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An wessen Seite

Tyki x Lavi x Kanda
von

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Sechshundert Stunden

Vierundzwanzig Stunden mal fünfundzwanzig. Daraus ergab sich die Anzahl der Stunden, in denen er gestorben war. Und noch immer starb. Die Stunden summierten sich. Tagein, tagaus.
 

Er tippte die Spitze des Kugelschreibers auf das Kästchen. Er zog den Stift wieder zurück. Dann tippte er auf ein anderes Kästchen. Er tippte alle an, die um die paar Zahlen herum verteilt lagen. Er behielt die Spitze auf dem Kästchen, das nach dem Gleichheitszeichen folgte. Er seufzte.

Kanda konnte nicht Kopfrechnen. Schon damals in der Grundschule hatte er Probleme mit dem großen Einmaleins gehabt. Und seit jeher hatte er es auch nicht mehr anwenden müssen. Wie ging noch gleich die schriftliche Multiplikation? Zieht man nicht einfach einen Strich unter die Rechnung und multipliziert die Zahlen nach und nach? Aber welche Zahl mit welcher? Kanda kratzte sich mit der Spitze des Kugelschreibers am Kopf. Dann riss er das karierte Blatt kurzerhand aus dem Block, zerknüllte es und zielte auf den Papierkorp. Er traf nicht.

Mathematik ist völlig nutzlos. Kanda wusste auch ohne das Ergebnis, dass es sich bei fünfundzwanzig Tagen um verdammt viele Stunden handelt. Um Stunden, die dieser Baka Usagi sorgenfrei mit seinem neuen Macker verbrachte. Dieser schmierige Möchtegern-Latino, auf dessen Möchtegern-Romantik Lavi doch glatt reingefallen war. Nun war der Kerl zum Mittelpunkt Lavis Lebens geworden. Und Kanda Luft. Er hatte ausrechnen wollen, seit wie vielen Stunden er schon Luft war. Beziehungsweise tot. Mit der Zahl fünfundzwanzig gab er sich nicht zufrieden. Sie brachte seinen inneren Sterbeprozess nicht mal im Entferntesten zur Geltung. Es musste was Dreistelliges her.
 

Es klopfte dreimal gegen die Tür. Kanda schreckte hoch. Als er bis zum Ende des Flurs lief und durch den Türspion sah, konnte er dahinter ein paar Haarsträhnen ausmachen, die nach oben hin abstanden. Im Sonnenlicht schimmerten sie silbern.

Kanda rollte mit den Augen. Er zog die Tür auf und spürte Kälte an den Armen. Das Tageslicht blendete ihn. Sonne und Winter passen nicht zusammen.

»Was willst du?«

»Ich will überhaupt nichts.« Kanda beobachtete, wie Allen die Lider schmälerte und ihn fixierte. »Lavi will etwas.«

Der Name jagte Kanda wie ein Stromschlag durch Mark und Bein. Was sollte dieser Quatschkopf von ihm wollen? Er hatte sich seit Tagen nicht gemeldet. Nach kurzem Schweigen stieß Kanda ein »...und was?« aus sich.

Allen hob die große Tüte an, die er in Händen hielt und Kanda erst jetzt auffiel. »Hier.«

»Was ist da drin?«

Allen wirkte ungeduldig. »Irgendwelches Zeug von dir. Keine Ahnung. Ich bin gestern an Lavis Wohnung vorbeigelaufen, als er Schnee geschippt hat. Er ist reingegangen und hat mir dann, als er endlich wieder rauskam, die Tüte in die Hand gedrückt.« Er machte eine kurze Pause. »Er hat gemeint, da ich ja eh in deiner Nähe wohne, soll ich sie dir vorbeibringen...«

Kanda nahm die Tüte mit Skepsis entgegen, ohne hineinzusehen. Er stellte sie im Flur ab. »Okay. War’s das jetzt?«

Er hasste Allen. Eigentlich immer, aber heute noch ein Fünkchen mehr als sonst.

»Zum Glück ja.« Zum Glück schien dieser Hass auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Noch bevor Allen die Chance bekam, sich demonstrativ umzuwenden, stieß Kanda die Haustür zu.
 

Ramsch. Alter, unbrauchbarer, seit Jahren in Vergessenheit geratener Ramsch. Ein verwaschenes Hemd, stapelweise Schulhefte aus der Oberstufe, ein Taschenmesser, Spielkarten, eine Tasse mit peinlichem Motiv und... Shorts. Wann hatte Kanda Lavi jemals Shorts ausgeliehen? Und warum bekam er sie nun mitsamt all dem anderen Kram zurück?

Er wühlte sich bis zum Boden der Tüte. Während er die Inhalte beiseiteschob, flog ihm auf einmal ein Zettel entgegen. Von wem die krakelige Schrift stammte, hätte Kanda auch aus zehn Metern Entfernung erkannt. Er erinnerte sich prompt an ihre gemeinsame Schulzeit. Die Lehrer hatten Lavi ständig dazu aufgefordert, ordentlicher zu schreiben. Seine kryptische Kritzelei sei fast unlesbar. Sie hatten sogar damit gedroht, seine Klausuren mit null Punkten zu werten, sollte er sich nicht von seinen Hieroglyphen lossagen können. Dazu war es jedoch nie gekommen.

Kanda mochte die Sauklaue. Sie passte zu Lavi; sie war fast so chaotisch und einzigartig wie er selbst.
 

»Sorry, dass ich dir ausgerechnet Allen als Boten schicke... aber er war grad in der Nähe. Ich hab‘ ein wenig ausgemistet, wie du ja an deinem Zeug siehst. Ich bin so unfähig, ich weiß! Das nächste Mal, wenn ich mir was von dir ausleih‘, geb‘ ich’s dir sofort zurück, versprochen! > _ <

Allen wartet draußen. Soll ich noch mehr schreiben? Dann fängt er an zu frieren. Fändest du wohl bestimmt ganz toll, was? ;-) Nein, so fies wie du bin ich nicht. Außerdem bin ich noch mit meinem Schatzi verabredet. ♥

Also, tschüssi, Yū-chan~«
 

Kandas Blick wanderte von Zeile zu Zeile herab. Dieser Baka Usagi wusste sich einfach nicht kurzzufassen. Nun gut. Immerhin durfte Moyashi dank Lavis Schwätzer-Attitüde ein wenig zittern.

Kandas Blick verharrte auf der vorletzten Zeile. Moyashis Leiden war ausnahmsweise kein guter Trost. Wertvolle Dinge, die man in Truhen findet, sind nicht auf menschliche Wesen übertragbar. Was Paare so toll an diesem elenden Kosenamen finden, würde Kanda brennend interessieren. Oder auch nicht. Er faltete den kleinen Zettel zweimal zusammen. Dann schob er ihn in die Hosentasche.

