich nicht. Sie zerfleischten mich nicht. Aber es ging schnell. Es dauerte nur die Zeit eines Augenzwinkerns, bis ich, wie viele der anderen Männer und wenige Frauen, gefangen genommen wurde und in einer Reihe aufgestellt worden war.

Ein Mann trat vor uns. Er trug eine Rüstung aus silbernem Metall und sein Haar war wie langes Gold. Sein langgezogenes, aalglattes Gesicht war auf die wenigen Überlebenden gerichtet, seine lange Nase in die Höhe gerichtet.

„Ihr seid nun meine Sklaven!“ sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich habe euren Gott getötet und jetzt gehört ihr mir, verstanden? Tut, was ich sage und ihr habt vielleicht die Chance, noch eine gewisse Zeit am Leben zu bleiben. Leistet ihr jedoch Widerstand, dann werde ich euch auf der Stelle, hier und jetzt umbringen lassen!“

Wir leisteten keinen Widerstand. Wir waren nicht gebrochen, oder feige, aber wir waren Krieger, die erkannten, wann sie verloren hatten. Im Moment wäre der Tod die Antwort auf solch eine unbedachte Tat gewesen und bevor wir nicht wussten, dass wir dies verhindern könnten, würden wir nicht angreifen. Noch nicht.

Nun begannen die Eindringlinge das Dorf niederzubrennen und uns zu trennen. Die Körperlich stärkeren wurden von den schwachen getrennt. Die Großzahl an Kindern und alten Menschen wurde auf der Stelle getötet. Die Frauen – Gott sei Dank auch Rahima - wurden weggebracht. Unruhe machte sich breit. Die Männer wurden nervös, versuchten an Waffen zu gelangen und den gemeinsam getroffenen Vorsatz über Bord zu werfen. Ich war einer dieser Männer. Bitterlich kämpfte ich gegen die Obermacht an, zog meinen Speer aus der Erde und versuchte mit diesem die tierischen Bestien zu töten. Es war ein harter Kampf, ein Kampf, denn ich nicht gewinnen konnte, aber wir waren guter Dinge. Die Wut in unseren Leibern gab uns neue Kraft, die Sehnsucht nach Erlösung machte uns zu Gegnern, die nichts mehr zu verlieren hatten und wir schafften es sogar, ein paar der Bestien das Leben zu nehmen.

Ein Pfiff war ertönt. Es war von diesem falschen Gott gekommen. Ein ungeduldiges Brüllen und Knurren erklang, dann sprangen aus Gebüschen und Ruinen Kreaturen, die nur der Leibhaftige hätte auf die Welt setzten können. Riesige, wolfsartige Wesen, mit Dolchgroßen Zähnen und riesigen, wütenden Augen. Teufelshunde, Bestien, noch schlimmer, als die Tiger und Löwen, die ab und an einen Dorfbewohner angefallen haben.

Der Mann rief sie ‚C e b e r o s’. Die Tiere hörten auf. Die Männer zitterten vor Angst, einige waren sogar umgekippt. Aus den Rachen dieser Kreaturen strömte ein ekelhafter Geruch aus toten Fleisch und verwesenden Unlebens, dass zwischen ihren Zähnen hing. Ihre Pfoten waren so groß, dass sie ohne weiteres meinen Kopf zertrümmern könnten. Ihre Ohren waren aufgerichtet, als würden sie sich nach dem Befehl des Tötens sehnen. Niemand würde bei dem Anblick dieser Kreaturen ruhig bleiben.

Die Sklaven des Mannes schnellten blitzschnell vor, um die vor Angst gelähmten Männer zu packen, zu schlagen und zu fesseln.

„Das war ein Fehler, meine Freunde!“ zischte der goldhaarige Mann. „Ich werde mir aus eurer schwarzen Haut einen Mantel machen und ihn unserem Kriegsgott schenken. Er wird sich freuen, wenn er die Geschichte dazu hört. Oder ich verfüttere euch gleich an meine Freunde, hier. Ja… das finde ich um einiges angenehmer. Dieser feige Ares hat kein Geschenk von mir verdient! Nehmt die Frauen mit, tötet die Männer!“

Ich ahnte in diesem Augenblick, dass mein letztes Stündlein geschlagen hatte. Das Seil, dass man mir ums Handgelenk gebunden hatte, grub sich in mein Fleisch und ich war beim Anblick der Bestien außer Stande, nur einen Finger zu rühren. Ich schloss die Augen, als sich die Sklaven des Mannes einen Schritt von uns entfernten und diese Wolfskreaturen brüllend zum Angriff bereit machten.

Ich wartete auf meinen sicheren Tod, wartete darauf, meinen Sohn und unseren Gott wieder zu sehen. Ich wusste, dass mein Leben vorbei war.

„STOP!“

Dieser Ausruf des Mannes hatte mich in diesem Moment entsetzt. Ich riss die Augen auf, was eindeutig ein Fehler zu diesem Zeitpunkt gewesen war, denn direkt vor mir stand die Kreatur und hechelte mir Mordfiebernd ins Gesicht. Der heiße Atem und stinkende Speicheltröpfchen landeten auf meiner Haut und vor mir breitete sich der riesige Rachen des Wolfes aus. Eine Sekunde später, sie hätte mich zerfleischt. Ein säuerlicher Geschmack eroberte meinen Mund, doch ich schluckte es herunter. Die Kreatur starrte mich an. Ich starrte sie an. Ein Augenblick, dann ging sie einen Schritt zurück und offenbarte meinem Blick das grausame Blutbad, was seine Artgenossen angerichtet hatten. Freunde, Familie, zerfetzt und schreiend. Wie hatte ich die Schreie nicht hören können?

Ich vermute ganz stark, dass ich es gehört habe, das Geschrei, doch mein Bewusstsein war es irgendwie gelungen, diese Geräusche zu verdrängen, welche tiefste Schmerzen in meiner Brust auslösen würden.

Der goldhaarige Mann kam auf mich zu, musterte mich von oben bis unten. Irgendwann schnallste er mit der Zunge, bevor er auf mich zeigte.

„Der nicht! Der kommt mit den anderen.“ Die Sklaven um ihn herum reagierten im ersten Moment nicht. Ihre ungläubigen, verständnislosen und überraschten Gesichter blieben an mir haften. „Habt ihr nicht gehört? Das war ein Befehl!“

Augenblicklich erwachten die Sklaven aus ihrer Starre und stürzten sich auf mich. Ich versuchte zu entkommen, da ich aber noch immer gefesselt war, scheiterte mein Fluchtversuch schon nach wenigen Metern. Die Männer zogen mich wieder auf die Beine und stießen mich in die Richtung, in der der Strand lag. Verfolgt wurden wir von dem Mann, den Bestien an seiner Seite und einem kleinen Heer seiner Sklaven. Der Kampf war vorbei gewesen, noch ehe er richtig begonnen hatte.

In der Ferne sah ich meine Frau. Sie weinte. Ich hörte es, sah es und am liebsten hätte ich sie in meine Arme geschlossen. Ich wollte sie beschützen. Als sie mich sah, erstarrte sie kurz. Ich muss schlimm ausgesehen haben. Dann begann sie zu schreien. Ich werde ihre Stimme niemals vergessen. Ich wünschte, ich würde etwas anderes von ihr in meinem Gedächtnis behalten, doch ich erinnere mich nur noch an ihren Schrei. Sie schrie nach den Kindern, die tot im Dorf lagen. Sie schrie nach mir und nach dem Tod. Ich wollte mich losreißen, erneut. Ich schaffte es sogar. Ich wollte zu ihr. Ich weiß nicht mehr, ob ich es geschafft habe. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob ich sie noch einmal im Arm halten konnte. Alles ist von ihr vergangen. Ich weiß nur noch, dass ich einen Schmerz spürte, ein zorniges Lachen und eine Stimme.

„Ist das deine Frau? Ich werde dir zeigen, was es heißt, nicht zu gehorchen! Bringt sie in meine Kajüte!“

Irgendwann erwachte ich auf dem Schiff, irgendwann fand ich mich auf Deck, um zu rudern. Irgendwann sah ich, wie sie den Leichnam meiner geliebten Frau Rahima über die Reling warfen. Irgendwann verspürte Trauer und dann war ich Froh. Ich war Froh, dass sie es überstanden hatte. Dass sie nun bei unseren Kindern war und ich ahnte, dass ich ihnen bald nachfolgen würde. Bald würde ich bei ihnen sein. Ganz bestimmt. Bis jetzt jedoch, lebe ich noch.
 

Wenige Jahre, bevor dieser Bastard mein Dorf überfallen hatte, war ein alter Mann zu uns gekommen. Er kam weit aus dem Osten und ruhte sich bei uns aus. Er brachte uns allerhand wissen mit. Unter anderem das Wissen über bestimmte Kräuter, das Schreiben und Lesen und das Wissen über die Farben der Seelen. Der alte Mann blieb lange bei uns, bis er schließlich starb. Doch zuvor schenkte er mir einen Gegenstand. Er nannte diesen Gegenstand ‚B U C H’ und es handelte sich dabei um Pergament, welches in zwei Holzdeckeln zusammen gebunden war. Er hatte gemeint, wenn ich einmal das Gefühl habe, die Welt würde sich verändern, dann solle ich notieren, was ich erlebe, um zukünftigen Generationen die Geheimnisse der Zeit zu offenbaren. Ich versprach ihm dies, dann war er eingeschlafen.
 

Auf dem Weg vom Meer zurück zu dem Anwesend dieses falschen Gottes, war es recht gefährlich gewesen. Auf der Reise waren viele der Frauen und restlichen Männer gestorben. Der Rest war nun Verfeindet. Die meisten stritten sich regelrecht um das wenige Essen, mordeten sogar dafür.

Ich versuchte weiterhin mir ein wenig Hoffnung zu behalten. Meine Frau, meine Kinder, meine Freude. Sie waren alle nun in einer besseren Welt und ich beneidete sie darum, dass sie diesen Weg nicht mit mir gehen musste. Einige der kränklichen Gefangenen wurden einfach zurück gelassen, andere fielen den Bestien zum Opfer. Aber es gab auch solche – besonders die jungen Knaben oder die sehr hübschen Mädchen – welche sich der falsche Gott holte und sie dann zu seinen Sklaven machte, zu seinen Gefolge, oder sie sogar tötete. Ich hörte weg. Es wurde so oft geschrien.

Der Rest der Gefangenen wurden in hölzerne Wagen gesperrt, welche von diesen riesigen Wölfen gezogen wurden. Sie hatten eine enorme Kraft und stanken erbärmlich nach Tod. Ich versuchte ihr Gebrüll zu ignorieren. Stattdessen verteidigte ich mein B u c h gegen die anderen Gefangenen. Ich weiß nicht, warum sie es mir entreißen wollten. Ich weiß auch nicht, ob ihnen dieses Buch etwas gebracht hätte. Aber ich weiß, dass wir – wie Tiere gehalten – langsam aber sicher selbst zu Tieren wurden. Ich hielt in meinen Händen etwas, was sie nicht hatten. Das war das einzige, was zählte.

Ich vermute sogar, dass es diesem Gott sogar recht war, dass wir uns langsam gegenseitig zerfleischten. Ich glaube, er fand das recht amüsierend.

Ich weiß nur nicht, warum ich nun hier bin. Die anderen wurden in eine Art Stall geschlossen, in dem sie nun leben müssen. Nur ich wurde in diesen Raum gebracht. Ich weiß nicht, ob es an meine ruhige Art lag. Ich ließ mich nicht auf die Kämpfe zwischen den Überlebenden ein und befolgte ebenfalls – jedoch sehr stur – die Befehle unsere Eroberer. Vielleicht sah der falsche Gott auch, dass ich ein gebrochener Mann war, dem man Frau und Kinder geraubt hatte. Jedoch glaube ich, dass dieser falsche Gott ein Ohr für Musik hat. Ich hatte ihn einmal gehört, wie er meinte, dass er mich wegen der Flöte verschont habe, die ich in meiner Tasche herum trug. Ich werde verrückt… es ergibt keinen wirklichen, greifbaren Sinn, aber greifbar muss nicht immer alles sein.

Als die Sklaven ausgeladen worden waren, kam er einmal zu mir und fragte mich, wie mein Name sei.

„Osahra!“ sagte ich, den Blick gesenkt.

„Osahra?“ fragte er noch einmal nach. „Nein, für meinen neuen Musikus ist das ein denkbar schlechter Name. Vergiss ihn. Ab heute bist du nicht mehr Osahra. Ab heute lautet dein Name Orpheus!“

Sie brachten mich weg.

