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Warten auf Vanya

von

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Odin

Der Schnee war überall. Er drang durch ihre Kleider, durch den Mantel und die Stiefel. Die Mütze hatte der Wind ihr längst vom Kopf gerissen. Ihre Haare lösten sich aus den dünnen Zöpfen, die ihre Schwester ihr geflochten hatte, und wehten in ihr Gesicht.

„Katyusha! Wo bist du?“

Der Schneesturm verschluckte ihre Stimme. Unsicher machte sie einen kleinen Schritt vorwärts. „Hallo? Ist hier niemand?“

Der Sturm wehte weiter über sie hinweg und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie war nur ein kleines Mädchen und die Welt war so groß. „Katyusha!“, heulte sie auf. „Ich will nach Hause!“

Plötzlich tauchte einige Meter von ihr entfernt eine dunkle Gestalt in dem Schnee auf. Hoffnungsvoll hob sie den Kopf. „Katyusha?“

Die Gestalt kam näher und sie erkannte, dass sie nicht ihre Schwester war. Dafür war sie etwas zu klein und allgemein falsch proportioniert. Ein Junge stand vor ihr, in einen dicken Mantel und Schal gekleidet. Einen Moment lang sahen sie einander stumm an. Dann zog ein Lächeln über das runde Gesicht des Jungen und er streckte die Arme aus.

„Bela“, sagte er und gluckste leise. „Ich habe dich gefunden. Lass uns zu Katyusha gehen.“

Sie hörte kaum, was er sagte. „Vanya“, flüsterte sie und ging mit großen Augen auf ihn zu.
 

Es gab ein lautes Plumpsen und ein etwas leiseres Jammern. „Tut mir Leid“, sagte Raivis dann. „Es war keine Absicht.“

„Das ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass du aus dem Bett fällst, Raivis.“

„Es war keine Absicht. Und es hat wehgetan.“

Eduard setzte sich auf und seufzte resigniert. „Was soll's. Es ist sowieso Zeit, aufzustehen.“

„Hast du dir etwas getan, Raivis?“, fragte Yekaterina besorgt, während sie sich ebenfalls aufsetzte. Ihr beachtlicher Busen drückte sich durch ihr dünnes Nachthemd.

„Mm-mm. Geht schon.“

Natalia stöhnte genervt auf. In letzter Zeit ging Raivis ihr mit seinem kindischen Benehmen nur noch auf die Nerven. Ein Zeichen dafür, dass sie erwachsen wurde, hatte Yekaterina mit einem traurigen Lächeln gesagt. Dieser Gedanke frustrierte Natalia, auch wenn sie niemandem erklären wollte, warum. Als kleines Mädchen als Dienerin zu leben, war eine Sache. Als Dienerin erwachsen zu werden, war eine ganz andere.

„Bela“, sagte Yekaterina sanft und beugte sich über sie. „Wir müssen aufstehen.“

„Ich bin schon wach“, murmelte Natalia, richtete sich auf und fuhr sich durch die Haare. Eduard hockte in der Ecke neben der Waschschüssel und war gerade dabei, mit einem Waschlappen durch Raivis' Gesicht zu wischen. Yekaterina schwang ebenfalls die Beine über den Rand des Bettes und streckte sich seufzend.

„Meine Schultern sind wieder so verspannt...“

„Wirklich?“, fragte Raivis und sah zu ihr hinüber. „Glaubst du...“

„Mund zu“, sagte Eduard trocken, rieb noch einmal durch sein Gesicht und ließ den Lappen wieder in das Wasser fallen. „So. Und jetzt geh dich anziehen.“

„Du solltest nicht so viel arbeiten, wenn es dir nicht gut geht“, sagte Raivis, ging zu der Kiste mit den Kleidern und hob ächzend den Deckel hoch. „Puh, schwer... du solltest dich nicht überanstrengen, Yekaterina.“

„Es geht schon“, erwiderte Yekaterina und zwang sich zu einem Lächeln. Als ob sie die Wahl hätte, ob sie arbeiten wollte oder nicht, dachte Natalia. Sie ließ den Blick durch das schlichte Zimmer schweifen. Zwei Betten, eines für Raivis und Eduard, eines für Yekaterina und sie. Die alte Truhe mit den Kleidern, aus der Raivis gerade sein Hemd zerrte. Die Waschschüssel und ein sehr kleiner Tisch mit einem Stuhl, der in eine andere Ecke gezwängt war. Das war alles. Schlicht, ärmlich, ungemütlich. Und in einer solchen Umgebung sollte sie aufwachsen.

„Bela“, hörte sie Yekaterinas Stimme neben sich und eine weiche Hand legte sich auf ihre. „Was ist denn los?“

Unwillig schüttelte Natalia den Kopf. „Es ist nichts.“

Yekaterina lächelte ihr traurig zu und drückte sie an sich. „Es wird alles gut“, flüsterte sie. „Wir kommen hier raus, Bela. Irgendwann holt Vanya uns hier raus. Sobald er groß und stark genug ist, wird er uns befreien. Es kann nicht mehr lange dauern.“

„Ich habe von ihm geträumt“, sagte Natalia, der plötzlich ihr Traum wieder einfiel. „Ich habe geträumt, Vanya hätte mich gefunden und mich gerettet.“

„Ja?“ Yekaterina lachte leise. „Siehst du. Das ist sicher ein gutes Omen.“

Eigentlich glaubte Natalia nicht an Omen, aber diesmal sagte sie nichts dagegen. Stattdessen zog ein seltenes Lächeln über ihr Gesicht. „Er wird kommen“, murmelte sie.

„Wer wird kommen?“, fragte Raivis neugierig und drängelte sich zwischen sie.

„Niemand“, zischte Natalia ihn an und befreite sich aus Yekaterinas Umarmung. „Zieh erstmal dein Hemd richtig herum an, Daumenlutscher.“

Raivis schob die Unterlippe vor. „Aber ich habe es richtig herum an...“

„Ich helfe dir“, sagte Yekaterina beschwichtigend. „Komm her.“

Natalia wandte sich ab, stand auf und ging ebenfalls zu der Kiste hinüber. Recht weit unten fand sie eines ihrer Kleider, schlicht und zerknittert. Sie versuchte, den Stoff glatt zu ziehen, und seufzte frustriert, weil sie wenig Erfolg damit hatte.

Im nächsten Moment klopfte jemand heftig an die Tür. Yekaterina, die gerade eine Schleife an Raivis' Kragen zuband, sah überrascht auf. Eduard stand auf, das Hemd noch aus der Hose hängend, und öffnete zögernd.

„Feliks? Was ist passiert?“

„Beeilt euch ein bisschen“, erklang Feliks' Stimme. Sie klang aufgeregt und nervös, zumindest vermutete Natalia letzteres. Sie hatte Feliks noch nie nervös erlebt.

„Zieht euch an und macht Frühstück. Liet ist wieder da.“

Bevor Eduard noch etwas sagen konnte, war Feliks wieder weg. Er runzelte die Stirn und schloss die Tür wieder.

„Toris ist zurück?“, fragte Raivis erfreut und hüpfte in die Luft.

„Es sieht so aus.“

„Wieso freut dich das so?“, fragte Natalia und trug das Kleid zum Bett hinüber.

„Weil Toris mein Bruder ist!“

„Ist er nicht, Raivis“, seufzte Eduard. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass wir nicht verwandt sind.“

„Toris behandelt dich nicht wie seinen Bruder, sondern wie sein Eigentum“, sagte Natalia wütend. „Genau wie uns alle.“

„Tut er nicht!“, erwiderte Raivis empört.

„Sei still und zieh dich an“, knurrte Eduard an ihn gewandt, doch er traute sich nicht, Natalia zurecht zu weisen. Das hatte er noch nie getan.

„Streitet euch nicht“, sagte Yekaterina leise. „Toris ist ein guter Herr. Es könnte uns viel schlechter gehen, Bela. Feliks und er haben uns nie etwas getan, das...“

„Als ob es so etwas wie gute Herren gäbe!“, fauchte Natalia sie an und zog das Kleid einfach über das dünne Kleidchen, das sie zum Schlafen getragen hatte. „Ein Herr ist ein Herr, und wir sind nur Diener! Wieso versuchst du, Toris zu rechtfertigen?“

Yekaterina schwieg traurig und wandte sich ab.

„Du bist doch nur neidisch“, sagte Raivis beleidigt. „Weil ich nämlich einen Bruder habe und du nicht.“

Natalia fuhr auf. „Ich habe einen Bruder!“, kreischte sie. „Und wie ich einen habe!“

„Aber er ist nicht da“, stellte Raivis fest. „Toris ist schon da.“

„Und wenn! Vanya ist vielleicht nicht da, aber wenigstens liebt er mich! Deinem Toris bedeutest du weniger als ein blöder Hund!“

„Das stimmt nicht!“, heulte Raivis auf. „Toris hat mich lieb!“

„Jetzt ist aber wirklich Schluss“, sagte Yekaterina zitternd und stand auf. „Komm, Bela. Ich helfe dir mit dem Kleid.“

Wütend drehte Natalia sich um und wartete, bis Yekaterina die Bänder auf dem Rücken des Kleides zusammen geschnürt hatte. Im Hintergrund schluchzte Raivis vor sich hin, während Eduard auf ihn einredete.