Er seufzte, nahm die Tüte hoch, packte sie an den unteren Enden und leerte sie kopfüber aus. Das Hemd landete zuerst auf dem Boden. Alles Weitere plumpste entweder darauf oder fiel scheppernd auf den Laminatboden. Mitunter ein Taschenrechner. Kanda streckte mechanisch die Hand danach aus. Er fuhr mit den Fingerkuppen über die Oberfläche der Klappe. Er schob sie vom Taschenrechner und drehte sie um. Er betrachtete die Innenseite.

»Für meinen Mathe-Noob. Dein Lavi <3« hatte der Quatschkopf damals mit seinem Hausschlüssel in das Plastik geritzt. Es war noch schlechter lesbar als das, was er mit Stift und Papier fabrizierte. Genauer gesagt war es somit nur für Kanda lesbar. Lavi und er glaubten, er sei der Einzige, der diese Schrift in ihren drei verschiedenen Schrecklichkeitsgraden entziffern konnte. Hierbei handelte es sich um den dritten.

Kanda erinnerte sich. Lavi hatte ihm den Taschenrechner als kleinen Gag vor einer Matheklausur geschenkt. Als sie gelernt hatten, hatte er ihn bei Lavi zu Hause vergessen. Dieser hatte ihm versprochen, ihn gleich am nächsten Tag zurückzubringen. Das hatte nun etwa drei Jahre gedauert. Immerhin...
 

Sechshundert. Dem Taschenrechner sei Dank. Oder auch nicht. Jetzt fühlte Kanda sich noch schlechter. Die dreistellige Zahl, auf die er vorhin so scharfgewesen war, brannte sich jetzt in roten Leuchtbuchstaben in sein Hirn und würde wohl für den Rest des Tages vor seinem inneren Auge aufblitzen. Oder für den Rest des Monats.

Sechshundert Stunden sterben. Plus eine Stunde, wenn man Moyashis Erscheinen, das Ausleeren der Tüte und die Erinnerungsschwelgereien aufrundete.
 

Schatzi - am - Arsch!
 

-:-:-:-

ende kapitel eins.
 

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Ich habe den Anfang der FF zu einem Zeitpunkt geschrieben, zu dem ich eigentlich für eine Matheklausur hätte lernen sollen. xD

Jah... entschuldigt den 08/15-Plot. Ich hab‘ ihn mir im Zeitdruck zusammengesponnen. Ich mag AU auch überhaupt nicht, aber für ‘nen Plot, der ins 19. Jahrhundert passt, brauch‘ ich mehr Zeit...^^

Die FF ist im Rahmen einer von mir organisierten Wichtelaktion auf ff.de entstanden. Es gibt auch fünf Vorgabewörter, die ich einbauen muss, aber die werde ich hier auf Animexx nicht hervorheben.
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Zwanzig Tage

Er glaubte, er höre schlecht. »Was, sogar Weihnachten?«

»Klar. Warum, findest du das schlimm?« Lavi setzte diesen selbstverständlichen Blick auf, der Kanda nicht gefiel. Für ihn lag die Antwort klar auf der Hand.

»Keine Ahnung«, log er und wandte sich schnell dem Monitor zu. »Was soll ich noch in die Gliederung packen? Ich hab‘ erst drei Punkte.«

Lavi streckte sich ausgiebig. »Ach, ich weiß nicht. Können wir nicht mal ‘ne kleine Pause machen? Wir sitzen hier schon über ‘ne Stunde und recherchieren.«

Kanda starrte seinen besten Freund mit hochgezogener Augenbraue an. Dass sie bereits eine Stunde vorm Monitor verbracht hatten, stimmte zwar, jedoch waren unterm Strich nur fünf Minuten davon fürs Recherchieren draufgegangen. Die restliche Zeit hatte Lavi mit Quasseln vergeudet. Sieht dem Baka ähnlich, dachte Kanda, während Lavi ein herzhaftes Gähnen verlauten ließ und sich im Stuhl zurücklehnte. Dass es sich bei dem Gerede nicht darum handelte, was Lavi heute Morgen gefrühstückt oder mit welcher tollen Zahnpasta er sich die Zähne geputzt hatte, sondern ständig um ein und dieselbe Person kreiste, war neu.
 

»Ich muss das über die Ferien fertigkriegen und an den Feiertagen hab‘ ich keine Zeit. Und du anscheinend erst recht nicht.« Kanda stoppte, als er sah, wie Lavi die Augen verdrehte. Mit geschärftem Blick beendete er seinen Vortrag. »Also: Nein, wir können keine Pause machen!«

»Ach, Yū-chan...« Kanda hasste es, wenn Lavi seine Sätze mit einem ›Ach‹ einleitete - das hatte noch nie etwas Gutes zu heißen. »Du machst dir zu viel Stress. Ich meine, wir haben noch fast drei Wochen Semesterferien! Und nach Silvester gehör‘ ich wieder voll und ganz dir. Also, fast.«

Er konnte Lavi an der Nasenspitze ansehen, an wen er gerade gedacht hatte. »Ich helf‘ dir schon bei deiner Hausarbeit, keine Bange!«

Der dumme Hase grinste breit. Kanda seufzte. Er hatte Lavis Hilfe bitter nötig. Dass Hausarbeiten nicht seine Stärke waren, hätte er sich vor der Anmeldung fürs Japanologie-Studium klarmachen sollen.

»Ja, ja...«
 


 

. . . . .
 

Der Mensch ist ein absolutes Gesellschaftswesen; ohne Kommunikation lässt sich die Frage stellen, ob er überhaupt existiert.

Seine Fingerspitzen lagen reglos auf den Tasten.

»...und willst du wissen, was er gestern gemacht hat?«

»Eigentlich nicht.«

Die Augen waren starr auf den Monitor gerichtet. Das Fenster stand sperrangelweitoffen. Laut Thermometer herrschten Minusgrade. Für Kanda war es eine gefühlte Hitzewelle. Die frische Luft machte seinen Kopf auch nicht klarer.

Der Mensch ist ein absolutes Gesellschaftswesen...

»Er ist wie eine Droge, ich komm‘ gar nicht mehr von ihm los!«

»Aha.«

»Che.« Kanda klappte den Laptop zu. Er schnellte auf und schlug das Fenster in seine Angel. Dann warf er sich aufs Bett und legte den Arm über die Stirn. Er schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Diese verknallt-grinsende Visage wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Kanda drehte sich auf die Seite.

»Ich werd‘ Weihnachten dann mit ihm verbringen... mit der Familie ist das sowieso todlangweilig« hatte Lavi vor zwanzig Tagen verkündet - das erste und bisher letzte Mal, dass Kanda ihn in den Ferien zu Gesicht bekommen hatte.