Jetzt bin ich hier.

Und erfülle den Wunsch des alten Mannes.

Mein Name ist Osahra. Das bedeutet: ‚Gott hört’. Aber ab diesem Moment bin ich nicht mehr Oshara. Ab heute bin ich ‚Orpheus’.

2. Eintrag

Wer bin ich? Vor wenigen Tagen war ich Oshara, nun nennt man mich Orpheus. Aber jetzt bin ich nicht Orpheus. Jetzt blicke ich aus den Augen einer großen Frau, die ernst und ruhig im Schatten eines kleinen Raumes steht. Mein Körper ist gezeichnet mit den Malen einer Sklavin, doch ich weiß, dass ich frei bin. In meinen Händen halte ich einen Sperr, der mich und andere verteidigen soll. Ich bin eine Kriegerin und es herrscht noch immer Krieg.

Heute jedoch ist es kein Krieg, der von außerhalb kommt. Heute war es ein Krieg, der die Gruppe von innen her aufzufressen droht. Sie waren eben noch auf dem Schlachtfeld gewesen. Es gab verletzte, aber keine Tote. Dennoch hatten sie verloren. Ich wusste, dass ein Verräter unter ihnen war. Ich weiß auch, wer es ist, aber ich schweige. Ich sehe dem Verräter an, dass er es nicht gerne tat, dass es ihm Leid tut und dass er darunter sehr zu kämpfen hat. Auch er ist ein Sklave.

Ich blicke zu einem jungen Mann, der vor mir auf einem Sessel sitzt. Ich erkenne ihn. Als Oshara, als Orpheus und als diese Frau erkenne ich ihn, obwohl er so anders scheint.

Er ist ein Mensch, kein Gott.

Er sagt irgendwas, was den wirklichen Verräter in Wut versetzt. Der Verräter stürmt raus und eine Diskussion entflammt. Jemand stellt eine Behauptung in den Raum und alle schweigen. Die Behauptung wird nicht mehr von diesem Ort gehen wollen. Sie bleibt standhaft und weigert sich, zu verschwinden. Auf einmal starren mich alle an. Zeit ist vergangen. Der Verräter kehrt zurück. Kurz nach ihm eine junge, feurige Frau. Die Situation eskaliert, der Verdacht wird hin und her geworfen und am Ende bleibt er bei mir stehen. Sie starren mich an, dann erhebt sich der junge Mann. Eigentlich sollte er zu mir halten… eigentlich… Ich will mich verteidigen, doch ich bin eine Sklavin, eine freie Sklavin, doch das verstehen diese Menschen nicht. Sie geben mir die Schuld und ich fliehe.

Apollon bleibt zurück.
 

Meine Hände zittern. Ich bitte um Entschuldigung, wenn die Schrift kaum leserlich ist. Ich bin müde. Mein Körper bebt unter den Schmerzen der letzten Tage und dennoch habe ich mich dafür entschieden, das Erlebte aufzuschreiben. Nun habe ich sogar einen Tisch und neben mir steht eine kleine Kerze, wodurch ich sogar in der Dunkelheit zu schreiben vermag. Es hat sich viel für mich verändert und nur ein Wunsch hat sich in meiner Brust festgesetzt: Ich will aus dieser Hölle heraus. Es ist nicht einfach zu erklären, was die Tage geschehen ist. Mein Körper trägt die Zeichen der Folter, doch es scheint vorbei. Mein Wille ist gebrochen, mein Geist verschließt sich mir in eine endlose Ruhe. Er wird warten. Er wird darauf warten, dass ich meine Freiheit wieder erlange. Bis dahin muss ich durchhalten. Nicht nur für mich. Für alle hier und besonders für sie.
 

Ich schaffe es nicht, die letzten Worte meines alten Eintrages zu lesen. Ich weiß nicht, was ich berichtet habe und wie viel. Ich werde noch einmal zu der elenden Reise kommen müssen, die ich mit meinen Freunden zurück legen musste, als Gefangene und Belustigung dieses falschen Gottes. Es sind auf dieser Reise Dinge geschehen, die nachhaltige Folgen für die letzten Tage hatten und von denen ich davor nicht glaubte, sie würden einmal wichtig sein. Ich hatte mich geirrt. Diese Reise ist grundlegend für mein Überleben und für einiges Leid und damit meine ich nicht nur den Mord an vielen Menschen, die Versklavung und Verschleppung. Es war kein eingängiger Triumphmarsch eines Gottes. Diese Reise hat mein Leben verändert und die letzten Tage heraufbeschworen.

Es ist schwierig die anstrengenden Tage der Reise zu beschreiben, wenn sie doch hinter einem dicken Schleier wie verborgen scheinen. Meine Erinnerungen daran sind brüchig und liegen im Schatten der Kämpfe, des Sterbens und der Qual. Mein Gedächtnis hat zum Schutz meines Verstandes die meiste Zeit versucht zu verdrängen, doch nun kehren die Erinnerungen wieder. Wie Erbrochenes würgt mein Kopf die ekelhaften Bilder wieder heraus und wirft sie wie verwesender Moder aus. Brennend und Stickend fressen sich Eiter und Krankheit durch die Geschichte der Reise.

Das Leid und die Trauer waren meine anhänglichen Begleiter.

Ich erinnere mich an den Tag zurück. Drei Nächte nach der Verschleppung und einen Tag vor dem Erreichen des Ziels. Ich glaube, es hat geregnet, aber ich schätze, dass mein Verstand mich da täuscht. Eine dunkle Nacht mit schaurigen Regen und wogenden Wellen würde zu der Gegebenheit viel besser passen, als ruhige See und blauer Himmel. In Wirklichkeit war das Wetter so nebensächlich, dass ich mich nicht daran erinnern kann. Ich kann mich ja nicht einmal daran erinnern, ob es Tag oder Nacht war. Meine ganze Aufmerksamkeit war nur auf zwei Männer gerichtet, die gleichgültig kalt aus der Kajüte des falschen Gottes traten. Sie hatten einen Körper geschultert. Ihren Körper. Rihama. Meine Frau. Es zerbrach mir das Herz und die Seele sie so leblos zu sehen. Ihr Körper war erschlafft und innerhalb von nur zwei Tagen, in denen ich sie nicht gesehen hatte, war sie dürr und kränklich geworden. Ihre vorher dunkle Haut schien nun grau und bleich, ihre Wangen waren eingefallen. Ihr nackter Leib schien geschunden und als die Männer dazu ansetzten, ihren Leichnam über Bord zu werfen, schrie ich laut auf. Auch daran sind meine Erinnerungen verschwommen wie das dunkle, stürmende Meer. Die Wut hatte die Macht über meinen Körper übernommen. In mir brannte ein Feuer, dass ich nicht zu löschen vermochte. Ich riss mich von den Riemen los, versuchte mich durch die Sklaven des falschen Gottes zu kämpfen und meine Frau zu erreichen. Ich wollte die Verantwortlichen töten und gleichzeitig meiner Frau ins Meer folgen, wo wir gemeinsam hätten sterben können. Aber ich dachte in diesem Moment nicht. Ich wollte springen, wollte, dass die Wellen mich schluckten – wie schon ihren Körper. Wut und Trauer hatten mich überwältigt.

Die Männer hielten mich auf. Sie hielten mich fest und schlugen auf mich ein. Ich spürte die Schläge einer Peitsche. Ich wusste, dass sie mein Fleisch trafen, aber ich fühlte nichts. Ich fühlte nichts, außer das verzehrende Beißen der Sehnsucht.

Irgendwann spürte ich eine heiße Flüssigkeit meinen Körper hinab laufen. Ich spürte kurzzeitig einen Schmerz, spürte, wie ich zusammen zuckte. Einer der Sklaven hatte mir ein Messer in die Schulter gerammt. Der Schmerz durchflutete meine Sinne. Die Flammen verebbten und aus der Kajüte trat der falsche Gott.

Auf seinem Gesicht war im ersten Moment ein höhnisches, verspottendes Grinsen, das sich jedoch – bei einem Blick auf das Messer in meiner Schulter – zu einer erschrockenen Fratze verzog.

„WER ist dafür verantwortlich!“ hatte er geschrien. Die Männer waren von mir zurück gewichen. Keiner sagte ein Wort.

„Bringt ihn zur Nymphe! Er darf auf keinen Fall einen bleibenden Schaden zurück behalten! Schnell. Und sagt mir sofort, wer der Verantwortliche ist!“ Es war einer dieser Sklavenbefehle, die die versklavten nicht ignorieren konnten. Gleichzeitig, als wäre sie alle nur eine Person, sprachen sie drei Namen. Der falsche Gott blickte wütend, dann schnippte er mit den Fingern. Ich spürte Hände, wie sie mich auf die Füße zogen. Ich schrie vor Schmerz auf, dann trugen sie mich in die Richtung der Kajüte.

Ich nahm noch war, wie drei Männer, deren Namen wohl genannt worden waren, von den anderen getrennt wurden und dann durch ein Gitter hinab in den Frachtraum gestoßen wurden, wo die wolfsähnlichen Bestien nur auf sie warteten. Die Schreie der Männer verfolgen mich bis zum heutigen Tage. Sie erinnern mich an die Schreie meiner Familienmitglieder, als die Bestien über sie hergefallen waren.

Ich selbst verlor das Bewusstsein, noch bevor ich die Kajüte erreicht hatte.
 

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, bis ich wieder die Augen geöffnet hatte, aber im ersten Augenblick glaubte ich, ich sei verstorben. Mein Stamm, mein Dorf… wir glauben nicht an ein direktes Leben nach dem Tod. Unser Glaube und Wissen beruft sich allein auf die Befindlichkeit der Seele und deren Töne und Klänge. Wir Leben von Musik, welche die Seele spricht und stirbt ein Mensch, so wollen wir seine Seele mit Musik und Tanz in eine bessere Zeit begleiten. Die Seele wird zur Musik und gleitet mit ihr dahin, bis er sich einen neuen Körper ersucht hat, der die gleichen Klänge, die gleiche Musik spielt. Die Seele wird wieder geboren. Wie lange das dauert hängt davon ab, wie der Mensch war. Ein Charakter, eine Seele die stark ist, unabhängig, einzigartig… benötigt länger und betreibt eine intensivere Suche, während ein leichter doch gleichgültigerer Charakter der Suche schneller ein Ende setzen vermag. Und dennoch glaubte ich im ersten Moment, dass mein Leben vorbei wäre.

Ich lag in einem dunklen Raum, in dem meine tagesgewohnten Augen nur Umrisse erkennen konnten. Mein Körper war auf ein hartes Lager gebettet, das in der Mitte des Raumes aufgestellt worden war und mit einem dünnen Tuch bis zu meiner Brust bedeckt. Ein pochender Schmerz hatte mich geweckt. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf, um zu meiner Schulter zu blicken, die schon längst verbunden war.

„Beweg dich nicht!“

Die Stimme war damals aus einer mir undefinierbaren Ecke des Raumes gedrungen und klang in meinen Ohren wie reine Musik. Ich wandte den Kopf zur anderen Seite, aus der ich die Stimme vermutet hatte, doch leider konnte ich niemanden erblicken.

Dafür jedoch wusste ich auf einmal, warum sie gesagt hatte, ich solle mich nicht bewegen. Mein Rücken hatte nur durch die kleine Bewegung meines Halses begonnen zu brennen und der Schmerz lies mich aufstöhnen. Vor mir zuckten kleine Blitze und ich drohte wieder in die Ohnmacht zu stürzen.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht bewegen sollst!“ hörte ich die Stimme erneut. „Anscheinend hast du nicht einmal mitbekommen, wie sie dir mit den Peitschen die Haut vom Rücken gezogen haben. Dagegen ist die kleine Wunde an deiner Schulter nur ein Kratzer. Ihr Menschen seid mir ein unlösbares Rätsel!“

Hätte ich sprechen können, dann hätte ich die Person gefragt, ob sie denn kein Mensch wäre und was sie damit meinte, aber mein Bewusstsein war wie betäubt. Ich öffnete den Mund, doch mehr als nur ein Hauch warmer Luft kam nicht heraus. Mein Hals kratze. Wie lange ich dort bewusstlos gelegen hatte, kann ich nicht einmal heute sagen.

Ich hörte leichte Schritte, die der einer Maus glichen und spürte dann eine Hand an meinem Nacken, die meinen Kopf sanft nach oben zog.