„Toris hat mich doch lieb, oder, Eduard?“

„Natürlich hat er dich lieb.“

„Wieso bringt er mich dann nicht mehr ins Bett?“

„Er hat gerade viel zu tun.“

„Früher hat er mich immer ins Bett gebracht, egal, wie viel er zu tun hatte.“

„Es hat sich eben einiges geändert.“

Allerdings, dachte Natalia. In letzter Zeit hatte sich einiges geändert. Toris war in den letzten Monaten immer nur für ein paar Tage zu Hause gewesen und danach wieder für Wochen verschwunden. Er schlug irgendwelche Schlachten, während Feliks zu Hause die Stellung hielt. Natalia beobachtete die Vorgänge aus dem Hintergrund und betete. Dafür, dass es für Feliks und Toris so schlecht wie möglich lief.

„Ich bin fertig, Bela“, sagte Yekaterina und trat zurück. Sie sah ihre kleine Schwester unsicher an und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Danke, Katyusha“, sagte Natalia und warf einen Blick zu Raivis hinüber, der mittlerweile schon wieder mit etwas anderem beschäftigt war (im Moment zählte er seine Zehen). „Und mach dir keine Sorgen. Normalerweise habe ich besseres zu tun, als mit kleinen Kindern zu streiten.“

Yekaterina lächelte zittrig. „Normalerweise“, wiederholte sie leise. „Ach, Bela.“

Natalia wandte sich ab. „Zieh dich an“, sagte sie. „Feliks scheint ziemlich ungeduldig zu sein. Wir sollten uns beeilen.“

Dva

Toris war blass und hatte einen verkrusteten Schnitt an der Schläfe, der aber nicht tief zu sein schien. Er saß stumm am Frühstückstisch und trank Tee, während Feliks auf ihn einredete.

„Aber so schlimm wird das doch wohl nicht sein, Liet! Ich bitte dich, er ist ein Jungspund! Er ist gestern erst erwachsen geworden, wenn überhaupt! Hast du nicht gesagt, er sei jünger als wir beide? Schau uns an! Wir halten uns hier seit Jahrzehnten, Jahrhunderten! Seit Jahrhunderten, Liet! Da wird nicht so ein Kerl kommen, der erst seit gestern stehen kann, und uns vertreiben! Aber total nicht!“

„Ich weiß nicht, Feliks“, murmelte Toris. Es war das erste Mal, dass er den Mund aufmachte, seitdem Natalia hinter der Tür stand und lauschte.

„Ach was! Dieser junge Kerl wird doch nicht...“

„Er ist anders, Feliks. Er hat etwas in sich... ich kann es nicht beschreiben. Etwas, das ich noch nie gesehen habe. Irgendetwas ist da.“

Eine kurze Stille trat ein. „Aber du schlägst ihn zurück“, sagte Feliks ungewöhnlich nüchtern. „Oder?“

„Ich gebe mein Bestes.“

„Das tust du immer, nicht wahr? Eeej, du schaffst das, Liet. In ein paar Monaten wirst du darüber lachen, dass du so eine Angst vor ihm hattest.“

Toris lachte leise, aber er klang alles andere als überzeugt. Natalia hörte, wie ein Stuhl über den Boden gerückt wurde. „Wir könnten noch etwas Brot gebrauchen, oder?“, fragte Feliks.

Das war Natalias Einsatz. Sie griff nach dem Brotkorb, der schon bereit stand, öffnete die Tür und betrat den Raum mit gesenktem Kopf, um Respekt vorzutäuschen. Stumm stellte sie den Korb auf dem Tisch ab und knickste.

„Natalia?“, erklang Toris' perplexe Stimme und sie erstarrte in der Bewegung.

„Natürlich“, sagte Feliks und zuckte die Achseln. „Wer denn sonst? Was ist los, Liet?“

Toris schwieg eine Weile. „Lass dich ansehen“, sagte er dann leise.

Verwirrt richtete Natalia sich auf, hob den Kopf und betrachtete Toris. Seine Augen wanderten rastlos hin und her und musterten sie von Kopf bis Fuß. Sie spürte, wie sie rot wurde. Was sollte das?

„Ich muss zu lange weg gewesen sein“, sagte Toris und lächelte sie an. „Du bist erwachsen geworden.“

Sie legte die Stirn in Falten. „Herr?“

Er zuckte zusammen, als habe sie ihn aus seinen Gedanken gerissen. „Nicht so wichtig“, murmelte er, nahm wieder seine Teetasse in beide Hände und wandte den Blick ab. Besser gesagt riss er ihn von ihr los, dachte Natalia. Sie wusste nicht genau, was das zu bedeuten hatte, aber es machte ihr Angst.

„Darf ich gehen?“, fragte sie und versuchte, nicht allzu kühl zu klingen.

Feliks nickte ihr zu. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen war er selbst nicht weniger verwirrt von Toris' Verhalten als sie. Natalia machte vorsichtshalber noch einen Knicks, bevor sie sich umdrehte und den Raum wieder verließ.

Yekaterina wartete hinter der halb geschlossenen Tür auf sie und sah sie mit großen Augen an. „Was...?“, begann sie.

„Mir ist gerade ein weiterer Grund eingefallen, warum ich in diesem Haus nicht erwachsen werden möchte.“

Yekaterina lachte traurig. „Du bist ein hübsches Mädchen, Bela, und du wirst mit jedem Tag schöner.“

„Du hast immer gesagt, es kann für ein Mädchen in meiner Stellung gefährlich sein, zu schön zu sein.“

„Schon... aber Toris hat ein gutes Herz. Ich denke nicht, dass du von ihm irgendetwas zu befürchten...“

Natalia brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Teils, weil sie nicht weiter über Toris nachdenken wollte, und teils, weil hinter der Tür erneut Feliks' Stimme erklang.

„Wann willst du wieder los?“

„Spätestens übermorgen. Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich Ivan sehe, ist er wieder ein Stück gewachsen.“

Natalia spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Hinter ihr rang Yekaterina nach Luft.

„Ach was. Niemand kann so schnell groß werden.“

„Er schon. Er hat etwas... etwas Besonderes an sich, Feliks. Ich wünschte, ich wüsste, ob im positiven oder im negativen Sinn.“

„Er ist es wirklich“, murmelte Natalia atemlos. „Sie sprechen wirklich von Vanya.“

„Dem Himmel sei Dank“, flüsterte Yekaterina und schlang von hinten die Arme um sie. Ihre Stimme bebte. „Dem Himmel sei Dank...“

„Du erdrückst mich, Katyusha“, sagte Natalia, doch sie war nicht böse. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, das zu einem breiten Grinsen wurde.

„Wir kommen hier raus, Bela“, brachte Yekaterina hervor und lächelte. Tränen standen in ihren Augen. „Es ist bald so weit.“

„Ja“, sagte Natalia, griff nach Yekaterinas Schürze und wischte die Tränen ab. „Und deswegen hast du keinen Grund zum Weinen. Wenn Vanya erst einmal hier ist, wirst du nie wieder weinen müssen.“

Tri

„Yekaterina?“, fragte Raivis abends, als sie im Dunkeln in ihren Betten lagen.

„Ja?“

„Toris hat mich nicht mehr lieb.“

Yekaterina schwieg einen Moment lang verblüfft. „Wie kommst du denn darauf?“

„Er will nichts mehr von mir wissen. Heute wollte ich ihm das Pferd zeigen, das ich für ihn gebastelt habe, und da hat er mich einfach weggeschickt und weiter mit Feliks Kriegspläne gemacht.“

„Wahrscheinlich hat er nicht erkannt, dass dieses Stück Holz ein Pferd sein sollte, Raivis“, erklang Eduards resignierte Stimme.

„Na und? Früher hätte er sich gefreut, wenn ich ihm ein Stück Holz geschenkt hätte. Und für dieses habe ich mir richtig Mühe gegeben. War es etwa ein schlechtes Geschenk?“

„Jedes Geschenk, für das du dir Mühe gibst, ist ein gutes Geschenk“, sagte Yekaterina tröstend.

„Wieso wollte Toris es dann nicht?“, fragte Raivis niedergeschlagen. „Er wollte es nicht einmal ansehen.“

Stille trat ein. Natalia wünschte sich, sie würden aufhören zu reden. Sie war glücklich. Sie wollte schlafen, um im Traum wieder auf Ivan zu treffen. Als sie von ihrem Bruder getrennt worden war, war sie noch so klein gewesen, dass sie mittlerweile nicht mehr wusste, wie viel von Ivan ihren Erinnerungen und wie viel ihrer Fantasie entsprungen war. Auf jeden Fall wusste sie, dass ihr Bruder ein starker, fürsorglicher, wunderbarer Mann war. Anders konnte es gar nicht sein. Bald würde sie Ivan treffen, und sie fürchtete sich ein wenig davor. Was, wenn sie ihm nicht gefallen würde? Oder was, wenn sie enttäuscht sein würde, weil er anders war als in ihrer Vorstellung? Sie versuchte, nicht mehr daran zu denken. Ivan war perfekt. Etwas anderes kam gar nicht in Frage.