»Und Silvester muss ich leider auch passen, Yū. Ich weiß, wir machen da immer was zusammen, aber mein Schatz will in diesen neuen Club gehen. Ich glaub‘ nicht, dass du da mitwillst.«

Kanda griff sich an die Schläfen und spürte das Blut darin brodeln. Er stand auf, zog Jacke und Schuhe an, ging zum Schreibtisch, klemmte den Laptop unter den Arm und verließ die Wohnung.
 


 


 

Er wäre fast ausgerutscht. Er fing sich noch rechtzeitig und grummelte in sich hinein, während er den Boden feindlich anstierte. Blödes Glatteis. Ein Winter mit Schnee statt Rutschgefahr wäre ihm lieber gewesen.

Ein bester Freund, der ihm mehr Aufmerksamkeit schenkte, wäre ihm auch lieber gewesen. Yūs abweisendes Verhalten gefiel Lavi ganz und gar nicht. Nicht, dass Yū je der redseligen Spezies angehört hätte, aber derart ignorant verhielt er sich sonst nur... gegenüber dem Rest der Welt. Nicht gegenüber Lavi. Das war neu.

Lavi sah nach oben. Der Himmel war bespickt mit grauen, dichten Wolken, die jeden Moment ein Regenorchester einleiten könnten. Yū-chan war eine Drama Queen, die an wirklich allem etwas auszusetzen hatte. Sogar an dem Glück ihres besten Freundes. Yū gönnte ihm wirklich gar nichts. Nur weil er zu sozial inkompetent war, jemanden kennenzulernen, hieß das nicht, dass er das Recht hatte, Lavi dafür zu verurteilen. Wobei er ihn nie verurteilt oder direkt etwas dagegen gesagt hatte. Doch seine knappen Bemerkungen sprachen für sich.
 

Lavi stand vor der Wohnungstür. Als er den Schlüssel im Schloss drehte, bemerkte er, dass bereits aufgeschlossen war. Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür. Dann lächelte er.
 


 

. . . . .
 

»Deine... Spontanbesuche...« Lavi brach den Satz ab, um nach Luft zu japsen.

»Was ist damit? Magst du sie etwa nicht?« Die Stimme, die flüsternd an Lavis Ohren drang, bereitete ihm eine Gänsehaut. Er atmete noch einmal tief durch und ließ die Arme von dem warmen Nacken auf die Matratze sinken.

»Nein, sie... bringen mich nur bald um den Verstand.« Er lachte verlegen. Dann sah er in die gelben Augen, die er so sehr liebte. Diese Farbe hatte ihn schon vom ersten Tag an fasziniert.

»Wenn dir dein Verstand so heilig ist, hättest du mir niemals deinen zweiten Schlüssel geben sollen.«

Lavi fuhr sich durchs Haar. Es war noch verstrubbelter als sonst. »Nicht heilig genug, um darauf zu verzichten.« Lavi streckte den Kopf nach vorn und küsste die schmalen Lippen, von denen er nicht sattwerden konnte. Der Kuss wurde mit Verlangen erwidert. Lavi sank zurück aufs Kissen.

Tyki war das Beste, was ihm passieren konnte.
 

Tyki zog den Kopf zurück. »Yūs Sachen hast du zurückgebracht, oder?«

»Äh, ja.« Lavi fragte sich, warum er schon wieder darauf zu sprechen kam. »Ich hab‘ Allen gestern gesehen und ihm die Tüte mitgegeben.«

»Allen?« Tyki runzelte die Stirn.

»Ja, das... ist ein alter Klassenkamerad, der in Yūs Nähe wohnt.«

Tyki setzte sich prompt auf und beäugte Lavi skeptisch. Lavi ergänzte schnell: »Also, er ist nur zufällig draußen vorbeigelaufen, als ich Schnee geschippt hab‘.«

»Achso.« Lavi wagte sich nur in Gedanken mit den Augen zu rollen. Er hätte nicht gedacht, dass eine Beziehung unter dem Aspekt so anstrengend sein konnte. Er beobachtete, wie Tyki nach seinem Handy griff und auf das Display sah. Dann legte Tyki es wieder auf den Nachtschrank, stand auf und las seine Kleidung von Bett und Boden auf.

»...was ist?« Lavi legte den Kopf schief. Tyki knöpfte sein Hemd zu, während er antwortete:

»Ich hab‘ noch ein bisschen was zu tun. Wir Business-Typen sind nun mal auch im Urlaub beschäftigt.« Tyki zwinkerte Lavi zu, der ein enttäuschtes Gesicht machte. Es fiel ihm noch immer schwer, sich klarzumachen, dass sein Freund ganze acht Jahre älter war. Tyki schob sein Handy in die Hosentasche und ging auf Lavi zu. Er beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund.

»Morgen bring‘ ich mehr Zeit für dich mit, versprochen~«

Lavi schluckte. Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Er konnte diesem Mann einfach nichts übelnehmen. Er lächelte matt. »Okay. Bis morgen, Schatz.«
 

Tyki verschwand durch die Tür. Lavi seufzte leise und schlang die Bettdecke um sich. Er dachte darüber nach, Yū anzurufen. Der Tag war erst vierzehn Stunden alt. Vielleicht könnte er mit ihm ein bisschen Zeit totschlagen. Außerdem erinnerte er sich nicht einmal daran, wann er ihn zuletzt gesehen hatte. Irgendwann vor Weihnachten? Der Gedanke, ihn dieses Jahr noch gar nicht zu Gesicht bekommen zu haben, erschien ihm fast absurd.

Er dachte an Tyki. Dieser hatte regelrecht darauf bestanden, alten Ramsch - unter anderem auch Yūs Sachen - aus der Wohnung zu schaffen. Durch die Aufräumaktion war Lavis Zimmer zwar bewohnbarer als vorher, aber er ahnte, dass es Tyki nicht nur darum gegangen war.

Lavi sprang vom Bett und öffnete das Fenster. Er lehnte sich mit nacktem Oberkörper über die Fensterbank nach draußen. Es hatte schon wieder geschneit. Das gestrige Schneeschippen hätte er sich sparen können. Das Glatteis von vor drei Wochen wäre ihm fast lieber.

Er schloss das Fenster.
 


 


 

Eine Totenstille umgab ihn. In einer Bücherei eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber heute war es noch ruhiger als sonst. Auch nichts Ungewöhnliches - bei diesem Wetter wagten sich nur diejenigen nach draußen, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel.