„Trink das!“ sagte die Stimme, während mir ein Gefäß an die Lippen gehalten wurde, aus dem eine warme Flüssigkeit in meinen Mund floss. Ich schluckte bereitwillig. Mein Hals war so trocken, dass ich glücklich über jeden Tropfen dieser wohltuenden Mixtur war, egal um was es sich handelte. Ich spürte, wie langsam die Kraft zurück in meinen Körper floss, wie die Wärme meine Schmerzen stillte und die Wunden sich verschlossen. Ja, ich spürte, wie die Blutung aufhörte, wie mein Körper wohltuend heilte. Bald fand ich sogar die Kraft wieder meinen Gedanken und Worten Klang zu verschaffen. Ich hustete, schluckte die Reste der Flüssigkeit und wendete den Kopf in die Richtung der Person. Der Schmerz in meinem Rücken war zu einem leichten Ziepen geworden.

„Was hast du mir da gegeben?“ fragte ich, was mich doch noch mehr anzustrengen schien, als erwartet. Doch erst ihre Antwort raubte mir meinen Atem und lies mich würgen.

„Mein Blut!“ hatte die Stimme kühl und gleichgültig gesagt, als wäre es eine ganz normale Behandlungsmethode. Ich jedoch spürte Übelkeit in mir aufsteigen und der säuerliche Geschmack auf meiner Zunge brachte mich zum würgen. Hätte sie nicht schnell reagiert und mir ein kaltes, nasses Tuch auf den Mund gelegt, ich glaube, ich hätte mich übergeben.

„Ach stimmt ja!“ sagte die Stimme. „Ich habe ja ganz vergessen, dass ihr Menschen nicht daran gewohnt seid. Tut mir leid. Aber bleib ganz ruhig. Mein Blut hilft dir, dich zu heilen!“

„Sklave?“ würgte ich hervor? Meine Angst damals war unbeschreiblich. Ich fürchtete, dass diese Stimme einer Göttin gehören könnte, die mich nun zu einem ihrer Sklaven gemacht hatte. Ich fürchtete niemals wieder frei sein zu können und ewig getrennt von meiner toten Frau zu sein. Aber die Stimme begann nur zu lachen. Es war ein schönes, freies, reines Lachen, dass weder höhnisch noch entwürdigend klang.

„Nein, nein! Keine Angst. Du bist jetzt weder ein Sklave, noch ein Gott. Ich bin keiner von ihnen. Glaubst du, dass es auf diesem Schiff nur Sklaven und Götter gibt?“

„Und diese Bestien!“ antwortete ich müde.

„Sind auch nur Sklaven von Apollon!“

Vielleicht hätte ich mich mehr über die Tatsache wundern sollen, dass diese Frau mir ihr Blut gegeben hatte, damit ich heile, doch ich war zu schwach. Ich wollte nur schlafen, träumen, vergessen. Immer und immer wieder kehrten die Bilder von Rihama in meinen Kopf zurück. Ich sah sie weinend, schreiend, kreischend, sterbend, fallend, ertrinkend… In meiner Erinnerung, in meinen Träumen… da hatte sie nach mir gerufen, während diese wilden, wolfsähnlichen Kreaturen hinter ihr her waren und ich konnte nichts tun. Ich musste dabei zuschauen, wie sie meine Frau und meine Kinder zerfleischten. Ich musste zuschauen, immer und immer wieder. Ich spürte das Blut auf meiner Haut, roch die Verwesung und spürte den Tod und merkte nicht einmal, dass der erlösende Schlaf, nach dem ich mich sehnte, diese Träume erst ausgelöst hatte. ‚…WARUM?...‘ Schrie Rihama immer und immer wieder zu mir ‚… Warum hast du uns nicht geholfen?...‘ – ‚Ich habe es nicht gekonnt, es tut mir leid‘ – ‚Spiel für uns, Oshara. Mein geliebter Mann, begleite unsere Seelen in eine neue Zeit. Spiele für uns, Oshara. Sei nicht daran Schuld, dass unsere Seelen keine Ruhe finden. Spiele für die Toten‘

Ich kann mich daran erinnern, dass ihre Worte klagend und mitleidig zugleich klangen. Ihre Stimme so wahrhaftig und unbegreifbar wie das stürmende Meer an einem windstillen Tag. Ich hab ihr Gesicht gesehen und dennoch blickte mich eine ganz andere Frau an, als die aus meiner Erinnerung. Ich habe meine Kinder gesehen und sie nicht wiedererkannt und ich habe meinen Sohn umarmt und nur kälte Gespürt. Diese Kälte lies mich erstarren und gleichzeitig aus diesem Elend aufschrecken.

Ich hörte Schreie. Laut und voller Trauer. Das Leid in diesen Schreien lies mir Tränen in die Augen steigen. Mir wird erst jetzt richtig klar, dass ich diese schreiende Person gewesen sein musste, den weder Sklaven, noch gefangene waren in diesem Teil des Schiffes und die Frau, die mir ihr Blut zur Heilung gegeben hatte, schien nicht im Raum gewesen zu sein. Ich hatte es in diesem Moment geglaubt, aber die Stimme, die wieder wie aus dem Nichts zu kommen schien, belehrte mich allen besseren.

„Schrei nicht so rum. Wenn du Apollon weckst, werden wir beide dafür bestraft!“

„Es tut mir leid!“ entschuldigte ich mich. „Ich habe schlecht geträumt!“

„Das dachte ich mir schon!“ sagte die Frau. Ich legte mich wieder auf das harte Bett zurück, wobei mir sofort auffiel, dass meine Schmerzen fast vollkommen verebbt waren und dass ich meinen Arm wieder normal bewegen konnte.

Im gleichen Augenblick dieser Erkenntnis erwachte in mir der Wille den Wunsch meiner Frau noch nachzukommen. Ich blickte mich um. Dunkelheit schwappte von außen durch die kleine Luke in den Raum. Es war Nacht gewesen. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Aber es war mir in diesem Moment egal gewesen. Ich sprang vom Bett, griff nach meinen Sachen und wollte hinaus, doch ein kleiner, zarter Körper schob sich zwischen mir und die Tür.

„Sag mal, wo willst du hin. Wenn du gehst bekommen wir beide Ärger!“

„Ich muss an Deck!“ sagte ich leise. „Ich danke dir für deine Hilfe, doch nun muss ich meiner Frau und meinen Kindern und allen anderen gefallenen Dorfbewohnern helfen!“

„Sie sind tot. Was willst du ihnen helfen!“

„Ich muss ihre Seelen Musik bringen, damit sie die Zeit überwinden können!“

Die Gestalt vor mir seufzte, dann nickte sie kurz, als hätte sie verstanden. Ich weiß, dass sie es nicht hatte, aber in diesem Moment schien sie nachgiebig.

„Also gut!“ flüsterte sie. „Ich helfe dir. Warte hier und ich hole die Schlüssel. Aber beantworte mir nur eine Frage. Wie willst du ihnen überhaupt was vorspielen ohne ein Instrument?“

Ich blickte sie einen Moment lang an, auch wenn ich nur ihre Umrisse sehen konnte, dann zog ich aus meiner Bracae eine kleine, dort versteckte Flöte, die ich dann an meine Lippen setzte und ein paar kleine Töne entlockte. Ich sah ihr Gesicht nicht und konnte nicht deuten, was sie dachte, aber sie schwieg einen Moment… einen langen Moment, dann trat sie aus dem Raum und lies mich allein zurück.

Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich wieder Geräusche vor der Tür hörte und diese sich wieder öffnete.

„Folge mir!“ flüsterte sie so leise, dass ich sie kaum gehört hätte. „Die Sklaven sind noch draußen, aber sie kennen dich nicht. Wenn du mir folgst, werden sie glauben, dass du den Bestien geopfert werden oder dass du zu Apollon gebracht werden sollst. Ich werde dich an Deck bringen zu einer kleinen Stelle, wo du spielen kannst, ohne dass dich jemand hört, solange du leise spielst. Sei leise, denn wir wären in der Nähe von Apollon und wenn er dich hört, kannst du gleich auch unsere Seelen besingen!“

Ich nickte, auch auf der Gefahr hin, dass sie es nicht sehen konnte. Ich versprach ihr zu schweigen und ruhig zu sein und dankte ihr tausend mal für ihre Hilfe. Dann verließen wir die eine Kajüte und liefen durch ein Labyrinth aus Gängen und Leitern. Das Schiff war riesig und dennoch verschwamm alles vor meinen Augen. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht war es nur ein kurzer Weg und er kam mir nur so lang vor. Aber als ich die Sterne am Nachthimmel sah, da war mir alles andere egal. Das Meer war ruhig und funkelte und ich wusste, dass irgendwo da draußen der tote Körper meiner Frau verborgen lag. Ich wollte so gerne zu ihr.

Aber ich sah auch zum ersten Mal die Frau, die mir meinen Rücken, meinen Arm und mein Leben zurück gegeben hatte. Ihr langes, blondes Haar leuchtete im Mondenlicht und ihre elfenbeinfarbene Haut schimmerte wie die Sterne. Sie hatte recht gehabt. Sie war kein Mensch. Eine Göttin vielleicht, doch sie hatte es ja abgestritten zu diesen zu gehören. Sollte ich ihr glauben? Mittlerweile weiß ich, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte.

Als wir bei dem Ort auf dem Schiff angekommen waren, an dem sie mich bringen wollte, lächelte sie mich kurz an. Sie schien so unschuldig in diesem Augenblick, dass ich selbst lächelte, dann zog ich die kleine Flöte aus der Tasche und begann zu spielen. Ich hatte die Augen geschlossen und sah meine Frau vor mir. Wie sie lächelte und lachte und zu der Musik tanzte. Ich sah auch meinen Sohn und meine Tochter, die freudig mit der Musik spielten. Sie klammerten sich an die Töne und ritten auf ihnen davon. Sie lachten und freuten sich und winkten mir zu und Rihama tanzte. Ihr wunderschöner Körper wiegte sich zu der Musik, bis auch sie sich einen Ton ergriff und davon flog, um irgendwann wieder geboren zu werden. Rihama… meine geliebte Frau. Ich vermisse dich so.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich zu der Frau und einen Augenblick glaubte ich, dass Rihama vor mir stand. Natürlich habe ich es mir nur eingebildet. Ich habe erwartet, Rihama vor mir zu sehen. Ich habe ihre Musik gespielt und die Frau war da gewesen und konnte Rihama eine Gestalt geben. Sie lächelte noch immer.

„Wunder schön!“ seufzte sie, doch sie wurde von den Geräuschen von Schritten unterbrochen. Jemand kam und sicherlich würde er uns verraten. Hier war jeder sich selbst der Nächste.

„Schnell!“ sagte sie. „Geh zurück. Ich halt ihn auf. Mir kann nichts passieren, jedenfalls nicht viel. Geh schnell zurück und leg dich hin. Du bist nicht hier gewesen!“

Ich wollte erst nicht. Ich wollte sie nicht alleine zurück lassen. Dies verbot mir meine Ehre, doch sie drängte mich in die Richtung der Kajüten zurück, schob und flehte, bis ich endlich nachgab und zurück kehre. Erleichtert und mit dem Gefühl meiner Frau die letzte Ehre erwiesen zu haben, lief ich den nun mir kürzer erscheinen Weg zurück und wartete in der Kajüte auf die Frau. Es dauerte lange… viel zu lange, dann kam sie, öffnete die Tür und schwieg einige Minuten, bevor sie leise und nach Worteringend zu sprechen versuchte.

„Wir… wir sind angekommen. Dein Weg hier ist… vorbei!“

Sie hätte wohl recht gehabt. Ich war einer der Gefangenen, die als Wegzehrung für die Kreaturen vorgesehen waren. Aber jeder würde sich wohl jetzt fragen, warum man dann solch einen Aufwand betrieben hat, um meine Wunden zu heilen.

Meine Rolle auf dieser Reise hatte sich geändert. Doch das wussten wir zu diesem Augenblick noch nicht.

„Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, was aus dir wird. Ich werde den letzten Weg bis zum Anwesen von Apollon den Gefangenenzug begleiten, aber es ist eigentlich nicht geplant, dass die ausgewachsenen Menschen überleben!“

„Das ist nicht schlimm!“ sagte ich leise.

„Verrat mir deinen Namen, damit ich dir dann auch ein Lied spielen kann!“

„Oshara!“ sagte ich.

„Ich heiße Eurydike!“

Ich werde diesen Namen wohl nicht mehr vergessen, auch wenn ich sie nicht mehr wieder sehen werde, denn die Nymphe – wie ich später herausfand – folgte nicht mehr dem Gefangenenzug, sondern verlies und schon am Hafen, in dem wir in diese Käfige verfrachtet wurden.