„Yekaterina?“, fragte Raivis.

„Ja?“

„Ich glaube, ich möchte nicht mehr, dass Toris mein Bruder ist.“

„Nicht?“, fragte Yekaterina überrascht.

„Nein. Ich möchte lieber Vanya als Bruder haben.“

Natalia schnaubte wütend. „Das geht nicht, Daumenlutscher. Vanya ist mein Bruder und der von Katyusha. Nicht deiner.“

„Aber Toris mag ich nicht mehr!“, sagte Raivis verzweifelt. „Bitte, Natalia!“

„Toris ist dein Bruder, Vanya ist meiner. Du kannst dir nicht immer nur die Rosinen aus dem Kuchen picken.“

Yekaterina stieß Natalia sanft den Ellbogen in die Seite. „Vanya ist nicht dein Bruder, Raivis“, sagte sie behutsam. „Aber wenn er kommt, um uns abzuholen, hat er sicher nichts dagegen, wenn du auch mitkommst.“

„Nicht?“, fragte Raivis erleichtert.

„Nein. Er ist ein wirklich lieber Junge. Sicher wäre er auch damit einverstanden, dass du so tust, als wäre er dein Bruder, auch wenn ihr nicht verwandt seid. Verwandtschaft ist schließlich nicht alles.“

„Nein“, sagte Raivis stolz. „Hast du gehört, Eduard? Verwandtschaft ist auch nicht alles.“

Eduard schwieg.

„Ich möchte Vanyas Bruder sein. Er ist lieb, oder? Du erzählst jedenfalls immer, dass er lieb ist, Yekaterina.“

„Tue ich das?“, fragte Yekaterina wehmütig.

„Ja. Immer, wenn Natalia traurig ist, erzählst du das. Dass Vanya euch beide ganz lieb hat und bald kommen wird, um euch abzuholen.“

„Wir sollten jetzt schlafen“, sagte Eduard.

„Das stimmt. Er ist ein so lieber Junge, ein unschuldiges Ding... dabei hat er es nie leicht gehabt. Aber er wird es schaffen. Irgendwann wird er es schaffen, die Welt besser zu machen. Ich weiß, dass er es kann. Die Welt...“

„Kommt er wirklich bald und holt uns ab? Wann ist bald?“

„Ihr wisst alle genau, dass Feliks verboten hat, von Ivan zu sprechen!“, sagte Eduard schrill und etwas zu laut. „Und jetzt seid still!“

Seinen Worten folgte Stille. Yekaterina drehte sich zu Natalia um und schlang die Arme um sie. „Es wird alles gut“, flüsterte sie.

„Natürlich wird alles gut“, erwiderte Natalia. „Wie sollte es denn nicht?“

„...aber ich habe doch gar nicht von Ivan gesprochen“, wisperte Raivis im anderen Bett. „Wenn ich doch will, dass Vanya...“

„Schlaf jetzt“, unterbrach Eduard ihn tonlos.

Chetyre

Obwohl Toris gesagt hatte, er wolle wenigstens für einige Tage bleiben, war er am nächsten Morgen schon wieder verschwunden. Feliks sagte nichts dazu, aber er war sehr wortkarg und wirkte besorgt. Beides passte überhaupt nicht zu dem lauten, ständig aufgedrehten Feliks, den Natalia zuvor gekannt hatte. Diese Veränderung bedeutete nichts Gutes, dachte sie. Nichts Gutes für Feliks. Und das konnte nur etwas Gutes für Yekaterina und sie bedeuten.

„Wenn die Situation so ernst ist, wieso kämpft Feliks dann nicht längst an Toris' Seite?“, fragte Eduard ein paar Tage später, während sie den Abwasch machten.

„Er wird seine Gründe haben“, erwiderte Yekaterina leise. „Er ist gerade nicht in bester Verfassung. Diese ständigen Streitereien um seine Thronfolge...“

„Er war irgendwann einmal ein Krieger, aber das ist lange her“, sagte Natalia geringschätzig. „Er ist fett und gemütlich geworden.“

„Bela!“, keuchte Yekaterina erschrocken. „Wenn er dich hört!“

„Das ist mir doch egal! Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis...“

Die Küchentür ging auf und Natalia verstummte. Um ehrlich zu sein, wollte sie sich nicht mutwillig in Schwierigkeiten bringen. Das wäre dumm gewesen, jetzt, da ihre Befreiung kurz bevor stehen musste.

„Liet ist wieder da.“

Die Szene erinnerte stark an die vor einigen Tagen, mit dem Unterschied, dass Feliks diesmal nicht mehr nur nervös war. Er war blass wie die Wand und zitterte.

„Was ist passiert, Herr?“, fragte Yekaterina erschrocken.

„Kommt schnell. Und bringt Verbandszeug mit. Raivis, du holst Wasser.“

Damit drehte Feliks sich wieder um und hastete die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Eduard sah ihm nach und drehte sich dann mit großen Augen zu den anderen um. „Was...?“, fragte er ungewöhnlich verängstigt.

„Schnell“, sagte Yekaterina und legte Raivis eine Hand auf die Schulter. „Du hast Feliks gehört. Geh frisches Wasser holen.“

Raivis nickte hastig und lief zur Hintertür. „Nimm den Eimer mit!“, rief Eduard ihm nach.

„Und du kommst mit, Bela“, sagte Yekaterina, griff nach ihrem Arm und zog sie hinter sich her aus dem Raum.

„Was glaubst du, was passiert ist?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Yekaterina, öffnete einen Schrank auf dem Flur und zog eine Kiste heraus, in der mehrere kleine Schatullen und Säckchen lagen. Der Vorrat an Heilkräutern. „Du nimmst das hier.“

„Glaubst du, Toris ist schwer verletzt?“, fragte Natalia mit einem Leuchten in den Augen.

„Ich weiß es nicht, Bela“, seufzte Yekaterina, suchte irgendetwas in dem Schrank und schien es nicht zu finden. „Oh nein... geh du schon einmal vor, ja? Ich muss sehen, wo wir noch saubere Tücher haben.“

„Keine Panik, Katyusha“, sagte Natalia und ging auf die Treppe zu. „Uns geht es doch im Grunde nichts an.“

Yekaterina hob den Kopf und lächelte müde. „Wir sollten uns um Toris kümmern, Bela. Er hat ein gutes Herz.“

Natalia schnaubte. „Das wird man ja sehen.“
 

Oben hatten Eduard und Feliks Toris aus seiner Rüstung geholfen. Auf dem Boden lag ein Haufen dreckiger Kleider mit fast schwarzen Blutflecken. Toris lag auf dem Rücken, die Augen zugekniffen. Er war blass und atmete schwer durch den Mund. Das lange Hemd, das er noch trug, war quer über die Brust aufgerissen und am unteren Saum mit Blut getränkt, das aus einer Wunde an seinem Bein zu kommen schien.

„Alles wird gut, Liet“, murmelte Feliks und drückte seine Hand. „Wird alles gut.“

Eduard raffte die Kleider zusammen und trug sie davon. Im Vorbeigehen warf er Natalia einen hilflosen Blick zu. Sie ignorierte ihn und stellte die Kiste auf dem Boden ab.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

Toris sah sie an und versuchte, zu lächeln. „Nichts“, flüsterte er.

„Nun rede keinen Unsinn, Liet“, verlangte Feliks und drückte seine Hand etwas fester. „Es ist was passiert, aber du kommst wieder auf die Beine. Ist überhaupt kein Problem.“

„Ivan wird bald hier sein, Feliks“, flüsterte Toris. Das Lächeln war wieder verschwunden. „Wenn ihm niemand mehr Gegenwehr leistet...“

„Dann werde ich ihm Gegenwehr leisten“, unterbrach Feliks ihn und kniff die Lippen zusammen. „Und wie ich das tun werde. Ich werde dich rächen, Liet, das werde ich. Ich mache das schon.“

„Du...“, flüsterte Toris und hustete im nächsten Moment. Feliks griff nach seinen Schultern und drückte ihn in sein Kissen.

„Ich gehe“, sagte er entschlossen. „Verlass dich auf mich, Liet. Ich werde nicht als Verlierer zurückkommen.“

Nein, dachte Natalia, das wirst du nicht. Wenn du verlierst, kommst du nicht zurück.

Toris sah Feliks mit glasigen Augen an. „Du willst wirklich gehen“, flüsterte er.