Kanda sah um sich. Bis auf vier weitere Menschen erspähte er niemanden. Er wandte sich wieder dem Laptop zu und versuchte sich auf seine Hausarbeit zu konzentrieren. In einer Woche musste er sie fertiggestellt haben. Er hatte erst fünf von geplanten zwanzig Seiten geschrieben. Er hasste es, unter Zeitdruck zu stehen. Und er hasste es, dass Lavi dafür verantwortlich war. Er sollte ihm endlich die Tür einrennen und sagen, was Sache war. Dass Tyki nicht der Richtige für ihn war und er sich lieber einen Kerl in seinem Alter suchen sollte. Vielleicht jemanden, den er länger als einen Monat kannte. Jemanden, den er gut kannte und dem er vertrauen konnte. Jemanden wie-
 

»Du suchst dir immer die ungewöhnlichsten Treffpunkte aus.«

»Wieso, stört dich meine Spontanität?«
 

Kanda blinzelte. Hatte er diese Stimme nicht schon einmal gehört? Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie zu kommen schien. Er sah einen Mann, den er nicht kannte. Dessen Arm wurde von einer dunkelfarbigen Hand umgriffen. Sie zog den Mann näher zu sich. Kanda fixierte die beiden genau. Jetzt flüsterten sie nur noch. Der mit dem dunklen Teint hatte krausiges, schwarzes Haar und trug ein weißes Hemd. Kanda sah ihn nur von hinten. Aber das reichte völlig.

Kanda biss sich auf die Unterlippe und holte sein Handy hervor. Er drückte sich bis zu Lavis Namen, der in seinen Augen ähnlich wie eisiger Wind brannte. Sein Daumen bewegte sich auf den grünen Hörer zu. Kanda war nur einen Klick davon entfernt, das ganze Drama ein für allemal zu beenden.

Er schluckte. Er zog den Daumen zurück und war dabei, das Handy in der Tasche verschwinden zu lassen. Plötzlich klingelte es. Kanda sah flüchtig auf das Display. Er kniff die Augen kurz zusammen und drückte den Anruf weg. Die zwei Männer sahen zu ihm herüber. Er spürte ihre Blicke auf sich. Zum Glück saß er mit dem Rücken zu ihnen.

Kanda klappte den Laptop zu, klemmte ihn unter den Arm, krallte sich seine Jacke und lief geradewegs in Richtung Ausgang.
 

Zwanzig Tage waren vergangen, seit er Lavi zuletzt gesehen hatte. Lange genug, um jetzt mit guten Gründen etwas daran zu ändern.
 


 

-:-:-:-

ende kapitel zwei.
 

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It’s gonna be dramatic. 8D

Fällt mir echt schwer, Lavi so mies darzustellen, aber er ist sich ja in seiner Verliebtheit gar nicht bewusst, wie das, was er sagt, auf Kanda wirkt.^^‘ Moral dieser Geschichte: Verliebt euch nicht! xD
 

Liebe Grüße,

Fujouri
 

P.S.: Hausarbeitsauszug stammt aus abgemeldets Hausarbeit. ;)

Eine Ewigkeit

Er sah ihn. Mit einem Kerl, den er nicht kannte. Sein Brustkorb brach von einer Sekunde auf die andere in einen Krieg aus. Seine Hände begannen zu zittern. Die Tüte, die er festhielt, zu rascheln. Er schluckte den Kloß im Hals runter. Ihn überfiel die Idee, umzukehren und sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Er kam nicht dazu, sie umzusetzen.
 

»Hey, Yū!«
 

Die quirlige Stimme war nicht zu überhören. Sie nagelte seine Füße regelrecht an den Bordstein und zwang ihn dazu, sich dem Quatschkopf zuzuwenden. Lavi ließ die Hand des Typen los und lief schnellen Schrittes auf Kanda zu. Sein Gesicht strahlte förmlich.

»Was machst du um die Uhrzeit schon draußen? Wir haben Ferien, schlaf doch aus!«

»...ich war einkaufen«, sagte Kanda irritiert und hob die Tüte an. Der Kerl, den Lavi im Schlepptau hatte, war inzwischen zu den beiden gekommen, neben Lavi stehengeblieben und hatte Kanda starr in die Augen geschaut. Kanda versuchte den Blicken auszuweichen und sich auf Lavi zu konzentrieren.

»Und warum schläfst du nicht aus?« Er hörte sich die Frage teilnahmsloser als gewollt aussprechen. Er zwirbelte den Zeigefinger mehrfach um den Henkel der Tüte, so fest, dass er ihm das Blut abschnürte. Er beobachtete, wie sich Lavis Wangen rosa färbten.

»Wir waren nur etwas spazieren«, sagte er und grinste verlegen.

Der Kerl an seiner Seite drängte sich ein wenig vor ihn. »Möchtest du uns nicht bekanntmachen?«

Lavi sah zwischen ihm und Kanda hin und her. Dann setzte er diesen für ihn typischen Blick auf, der zeigte, dass er seinen Kopf am liebsten gegen eine Wand schlagen würde. Stattdessen griff er nur an diesen. »Aw, ich bin so blöd! Ihr kennt euch ja noch gar nicht!«

Er gestikulierte mit den Armen. »Schatz, das ist Yū - mein bester Freund. Wir kennen uns schon, seit wir so klein waren!« Er hielt die Handfläche auf die Höhe seiner Hüfte. Kanda runzelte die Stirn.

»Stell mich nicht mit diesem Namen vor«, meinte er. Dabei hatte er etwas zu trotzig geklungen. »Ich heiße Kanda, merk‘s dir endlich!«

Lavi seufzte und wandte sich seinem Schatz zu. »Er hasst seinen Vornamen, deshalb versucht er jedem seinen Nachnamen anzudichten. Und das schon sein Leben lang.« Er drehte sich wieder zu Kanda. »Dabei ist das soo~ kindisch, Yū-chan!«

»Und trotzdem hört jeder drauf. Außer dir.«

Lavis Antwort bestand aus einem Grinsen. Das Zittern der Hände war abgeklungen. Der feste Zug um den Finger ließ nach. Kanda atmete leise aus.

»Naja, also...« Lavi machte eine kurze Pause. »Yū, das ist Tyki, mein Freund. Seit stolzen zwei Tagen!«

Erst jetzt wagte Kanda, die Augen auf Lavis Begleiter zu richten. Der dunkle Teint und die markanten Gesichtszüge ließen Kanda spontan auf einen Italiener schließen. Der Kerl war mindestens fünf Jahre älter. Er lächelte ihn freundlich an. Dann streckte er seine offene Hand aus und hielt sie ihm hin. Kanda starrte einen kurzen Moment auf die Hand, bevor er der Geste zögernd nachging.
 

»Freut mich, dich kennenzulernen,
 

Kanda fixierte den Blick auf die gelben Augen. Sie blitzten auf. Die grauen Wolken ließen keine Sonne zu. Das betonte ›Yū‹ hätte sich der Mistkerl sparen können.

»Ja, freut mich«, sagte Kanda knapp und wandte sich schnell wieder Lavi zu. Der Anblick dieses schmierig-freundlichen Lächelns war ihm zuwider. Lavi sah zu Boden, dann schaute er zu Kanda auf.

»Sorry, dass ich dich noch nicht angerufen und dir die Ohren abgequasselt habe, aber« Er wandte sich flüchtig zu Tyki, »ich bin gar nicht dazu gekommen.«

»Hab‘ ich dich zu sehr in Beschlag genommen?« Er lachte und legte den Arm um Lavis Schultern. »Das tut mir leid.«

Kanda hasste ihn.
 