Ab diesem Augenblick schwor ich mir, dass ich nie wieder spielen würde. Das Lied für meine Frau und meine Kinder war die letzte Musik, die ich jemals hören wollte. Ab nun an würde ich kein Instrument mehr anfassen. Ich konnte es nicht mehr. Mein Wille dahin, meine Seele verschwunden. Ich schwieg die meiste Zeit und schien abwesend. An diesen Teil der Reise kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich war nicht da. Nur eine Hülle verteidigte Buch, Essen und Leben. Der Rest war verschwunden und tauchte erst wieder auf, als der falsche Gott befahl alle Sklaven in die Ställe zu bringen, abgesehen von mir. Ich wurde in diesem Raum gebracht und bekam einen neuen Namen und es fiel mir so leicht diesen anzunehmen, denn Oshara war mit seiner Familie davon gegangen. Und Orpheus blieb zurück. Und Orpheus war ein Spielzeug.

Ich habe gefragt, warum ich diese Sonderbehandlung bekam. Die Antwort folgte bald. Am Tag nach der Ankunft kehrte am Mittag Apollon in den Raum zurück und blickte mich mit seinem höhnischen, spottenden Blick an.

„Du bist ein Musiker!“ stellte er fest. „Ich habe dich spielen Gehört, am Tag unserer Ankunft. Die Klänge waren bezaubernd schön. Ich bin Freund von Musik und Kunst und deshalb habe ich dich erwählt für mich zu spielen. Sei froh, mein Freund, denn so wirst du ewig leben!“

„Nein!“ sagte ich sofort und wusste im gleichen Augenblick, dass dies ein Fehler gewesen war.

„Wie kannst du es wagen, mir zu wiedersprechen! ICH BIN EIN GOTT!“

„Wir hatten einen Gott, denn ihr getötet habt!“ sagte ich und mir war bewusst gewesen, dass meine Stimme kalt und gleichgültig klang. „Ich kann nicht mehr spielen. Alles, was meinem Spiel Sinn gab ist tot. Meine Musik ging mit dem Leben, welches ihr ausgelöscht habt!“

„So ein Unsinn. Du wirst meinem Wunsch Folge leisten!“ knurrte der Gott. „Ich werde schon dafür sorgen!“

Und er sorgte dafür. Nur wenige Augenblicke später kamen die Sklaven und folterten mich. Sie hielten mich am Leben und gaben mir Nymphenblut, damit die Wunden schnell heilten. Ich vermutete jedenfalls, dass es dies war, denn meine Wunden heilten in nur wenigen Stunden. Dann begannen sie erneut und nach dem dritten mal kehrte Apollon zurück.

„Hast du jetzt genug Gefühl, um zu spielen? Spielst du nun für mich?“

„Nein!“ sagte ich und wütend verlies Apollon den Raum wieder.

Ich kann nicht spielen. Ich kann es nicht und ich will es nicht. Nicht für diesen falschen, nichtsnutzigen, verdammten Gott.

Aber ich bin gebrochen. Ich bin nicht mehr Oshara. Ich bin nun Orpheus, der täglich miterleben muss, wie unschuldige Menschen an wolfsähnliche Bestien verfüttert werden und wie Kindern das Blut aus dem Körper gesaugt wird.

Ich halte durch, solange ich kann und wenn ich sterbe, dann werde ich gehen. Mein Körper ist schwach und sie werden wieder kommen, denn Apollon hat wohl das Lied meiner Familie gehört und er will nun, dass ich für ihn spiele. Ich werde für ihn spielen, sobald ich ihn getötet habe. Solange muss ich durch halten. Ich werde meine Frau und meine Kinder rächen und diesen verdammten Gott vernichten und dann werde ich für ihn spielen. Das schwöre ich.

Meine Hände zittern. Ich bitte um Entschuldigung, wenn die Schrift kaum leserlich ist. Ich bin müde.

3. Eintrag

Warum? Wieder bin ich in ein Geschehen hineingeworfen worden, dass ich nicht zu kontrollieren vermag. Bin ich nicht eigentlich Orpheus? Bin ich nicht eigentlich Gefangener des falschen Gottes Apollon?

Jetzt bin ich ein Kämpfer. Ein Krieger, der sich zum Schutz vor eisiger Kälte in eine Jacke gewunden hat. Der Kampf ist schon vorbei und ich habe verloren. Meine Freunde kämpfen noch und bekommen nicht mit, wie ich hier im Schnee liege und meinen Tod erwarte. Aber der Tod kommt nicht. Stattdessen kommt jemand anderes. Einer dieser Götter, die ich Vampire nenne. Er ist stark. Das sieht man nicht nur, das fühlt man. Er lacht aus mich, dann hebt er mich hoch und nimmt mein Blut, um mir einen kleinen Teil des seinen zu geben. Schmerz… ich kenne diesen Schmerz und dann höre ich seine Stimme, die in meinem Kopf wie Trommelschläge klingen. Mein Körper gehört mir nicht mehr. Er reagiert einfach und steht auf. Ich will dagegen wehren, kämpfe dagegen an, doch mein Geist ist zu schwach. Der Vampir kontrolliert mich und lacht. Dann geht er, nachdem er mir einen Befehlt gegeben hat. Er geht, aber ich werde ihn bald wieder sehen. Der Kampf ist vorbei, meine Freunde stark verletzt. Ich kehre zu ihnen zurück und sehe ihr Leid. Aber alle sind da. Alle sind an Ort und Stelle, sogar Blanche, das Mädchen mit den roten Haaren, auf die ich ein Auge werfen soll. Ich schließe die Augen und bete, dass sie es herausfinden und mich töten. Ich will es, denn ich bin ihr Freund und ich werde sie verraten. Alle!
 

Ich kann noch nicht recht glauben, was in den letzten Tagen geschehen ist. Es ist wie in einem fernen Traum, der dahin lief. In all der Zeit habe mich meine Hoffnung nie aufgegeben und nun hab ich den Augenblick gefunden, um sie wieder fest zu ergreifen. Ich bin mir noch nicht richtig im Klaren, ob es nicht vielleicht eine List ist, oder ob ich langsam halluziniere, aber anscheinend kommt mein Glück langsam zu mir zurück. Die Tage der Folter sind vorbei. Stattdessen versucht mich Apollon nun mit einer gewissen Freundschaftlichkeit zu überzeugen, die gespielter und dumpfer nicht sein könnte. Ich darf meinen Raum nicht verlassen, aber dafür erhalte ich die besten Speise und Tränke, sowie Kerzen und sogar Farbe, wenn ich danach verlange. Sklaven bringen mir all dies und ab und an schickt er auch Frauen zu mir, die ich sofort wieder aus dem Raum werfe. Apollon verstand nichts. Seine Bemühungen würden keine Früchte tragen und meine Gefangenschaft schafft mich auf eine Art und Weise, die mein Leben bedroht und nun habe ich die Chance aus dieser Hölle zu entkommen. Nach all den Tagen, den Wochen.
 

Ich habe die Sonnenaufgänge nicht mitgezählt. Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind. Genug wohl, um mich vollständig geheilt zu nennen. Narben erinnern noch an die Folter und meinem linken Fuß fehlt nun ein Zeh. Apollon hatte gemeint, er würde nicht zum spielen gebraucht und damit nutzlos. Ich muss gestehen, dass ich den Zeh nicht vermisse, ich aber die Schmerzen noch immer spüre. Selbst das Nymphenblut hatte keine Besserung gegeben und erst vor wenigen Tagen ist die Entzündung aus meinem Körper verschwunden. Seit diesem Augenblick war Apollon zu mir wie ausgewechselt. Wie ich schon beschrieben habe hat sich der Zustand meiner Gefangennahme deutlich geändert und meine Seele krümmt und windet sich deswegen.

Es hat den Anschein, dass Apollon begriffen hat, dass er einen Menschen mit der Folter auch trotz Nymphenblut den Tod bringen könnte. Wahrscheinlich hatte er zuvor die Tatsache vergessen. Er wollte seinen neuen Schatz nicht verlieren, wollte nicht riskieren, dass ich starb, deshalb bestach er mich nun. Vielleicht würde ich ja spielen, wenn er freundlich zu mir war. Aber eine gute Tat würde all das schlechte nicht ungeschehen machen. Zumal unter meinem Fenster die restlichen überlebenden Kinder meines Dorfes schwere Arbeiten verrichteten und täglich nahm die Zahl derer ab. Ich kann nicht verstehen, wie dieser falsche Gott glaubte, dass ich unter diesen schrecklichen Umständen die Schönheit der Musik erwecken könnte, zumal der Schmerz über den Verlust meiner Familie mir die Sinne raubt.

Jeden Tag kommen zwei oder dreimal Sklaven zu mir und bringen Essen und Trinken und jeden Tag am Abend, sobald die Sonne unter gegangen ist, kommt auch Apollon. Sein höhnisches Lächeln ist sogar fast verschwunden. Er schaut ungeduldig aus.

„Spielst du nun für mich?“ fragt er mich jedes Mal und ich sage jeden Abend „Nein“. Dann geht er wieder.

Mittlerweile glaubt er mich durch von Anderen gespielte Musik verführen zu können, selbst zur Leier zu greifen, die schon seit Tagen in meinem Zimmer bereit liegt. Aber ich kann nicht. Ich sehe aus dem kleinen Fenster und erblicke die Sterne und darin meine Frau und meine Kinder. Ich schaue zum Mond und sehe dort unser Dorf und ich versuche den Horizont zu ergreifen, der mir Freiheit und Hoffnung verspricht. Und dann, eines Nachts, geschah etwas, was ich nicht erwartet habe.

Apollon kam zu mir und öffnete mir die Tür.

„Geh raus!“ hatte er gesagt. „Geh raus in meinen Garten und genieße die Blumen, die ihr Menschen so sehr schätzt. Von mir aus nimm die Reste deiner Mahlzeit mit und gib es diesen elenden Würmern. Mach alles, was du willst, solange du innerhalb der Mauern bleibst. Ich gebe dir diese Freiheit für heute Nacht und danach wirst du für mich spielen!“

„Ich kann nicht spielen!“ sagte ich zu ihm, wie jeden Abend. „Ich spielte für die Frau, die du auf dem Weg hier her getötet hast und mit ihr ging meine Seele, die für ihre Musik bekannt war!“

Ich sah Apollon an, dass er sich sehr zusammen reißen musste, um nicht wütend zu werden oder es mir zu zeigen, wie wütend er war. Er seufzte kurz, strich sich eine Strähne seines blonden Haares aus dem Gesicht und schüttelte dann den Kopf.

„Du wirst spielen können. Das verspreche ich dir. Nun jedoch geh hinaus und rieche von mir aus die Blumen oder Pferdehintern. Geh hinaus, such dir eine Frau, oder Kinder…. Oder was du sonst begehrst. Amüsier dich ein wenig, aber ich würde die Empfehlen nicht in die Nähe der Stallanlage zu kommen. Dahinter liegen die Cerberus und es kam schon des Öfteren vor, dass sie ihre Behausungen ungefragt verließen. Du kennst ja meine Schoßhunde, also pass lieber auf dich auf!“

Und dann verließ Apollon mich wieder, während sein Umhang hinter ihm her wehte.

Ich blieb allein in dem Raum zurück und kämpfte mit mir selbst. Die Möglichkeit wieder frische Luft schmecken zu können, wieder unter… menschenähnliche Gestalten zu kommen, die unnahbare Freiheit mindestens etwas greifbar machen zu können… ich muss gestehen, es verlockte mich sehr. Dennoch schlich sich mir der Gedanke ein, es könne eine Falle sein. Ich wusste nicht, was Apollon damit bezwecken wollte, aber gleichzeitig war mir bewusst, dass er – wenn er mich wirklich töten wollte – dies schon längst hätte tun können. Sollte ich seinem Angebot nachkommen? Sollte ich hinaus gehen? Was würde mich da erwarten?

Ich zögerte noch einen kleinen Augenblick, dann trat ich aus der Tür. Vor mir lag ein langer Säulengang, durch dessen offene Decke die Strahlen des Mondes fielen und damit das Wasser eines kleinen Brunnens zum glitzern brachte.

Ich ging auf diesen Brunnen zu, ganz langsam, Schritt für Schritt, als hätte ich Angst, dass dieser Traum jeden Augenblick vorbei sein könnte. Vorsichtig strich ich über den kalten, glatten Marmor der Säulen, die den Weg zum Brunnen säumten und als ich endlich vor ihm stand, fiel ich auf die Knie und streckte die Arme in den Himmel, um meinen toten Gott zu lobpreisen, dass er mir sogar jetzt noch ein wenig Hoffnung schenkte. Ich sprach die Worte unserer Urahnen und senkte den Blick. Tränen fielen in den kalten Staub vor mir und ich blieb einige Zeit in dieser Demutspose knien, bis ich wirklich verstand, dass dies kein Traum war, sondern die Wirklichkeit. Als ich aufstand, nahm ich einen kleinen Stein mit und warf diesen in den Brunnen. Das Geräusch, als der Stein das Wasser traf, zog ich tief in mir ein und genoss es, als wäre es der Klang der Sterne, die über mir zu singen begannen.