Tak. Sag nichts, Liet, du kannst mich sowieso nicht mehr aufhalten. Ich bin nicht so geschwächt, wie du vielleicht meinst. Ich passe auf dich auf. Auf uns alle.“

Feliks nickte ein letztes Mal zur Bestätigung, beugte sich vor und gab Toris einen Kuss auf die Stirn. „Mach dir keine Sorgen, Liet. Ich schaffe das.“

„Danke“, wisperte Toris.

„Ich muss dir danken, Liet, dass du so lange den Kopf hingehalten hast. Jetzt bin ich dran.“

Damit stand Feliks auf, wandte sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Toris sah ihm mit leicht geöffnetem Mund nach. Ob er ahnte, überlegte Natalia, dass Feliks nicht wiederkommen würde?

Yekaterina betrat den Raum, mehrere Tücher über dem Arm. „Was ist denn los?“, fragte sie ängstlich. „Ist Herr Feliks gegangen?“

„Ja“, sagte Natalia. Yekaterina blinzelte sie kurz überrascht an, fing sich aber schnell wieder und wandte sich Toris zu. „Herr... wie geht es Ihnen?“

Toris verzog das Gesicht. „Es geht“, erwiderte er und deutete auf sein Bein. „Ich habe dort etwas abbekommen.“

Mit großen Augen beugte Yekaterina sich über die Wunde und zupfte vorsichtig den Stoff der Hose beiseite. Toris sog scharf die Luft ein und drückte den Kopf tiefer in sein Kissen.

„Es ist eine tiefe Wunde, Herr, aber ich kann mich darum kümmern. Sobald Raivis mit dem Wasser kommt...“

Wie auf Kommando öffnete sich die Tür erneut und Raivis kam herein. „Feliks ist weg“, berichtete er perplex.

„Komm her, stell das Wasser hier her. Bela, du hilfst mir. Und Raivis, du kannst als seelische Unterstützung bleiben.“

„Seelische Unterstützung?“, wiederholte Raivis und setzte sich an Toris' Kopfende. „Was ist denn los, Toris?“

Natalia hatte Yekaterina selten so entschlossen erlebt. Sie führte das Kommando, und niemand machte es ihr streitig. „Breite das hier aus auf dem Bett aus, Bela“, sagte sie und drückte ihr einige Tücher in die Hand. „Um das Blut aufzufangen. Halten Sie still, Herr, wenn Sie können.“

„Ich werde mein Bestes geben“, brachte Toris zwischen den Zähnen hervor. Raivis sah mit großen Augen zu, wie Yekaterina weiter in der Kiste kramte. Sie wollte Toris wirklich retten, dachte Natalia. Wie seltsam ihre Schwester doch war.

Pyat

Nachdem Yekaterina endlich fertig war und die Wunde an Toris' Bein fest verbunden hatte, war nicht festzustellen, wer am blassesten war: sie selbst, Toris oder Raivis, der mittlerweile heftig zitterte.

„Du solltest an die frische Luft“, sagte Yekaterina sanft zu ihm und griff nach der Decke, die einige Blutflecken abbekommen hatte. „Ich werde diese hier waschen und Ihnen eine neue bringen, Herr. Wollen Sie etwas essen?“

Toris schüttelte leicht den Kopf. Er war außer Atem und völlig verschwitzt.

„Ich werde Ihnen eine Suppe kochen“, entschied Yekaterina. „Wenn Sie etwas Warmes im Magen haben, werden Sie schneller wieder gesund. Das stärkt.“

Natalia starrte sie an und verstand nicht, wieso ihre Schwester all das tat. Sie musste doch wissen, dass es egal war, wie schnell Toris sich erholte. Ohnehin würde Vanya bald kommen, und dann war es egal, wie es Toris ging. Oder tat Yekaterina nur so, als sei sie besorgt, als Tarnung sozusagen? Wenn ja, dann war es eine sehr überzeugende Tarnung.

„Du bleibst hier, Bela“, sagte Yekaterina, bevor sie Raivis aus dem Raum schob und ihm folgte. „Wenn etwas Ungewöhnliches passiert, ruf mich.“

„In Ordnung“, erwiderte Natalia und setzte sich auf einen Stuhl neben Toris' Kopfende. Sie sah auf ihn hinunter, wie er matt und reglos in seinem Kissen lag, das frisch verbundene Bein steif ausgestreckt, als gehöre es gar nicht zu seinem Körper. Noch immer hob und senkte seine Brust sich hastig. Seine dunklen Haare klebten verschwitzt an seinen Schläfen.

„Es ist alles gut“, sagte sie, obwohl es das natürlich nicht war. Nicht für Toris.

Er öffnete flatternd die Augen und versuchte wieder sein zittriges Lächeln. „Ja“, murmelte er.

Natalia griff nach einem weißen Stofftaschentuch auf dem Nachttisch und tupfte den Schweiß von seiner Stirn. „Sie werden sich bald erholen.“

„Das hoffe ich.“ Toris' Stimme war rau und er musste ein Husten unterdrücken. „Ich hoffe auch, dass Feliks...“

„Seien Sie lieber still“, unterbrach Natalia ihn streng. Dann musste sie seinem Gerede nämlich nicht zuhören. Zu ihrer Erleichterung tat Toris, was sie sagte. Seine Augen wanderten durch das Zimmer, blieben aber immer wieder an ihrem Gesicht hängen. Sie runzelte die Stirn und sah in eine andere Richtung, doch als sie ihn wieder ansah, klebte sein Blick immer noch an ihr.

„Ist alles in Ordnung, Herr?“, fragte sie steif.

Er antwortete nicht, lächelte nur wieder auf diese Art, als wolle er sie beruhigen. Es machte sie krank. Sie wandte sich ab und versuchte, ihre Haare so über ihre Schulter hängen zu lassen, dass sie ihr Gesicht verdeckten.

„Wieso bist du eigentlich so kühl?“, erklang Toris' leise Stimme hinter ihr.

Natalia wusste, dass sie ihn aus Respekt ansehen sollte, wenn sie mit ihm sprach, aber ihr war gerade nicht nach Respekt. „Wie meinen Sie das?“

„Yekaterina ist eine so herzliche, offene Frau. Aber du hast nichts mit deiner Schwester gemeinsam.“

„Nein.“

„Es ist ein Jammer“, murmelte Toris.

„Inwiefern?“

Etwas tippte gegen ihre Schulter und sie fuhr herum. Toris hatte die Hand gehoben und lächelte sie an. „Du bist so hübsch, Natalia“, flüsterte er.

Sie spürte, wie sie rot wurde vor Empörung. Was glaubte er, wer er war?

„Es würde dir gut tun, ein bisschen mehr zu lachen... und ein wenig Farbe zu bekommen“, sagte Toris und lachte leise. Er wirkte so glücklich, dachte sie. Da lag er, verletzt und kraftlos, sein bester Freund war in einen vermutlich aussichtslosen Kampf gezogen, und da lag er und war glücklich. Wie konnte das sein? Natalia runzelte die Stirn und sah ihn an, und ihr fiel die einzige Lösung ein. Etwas entschädigte ihn für all das und ließ ihn seine Sorgen vergessen. Etwas... oder jemand.

„Wieso versuchst du nicht, öfter zu lachen, Natalia?“

Es ging so schnell. Plötzlich war seine Hand an ihrer Wange und strich eine einzelne Haarsträhne beiseite. Seine Finger zitterten leicht vor Aufregung. Natalia riss die Augen auf, und Toris lächelte. Tat nichts, als in seinem Kissen zu liegen und zu lächeln. Es war kein gutes Lächeln mehr, dachte Natalia. Es war so obszön glücklich.

Sie schrie ihn an, so laut sie konnte, packte seinen Unterarm und grub die Fingernägel in sein Fleisch. Er schrie auf vor Schmerzen, als sie seine Hand beiseite stieß und aufsprang. Die Tür war geschlossen, doch sie riss sie auf, raffte ihren Rock hoch und flog förmlich die Treppe hinunter. Nur raus hier. Raus und so weit weg wie möglich.

Toris blieb liegen, wie er war, und drückte zitternd seinen Arm an seine Brust. „Natalia“, flüsterte er, schluckte und rief etwas lauter. „Natalia!“

Natürlich hörte sie ihn längst nicht mehr. Durch die Tür, die sie offen gelassen hatte, konnte er die Treppe sehen, auf der sich nichts mehr rührte. Er spürte, wie brennende Tränen in seine Augen stiegen.

„Du hast es vermasselt, Toris“, brachte er hervor und schlug den Hinterkopf in sein Kissen. „Du verdammter Idiot hast es vermasselt.“

Shest

Der Geruch von Feuer lag in der Luft und brachte Natalias Kopf zum pochen. Die Luft war getrübt von Rauch. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, aber sie rannte. Das wichtigste war, den leichten Wind in ihrem Gesicht zu spüren und zu laufen. Sie war frei, das war das wichtigste. Noch immer zitterten ihre Hände vor Schreck und Ekel. Ein gutes Herz. Von wegen gutes Herz, Katyusha! Was für eine Ahnung hast du von Männern? Gar keine.