»Wie sieht’s mit der Hausarbeit aus?«

Lavi legte den Kopf schief. Kanda führte aus: »Naja, die, die ich über die Ferien noch schreiben muss. Du wolltest mir helfen, weißt du noch?«

Er kam sich vor, als wäre alles, was er sagte, provokant zu verstehen. Das mochte daran liegen, dass er es auch genauso meinte. Zum Glück schien Lavi das nicht herauszuhören.

»Ah, nein, das hab‘ ich nicht vergessen. Ich hab‘ am Sonntag Zeit, da können wir uns draufstürzen.«

Tyki nahm den Arm von Lavis Schulter. Kanda sah ihm unfreiwillig ins Gesicht. Die gelben Augen waren zu Schlitzen geschmälert und auf Lavi gerichtet. Dann öffneten sie sich wieder ein Stück. Ein enttäuschter Ausdruck machte sich bemerkbar. »Die Arbeit geht vor das Vergnügen, was?«

Ein fälschlich enttäuschter Ausdruck. Lavi warf sofort ein: »Ach was, wir werden schon nicht den ganzen Tag brauchen. Wir können uns danach immer noch treffen, Schatz! Stimmt’s, Yū?«

Kanda konnte den Blick nur mit Mühe von diesem Mistkerl nehmen. »Ja, vermutlich«, sagte er monoton.

»Also, dann bis Sonntag. Ciao~«

Er kam nicht zum Antworten. Lavi hatte sich sofort bei Tyki eingehakt, der sich bereits zum Gehen umgewandt hatte. Kanda ballte die Faust.
 


 

. . . . .
 

Kanda stampfte durch den Schnee und focht einen Kampf mit seinen Gedanken aus. Er wusste genau, wer der Typ in der Bücherei gewesen war. Er hatte sich nicht vergewissern müssen. Vor dreiundzwanzig Tagen hatte er dem Kerl lange genug auf den Rücken gestarrt, während dieser mit Lavi am Arm die Straße entlanggelaufen war. Nicht zu vergessen diese raue, schleimspurtriefende Stimme, die sich tief in sein Gehirn gebrannt hatte.

Kanda hatte genug gesehen, um Gründe zu haben, einen Schlussstrich zu ziehen. Oder vielmehr dafür zu sorgen, dass Lavi einen Schlussstrich zog. Er war nur einen Anruf davon entfernt.

Kanda umfasste das Handy in der Jackentasche.

Lavi sollte nicht verletzt werden. Er war zwar ein ziemlicher Idiot, aber nicht die Sorte von Idiot, die sowas verdient hat. Nicht einmal im Entferntesten. Er war vielmehr die Sorte von Idiot, die nicht von selbst erkennen kann, dass sie hintergangen wird. Und gerade deshalb einen Anspruch auf die Wahrheit hat.

Kanda holte das Handy aus der Jackentasche.
 


 


 

»Das ist also dein bester Freund.«

Lavi hatte sich bei Tyki eingehakt und war mit ihm auf dem Heimweg. »Jap.«

»Und, was macht er so? Studieren anscheinend.« Lavi sah zu Tyki auf. Es wirkte, als würde dieser viel eher mit sich selbst reden. Die gelben Augen waren fest geradeaus gerichtet.

»Ja, Japanologie. Total sinnlos, was? Also, das Fach. Damit kann man doch später überhaupt nichts machen! Aber neeein~, Yū-chan wollte ja unbedingt irgendwas machen, was mit seiner Muttersprache zu tun hat. Ich hab‘ versucht, es ihm auszureden, aber das hätt‘ ich mir gleich sparen können - er ist so stur! Versuch dem einer mal was aus dem Kopf zu schlagen, das klappt nie und nimmer!«

Lavi hatte sich bei Tyki ausgehakt und wild mit den Armen herumgefuchtelt. Er könnte noch stundenlang so weitermachen. Als ihm Tykis deutlich irritierter Blick auffiel, ließ er die Arme sinken. »Naja, wie auch immer«, seufzte er und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Er wusste gerade nicht, wohin damit.
 

»Tja, also« Die beiden waren in den zweiten Stock gelaufen. Lavi schloss die linke Tür auf und trat mit Tyki ein, »das ist meine kleine bescheidene Wohnung. Nichts Besonderes, aber immerhin muss ich mir nicht mit irgendwem Fremdes eine teilen, so wie die meisten anderen Studenten.«

Er überlegte noch hinzuzufügen, dass er ursprünglich mit Yū zusammenziehen wollte, ließ es dann aber bleiben.

»Ein bisschen unaufgeräumt, was?« Tyki lief den schmalen Flur entlang und lugte in das Schlafzimmer. Lavi lachte. »Hast du was anderes von mir erwartet?«

Tyki kam auf ihn zu und hob sein Kinn auf seine Augenhöhe an. »Absolut nicht«, flüsterte er fast, und Lavi spürte Hitze in die Wangen steigen. Er schluckte, musterte jeden einzelnen Winkel von Tykis Gesicht und wich dann einen Schritt zurück. Dieser Mann brachte ihn noch um den Verstand.

»A-Ach ja!« Lavi drehte sich demonstrativ um und griff nach dem Wohnungsschlüssel, der auf der Oberfläche eines Schrankes lag. Er hielt ihn Tyki vor die Nase. »Hier. Mein Zweitschlüssel für die Wohnung. Ich hab‘ keine Verwendung für ihn, also dacht‘ ich, ich geb‘ ihn einfach dir.«

Er grinste und erwartete gespannt Tykis Reaktion. Dieser machte einen ziemlich verblüfften Eindruck. Zögernd hob er die Hand und nahm den Schlüssel entgegen. »...womit habe ich denn das verdient?«

Lavi fuhr sich durchs Haar und sah kurz zur Seite. Dann suchte er wieder Blickkontakt. »Na, schließlich bist du hier immer willkommen. Du sollst hier nicht wie ein Fremder extra klingeln müssen, um reinzukommen.«

Lavi überkam ein seltsames Gefühl, als er diese Worte formulierte. Etwas derart Schnulziges hatte er noch nie zu jemandem gesagt. Außer zu Yū vielleicht. Aber das auch nur, weil man als Antwort nicht mehr als ›Che‹ zu befürchten hatte. Und weil er sein bester Freund und nicht sein Liebhaber war. Zu besten Freunden kann man so etwas schließlich bedenkenlos sagen.
 