Ich muss gestehen, dass ich diesen Augenblick unendlich in die Länge zog. Vielleicht hätte ich aus Trotz und Stolz das Angebot von Apollon abschlagen sollen, doch es lockte die Freiheit und so führten mich meine Schritte hinaus in den riesigen Garten von Apollon. I schritt durch das Labyrinth aus grünen Heckenpflanzen und bestaunte die filigranen Statuen, die Apollon irgendwann aufstellen ließ.

Vielleicht war es falsch in diesem Moment alles andere zu vergessen, doch ich musste meinen Kopf frei räumen und abschalten, um nicht wahnsinnig zu werden, um nicht den Verstand zu verlieren. Wahrscheinlich hatte ich aber meinen Geist zu sehr abgeschalten. Wahrscheinlich war mein Wunsch nach Freiheit viel zu groß gewesen, denn die Zeit in diesem Labyrinth verging schneller als erwartet. Ich habe stundenlang auf einer Marmorbank gesessen und die Sterne beobachtet. Ich habe die Rosen gesehen und konnte nicht mehr von ihnen ablassen. Ich habe einen Teich gefunden und habe die Fische gefüttert, die darin herum schwammen. Ich habe ein paar Sklavenkinder entdeckt und ihnen meinen Braten gegeben und ich habe der fernen Musik eines Festes gelauscht, dass in der Nähe veranstaltet wurde. All das in einer Nacht und der Zusammenhang ist mir verschleiert. Ich muss gestehen, diese Zeit genossen zu haben und als die Sonne wieder aufging, da zeigte ich meine Dankbarkeit dem Schicksal, indem ich tatsächlich zurück kehrte. Ich konnte die hohe Mauer nicht überwinden und überall liefen die Sklaven herum und beobachteten mich. Ein Entkommen war undenkbar.

Ich hatte bald den Säulengang erreicht, seufzte schon vor der erdrückenden Gefangenschaft, als ich quälende Schreie hörte, voller Schmerz und Pein.

Ich wartete einen Augenblick, dann siegte meine Vernunft und ich rannte in die Richtung, aus der ich die Schreie zu hören glaubte. Ich konnte nicht ahnen, wohin mich das bringen würde. Ich hatte nicht gewusst, dass der Weg der gleiche war, wie zu die Stallungen.

Als ich jedoch vor ihnen stand, erstarrte ich einen Augenblick. Meine Augen hatten die fünf riesigen Käfige erblickt, die neben den Stallungen aufgebaut waren. In einem dieser lagen fünf Löwen, in drei neben diesen waren je zwei der riesigen, bestialischen Wolfstiere, vor denen ich solche Schrecken hatte. In dem letzten Käfig jedoch, waren fünf Menschen eingesperrt. Einer von ihnen war tot und ihm fehlte ein Bein. Die vier anderen schienen erschöpft und kraftlos. Sie saßen alle vier auf dem Boden und blickten stumm nach unten.

Trotz der Kränklichkeit und des Zwielichtes erkannte ich einen von ihnen. Er saß in der hinteren Ecke und hatte ein Bein angewinkelt. Er trug noch die gleiche Kleidung wie vor Tagen, als wie zusammen im Dorf gegen die Eroberer gekämpft haben, doch nun war sie blutverschmiert und zerrissen.

Langsam, um ihn nicht zu erschrecken und mich selbst zu überzeugen, dass er es wirklich war, ging ich auf den Käfig zu. Aber er war es. Er musste es sein. Auch wenn er niedergeschlagen ist, krank und wohl auch sein Leben bereits aufgegeben hatte, so waren die Töne seines Seins noch immer in der gleichen Farbe, wie zuvor. Er musste es sein. Es konnte kein Irrtum sein!

„Akin!“ Die Gestalt im Käfig blickte auf. Die Augen waren leer und zerrissen mir fast das Herz. Er sah gebrochen aus, als hätte er aufgegeben. Aber er hatte überlebt. Das war das einzige, was zählte. Auch die anderen schauten kurz auf, doch sie schienen keine Notiz von mir zu nehmen. Sie schienen noch Seelenloser, als Akin selbst.

Akin stand auf, was ihn schon sehr anzustrengen schien. Er hatte keine Kraft mehr, war dem Tod schon sehr nahe. Langsam kam er auf mich zu. Jeder Schritt schien ihm Konzentration zu kosten und als er vor mir stand, hielt er sich an den Standen des Käfigs fest, um nicht gleich wieder umzukippen.

„Oshara… du lebst!“ sagte er. „Ich habe gedacht… gedacht… sie hätten dich… oh mein Gott, dann warst du das nicht… dann war es jemand anders. Du lebst, mein Gott, wer noch?“

„Niemand!“ sagte ich, auch wenn die Worte für mich keinen Sinn ergaben. Er redete in Zungen, sprach zu mir, doch ich verstand ihn nicht. Er völlig verstört, also ergriff ich seine Hand und blickte ihn fest an.

„Akin. Sie alle sind tot. Unsere Frauen und Kinder, aber wir können fliehen. Glaub mir, zu zweit können wir es schaffen!“

„Nein!“ sagte Akin. „Ich kann nicht fliehen. Oshara, es geht nicht!“

Ich runzelte die Stirn. Der Mut und die Hoffnung, die ich gerade empfand schienen nicht auf ihn abzufärben. Er hatte alles verloren, wie mir schien, sein Wille zu überleben, sein Kampfgeist.

Akin war einer unserer Krieger gewesen. Er hatte uns vor Löwen, Wölfen und vor wilden Elefantenbullen gerettet. Er war stolz gewesen und hatte hohes Ansehen genossen und nun war er nichts weiter, als ein Häuflein Elend. Der Anblick schmerzte mir. Ich konnte nicht wegschauen, denn ich wollte ihm Mut spenden. Ich war es ihm schuldig.

„Hör mir zu, Akin. Ich kann mich frei bewegen. Ich hol dich da raus und dann fliehen zusammen. Wir gehen und sammeln Kräfte und Verbündete und dann werden wir diesen elenden, falschen Gott vernichten. Schau mich an, Akin, bitte!“

Aber er blickte nicht zu mir. Er hatte weggeschaut und Kraftlos war er in die Gitter gesunken. Er dachte nach, das sah ich ihm an. Er überlegte verkrampft, ob er vielleicht doch eine Flucht wagen sollte und diesen Funken Hoffnung ergriff ich.

„Nun hör mir zu, Akin. Wir sind es unseren Familien schuldig. Wir müssen hier weg. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Jeden Tag sah ich die Kinder unseres Dorfes sterben. Nun ist keines mehr da. Jetzt sehe ich dich und ich habe wieder Hoffnung. Akin. Heute Nacht kann ich dich befreien und dann fliehen!“

„Nein… Nein, nein!“ Sein Kopf war nach oben gezuckt, seine Augen geweitet voller Schrecken, als hätte ich ihm angedroht, ihn zu töten. Ruhelos war sein Blick durch die Gitter zu den Bestien gestreift. Die Pupillen zucken hin und her und mit einer kraftlosen Bewegung griff er blitzschnell nach mir. Er zog mich näher an das Gitter heran, knurrte fast wütend und fletschte seine Zähne, während ich einen Augenblick darüber nachdachte, ob er wirklich noch er selbst war.

„Nein, nein… nicht des Nachts. Nächte sind böse, verstehst du nicht? Da sind sie wach und lauern auf uns und sie sind frei und können uns töten und… und… nein, nicht des Nachts, Oshara. Am Tage. Morgen, ja morgen ist gut. Gleich, wenn die Sonne aufgeht, dann komm her und befrei mich und wir fliehen. Versprochen, aber nicht in der Nacht. Keine Sterne, kein Mond, keine Götter, verstehst du?“

Dann stieß er mich vom Gitter weg und stolperte ein Stück nach hinten. Noch immer war sein Blick ruhelos.

„Nun geh! Verschwinde von hier. Schnell, bevor sie kommen!“

Ich tat, was er sagte, aber nicht sofort. Ich hob die Arme, wollte ihn beschwichtigen, doch dann hörte ich Schritte und ich nickte.

„Ich komme wieder!“ versicherte ich ihm, dann floh ich hinter das Gebäude und kehrte zurück in meinen Raum, der noch immer verlassen war. Mein Herz raste wie Wild und ich begann vor Adrenalin zu lachen. Ich warf mich aufs Bett und lachte, laut und fast irre. Freiheit. So greifbar nahe. Jetzt musste ich nur noch den Schlüssel für die Käfige bekommen und das würde ich bis zum nächsten Tag schaffen. Ich glaubte auch schon, einen Weg gefunden zu haben.

Mit diesem wundervollen Gedanken schlief ich ein und erwachte erst, als Apollon auf der Schwelle meiner Tür stand und zu mir schaute.

„Und?“ fragte er mich fordernd. „Wirst du jetzt für mich spielen?“

Ich blickte ihn an, als wäre er der Teufel persönlich, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein!“ sagte ich. „Noch nicht! Noch kann ich nicht spielen“

Ich hätte nicht erwartet, dass er lächelte, aber er tat es, dann nickte er.

„Du bekommst diese Nacht wieder Freigang, mein Freund. Diese eine Nacht noch und dann spielst und wenn nicht, dann werde ich mich für einen neuen Musikus entscheiden müssen!“

Ich nickte nur, sagte aber kein Wort dazu. Mein Herz schlug nur noch für die geplante Flucht und der Rhythmus steckte an.

Ich blickte hinaus und sah die Sonne untergehen. Sie tauchte in den fernen Horizont ein und ich sehnte mich nach der Berührung dieser Freiheit.

In dieser Nacht verlies ich wieder mein Gefängnis, doch dieses Mal achtete ich nicht auf die Schönheit des Brunnens oder Sterne. Dieses Mal suchte ich gleich die Unterkünfte der Sklaven auf, auf der Suche nach einem Schlüssel.

Ich suchte lange, versteckte mich im Schatten der Gebäude und wanderte durch das Labyrinth, doch meine Suche wurde nicht belohnt. Also kehrte ich niedergeschlagen in meine Räumlichkeiten zurück und setzte mich niedergeschlagen auf mein Bett.

Die Hoffnung schwand, das Glück schien mich verlassen zu haben, doch im letzten Augenblick der Hoffnungslosigkeit bewies das Schicksal doch seine Gutmütigkeit.

„Oshara?“

Ich saß am Brunnen, als sie gerufen hatte und als ich den Blick hob, erschien vor mir Eurydike. Die Nymphe Eurydike.

Sie stand vor mir und lächelte mich an. Sie trug ein schönes, seidenes Kleid und hatte ihr goldenes Haar nach oben gebunden.

„Eurydike. Ich hätte nicht gedacht, dich wieder zu sehen!“

„Das sagst du mir? Ich dachte, du bist längst tot. Aber anscheinend geht es dir gut. Hat er dich versklavt?“

„Nein!“ sagte ich ruhig. „Ich bin nur ein Gefangener. Sagst du mir, was du hier machst?“

„Ich bin… sowas wie eine Leihgabe. Egal… willst du etwas zu essen haben?“

Ich schüttelte den Kopf und blickte in das Wasser. In mir machte sich ein Gedanke breit, der mich erschreckte und gleichzeitig meine letzte Hoffnung war. Dann schaute ich wieder zu ihr.

„Kannst du mir einen Gefallen tun?“ fragte ich sie. „Es könnte dein Leben in Gefahr bringen. Du musst es also nicht tun!“

„Nun sag schon!“ meinte sie lächelnd. „Apollon kann mich nicht antasten, ohne selbst ein Leben zu riskieren!“

„Hör gut zu… ich brauche den Schlüssel für die Käfige im Hof. Kannst du ihn mir bringen?“

„Bist du wahnsinnig?“ fragte sie erschrocken und beinahe hätte sie den Krug fallen lassen, denn sie in den Händen hielt. „Du willst den Schlüssel?“

Ich nickte noch einmal und stand vom Brunnen auf. „Ich muss hier raus und brauch ihn, um einen Freund zu befreien. Bitte, hilf mir ein letztes mal!“

Sie schüttelte jedoch den Kopf und stellte den Krug auf den Brunnenrand, bevor sie auf mich zuging und mich schüttelte.