Vor sich hörte sie den Lärm eines Kampfes. Sie wurde langsamer und hielt inne, als sie am Wegrand einen unförmigen Schatten entdeckte. Näheres war durch den immer dichter werdenden Rauch nicht zu erkennen. Sie überlegte, ob sie nachsehen sollte, was der Schatten war, und entschied sich dagegen. Einige Schritte weiter beantwortete ihre Frage sich von selbst, als sie mitten auf dem Weg auf die Leiche eines Soldaten stieß.

Natalia war überrascht, dass der Krieg schon so nahe an Toris' und Feliks' Haus tobte und sie alle nichts davon bemerkt hatten. Angst hatte sie deswegen nicht. Wovor denn auch? Etwas besseres als dieser Krieg hätte zumindest Yekaterina und ihr nicht passieren können. Es würde alles besser werden, wenn Toris und Feliks erst einmal verloren hatten. Wenn sie vernichtet waren.

Sie stieg auf einen Hügel und sah hinunter. Vor ihr lag ein flaches Tal, in dem der Rauch nur dünn war und immer wieder vom Wind auseinander gerissen wurde. In der Mitte des Tals duellierten sich zwei einzelne Kämpfer. Sie sahen einsam aus, obwohl sie es eigentlich nicht waren. Es waren auch einige andere Soldaten zu sehen, aber sie waren entweder tot oder lebensgefährlich verletzt oder zeigten kein Interesse an den Kämpfern. Tatsächlich kam es Natalia so vor, als würden sie sie gar nicht sehen.

Die kleinere der beiden Gestalten erkannte sie sofort. Feliks hielt sich besser, als sie gedacht hätte. So ganz schien er sein Können über all die Jahre doch noch nicht eingebüßt zu haben. Seine strohblonden Haare waren zu einem winzigen Zopf in seinem Nacken gebunden, aber ein paar dünne Strähnen fielen in seine Stirn und über seine Augen wie Spinnweben. Sein kleines Gesicht war verbissen und angespannt. Fast schon verzweifelt, dachte Natalia.

Feliks bewegte sich ständig, wich aus, tänzelte hin und her und griff mit seinem Degen aus allen möglichen Richtungen an. Gegen ihn wirkte sein Gegner sehr ruhig, beinahe reglos, als störe er sich nicht an der lästigen Fliege, die ihn umschwirrte. Er war sehr groß und drehte Natalia den Rücken zu. Zu seinem dunkelblauen Mantel trug er einen weiten, weißen Schal, den der Wind um ihn herum trieb. Ihr Kampf sah wie ein Tanz aus, dachte Natalia. So lange, bis Feliks strauchelte und auf die Knie fiel. Sein Gegner war im nächsten Moment über ihm. Natalia hörte einen erstickten Aufschrei, dann nichts mehr. Der große Mann verdeckte ihr die Sicht.

Sie stieg den Hügel hinunter, vorsichtig, um nicht auszurutschen. Der Mann unten drehte sich überrascht um, als er sie hörte. Den Degen schob er langsam in seinen Gürtel, als er erkannte, dass sie nur ein Mädchen war. Die schmale Klinge war verdreckt von Blut und Erde. Feliks lag einen halben Schritt weiter auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Er rührte sich nicht mehr.

„Wer bist du?“, fragte der Mann und blinzelte. Aus der Nähe wirkte er noch größer, als Natalia gedacht hatte. Sein Gesicht war rund und ein wenig pausbäckig, was nicht zu seinem ansonsten riesigen Körper passte. Es war noch dasselbe kindliche Gesicht wie das des Jungen, von dem sie vor so langer Zeit getrennt worden war.

„Ich bin es, Vanya“, flüsterte sie und bemerkte, dass ihre Stimme erstickt klang.

„Wer denn?“, fragte Ivan verwirrt und blinzelte.

„Deine Schwester.“

Noch immer sah Ivan sie verwirrt an. Er schien kurz davor, sie höflich darauf hinzuweisen, dass sie sich irren musste. Dabei irrte sie sich nicht, dachte Natalia. Das da war ihr Bruder. Wenn er sie nicht erkannte... wenn er nun vergessen hatte, dass er eine Schwester hatte, was dann? Er war ja auch noch ein Kind gewesen, als sie getrennt worden waren. Seitdem war so viel passiert. Es war sicher nicht einfach gewesen, so groß und mächtig zu werden. Was, wenn...

„Katyusha?“, fragte Ivan dann leise. In seinen Augen lag plötzlich eine solche Sanftheit, dass Natalia eifersüchtig wurde. „Nein“, antwortete sie zitternd und wünschte, Yekaterina zu sein. „Ich bin Natalia.“

Einen Moment lang wirkte Ivan ratlos, doch dann riss er die Augen auf. „Nein... doch nicht...?“ Er trat auf sie zu und griff nach ihren Schultern. Er war stark, dachte Natalia. „Du bist Bela?“

Sie konnte nur nicken.

Ivan schwieg einen Moment lang, bevor er laut auflachte und sie an sich drückte. „Du warst so klein!“, rief er. „Du warst immer so furchtbar klein und schwach! Ich habe nie gedacht, dass du überleben könntest. Katyusha vielleicht, aber du... nein. Und jetzt stehst du hier... Bela! Meine Bela!“

Natalia schlang die Arme um ihn und vergrub das Gesicht in seinem Schal. Ihr Herz schlug sehr schnell. Das ist Vanya, dachte sie. Dein großer Bruder, auf den du all die Jahre gewartet hast. Und nun, Bela? Bist du enttäuscht?

Sie spürte seinen Bauch beben, als er lachte, und gab sich die Antwort. Nicht im Geringsten.

Ivan lachte noch einmal, ließ sie dann los und schob sie ein Stück von sich weg, um sie anzusehen. „Es ist unglaublich“, flüsterte er und lächelte. „Meine Schwester...“

Im letzten Moment bemerkte Natalia eine Bewegung hinter ihm. Sie schrie auf, doch bevor sie noch einen Gedanken fassen konnte, hatte Ivan reagiert. Er schubste sie zur Seite und zog den Degen wieder aus seinem Gürtel. In der selben Bewegung drehte er sich um und stieß er mit der dünnen Klinge zu.

Feliks' Degen rutschte aus seiner erschlaffenden Hand. Er hatte seine letzten Kräfte aufwenden müssen, um sich Ivan von hinten zu nähern und sich auf die Knie aufzurichten. Offenbar war es sein Plan gewesen, ihn von hinten anzugreifen – eine andere Erfolg versprechende Möglichkeit hatte er in seinem Zustand ohnehin nicht mehr. Aber sein Angriff war fehlgeschlagen, stellte Natalia fest, und es war definitiv sein letzter gewesen. Jetzt starrte er fassungslos auf die Klinge, die in seiner Brust steckte.

„Hast du denn gar keinen Anstand?“, fragte Ivan tadelnd. „Meine schwache, kleine Schwester ist zu einem wunderschönen Mädchen geworden, und du lässt mir nicht einmal Zeit, sie zu begrüßen.“

Er gluckste leise und zog den Degen mit einem Ruck wieder heraus. Feliks gab einen erstickten Laut von sich und brach zusammen. Diesmal blieben seine Augen offen stehen.

Natalia konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Wenn er jetzt nicht besiegt war, wusste sie nicht, was Ivan noch tun musste. Feliks hatte verloren, Toris war völlig schutzlos, und Ivan... ihr Vanya...

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Ivan und sah sie besorgt an.

„Aber natürlich, Vanya. Was soll schon sein?“

„Ich dachte nur“, sagte er, betrachtete die blutige Klinge seines Degens und benutzte seinen Schal, um sie unauffällig abzuwischen. „Manche Mädchen können so etwas schlecht sehen.“

„Mir macht es nicht aus. Bei Feliks schon gar nicht.“

Ivan gluckste. „Du gefällst mir, Bela“, sagte er zufrieden. „Du gefällst mir wirklich.“

Natalia lächelte und konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Du gefällst mir, Bela.

„Und jetzt“, sagte Ivan fröhlich, „möchte ich noch Katyusha treffen, damit unsere Familie endlich wieder vollständig ist.“

Natalia nickte. „Ich weiß, wo sie ist. Ich kann dich hinführen.“

„Wo ist sie?“

„Zu Hause.“ Dann fiel ihr ein, dass ihr zu Hause bald bei Ivan sein würde, und sie korrigierte sich. „In Toris' und Feliks' Haus.“

Ivan nickte langsam. „Wer ist noch da?“

„Toris. Er ist verletzt. Raivis und Eduard dürften auch da sein.“

„Vielleicht solltest du mir lieber den Weg beschreiben und hier bleiben, bis ich dich wieder abhole.“

„Wieso?“, fragte sie scharf. Sie wollte nicht so schnell wieder allein gelassen werden. Ivan hob beschwichtigend die Hände. „Nur zur Sicherheit, Bela. Wahrscheinlich werde ich nicht nur Katyusha mitnehmen, sondern auch die anderen beiden... und um Toris werde ich mich ohnehin noch einmal kümmern müssen, so, wie ich ihn kenne.“

Es gefiel Natalia nicht, was er sagte. Wieso reichte es ihm nicht, seine Schwestern zu befreien? Um nichts anderes ging es doch hier. Eduard, Raivis und Toris (vor allem Toris) konnten ihr gestohlen bleiben. Aber zuerst einmal war es am wichtigsten, dass er sie mitnahm.