»Freut mich, dass du so denkst, Lavi.«

Tyki ging den Schritt nach vorn, den Lavi zuvor zurückgewichen war. Und noch einen weiteren. Lavi wusste nicht, wie ihm geschah, als Tyki ihn plötzlich in seine Arme zog und die Lippen auf seine drückte. Er drängte ihn ins Schlafzimmer, und Lavi wäre dabei fast über seinen eigenen Ramsch gestolpert. der auf dem Boden lag. Tyki packte den Saum seines Pullovers, und Lavi hob bereitwillig die Arme. Tyki streifte ihm das Kleidungsstück ab und knöpfte sein Hemd auf. Er dirigierte ihn zum Bett und sank mit ihm auf die Matratze. Lavi legte den Kopf schief, als Tyki den Kuss löste und auf seinen Ellenbogen schielte.

»Nicht mal dein Bett hältst du ordentlich«, sagte Tyki leicht schmunzelnd und nahm den Gegenstand, auf den er sich versehentlich gestützt hatte, zur Hand. Lavi blieb die Luft stehen, als er die Taschenrechnerklappe sah. Tykis Blick wurde zunehmend ernster. Er studierte die Rückseite und fuhr mit dem Finger über die eingekratzten Buchstaben.

»Was ist das?«, fragte er stirnrunzelnd.

Lavi wollte ihm die Klappe vorsichtig aus der Hand nehmen, aber Tyki zog diese grinsend zurück.

»Ich hab‘ Yū mal ‘nen Taschenrechner geschenkt. Er hat ihn dann hier vergessen und, naja, seitdem liegt er hier rum. Das ist nur die Klappe.« Lavi lachte. »Ich denk‘ nie dran, Yū sein Zeug zurückzugeben, hier stapelt sich so vieles von ihm.«

»Und was hast du da reingekratzt?« Mal wieder wurde Lavi bewiesen, dass seine Schrift für jeden normalen Menschen unlesbar war. Vor allem der dritte Schrecklichkeitsgrad, wie Yū ihn zu nennen pflegte.

»Für meinen Mathe-Noob«, murmelte er und dachte daran zurück. »Yū ist so schlecht in Mathe, ich wollte ihn nur damit aufziehen.«

Er beobachtete, wie Tyki sich verkrampft auf die Buchstaben konzentrierte. Er schien keinen einzigen entziffern zu können. Schließlich gab er es auf und legte die Klappe beiseite. »Du bist ein unheimlich schlechter Graveur.«

Tyki beugte sich nahe zu Lavis Ohr herab. »Wird langsam Zeit, dass du hier ein bisschen aufräumst. Ich mag Unordnung nicht so gerne~«

Der heiße Atem ließ Lavi erschaudern. Er nickte mechanisch und fühlte sich von der rauen Stimme ganz und gar eingenommen.

»Vor allem Yūs Sachen.«

Noch bevor er etwas dazu sagen konnte, hatte Tyki ihn in einen Kuss verwickelt, der ihn alles andere vergessen ließ.
 


 

. . . . .
 

Weggedrückt. Yū hatte ihn einfach weggedrückt. Versehentlich? Nein. Wohl eher absichtlich. Wie sollte so etwas auch versehentlich passieren, wenn man sieben Jahre lang dasselbe alte, farb- und kameralose Handy benutzte?

Lavi schaute schon eine ganze Weile auf sein Display. Auf den erhofften Rückruf schien er vergebens zu warten. Yū sollte sich eigentlich darüber freuen, dass Lavi sich mal wieder bei ihm meldete. Schließlich lag das letzte Mal schon ein paar Wochen zurück - abgesehen von dem Brief in der Tüte, die Allen ihm gebracht hatte. Lavi schob eine Haarsträhne hinters Ohr. Es würde Yū zwar nicht ähnlich sehen, aber vermutlich wäre es falsch, auszuschließen, dass er sauer auf ihn war. Oder zumindest ein kleines bisschen eingeschnappt. Oder eifersüchtig. Das würde ihm noch weniger ähnlich sehen.

Lavi schüttelte den Kopf. Er sollte ihn noch einmal anrufen und nachfragen. Er drückte sich durch die Namensliste und zögerte kurz, bevor er ›Yū-chan‹ anklickte. Selbst sein Telefonbuch machte nicht vor diesem Spitznamen halt. Er legte das Handy ans Ohr und durfte das Freizeichen bescheidene zwei Mal hören, ehe er erneut weggedrückt wurde. Allmählich fühlte er sich auf den Arm genommen.

Plötzlich klingelte es an der Tür.
 


 


 

Die Tür wurde ihm so kraftvoll vor der Nase aufgerissen, dass ihm ein Luftzug durch den Pony wehte.

»Drehen Sie Ihre scheiß Alice-Monatsflatrate* jemand ander-... Woah, Yū, du bist’s!«

Kanda brauchte ein paar Sekunden, bis er die seltsame Begrüßung registriert hatte. »Gut erkannt, Baka.«

Lavi plusterte die Wangen. »Was soll das eigentlich, warum drückst du mich die ganze Zeit weg? Bist du sauer auf mich oder-«

Er brach den Satz ab. Kandas starrer Blick regte sich kein bisschen. Er drängte sich kurzerhand an Lavi vorbei in die Wohnung und drehte sich, als er hinter ihm stand, zu ihm um. »Hattest du ‘nen schönen Tag gehabt?«

Lavi blinzelte auffällig. Kanda musste zugeben, dass die Frage ohne jeglichen Zusammenhang ziemlich bescheuert klang. Lavi schien sie jedenfalls zu verwirren.

»Äh, ja, schon. Bis auf deine Wegklickaktionen und die dummen Alice-Werbetypen, die heute schon zwei Mal hier waren! ...warum fragst du?«

Kandas Mund war trocken geworden. »Weil ich ihn dir gleich versauen muss, deshalb.«
 

Ein schwarzer Stein leuchtete inmitten des plattgelaufenen Schnees auf. Kanda blieb vor ihm stehen und kickte ihn nach vorn. Er kullerte wenige Meter über den Bürgersteig. Dann rollte er zur Seite und fiel durch das Gitter eines Kanaldeckels. Kanda seufzte innerlich.

»Ich glaub‘ dir kein Wort!«

»Es ist doch nur, weil du ihn nicht magst.«

»Statt so einen Mist zu erfinden, kannst du auch gleich sagen, dass du eifersüchtig bist.«

Er passierte in Gedanken jeden Satz einzeln ab, den Lavi ihm an den Kopf geworfen hatte. Solche scheuklappensichtigen Bemerkungen entsprachen gar nicht seiner Art. Lavi war auch die Sorte von Idiot, die die Wahrheit nicht hören will.

Immerhin hatte Kanda dafür gesorgt, dass Lavi einen Schlussstrich zog. Wenn auch nicht den vorgesehenen.
 