„Das kann ich nicht tun. Du weißt nicht, welches Unheil du damit loslassen wirst. Oshara. Sei nicht verrückt. Dein Plan ist nicht gut. Du weißt nicht, worauf du dich einlässt!“

„Das ist mir egal. Ich muss von hier fort. Bitte… hilf mir!“

Sie seufzte, ging einen Schritt und hob hysterisch die Arme, während sie hin und her lief. Der Anblick erinnerte mich an ein aufgescheuchtes Huhn.

„Das ist doch verrückt!“ rief sie. „Vollkommen verrückt und dennoch…“ Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um. „Ich helfe dir. Ich bringe dir in zwei Stunden Schlüssel an diese Tür und hoffe, dass du entkommen kannst, bevor das jemand bemerkt. Wenn einer fragt, dann werde ich dir die Schuld geben und man wird dich foltern und töten. Solltest du entkommen, will ich dich nie wieder sehen. Du bringst wirklich nur ärger!“

Und daraufhin nahm sie den Krug, füllte ihn mit Wasser und verschwand, während ich mich in den Raum begab und diesen Eintrag schrieb.

Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich kenne die Wege durch das Labyrinth, die Ausgänge, die Wachposten. Ich weiß alles, was ich wissen muss, um mit Akin zu verschwinden. Bald werde ich frei sein und dann suchen wir Verbündete und werden diesen falschen Gott töten. Ich werde Eurydike bitten, mit mir zu kommen und wir werden auch die restlichen Menschen zu retten versuchen. Die Sklaven müssen wir umgehen, bevor sie uns verraten. Ich bin so wahnsinnig aufgeregt, dass meine Hände schon zittern. Ich hoffe, dass mein Plan von Erfolg gekrönt sein wird und dass, wenn Apollon diese Nacht zurück kehrt, niemand da sein wird, der ein ‚Nein‘ von sich gibt. Das Buch steck ich ein und nehm es mit. Ich hoffe, dass die nächsten Seiten von einer erfolgreichen Flucht und von dem Tod eines Gottes berichten werden. Bald ist diese Hölle vorbei. Ich glaube ganz fest daran. Es wird funktionieren.

Ich blicke in den Spiegel und sehe mich und doch nicht. Ich bin entstellt, bin nicht ich. Ich bin jemand anders in mehr als eine Hinsicht. Meine Hand gleitet über meine kalte, weiße Haut. Make-up verziert sie, welches nicht mehr abzuwaschen geht. Mein Mund ist übermäßig rot geschminkt. Mein Gesicht ist eine reine Farbenexplosion und dennoch wirke ich eiskalt.

Ich will etwas sagen. Sprich! Sprich doch endlich! Du muss es sagen! Doch ich kann nicht. Es geht einfach nicht. Kein Wort dringt über mein Lippen, außer ein nerviges Stöhnen. Eine Träne rollt mir über die Wange. Ich wisch sie schnell weg, denn sie hat mir verboten zu weinen. Sie, die mir Frau und Kinder nahm und die ich nun über alles liebe. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil ich schon so lange ihr Sklave bin. Ich war mal kurzzeitig ihr Geliebter gewesen, doch die Schöne entpuppte sich als grausames Biest. Sie hat alle getötet und mir…

Ich öffnete den Mund und sehe den kleinen Stumpf, der einmal meine Zunge gewesen war.

Sie hat alle getötet und mir… die Worte genommen. Wie sehr ich sie hasse… wie sehr ich sie liebe.

Ich schließe die Augen, dann wende ich mich von meiner Gestalt ab. Ein Clown, ein Harlekin zur Belustigung der Königin. Ich bin ein Narr, mehr nicht. Ich bin ein Sklave, ohne Würde, ohne Ehre und ich kann nichts dagegen tun. Irgendwann wird sie sterben und ich werde mit ihr gehen. Aber bis dahin, werde ich ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen, denn ich liebe sie und hasse sie.

Victoria…

Sie hat einen Wunsch und ich erfülle ihn ihr, auch wenn es bedeutete, dass sie dann wieder mit IHM zusammen sein könnte. Er liebt sie nicht. Er will nur seinen Spaß, ihren Körper um ab und an etwas abzuschalten, um die zu vergessen, die er einst verloren hat und die er nun wieder gefunden hat.

Ich soll sie ihm wieder nehmen und riskiere damit mein Leben. Aber was soll ich machen? Ich bin doch nur ein Sklave, ein Narr, ein Clown… der liebt und hasst und alles verloren hat. Was zählt dieses falsche Leben? Das bin ich und doch nicht. Ob nun Maurice, Oshara oder Orpheus.
 

Ich mag diese Träume nicht. Sie sind so real, so greifbar, als würde mir das wirklich geschehen. Die Personen, die ich dann bin reagieren anders, als ich reagieren würde. Ich habe mich nicht unter Kontrolle, denke anders, fühle anders, bin ganz anders. Als wäre ich nur Zuschauer aus den Augen einer ganz anderen Welt. Ich werde diese Träume nicht los, aber das ist egal, denn sie sind auch nicht mehr als das … nur Träume. Nur Erinnerungen und Fetzen der Fantasie. Meiner Fantasie. Nur Unterbewusstsein, nur Gefühl. Nach all der Zeit sind diese Träume doch verständlich. Und bald werden sie auch sicherlich wieder aufhören, denn ich konnte aus der Hölle fliehen. Es scheint endlich Berg auf zu gehen. Ich kann es noch nicht fassen, nicht recht glauben. Es hat wirklich geklappt. Ich bin entkommen. Dieser WAHRE, REALE Alptraum ist endlich vorbei.
 

Meine Retterin Eurydike kam mit dem versprochenen Schlüssel zu den Stallungen schneller zurück, als ich erwartet hatte. Die Sonne stand zwar schon etwas höher, als zuvor, aber noch immer war die Morgenkälte zu spüren und auch noch ein paar Katzen zogen über die Wege, um einen geeigneten Platz zum ruhen zu suchen. Wir hatten Zeit, aber nicht mehr viel. Zwar war immer die gleiche Anzahl an Wachen im Garten und dem Anwesend verteilt, doch so früh am Morgen zeigten einige von ihnen leichte Müdigkeitsanzeichen. Zumal es Apollon nicht allzu ernst nahm mit der Disziplin seiner Sklaven. Er hielt sich Lustsklaven, Musiker, Künstler, Schausteller, Magier, aber keine Krieger. Er war einer jener Götter, die lebten, so sagte er einmal zu mir. Er lebte und genoss es in allen Zügen. Und zum Leben gehörte nun einmal auch Amüsement.

Vielleicht waren auch die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen der Grund, warum Eurydike so schnell zurück kehren konnte und warum wir solches Glück bei unseren Vorhaben hatten.

Ich habe sie auch gefragt, ob sie mit uns mitkommen wolle. Ob sie in Freiheit leben möchte, fernab von diesen falschen Göttern und ihren Wahnwitz. Aber sie hatte mich nur mitleidig angeschaut. Ihre Augen waren groß, wie leuchtende Sterne, aber in ihnen war ein Schimmer, denn ich nicht definieren konnte.

„Wie hast du dir das vorgestellt? Ich kann nicht mit euch kommen. Ich bin keine Sklavin, keiner von ihnen. Ich bin nicht gerne hier, aber ich habe keine Wahl. Dionysos hat mich hier her geschickt. Ich kann nicht einfach gehen.“

„Dionysos?“ wiederholte ich den Namen. „Dionysos?! Einer der falschen Götter? Wenn du nicht seine Sklavin bist, wieso hat er solche Macht über dich?“

„Das kann man nicht so leicht erklären. Es tut mir leid. Dionysos ist mein Meister. Ich erzähle es dir später. Versprochen!“

Ich hatte in diesem Moment gleichzeitig die Stirn gerunzelt und Hoffnung gefasst. Sie wollte es mir später erzählen. Das hieß, sie würde nachkommen, ich würde sie wieder sehen. Ich konnte nicht begreifen, wieso diese Nymphe freiwillig an diesem Ort blieb, aber sie gab mir die Hoffnung, dass sie sich aus ihrem Schicksal befreien wollte.

„Später? Also sehen wir uns wieder?“

Nun schaute sie noch mitleidiger zu mir, bevor sie lächelte und nickte. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, dass sie mir nicht direkt in die Augen blicken konnte und ihre Stimme lies ein leichtes Drucksen verhören.

„Ganz bestimmt!“ sagte sie. „Es ist die Zeit der Götterfeste und der Spiele. Dafür bin ich hier. Oshara, es ist keine Zeit für Erklärungen. Wenn du mit deinem… deinem… Freund fliehen willst, dann tue das jetzt und lass dich nicht aufhalten. Pass gut auf dich auf, besonders, wenn es Nacht wird. Die Nächte hier sind sehr gefährlich!“

Und dann drehte sie sich von mir weg und ging. Ich schaute ihr lange nach, unfähig etwas sagen oder tun zu können. Ich schaute ihr einfach nach und schwieg. Ich war so unglaublich dankbar und dennoch tat sie mir leid, denn ich hatte in ihren Augen sehen können, wie sehr sie von hier weg wollte. Von diesen falschen Göttern und der Gefangenschaft. Ich muss sagen, dass ich Dionysos nicht kannte und auch noch überhaupt nichts von dieser neuen Gattung ‚Nymphen‘ der sie angehörte vernommen habe. Ich weiß nichts über sie, außer dass ihr Blut heilte, weshalb die Götter sie wohl gefangen hielten. Bei gegebenem Anlass werde ich wohl mehr über sie herausfinden. Aber in dem Augenblick zählte etwas anderes. Freiheit. Nicht das Nachdenken über vergangenes. Jetzt lag die Zukunft vor mir und dem letzten meiner Freunde: Akin.

Die Götter hatten die Angewohnheit Tagsüber weniger in Erscheinung zu treten, als die normalen Menschen. Ich weiß nicht, ob auch Apollon diese Tradition bewahrte, aber ich musste es riskieren. Vorsichtig und voller Bedacht schlich ich durch das Labyrinth. Es war riesig und bot Schutz, da die Wachen dort nicht entlang zogen. Sie nahmen nicht an, dass jemals jemand dort eindringen würde. Fliehen war noch absurder.

Zwar musste ich mich immer mal zwischen und in den Hecken verkriechen, um neugierigen Augen zu entfliehen, aber der Weg zu diesen merkwürdigen Käfigen erwies sich unerwartet als einfacher, als anfänglich gedacht. Es war fast so, als würde das Schicksal, das Glück endlich auf uns scheinen. Als wäre die Welt nach all der Zeit endlich wieder auf unserer Seite.

Ich erinnerte mich an die Zeit zurück, als ich noch in meinem Dorf lebte. Oft genug hatte ich meinen Kindern Geschichten erzählt, in denen die Helden immer in der Nacht, wenn kein Mond schien und dicke Wolken mit Regen drohten, aus ihrer Gefangenschaft flohen und dann am Ende noch eine Heldentat vollbrachten. Meine Kinder haben diese Geschichten geliebt.

Dieser Tag, diese Flucht strafte meinen Erzählungen Lügen, denn wenn ich mir einmal eine solche erdacht hätte, sie wäre nicht so verlaufen. Die Sonne schien und kündigte den Mittag des Tages an, während sich weiße Wolken an den blauen Himmel schmiegten. Es wurde langsam warm und die Vögel sangen. Eigentlich ein herrlicher Tag.

Desweiteren war der Weg von meinem Zimmer zum Labyrinth und weiter bis zu den Stallungen regelrecht ungehört einfach gewesen. Es ist ja nicht so, dass ich eine lange Zeit zum Planen der Flucht hatte. Ich kannte weder die Umgebung, noch was sich außerhalb der Mauern befand. Alles geschah recht spontan aus dem reinen Wunsch der Freiheit. Ich kannte zwar ein paar Gepflogenheiten der Wächter und anderen Sklaven, die ich durch mein Fenster beobachten konnte, doch es war nicht einmal nötig dieses spärliche Wissen ein zusetzten, denn nur wenige Sklaven liefen mir über den Weg und meist konnte ich mich gut hinter Statuen und Hecken verbergen. Wie schon erwähnt. Apollon neigte zu gewissen Lücken in seinen Sicherheitsvorkehrungen.

So wunderte es mich auch zu diesem Zeitpunkt nicht, als ich erkannte, dass keine einzige Wache vor den Käfigen der Raubtiere standen.