„Es ist besser, wenn ich dir den Weg zeige, Vanya. Außerdem kenne ich auch die anderen. Ich könnte sie ablenken. Ich könnte dir nützlich sein, Vanya.“

Ivan legte den Kopf schief und blinzelte sie an. „Also gut“, sagte er dann und lächelte. „Aber versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringst und tust, was ich sage. Ich muss doch auf meine kleine Schwester aufpassen.“

„Verstanden“, antwortete Natalia. Sie war bereit, alles zu tun, was er sagte. Nichts lieber als das.

„Sehr gut“, sagte Ivan zufrieden, bückte sich, hob ein am Boden liegendes Gewehr auf und hängte es über seinen Rücken. „Dann lass uns gehen.“

Sem

Als sie das Haus erreichten, dämmerte es schon. Es war eigenartig, dachte Natalia, wie fremd das vertraute Haus ihr plötzlich schien. Bisher war es ein Gefängnis gewesen, aber jetzt war sie entkommen. Sie hatte bereits gewonnen. Sie hatte Ivan.

„Sollen wir die Vorder- oder die Hintertür nehmen?“, fragte sie.

Ivan legte den Kopf schief. „Die Hintertür“, entschied er. „Ist jemand da, um das Haus zu verteidigen?“

Natalia runzelte leicht die Stirn und schüttelte den Kopf. „Toris ist zu schwer verletzt dafür. Raivis ist zu klein, und Eduard habe ich niemals eine Waffe halten sehen. Sonst ist da nur noch Katyusha.“

Ivans Augen leuchteten auf. „Katyusha“, murmelte er versonnen.

„Ja“, sagte Natalia und schob die Finger in seine große Hand. Er blinzelte sie überrascht an, gluckste dann aber nur leise und ging weiter.

Sie liefen hinter einigen Büschen, um vom Haus aus nicht so leicht zu sehen zu sein. Als sie nur noch ein paar Meter von der Hintertür entfernt waren, fiel Natalia die kleine Gestalt auf, die auf den drei Stufen vor der Tür hockte. „Raivis“, zischte sie und blieb stehen.

„Wer?“

„Das ist Raivis.“

Ivan betrachtete ihn zwischen den Zweigen hindurch. „Er sieht niedlich aus“, sagte er amüsiert. „Wahrscheinlich soll er Wache halten.“

„Was für einen Sinn hat es, eine Wache aufzustellen, wenn sie sich bei einem Angriff sowieso nicht verteidigen können?“

„Man kann nie wissen“, sagte Ivan und legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. „Er ist ein kleiner Junge. Kannst du dir etwas ausdenken, um ihn abzulenken, damit wir unbemerkt vorbei kommen?“

„Glaubst du, das ist nötig?“

„Die Sache ist am einfachsten, wenn wir sie überraschen. Man weiß ja nie, was für unvernünftige Dinge Leute in aussichtslosen Situationen tun.“

Natalia runzelte die Stirn, aber wenn Ivan es sagte, musste es ja stimmen. Ein Lächeln zog über ihre Lippen. „Ich glaube, ich weiß etwas.“

„Sehr gut“, sagte Ivan zufrieden.

„Ich gehe allein. Komm erst, wenn ich dir winke.“

„In Ordnung.“

Er verließ sich auf sie, dachte Natalia, während sie aus den Büschen heraus trat und sich auf den Weg in Raivis' Richtung machte. Es war ein großartiges Gefühl, etwas zu tun und Ivan in ihrem Rücken zu wissen. Solange er da war, konnte ihr nichts passieren. Und wenn sie ihre Sache gut machte, würde er stolz auf sie sein.

Raivis hob den Kopf und blinzelte sie an, als sie vor ihm stand. „Hallo, Natalia“, sagte er verblüfft.

„Hallo, Raivis“, erwiderte sie und versuchte, freundlich zu klingen. Sie wusste nur nicht recht, wie sie das anstellen sollte, weil sie es kaum jemals ausprobiert hatte. „Was machst du denn hier?“

„Ich halte Wache. Sobald jemand kommt, sage ich es Toris.“

Natalia zuckte bei der Erwähnung seines Namens leicht zusammen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Aha. Und was will er dann tun?“

Raivis zog betrübt die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht. Er hat gesagt, wenn Feliks tot ist, dann will er auch...“

Er verstummte. Natalia zog die Augenbrauen hoch. „Dann will er auch...?“

„Das weiß ich nicht. Er hat nicht weiter gesprochen.“ Raivis hob zaghaft den Kopf. „Aber Feliks ist doch nicht tot, oder?“

Natalia zog es vor, darauf nicht zu antworten. „Stell dir vor, was passiert ist, Raivis“, sagte sie stattdessen und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinunter. „Ich habe jemanden mitgebracht.“

„Wen denn?“

„Vanya.“

Raivis sah sie mit großen Augen an. Dann zog ein breites Lächeln über sein kleines Gesicht. „Er ist wirklich da?“

„Ja.“

„Und wird er uns mitnehmen?“

„Das wird er. Er ist hier, Raivis. Soll ich ihn rufen?“

Raivis nickte stürmisch, doch plötzlich hielt er inne. „Aber eigentlich hat Toris sich ja entschuldigt“, murmelte er. „Er hat gesagt, es tut ihm Leid, dass er wenig Zeit für mich hatte. Und er wird alles wieder gut machen, sobald er gesund ist und alles wieder gut wird.“

Da kannst du lange warten, hätte Natalia gern gesagt, aber das stand außer Frage. Hastig versuchte sie, sich etwas anderes auszudenken. „Aber... aber es kann doch nicht schaden, noch einen Bruder zu haben, oder?“

„Noch einen Bruder?“

„Toris und Vanya könnten doch beide deine Brüder sein, oder?“

Raivis überlegte einen Moment lang, doch das Strahlen auf seinem Gesicht ließ kaum noch einen Zweifel, wofür er sich entscheiden würde.

„Also bist du einverstanden? Willst du, dass Vanya dein Bruder wird?“

Noch immer lächelnd nickte Raivis.

„Soll ich ihn mal holen?“

Wieder ein begeistertes Nicken. Zum Sprechen war Raivis offenbar zu aufgeregt. Natalia lächelte süßlich, drehte sich um und winkte Ivan, der aus dem Gebüsch kam. Einige Zweige knackten.

„Du bist Vanya?“, fragte Raivis mit großen Augen.

„Ja.“

„Du bist aber ganz schön groß.“

„Er ist ja auch dein großer Bruder.“

„Bruder?“, fragte Ivan perplex.

„Ja“, erklärte Natalia hastig. „Raivis möchte dein Bruder sein. Du hast doch nichts dagegen?“

Verblüfft sah Ivan hinunter zu Raivis, lachte dann laut auf und nahm ihn kurzerhand auf den Arm. „Was sollte ich dagegen haben? Er ist so niedlich!“

„Nicht so laut!“, zischte Natalia. „Wenn sie uns hören, war alles umsonst.“

Ivan nickte und gluckste nur noch leise in sich hinein, während er Raivis wieder absetzte. In Wahrheit war es Natalia herzlich egal, ob die anderen sie hörten. Sie mochte es nur nicht, zu sehen, wie gut Ivan und Raivis sich verstanden. Sie konnte Raivis immer noch nicht ausstehen, und Ivan war immer noch ihr Bruder. Was war nur in ihn gefahren?

„Gehen wir?“, fragte sie ungeduldig.

„Ja“, sagte Ivan sorglos. Raivis lief neben ihm her und stolperte einige Male fast, weil er noch damit beschäftigt war, ihn neugierig anzusehen. Sie betraten das Haus und stiegen die Treppe hinauf.

„Bist du jetzt mein großer Bruder?“

„Aber ja. Das habe ich doch schon gesagt.“

„Ich habe noch einen großen Bruder, Toris. Ich dachte, er mag mich nicht mehr, aber jetzt mag er mich doch.“

„Wie könnte man dich auch nicht mögen?“

„Ich weiß nicht. Aber ich freue mich, dass ich jetzt zwei große Brüder habe. Toris und dich.“

„Ich freue mich auch. Heute morgen hatte ich gedacht, ich hätte eine Schwester oder höchstens zwei, und jetzt habe ich sogar noch einen Bruder dazu bekommen! Es ist so schön, eine Familie zu haben.“

„Finde ich auch.“

„Und du bist ohne Zweifel der niedlichste kleine Bruder, den ich je hatte.“

„Er ist der einzige kleine Bruder, den du je hattest, Vanya“, sagte Natalia streng.