 


 

»Der rührt dich doch total mit seinen Schmeicheleien ein.«

»Hat er jemals irgendwas Nettes zu dir gesagt, ohne dich danach ins Bett zu schleifen?!«

»Wenn du mir nicht glaubst, findest du’s früher oder später eh selbst raus.«

Sein sonst eher stiller bester Freund hatte ihm regelrecht die Ohren abgekaut, um ihn von einer Wahrheit zu überzeugen, die es nicht gab. Lavi hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass Yū zu solchen Lügereien imstande wäre. Und er wollte es auch jetzt nicht denken. Aber blieb ihm eine andere Wahl?

Lavi saß auf der Bettkante und dachte an die Rückseite der Klappe. Er fragte sich, wie es möglich war, dass ein Mensch auf diesem Planeten existierte, der seine Schrift problemlos lesen konnte. Selbst er hätte Probleme, das ›Noob‹ auch als solches zu erkennen, wenn er nicht wüsste, dass es dastand.

Lavi warf sich rücklings auf die Matratze und fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Es war ganz heiß. Er bekam Kopfschmerzen. Er sprang auf und lief geradewegs in die Küche. Seine Hand griff nach dem Telefon. Seine Finger tippten eine Nummer ein, die er schon seit fünfundzwanzig Tagen auswendig konnte. Sein Brustkorb bebte förmlich.
 


 

.

.
 

Kanda blickte erstaunt in das Gesicht seines besten Freundes. Nachdem er ihm die Tür geöffnet hatte, schwiegen erst einmal beide. Nach kurzer Zeit bekam Kanda ein leises »Lavi« heraus. Dieser schaute stumm zur Seite und schien sich nicht zu wagen, Kanda in die Augen zu sehen. Er lächelte matt. Endlich sagte er etwas:

»...du hattest Recht. Tut mir leid, dass ich’s dir nicht glauben wollte.«

Die Stimme drang gebrochen an Kandas Ohren. Dieses demütige Wimmern stand Lavi ganz und gar nicht. Kanda packte ihn kurzerhand am Handgelenk und zog ihn in die Wohnung. Er trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu und legte einen Arm um die bebende Schulter. »Baka...«, murmelte er und führte Lavi ins Zimmer.
 

Lavi war von einer Sekunde auf die nächste in einen Sturzbach von Tränen ausgebrochen. Er hatte sich im Schneidersitz aufs Bett gehockt und ein Taschentuch nach dem anderen vollgeschnäuzt, deren Packung ihm Kanda vom Schreibtisch aus zugeworfen hatte. Dieser hatte sich derweil falschherum auf den Bürostuhl gesetzt und war etwas näher zu Lavi gerollt.

Kanda seufzte. Irgendetwas in ihm wollte, dass er weiterhin sauer auf Lavi war. Und das, obwohl er im Moment nur Mitleid empfand. Er kannte ihn schon viele Jahre und hatte ihn noch nie derart am Boden zerstört gesehen. Er wusste nicht so recht, wie er mit einem heulenden Lavi umgehen sollte. Aber bevor er sich darüber weitere Gedanken machen konnte, begann Lavi zu reden:

»Oh Mann, ich bin so egoistisch, Yū... es tut mir so leid, was ich dir alles vorgeworfen habe... und überhaupt, dass ich mich kaum noch bei dir gemeldet hab‘ und... ach, halt‘ mich am besten in Zukunft von allen Typen fern, die nicht Yū-chan heißen!«

»Dann wirst du einsam sterben«, murrte Kanda. Die Hoffnung, Lavi würde sich jemals diesen Spitznamen abgewöhnen, war schon lange gestorben.
 

»Hast du dich jetzt die ganzen vier Tage über zu Hause verschanzt und diesem Mistkerl nachgetrauert?« Kanda strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Hättest ja auch mal anrufen können.«

»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Aber ich hab‘ nicht nur getrauert!« Lavi zog aus seiner Jackentasche, die anscheinend groß genug dafür war, eine Menge zusammengefalteter Blätter heraus.

»...ich hab‘ deine Hausarbeit fertiggeschrieben.«

Kanda dachte, er hätte sich verhört. »W-Was?«

Lavi fasste sich an den Hinterkopf. »Ich dachte, mindestens das bin ich dir schuldig. Außerdem war es ‘ne echt gute Ablenkung. Und ich hatte überhaupt keine Ahnung vom Thema, bestimmt ist die Hälfte falsch. Ich hab’s aber mit der Hand schreiben müssen, mein PC ist doch kaputt. Weißt du ja.« Lavi faltete eines der Blätter auf, hielt es hoch und lachte dümmlich. »Dritter Schrecklichkeitsgrad, was? Das kann kein Mensch lesen.«

Kanda rollte noch ein Stück näher ans Bett heran, sodass er Lavi direkt gegenübersaß. Er zog ihm das Papier aus der Hand und überflog den Text. Lavi schaute ihn abwartend an. Kanda sah nach kurzer Zeit auf und erwiderte den Blick. »Che. Soll das heißen, dass ich kein Mensch bin?«

Er faltete das Blatt wieder zusammen und klemmte es zwischen zwei Finger. »Du bist und bleibst ein Idiot, Lavi.«

Plötzlich stand Lavi auf und schlang die Arme um Kandas Hals. Er umarmte ihn so fest, dass es beinahe wehtat. Kandas Augen waren weit aufgerissen. Keiner der beiden sagte etwas.
 

Vielleicht war Lavi der einzige Mensch auf Erden, der Kandas Sätze in ihre eigentliche Bedeutung übersetzen konnte. Vielleicht der einzige Mensch, der wusste, dass man ›ein Idiot‹ auch durch andere Worte austauschen konnte.

Nicht vielleicht. Ganz sicher.
 


 

-:-:-:-

ende kapitel drei.

__

an wessen seite

e n d e.
 

---
 

*Klingeln bei euch an der Tür nicht auch manchmal diese Futzis, die einen überreden wollen, Alice-Kunde zu werden? xD
 

Das war’s auch schon.^^ Die Geschichte wäre vermutlich länger geworden, aber ich musste mich an die 3-Kapitel-Begrenzung der Wichtelaktion halten. Hat jedenfalls trotz Zeitdruck Spaß gemacht. ;)

Ach, und: Welches Pairing hab‘ ich hier nun eigentlich umgesetzt? - Richtig: Überhaupt keines. xD Um Lavi und Kanda nach so einer Tragödie zu verkuppeln, hätte ich mindestens sieben Kapitel gebraucht, glaube ich... aber so, wie’s jetzt ist, ist es mir auch lieber.

Danke fürs Lesen.
 

Liebe Grüße,

Fujouri



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Kommentare zu dieser Fanfic (24)
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Von:  Mismar
2011-03-31T09:29:48+00:00 31.03.2011 11:29
Ja, Japanologie. Total sinnlos, was >D Genau meine Worte! Nein, ich denke in Japan sieht das anders aus als hier.