Wie am Tag zuvor waren die ersten Käfige mit diesen elenden Kreaturen gefüllt, diesen Bestien, Mördern. Im letzten Käfig – ich musste zugeben, ich hatte es bereits erwartet – erkannte ich nun nur noch zwei Gestalten. Die Leiche war weg und zwei weitere der Fünf Gefangenen waren verschwunden. Ich weiß nicht, warum Fortuna mir so wohlgesonnen war, aber Akin erkannte ich als einen der beiden übriggebliebenen. Der andere lag bewegungslos in einer der Ecken.

Vorsichtig und leise stahl ich mich in die Richtung des Käfigs, während ich den Schlüssel aus meiner Tasche zog. Die Bestien schliefen. Eigentlich war wirklich nur Akin in diesem Moment wach und er blickte erst auf, als ich den Schlüssel ins Schloss schob.

„Oshara?“ krächzte er geschwächt. „Du bist wirklich gekommen. Oshara, du bist ein Narr!“

„Akin, beeil dich. Wecke deinen Freund und …“

„Tod!“ stöhnte Akin. „Hat’s nicht überlebt. Es überleben nur wenige. Oshara, du kommst zu spät!“

„Unsinn!“ antwortete ich. „Die Sonne scheint noch. Wir haben noch genug Zeit, um uns wegzustehlen und zu verschwinden!“

Akin erwiderte darauf nichts. Er blickte mich nur durch trübe Augen an und entschied sich dann doch mit mir zu gehen. Immer und immer wieder huschten seine Blicke panisch in die Richtung der schlafenden Ungeheuer, doch kein Laut drang über seine Lippen.

Den Käfig ließ ich geöffnet. So verstört, wie mein Freund war, vermutete ich, der andere Gefangene könne noch leben und Akin hätte es einfach übersehen.

Ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, dass dieser Teil der Flucht der schwierigste sein würde. Ich hatte mit solchen Schwierigkeiten gerechnet, dass ich noch keinen einzigen Augenblick darüber nachgedacht hatte, wie es nun weiter gehen sollte. Wir war zu diesem Moment schon klar, dass es schnell gehen musste, einen Weg aus dem Garten hinaus zu finden, doch meine Orientierungslosigkeit verhinderte die nächste Schritte. Durch das Haupttor konnten wir ja wohl kaum einfach so hinaus schreiten. Ich hatte mich zwar in der Nacht ein wenig umgeschaut und versucht Schwächen in der Mauer ausfindig zu machen, doch ich hatte keine entdecken können. Das hieß, dass wir über die Mauer klettern müssten und einzig allein an eine Stelle war dies möglich. Ich hatte gerade dazu ansetzten wollen, Akin davon zu berichten, als er mich auf einmal am Handgelenk griff und mit sich zu. Der Griff war so stark, dass ich im ersten Augenblick an meinem Verstand zweifelte, denn ein Mensch, der so geschwächt und krank schien hätte niemals so fest zugreifen können. Noch bevor wir zu dem Stück Mauer ankamen, dass ich eigentlich Akin präsentieren wollte, erkannte ich, dass es wohl an meiner eigenen Schwäche lag, dass der Griff mir so fest vorkam.

Jedenfalls glaubte ich es bis zu diesem Zeitpunkt. Bis Akin erst mich anschaute, dann die Wand hoch. Er hatte genau die gleiche Stelle zur Flucht gewählt, wie ich, denn an dieser Stelle war ein Baum, ein paar Kisten und eine Statur so drapiert, dass man mit ein wenig Mühe über die Mauer käme. Ich hatte jedoch nicht erwartet, dass Akin, der – wie schon mehrmals erwähnt – müde, ausgezerrt und abgemagert wirkte, mit nur wenigen, schnellen Sprüngen die Mauer erklomm und mich von oben her anschaute.

„Schnell!“ rief er mir zu, während ich vor Überraschung wie erstarrt scheinen musste „Wir müssen uns beeilen. Der Mittag neigt sich dem Ende und vor Beginn der Dunkelheit müssen wir von hier weg sein!“

Ich konnte noch immer nicht recht begreifen, wie Akin da hinauf gekommen war, aber es blieb mir keine Zeit, über diesen Umstand der Dinge nachzudenken. Von weiten hörte ich die Laute von Herannahenden. Sofort stieg ich mich – leider nicht so galant wie Akin – auf die Kiste, von der ich mich gut auf die Statur und dann auf den Baum ziehen konnte. Von dort aus half mir Akin auf den Mauervorsprung hinüber. Von dort aus blickten wir beide in die Tiefe hinab, die sich vor mir ausbreitete.

„Und was sollen wir nun machen?“ fragte ich ein wenig erschüttert über diesen Ausblick. Nervös schienen die Blicke von Akin hin und her zu zucken, als hätte er Angst verfolgt zu werden, was in unserer Situation gar nicht allzu abwegig war.

„Springen!“ sagte Akin. Ich blickte ihn ungläubig an, denn die Höhe war sogar für unsere Verhältnisse kaum zu überwinden. Akin ignorierte diese Tatsache und sprang, ohne nur noch ein Wort zu sagen. Fast wie eine Katze landete er auf dem weichen Boden und richtete sich wieder auf, um zu mir hoch zu blicken. Seine stillen, nervösen Blicke landeten abwechselnd zu mir und dann zu allen anderen Seiten. Sie forderten mich unruhig auf, ihm nachzukommen. Ich blickte noch immer hinab. Mein Herz klopfte wie wild. Die Geräusche kamen näher, ich musste springen. Ich schloss die Augen, nahm mir meinen Mut zusammen und sprang.

Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, während die Luft an einem vorbei rauscht und der Boden immer näher kommt. In mir stieg Panik auf, doch die Entscheidung war getroffen und konnte nicht mehr zurück gedreht werden. Da ich nicht weiß, wer irgendwann einmal mein Tagebuch in die neugierigen Finger bekommen wird, ist nun der Zeitpunkt zu erwähnen, dass ich schon seit meiner jüngsten Kindheit an Höhenangst leide, wobei dies wohl falsch formuliert war, denn eigentlich hatte ich nicht Angst vor der Höhe, sondern vor den viel zu schnell herannahenden Boden und den darauf folgenden Aufprall.

Als ich den Boden spürte, war ich jedoch darauf vorbereitet gewesen. Mir waren zwar die Beine weggeknickt, doch ich konnte mich fast gekonnt abrollen und meinen Aufprall mit dem weichen Gras ein wenig abfedern. Ich könnte behaupten, dass dies alles geplant gewesen war und es nicht anders hätte ausgehen können, doch in Wahrheit war es mal wieder nur das Glück gewesen, dass mich auffing und vor starken Brüchen oder Verletzungen bewahrte.

Mir blieb jedoch nicht viel Zeit, um mich wieder zu fangen, denn Akin war schnell zu mir geeilt und hat mich wieder auf die Beine gezogen, um mich vorwärts zu drängen.

„Wir müssen uns beeilen. Komm schnell, bevor sie uns finden.“

Ich lies mich mit ihm mitziehen, ohne selbst irgendeine Entscheidung treffen zu können. Wir wollten nur von diesem Ort weg, ihn verlassen und nie wieder hier her zurück kehren.

Wir liefen erst langsam, suchten eine gewisse Orientierung, bis wir uns dazu entschlossen hatten Zuflucht im Wald zu suchen. Dann rannten wir los. Wir liefen und liefen und obwohl mir nach kurzer Zeit schon die Beine schmerzten und der Atem wegblieb, gönnte ich mir keine Ruhepause.

Erst das Zwielicht des Waldes bot uns genügend Schutz, dass ich keuchend stehen bleiben konnte, um nach Luft zu husten. Auch Akin war stehen geblieben und blickte zu mir. Jetzt, wo ich mein erlebtes nieder schreibe, kann ich erst wirklich darüber nachdenken, wie er auf mich gewirkt hatte. Es schien fast so, als hätte der Lauf für ihn gar nicht stattgefunden. Er war nicht erschöpft und es floss nicht mal eine einzige Schweißperle über seine Stirn. Mir kam es fast so vor, dass er umso stärker und selbstbewusster wurde, je weiter wir uns von dem Anwesend entfernten. Er schien zwar noch immer kränklich und seine Wangen waren noch immer eingefallen, doch in seinen Augen sah ich die alte Hartnäckigkeit, die er früher immer auf der Jagd bewiesen hatte.

„Akin!“ begann ich zu lachen, nachdem ich begriffen hatte, dass wir entkommen waren. „Wir haben es geschafft! Wir sind frei. Wir sind endlich frei!“

„Noch nicht, mein Bruder!“ meinte Akin, der seinen Blick durch die Bäume des Waldes schweifen lies. „Noch sind wir nicht in Sicherheit. Wir müssen von hier weg, noch bevor die Sonne untergeht und erst, wenn wir beide den nächsten Tag überlebt haben, dann sind wir frei!“

Ich wusste nicht, was er zu diesem Zeitpunkt mit diesen Worten meinen mochte und schloss daraus, dass er das Martyrium seiner Gefangenschaft noch nicht ganz verarbeiten konnte. War das ja auch erst wenige Minuten her.

Ich jedoch war voller Hoffnung und Freude, dass wir es endlich aus den Mauern des Anwesens geschafft haben, ohne irgendwie aufgehalten zu werden oder kämpfen zu müssen, wo ich doch durch die Spontanität dieser Flucht das organisieren von Waffen vollkommen vergessen hatte. Ich hoffte nur, dass uns keine wilden Tiere angriffen und dass unser Verschwinden nicht allzu schnell bemerkt würde.

Akin führte uns durch den Wald, beziehungsweise immer tiefer hinein, bis kaum noch Licht durch die Blätter strahlte, was meinen Freund immer nervöser zu machen schien. Immer wieder flüsterte er unverständliche Worte und strahlte dennoch eine Resolutheit und eine Ruhe aus, die mich an seinen alten Charakter erinnerte.

„Wir müssen uns Verbündete suchen!“ sagte ich nach einer Weile. „Wir müssen aus diesem Wald heraus, um andere Menschen zu finden und diesen vermaledeiten falschen Gott vernichten. Akin, er hat unser ganzes Dorf vernichtet. Nicht einmal unsere Kinder hat er verschont!“

„Sie werden uns nicht helfen!“ meinte Akin nur knapp. „Hier haben sie Angst vor ihren Göttern und huldigen ihnen. Sie stellen Tempel auf und opfern ihnen, was sie haben. Sie geben ihnen alles, veranstalten Feste für sie und verlangen dafür nur, dass die Götter sie leben lassen. Diese Götter sind nicht wie unserer. Sie helfen den Menschen nicht, sondern sind nur um ihr eigenen Wohl besorgt und die meisten Menschen hier verstehen es nicht. Der Großteil der auf dem Anwesen arbeitenden Menschen sind keine Sklaven, sondern Freiwillige, weil sie glauben, es wäre ehrenvoll ihr Leben für einen Gott zu geben!“

Ich schluckte und schwieg, was wohl die angemessenste Antwort auf Akins Behauptung gewesen war. Ich musste unweigerlich an Eurydike denken, die keine Sklavin war und dennoch nicht mit uns flüchten wollte. War sie ebenfalls in dem Irrglauben, die Götter wöllten nur das Beste für sie?

War das der Grund gewesen, warum sie an diesem Ort geblieben war? Wenn das wirklich der einzige Grund war, so würde es um so schwieriger, sie dort heraus zu holen. Mittlerweile weiß ich ja, dass es auch Menschen gab, die ebenfalls gegen die Götter kämpften, doch es waren so wenige, dass ich mein Vorhaben auf einen Kampf gegen Apollon erst einmal zurück stellen muss. Aber es gibt sie. Die Menschen, die nicht blind der Ansichten aller folgten, sondern begannen selbst zu denken und sich zu wehren.

Einen solchen Menschen lernten wir mitten im Wald kennen.

Auch wenn Akin eine sehr resolute Methode hatte, uns direkt in die Irre zu führen, glaubte ich, nachdem wir uns nur noch im Kreis bewegten, dass wir uns weit vom rechten Weg entfernt hatten. Einen Augenblick kam es mir sogar so vor, als hätte Akin dies mit Absicht getan, als wolle er gar nicht aus dem Wald, oder andere Menschen finden. Die ganze Zeit über haben wir geschwiegen, kein Wort gesagt und waren nur stumm neben einander her gelaufen. Wir haben gerade auf eine Lichtung, als Akin auf einmal den Kopf hob, wie ein Hund, der gerade eine Witterung aufgenommen hatte.