„Aber er ist trotzdem der niedlichste“, entgegnete Ivan zufrieden und fuhr Raivis mit der freien Hand durch die Haare. Natalia knirschte mit den Zähnen. Wie die Turteltauben.

„Sie sind alle in Toris' Zimmer“, sagte Raivis zu Ivan. „Eduard und Yekaterina und Toris.“

„Und wo ist das?“

„Diese Tür“, antwortete Natalia knapp und deutete auf die Tür am Ende des Flurs.

„Sehr gut“, sagte Ivan und betrachtete sie nachdenklich. „Ich werde reingehen“, erklärte er und griff wieder nach dem Bajonett, das über seinem Rücken hing. „Ihr beide bleibt dicht hinter mir.“

„Alles klar“, sagte Natalia.

„Was machst du?“, fragte Raivis verwirrt. Natalia verdrehte die Augen, griff nach seinem Arm und zog ihn neben sich neben die Tür. „Lass Vanya einfach machen“, zischte sie.

„Was denn machen?“

„Es wird schon richtig sein. Vertraust du ihm nicht?“

Ivan warf ihnen einen letzten Blick zu. „Da steht ihr gut“, sagte er und nickte. Dann griff er nach der Türklinke und stieß die Tür auf.

Vosem

An Ivans Rücken vorbei erhaschte Natalia einen Blick in den Raum. Eduard gab einen unterdrückten Aufschrei von sich, als er Ivan sah. Yekaterina saß an Toris' Kopfende und war offenbar dabei gewesen, einen Verband an seinem Oberarm zu wechseln. Sie fuhr herum, als die Tür aufging. Ihr zunächst erschrockener Gesichtsausdruck verwandelte sich in Überraschung, dann in ungläubige Freude. Toris dagegen starrte Ivan an und wurde leichenblass.

„Toris“, sagte Ivan in einem singenden Tonfall. „Ich bin froh, dich zu sehen.“

„Komm nicht näher“, brachte Toris hervor und wich ein Stück weiter in seine Kissen zurück. „Wenn du mir ein Haar krümmst, wird Feliks...“

„Oh, ich denke nicht, dass Feliks irgendetwas tun wird“, unterbrach Ivan ihn heiter. „Er sah reichlich schlecht aus, als ich ihn zurückgelassen habe. Ich habe dir doch gesagt, dass er keinen guten Einfluss auf dich hat...“

„Wo ist Feliks?“, fragte Toris mit mühsamer Beherrschung. Seine Stimme klang seltsam hoch.

„Das kann ich dir nicht genau sagen“, erwiderte Ivan sorglos. „Aber er wird uns nicht stören. Wahrscheinlich nie wieder.“

Toris starrte ihn an und rang nach Luft. Dann fuhr seine Hand blitzschnell unter sein Kissen und zog ein Messer hervor. Yekaterina schrie auf und Natalia schlug sich die Hand vor den Mund, weil sie fürchtete, er könne damit werfen – doch nichts dergleichen geschah.

„Komm keinen Schritt näher“, flüsterte Toris, das Messer an seine eigene Kehle gedrückt.

„Was macht Toris da?“, fragte Raivis ängstlich und versuchte, ebenfalls um den Türrahmen zu spähen. Natalia hielt ihn mit einem Arm zurück.

Mit großen Augen sah Ivan Toris an und ließ das Gewehr sinken. „Also wirklich, Toris. Ich hätte dich nicht für so dumm gehalten.“

„Ich werde lieber frei sterben, als als dein Gefangener zu leben.“

Ivan schüttelte den Kopf. „Aber ich will nicht, dass du stirbst, Toris“, sagte er ehrlich. „Ob nun frei oder nicht. Du warst mir ein interessanter Gegner, musst du wissen. Es wäre schade um dich, findest du nicht? Und davon ganz abgesehen...“

Er trat einen Schritt zurück, streckte die Hand zur Seite aus und griff nach Raivis' Arm. Raivis stolperte verwirrt in den Raum und gab eine Art Quietschen von sich, als Ivan ihn an sich zog und ihn fest im Nacken packte. Ein leises „Raivis!“ kam aus Eduards Richtung. Toris rührte sich nicht, das Messer noch immer fest umklammert.

„Darf ich vorstellen?“, fragte Ivan zufrieden und schob das fallen gelassene Gewehr mit dem Fuß beiseite. „Das ist mein neuer kleiner Bruder Raivis. Wir haben uns sehr lieb, nicht wahr, Raivis?“

„Schon“, antwortete Raivis unsicher. „Aber du tust mir weh, Vanya...“

„Wir haben uns gerade erst getroffen, aber er hat mir schon erzählt, dass er noch einen Bruder hat. Toris, nicht wahr? Und dass Toris ihn ebenfalls sehr gern hat. Stimmt das?“

Toris' Lippen zitterten leicht.

„Ich denke, es wäre gut, wenn Toris überleben würde“, sagte Ivan nachdenklich. „Weil große Brüder immer gut sind, um auf kleinere aufzupassen. Und wenn du sterben würdest, Toris... dann fürchte ich, ich könnte für nichts mehr garantieren, was Raivis angeht.“

„Das kannst du nicht“, flüsterte Toris. „Du kannst ihm nichts tun.“

Ivan legte nachdenklich den Kopf schief. Im nächsten Moment kreischte Raivis auf und griff nach der Hand um seinen Hals. „V-vanya! Du t-tust mir weh!“

Yekaterina hatte die Finger auf die Lippen gepresst und verfolgte die Vorgänge mit großen Augen. Eduard drückte sich in eine Ecke und versuchte anscheinend, unsichtbar zu werden. Toris bewegte sich kein Stück. Seine Hand, in der er das Messer hielt, zitterte nicht einmal. Nur sein Gesicht hatte er nicht ganz unter Kontrolle. Natalia glaubte zu sehen, dass Tränen in seinen Augen standen.

„Lass mich los!“, heulte Raivis und wand sich hin und her. „Du tust mir weh, Vanya! Lass mich!“

An seiner Stelle, dachte Natalia, hätte sie nicht so viel gezappelt. Ivan konnte dem Jungen wahrscheinlich mit einer Hand das Genick brechen, wenn er es darauf anlegte. Und noch immer machte Toris keine Anstalten, nachzugeben. Für so mutig hatte sie ihn gar nicht gehalten. Oder für so herzlos.

„Wenn du stillhältst, tue ich dir nicht weh, Raivis“, erklärte Ivan wieder in diesem singenden Tonfall. „Vorausgesetzt, dass Toris hier endlich das Messer weglegt und vernünftig mit mir redet. Denn am Ende werde ich Toris so oder so mitnehmen, und das weiß er auch. Nicht wahr?“

„Ich will nicht mehr!“, schrie Raivis. „Toris, ich will nicht mehr! Toris!

Natalia trat einen Schritt vor, um eine bessere Sicht in den Raum zu haben. Als Toris sie sah, weiteten seine Augen sich. Er sah sie an, und sie starrte zurück. Er würde sie niemals wieder anfassen, dachte sie verbissen. In Zukunft würde er sie nicht einmal mehr ansehen dürfen, wenn sie es nicht wollte. Sie würde es einfach Ivan sagen, und der würde es schon regeln. Immerhin liebte Ivan sie.

Sie wusste nicht, ob Toris ihre Gedanken gelesen hatte oder ob er die Situation nicht mehr ertrug. Die Klinge an seinem Hals zitterte. Er kniff die Augen zu, und bevor jemand etwas tun konnte, hatte er einen Schnitt gemacht. Dann einen zweiten über Kreuz.

Eduard schrie auf, so schrill, dass Natalia zusammen zuckte. Er rührte sich nicht, blieb in seiner Ecke sitzen, den Rücken an die Wand gepresst, und schrie wie am Spieß. Erst, als Ivan Raivis auf den Boden fallen ließ, brach er ab, traute sich aber noch immer nicht, sich zu bewegen. Yekaterina gab eine Art Wimmern von sich. Sie wich hastig vor Toris zurück, der schlaff auf dem Bett zusammen gesunken war. Blut lief in sein Kissen. Nach Luft ringend richtet Yekaterina sich auf, drehte sich um und lief geradewegs in Ivan hinein.

„Beruhige dich, Schwester“, sagte Ivan und lächelte. „Es ist doch alles gut.“

Er schob sie sanft beiseite, nahm seinen Schal ab und beugte sich über Toris. Behutsam wickelte er den Schal um seinen Hals, aus dem noch immer Blut lief. „Es würde mehr als das brauchen, um dich zu töten, dummer Toris“, erklärte er in einem Ton, der an Mitleid grenzte. „Du entkommst mir nicht, egal, was du versuchst. Das wirst du noch sehen.“

Als er sich aufrichtete, schluchzte Raivis auf. Eduard hatte es mittlerweile gewagt, ihn auf seinen Schoß zu ziehen. Überrascht sah Ivan sich zu den beiden um und trat auf sie zu. „Du musst Eduard sein“, sagte er freundlich.

„Ja, Herr“, antwortete Eduard zitternd und drückte Raivis an sich.