Wie schön Lavi sich aber aufregen kann deswegen, Zukunftspläne geschmiedet? ;D Von wegen: Wie willst du uns hinterher ernähren können. Süß <3

Uhm, ich bin jetzt total sprachlos
Ganz ehrlich? Eigentlich habe ich diese Geschichte nur gelesen, weil dein Schreibstil so toll ist (und ich bleibe dabei, ich würde alles von dir lesen)
Aber diese Geschichte war wahnsinnig tiefsinnig, zumindest für mich. Ich fand die Mischung zwischen Freundschaft und Liebe so schön und einfach alles, wirklich alles hat seinen Weg hierhin gefunden, am Anfang habe ich mich gefragt, was der Taschenrechner und Lavis miese Schrift mit allem zutun haben, aber am Ende hatte das alles so eine Bedeutung, besonders diese Bettszene hat mir gefallen, als Tyki meinte, er solle demnächst Kandas Kram wegschaffen. (abgesehen davon hast du wundervoll beschrieben, wie toll er ihn ausgezogen hat ;D) und das Ende war echt niedlich, also als Fangirlie würde ich sagen: Macht rum! Sofort XD aber da habe ich eigentlich nur gedacht, wie schön Freundschaft doch sein kann, besonders nach so einer Sache ^.^
Also ich bin voll und ganz begeistert von der Geschichte gewesen, hoffentlich kommen noch gaaaanz viele Projekte von dir.
Von:  Mismar
2011-03-28T22:26:56+00:00 29.03.2011 00:26
Dieses Kapitel war genauso gut wie das davor, fast XD vom Stil gefiel mir das vorige besser, aber hier ist mehr Dramatik drin und ich liebe den Sarkasmus, der hier einfließt. Und vor allem muss ich eines sehr stark loben: Die homosexuellen Beziehungen, wie du sie darstellst, sind nicht so fucking schwul, dass man sich gleich fragt, ob das mutierte Fangirlies sind, die ihre kranken Fantasien ausleben *lach* nein, ich finde es geradezu perfekt, obwohl das mit Schatz etwas unerwartet kam, egal, ich bin kein Mann und schon kein schwuler, um zu wissen, wie ich meinen Partner betitle.
Also eine Kleinigkeiten sind mir aufgefallen an Fehlern (Hurra *sich stolz auf die Brust schlägt* ich habe was gefunden)
-> Ich glaub‘ nicht, dass du da mitwillst. <- ich bin selbst verwundert, aber der Duden sagt, dass „mitwollen“ getrennt geschrieben wird o.o
Ansonsten toll wie immer, ich liebe alles einfach nur <3
Von:  Mismar
2011-03-28T18:53:53+00:00 28.03.2011 20:53
Ja, das hat mir sehr gefallen, obwohl ich erst über den Brief schockiert war XD egal, der Stil ist umwerfend, aber hier gab es einen kleinen Abschnitt, der mir vom Stil wegen dem "hatte" nicht gefallen hatte, weil dieses Hilfsverb eindeutig zu oft vorkam und es vom Klang her weniger schön war, aber das waren nur vier Sätze, wenn ich mich recht entsinne, ansonsten war wieder alles geil, obwohl es nicht einmal storyauftreibend ist, ließt man solche Handlungen bei dir sehr gerne
Von:  Rabbit
2011-02-16T20:14:41+00:00 16.02.2011 21:14
Hach ich liebe deine tollen FanFics und natürlich dein Gehirn! *lol*

Auch wenn es am Ende kein richtiges Pairing gab, bin ich dennoch sehr mit dem Schluss zufrieden. <3
Ja, der Einzig Wahre ist der, der deine hässliche Schrift lesen kann und dich auch ohne Worte versteht. > U <
Ich liebe das Ende!
Von:  Ibogaeru
2011-02-02T16:12:19+00:00 02.02.2011 17:12
Ein sehr schönes Ende. Auch wenn du dich "kurz fassen" musstest, ist die FF sehr gelungen und gut geschrieben.
Und das es kein typisches Happy End gibt, finde ich toll. Das hat nichts von so einem Einheitsbrei!
lg
Von:  Nana--chan
2011-02-02T14:24:55+00:00 02.02.2011 15:24
Ein echt schönes Ende, auch wenn bzw. gerade weil es so offen ist =)
Die Rückblenden haben gut gepasst und wie immer - super geschrieben ;D

Also bei mir haben die noch nicht geklingelt xDD

*Kekse da lass*
Von:  Kalahari
2011-02-01T22:18:57+00:00 01.02.2011 23:18
ich fand das ende richtig richtig gut gelungen
die rückblicke waren sehr informativ und haben enrom spannung erzeugt, weil sie die eigentliche handlung herausgezögert haben^^
das lavi yu nicht sofort geglaubt hast is auch serh überezugend, allerdings hätte ich schon gerne gewusst, wie lavi jetzt genau dahinter gekommen ist
das ende war auch richtig niedlich.. ich find es gut, dass du die sache mit der schrift aufgegriffen hast.. und das yu sie dann wie immer doch lesen kann :3
ingesammt is das ende einfach nur niedlich.. wie lavi ihn umarmt... und auch wenn die beiden nicht zusammen gekommen sind is das ende soweit offen, dass man sich doch das ein oder andere noch dazu denken kann, dass find ich gut^^
es is zwar schade, dass es schon vorbei ist und du nicht so ein bisschen mehr geschrieben hast, aber das was letztendlich hier herausgekommen ist ist auf jeden fall gelungen und zufriedenstellend^^
Von: abgemeldet
2011-02-01T22:03:00+00:00 01.02.2011 23:03
Also ich finde, du hast das Kapitel genau richtig umgesetzt und gerade deshalb ist es keine 0815 Story. :P
In so einer wären die beiden nämlich zusammengekommen. Aber so gefällts mir auch ziemlich guut, auch wenn ich normalerweise romantische Happy Ends mit Liebesgeständnis süßer finde. :D
Aber wirklich nice. :)
LG
Von:  Ibogaeru
2011-01-23T15:40:27+00:00 23.01.2011 16:40
Ein schön spannendes Kapitel, besonders am Ende!
Aber Lavi ist wirklich ein bisschen fies, auch wenn man es irgendwie nachvollziehen kann... trotzdem!
Bin schon gespannt, wie es weitergeht^^
lg
Von:  Rabbit
2011-01-23T12:08:30+00:00 23.01.2011 13:08
Oha es geht weiter! * U *
Gott möge dieses Kapitel segnen... (LOL)

Armer Yuu. Da ist Lavi ehrlich mies... Lässt ihn mit den Hausarbeiten alleine und so. > _<
Aber Liebe macht ja blind, huh? /D

Übrigens kann ich solche Typen nicht ab die so mega eifersüchtig sind eh.... Und das scheint Tyki ja zu sein. Damn! DX
Und dann anscheinend noch nebenbei'nen anderen haben? (Man munkelt, man munkelt!)
Hoffe Lavi hört auf Yuu... Wenn nicht denn Pech, wenn er es auf die harte Tour erfährt. > _<"


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