„Hier stimmt etwas nicht!“ sagte er leise. „Hier ist jemand!“

Ich runzelte ein wenig die Stirn, denn ich fragte mich, was denn daran so schlimm wäre, da wir ja schon seit Stunden über durch den Wald irrten und uns diese Person sicherlich aus diesem führen könnte. Es sei denn, es wäre einer der falschen Götter oder einer ihrer Sklaven. Und ich fragte mich, wie Akin diese Vermutung überhaut treffen konnte, da ich weder was gehört hatte, noch jemanden sehen konnte.

Dennoch schien mein Freund auf einmal sehr nervös und ich sah, wie er zum Himmel schielte, der langsam verdunkelte. Es wurde Nacht.

Akin fluchte, dann blickte er kurz zu mir und es schien fast so, als würden seine Augen regelrecht glühen, was wohl dem Sonnenuntergang zu verschulden war.

„Entschuldige, Oshara. Es tut mir leid. So leid!“

Ich konnte seine Worte noch nicht einmal richtig begreifen, als er auf einmal davon stürmte und zwischen den Blättern und Ästen des Waldes verschwand. Ich blieb allein auf der Lichtung zurück und war im ersten Moment so benommen, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dann lief ich ihm nach und rief nach ihm. Ich konnte nicht verstehen, warum er auf einmal davon gelaufen war, warum er den Weg alleine ging und warum er so panisch reagierte, als er die Dunkelheit der Nacht gesehen hatte.

Ich suchte lange nach ihm, rief ihn, wollte ihn wieder zur Besinnung bringen, denn wenn wir überhaupt eine Chance gegen diesen Gott haben wollten, so hätten wir zusammen halten müssen, doch ich fand Akin nicht mehr. Stattdessen ging mir die Luft aus und ich musste mich ein wenig ausruhen. Meine Kondition war durch die lange Gefangenschaft sehr in Mitleidenschaft gezogen worden und sicherlich hätte ich zu den alten Zeiten im Dorf länger und ausdauernder laufen können. Doch hier blieb mir bald die Luft weg, als die Sonne nur noch einen Halbkreis am Horizont beschrieb. Ich blickte auf. Ich sah sie, die Sonne. In ihrer herrlichen Einmaligkeit zeigte sie mir, dass ich den Rand des Waldes erreicht hatte und dass ich dadurch der Gefangenschaft nun endgültig entkommen war.

Ich kann nicht beschreiben, wie erschrocken ich demnach war, als ich das unerwartete Geräusch von knackenden Ästen vernahm. Ich zuckte herum und hörte mein Herz laut pochen, aber ich rief nicht. Auch wenn ich hoffte, dass gleich Akin wieder zu mir stoßen würde, hatte ich die Befürchtung, es könnten auch die Wachen von Apollon sein.

Aber meine Befürchtung wurde zum Glück nicht bestätigt, meine Hoffnung jedoch auch nicht. Die Gestalt, die aus dem Wald trat, war kein Kämpfer, keine Wache und kein Sklave, sondern eine junge Frau, mit langen, roten Haar, dass Schimmer des Sonnenuntergangs strahlte.

Dennoch fuhr ich vor Schreck herum und riss blitzschnell einen Ast von einem Busch, um ihn ihr entgegen zu halten und sich notfalls Verteidigen zu können. Das Mädchen blickte mich nur an, dann begann sie zu lachen.

„Lass das lieber. Wenn ich dich angreifen wöllte, hätte ich es längst getan. Ihr habt euch durch die Büsche geschlagen wie zwei betrunkene Elefanten!“

Sicherlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt einfach nur lächerlich drein geschaut. Mein Mund stand vor Überraschung offen und meine Augen waren geweitet. Nur wiederstrebend und langsam senkte ich den Ast. Das Mädchen trug ein Schwert, was bedeutete, dass ich sowieso keine relevante Chance gegen sie gehabt hätte.

„Du bist uns gefolgt?“ fragte ich nach wenigen Augenblicken.

„Ich hatte mich in der Nähe von Apollons Anwesend versteckt und habe euch dann gesehen. Ich habe mich schon gefragt, wohin ihr wollt, aber anscheinend hattet ihr einfach die Orientierung verloren. Es scheint nicht so, als wäre eure Flucht wirklich geplant gewesen!“

Ich gab ihr Recht und erzählte ihr kurz, was wir vorgehabt hatten und warum es in diesem Schiefgehen doch noch so wunderbar funktioniert hatte. Doch das Mädchen schien misstrauisch. Ein Gefühl, was ich selbst wohl haben sollte, denn die Frage, was sie bei Apollon machen wollte, kam mir nicht in Sinn. In diesem Moment hatte ich ihr einfach nur vertraut.

„Es ist verdammt gefährlich, wenn du hier weiter herumrennst. Ich bring dich zum Dorf, aber erwarte nicht zu viel von diesen Menschen. Dein Freund hatte recht. Sie sind alle recht blind und willenlos. Wenn du sie ihnen kommst, dann erwähne lieber nicht, was du vor hast, sondern komm dort erst einmal unter und erhole dich.“

Ich nickte, auch wenn ich kaum begreifen konnte, was diese Warnungen zu bedeuten hatten. Ich war von der Flucht und dem langen Fußmarsch so geschwächt, dass ich wohl jedem vertraut hätte, der mir seine Hilfe angeboten hatte.

Also folgte ich ihr und fragte sie immer und immer wieder, ob sie wisse, wo mein Freund sei. Sie jedoch antwortete mir nie und erwähnte irgendwann, dass die Gefangenschaft mich wohl verwirrt hatte und ich lieber still sein sollte, wenn wir dem Dorf näher kämen und gerade dieses tauchte bald vor uns auf, wie eine Verheizung war es auf einmal da gewesen. Auf einmal stand es vor uns, als wäre es aus dem Nichts aufgetaucht. Eine Halluzination. Wohl kaum, denn bald kamen uns Menschen entgegen, die sich aus den Häusern begaben, um uns zu empfangen. Im ersten Moment vermutete ich, dass sie uns wohlgesonnen waren, doch ich musste bald erkennen, dass sie nicht nur Fackeln und Knüppel mit sich trugen, sondern dass auch bald faules Gemüse geflogen kam und das rothaarige Mädchen traf.

„Was machst du hier, du elende Verräterin! Ketzerin, verlasse unseren Ort, bevor die Götter uns vernichten, weil wir dich leben lassen!“

Ich war über diesen Umstand so erschrocken, über diesen Angriff so schockiert, dass ich erst zurück wich und mich dann vor das Mädchen stellte, um selbst einige Tomaten abzubekommen.

„Verschwinde sofort wieder!“ kreischte eine alte Dame, die uns mit einem Stock drohte. Ich hatte die Befürchtung, dass die Dorfbewohner ihre Drohung wahr machen würden, doch ich konnte nichts sagen, denn bevor ich meinen Mund öffnete, schob sich das Mädchen vor mir und zog ihr Schwert.

„Was ist? Kommt und greift an!“ fuhr sie die Dorfbewohner entgegen. „Das einzige, was euch vernichtet ist eure Dummheit und Blindheit. Versteht ihr nicht, dass diese verdammten Götter nichts wert sind? Sie betrügen euch und nutzen euch aus!“

„Verdammte Ketzerin!“ schrien sie jedoch weiter und so seufzte das Mädchen nur und blickte mich mit ihren grünen Augen an. „Hör zu. Ich werde wohl verschwinden. Mach dir keine Sorgen, sie werden dich aufnehmen. Sie sind sehr gastfreundlich, wenn auch dumm. Ich wohne unweit von hier auf einer Klippe mit meinem Bruder. Wenn du dich erholt hast, komm zu uns und dann treten wir den Göttern mächtig in den Arsch!“

Ich war schockiert über die Wortwahl meiner neuen Verbündeten und gleichzeitig erleichter, dass ich Gleichgesinnte gefunden zu haben schien, die ebenfalls die Falschheit der hiesigen Götter erkannte hatten.

„Ich komme bald!“ versprach ich ihr. Sie nickte, dann rannte sie in die Dunkelheit. Die Sonne war nur noch ein dünner Streifen in der Ferne.

Die Menschen jedoch begannen über den Erfolgt das Mädchen vertrieben zu haben, zu jubeln und kamen auf mich zu.

Zuerst glaubte ich, dass sie mich gefangen nehmen würden, glaubten, ich sei ein Feind, doch ganz im Gegenteil. Sie kamen auf mich, schüttelten mir die Hand und fragten mich nach meinem Namen.

„Orpheus!“ gab ich an, denn ich wollte nicht, dass sie meinen richtigen Erfuhren, solange ich nicht wusste, ob ich ihnen vertrauen konnte.

Das alles geschah vor weniger als zwei Stunden und mittlerweile war die Sonne untergegangen und nur eine Kerze hilf mit beim schreiben.

Die Menschen erwiesen sich doch tatsächlich als sehr gastfreundlich und es schien nur der Groll gegen das Mädchen sie so aggressiv gemacht zu haben. Sie führten mich in ihr Dorf, gaben mir essen und zu trinken und boten mit ein Zimmer in einen ihrer kleinen Häuser an. Die Kinder konnten die Augen nicht von mir lassen, denn es schien, als hätten sie noch nie einen Menschen in meiner Farbe zu Gesicht bekommen. Ab und an traute sich sogar einer der Kinder, zu mir zu kommen und mich blitzschnell am Arm zu berühren, um zu schauen, ob sie sich genauso anfühlt, wie ihre.

Nach dem Essen führte mich einer der Männer durch das Dorf. Sein Name lautet Alexios. Er erzählte mir, dass ich Glück gehabt hätte, denn das Mädchen hatte sich den Zorn der Götter und besonders den Hass des Gottes Hades auf sich beschworen, da es sich geweigert hatte, für ihn zu tanzen, als vor wenigen Tagen sein Fest und er sogar dabei gewesen war. Außerdem hätte sie die Götter mit ihren Ketzereien und ihren Anfeindungen beleidigt. Sie hatte sogar gemeint, man solle gegen sie ziehen, was nun absolut lächerlich wäre. Bei allen Ausführungen schwieg ich und nickte, so wie es mir das Mädchen erklärt hatte, denn ich wollte nicht riskieren, dass ich vielleicht von ihnen zurück zu Apollon gebracht wurde.

Bald führte mich der Mann zu einer riesigen Statur, die in der Mitte der Stadt aufgestellt worden war. Sie zeigte eine sehr schöne, riesige Frau, die einen Korb voller Pfirsiche und Blumen trug und streng hinab blickte.

„Demeter!“ erläuterte Alexios. „Sie war unsere Schutzgöttin und hat uns Friede und Fruchtbarkeit gebracht. Aber sie wurde von den anderen Göttern hingerichtet!“

Natürlich fragte ich, warum die anderen Göttern eine von ihnen töten sollten und ich sprach diese Frage auch laut auf, worauf Alexios wütend und auch traurig mir erzählte, dass Demeter ein Mensch gewesen sei, als sie eine Affaire mit Zeus begonnen hatte und dadurch ihre Tochter Persephone empfangen hätte. Sie hätte jedoch ihre Tochter dem Gott vorbehalten und war hier her geflohen, um sie zu schützen. Daraufhin hatten Zeus und Hera sich dazu entschlossen, Demeter zu töten und ihre Tochter und ihren Sohn zurück zu lassen.

Diese Geschichte bewies eigentlich noch mehr die Willkür der Götter und ihren Sinn für Ungerechtigkeit, sodass ich schon den Entschluss gefasst habe, bald den Weg zu dem rothaarigen Mädchen aufzunehmen und ihr meine Dienste im Kampf gegen diese Götter anzubieten. Dennoch war ich diesem Dorf zu Dank verpflichtet und ich werde mich damit revanchieren, dass ich mich um ihre Kranken kümmern werde und ihre Wunden heile. Ich bin jedoch froh, dass ich mich endlich ausruhen und mich in Ruhe um meine Schriften kümmern kann. Das Glück ist nun endlich auf meiner Seite und ich kann es noch nicht ganz fassen, dass ich es geschafft habe, zu entkommen, auch wenn ich mir große Sorgen um Akin mache, der sicherlich noch irgendwo im Wald war. Morgen früh gleich werde ich mich aufmachen und ihn suchen gehen. Auch ihm habe ich viel zu verdanken, denn er gab mir die Hoffnung, nicht aufzugeben. Vielleicht haben wir doch eine Chance gegen Apollon zu siegen.

Im Moment jedoch will ich einfach schlafen und mich für den morgigen Tag ausruhen.

Ich glaube jedoch, dass dies noch ein wenig warten muss, denn ich höre gerade von draußen Geräusche zu mir dringen. Ein Frau schreit, ich sollte einmal nachschauen gehen, bevor…



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