„Du kannst mit mir kommen. Genau wie mein lieber kleiner Bruder Raivis hier. Nicht wahr, Raivis?“

„Ich will nicht!“, heulte Raivis und krallte die Finger in Eduards Hemd. „Ich will nicht mehr dein Bruder sein!“

„Ach, was redest du da, kleiner Raivis.“ Ivan beugte sich hinunter, um seinen Kopf zu tätscheln, und gluckste, als Raivis zurück zuckte. „Ein Bruder bleibt ein Bruder.“

Er seufzte zufrieden und richtete sich wieder gerade auf. Sein Blick traf den von Natalia, die noch immer in der Tür stand. Ivan lachte und breitete die Arme aus. „Das ist unsere Familie, Bela!“, rief er mit leuchtenden Augen. „Alle zusammen. Du, ich, Katyusha, mein Bruder Raivis... und Toris und Eduard können wir auch noch adoptieren. Wie findest du das?“

Natalia wusste nicht, wie sie das finden sollte. Sie betrachtete Toris, der völlig reglos auf dem Bett lag. Sein Blut sickerte langsam durch den Schal um seinen Hals. Bevor Natalia noch etwas sagen konnte, erklang erneut ein Schluchzen. Diesmal kam es nicht von Raivis, sondern von Yekaterina.

„Vanya... b-bist du es wirklich?“

Sie machte einen unbeholfenen Schritt auf ihn zu. Tränen liefen über ihr Gesicht. „Du... du warst doch so klein und... und...“

Ivan gluckste. „Das habe ich zu Bela auch gesagt.“

Yekaterinas Gesicht verzerrte sich. „Vanya“, brachte sie hervor, schlang die Arme um ihn und begann haltlos zu weinen. Ivan nahm sie behutsam in die Arme. „Es ist doch alles gut, Schwester“, murmelte er und wiegte sie hin und her. „Jetzt ist alles gut. Versprochen.“

Natalia runzelte die Stirn und sah sich im Raum um. Langsam wurde die Familie zu groß für ihren Geschmack. Aber das bedeutete sicher nicht, dass alle Ivan gleich viel bedeuteten. Immerhin waren es Yekaterina und sie, die ihm am nächsten standen. Ganz sicher hatte er sie beide immer noch am liebsten von allen. Oder etwa nicht?

Du gefällst mir, Bela...

Raivis heulte noch immer in sich hinein, Toris sagte nichts und Yekaterina beruhigte sich nur langsam, während Ivan mit dem Schal ihre Tränen abwischte. Es musste einen Weg geben, sich von den anderen abzuheben, dachte Natalia. Wenn Ivan jetzt so viele Geschwister hatte, reichte es ihr nicht mehr, einfach nur seine Schwester zu sein. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, wie sie...

Ein Lächeln zog über ihre Lippen, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Was, wenn sie Ivan heiraten würde?
 

(...und so nimmt die Tragödie ihren Lauf.

Versucht bloß keine moralischen Lehren aus dieser Fanfic zu ziehen, dazu war sie von Anfang an nicht gedacht (wer bin ich denn?). Und, liebe Kinder, macht nichts hiervon zu Hause nach. Und seid immer lieb zu euren kleinen Brüdern!

Ich habe hiermit fertig. Grazie, prego. Vorhang, bitte.)



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  Mondfee_Luna
2011-09-26T00:27:36+00:00 26.09.2011 02:27
Ich schreib nur selten Kommis zu FF´s oder überhaupt zu irgentwas aber es muss sein.

Erst einmal: Ich fand sie super und konnte mir das ganze wunderbar vorstellen.
Ich hab selber keine wirkliche Ahnung von geschichtlichen Begebenheiten, aber wie viele hetalia-Fans eine Menge Ideen und Überlegungen zu den Charaktären und besonders auch zu Weißrussland.
Auch icch versuche sie ein wenig zu verstehen (wobei ich ihre Taten nicht für richtig erkläre) und icch finde dir ist eine wunderbare Erklärung für ihr nahezu verrücktes Verhalten eingefallen.

Ich konnte micch in ihren Charakter hineinversetzen und hatte mehr als nur einmal Pipi in den Augen Q.Q sie tut mir wirklich Leid, aber auch der Rest hat mein Mitleid *sniff*

Also nochmal zum Schluss:
Schöne Geschichte ^-^
lg Luna
Von:  sweetitachi
2011-05-10T15:17:06+00:00 10.05.2011 17:17
So habe mir die FF in einem Stück durchgelesen.
Ich kenne mich zwar in dieser Epoche nicht wirklich aus.
Kenne eigentlich auch nur die wichtigsten Fakten, deshalb schiebe ich diese mal beiseite.
Helfen mir gerade eh nicht.^^
Auf jeden Fall war die Beschreibung der FF ganz interessant.
Konnte einfach nicht anders als drauf zu klicken.

Am Anfang war ich zwar etwas verwirrt, was die Charaktere angeht, aber das legte sich später.
Habe nur einige Folgen gesehen, deshalb kenne ich nicht alle Charaktere.
Natalia ist aber wirklich ein klein wenig schräg...
Zumindest war die ihre letzt Idee ein klein wenig "übertrieben".
Ok, das war jetzt untertrieben aber egal.

Ich glaube das Natalia einfach der größte nostalgiker von den dreien ist.
Der President von Weißrussland wird: "der letzte Diktator Europas" genannt. Und das ist etwas was von Russland ausging.
Sie verkörpert einfach die Nostalgie an die zerfallene Sowjetunion.
Eine Zeit in der Russland eine Supermacht war.
In der Russland eine Sträke hatte die verloren gegangen ist.
Und Weißrussland/Bela war Teil dieser Kraft.
Sie will einfach nur ein "Neuauflage" dieser Zeit haben.
Das ist meine persönliche Meinung zu diesem Thema.

Der Schreibstil war wirklich toll.
Die Handlung war auch gut.
Wünsche dir weiterhin viel Erfolg beim schreiben!


lg s.ita
Von:  Gokiburi
2011-03-20T13:46:10+00:00 20.03.2011 14:46
Natalya ist doch voll krank xD
Raivis tat mir einen Moment leid..aber nur einen kleinen Moment :'D


Das Ende kam zwar voll schnell,aber war sehr passend.

Von: abgemeldet
2011-03-20T13:15:41+00:00 20.03.2011 14:15
jup, hätte ich zwar nicht gedacht, dass da so ein schnelles ende kommt, aber es hatte dann auch gepasst, fand ich. nur wie ist feliks dann wieder auf die beine gekommen? naja, der schwerpunkt war ja auf natalia gelegt ;D

LG
Von:  Gokiburi
2011-03-15T21:34:28+00:00 15.03.2011 22:34
*____*~ Ooooh... So einen süßen Bruder wie Raivis hätte ich auch gerne.
Und einen großen lieben Bruder wie Ivan...

∑(°∏°) Will Ivan jetzt etwa das Zimmer vor den Augen von Raivis stürmen ?!

Der kriegt bei der Brutalität doch garantiert ein Trauma xD
Von:  Gokiburi
2011-03-13T01:13:41+00:00 13.03.2011 02:13
:D Endlich da.
Ist Feliks tot,oder simuliert der nur ? xD

Wie Yekatharina wohl reagieren wird ?
Ich wette sie wird heulen 8D
Ivan soll Toris töten , der hat sich an eine Schwester rangemacht :'D

Deine FF's sind vor den Russen nicht sicher >:D
Von: abgemeldet
2011-03-03T18:17:18+00:00 03.03.2011 19:17
Yo, wieder ein tolles Kapi ~
(sry, dass meine kommis immer so kurz sind)
mach weiter so!
LG
Von: abgemeldet
2011-02-24T19:01:43+00:00 24.02.2011 20:01
Also ich finde die FF super.... habe nix auszusetzen o.O
Weiter so! ~
LG
Von: abgemeldet
2011-02-22T18:10:59+00:00 22.02.2011 19:10
Endlich mal was Schönes über Natalia^^ Das klingt alles so geheimnisvoll. Ich mag deinen Schreibstil und werde auf jeden Fall dran bleiben.
ES ist einfach schön^^

Allerdings, 1 auf russisch heißt Ogun(so ähnlich würde man es in Kyrillic schreiben) Adin gesprochen, weil die zweite Silbe betont wird^^ Ich weiß nur nicht, wie das in lateinischen Buchstaben aussieht...
Von: abgemeldet
2011-02-21T06:23:43+00:00 21.02.2011 07:23
Huu~
Ich fand allein die Beschreibung schon interessant ^-^
Aber ich dachte eigentlich dass das personifizierte Ukraine den Namen Katya hätte ôo
Ah,ist wahrscheinlich nur der Spitzname xD
Ja ich Schnellmerkerchen...
Naja also ich mag deinen Schreibstyl und die Idee ist auch sehr gut,finde ich.Ich finde sie etwas gewagt aber lesen würde ich sie sicherlich auch weiterhin~


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