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How to love you

- Wie man sich einen Psychopathen angelt.
von

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Photograph

Es war ein ganz normaler Morgen über dem Atlantik. Die Sonne, die vom strahlend blauen Himmel herab lachte, zauberte Lichtreflexionen auf die Wellen. Nur eine leichte, kühle Brise wehte vom Meer her auf die Küste zu, entsprechend ruhig ging die See in jener Stunde. Möwenkreischen erfüllte dort, wo das Wasser das Land berührte, die Luft.
 

Von all diesen Dingen jedoch bekam die Besatzung des riesigen Hightech-Unterseebootes, das den Namen Tuatha De Danann trug und hunderte Meter unter der Meeresoberfläche, kilometerweit vom Küstenstreifen entfernt durch den tiefblauen Ozean zog, denkbar wenig mit. Die Existenz eines U-Boots von solch gigantischen Ausmaßen entzog sich nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Vorstellungsvermögen der meisten Leute. Genau genommen hätten die der Menschheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannten technischen Standards diese Konstruktion auch gar nicht hergegeben.

Dennoch hatte jemand - genauer gesagt die international agierende Söldnerorganisation Mithril - besagtes U-Boot gebaut. Die Möglichkeit dazu war nur einem einzigen Umstand zu verdanken: dem Auftauchen der Whispered.
 

Whispered, das sind im Grunde Menschen wie du und ich, zumindest äußerlich. Besonders an ihnen ist eigentlich nur das, was sich in ihrem Kopf befindet. Aus bis zum gegenbenen Zeitpunkt noch unbekannten Gründen hat ein jeder Whispered nämlich - meist ohne sich dessen bewusst zu sein - in seinem Gehirn Wissen über die "Schwarze Technologie" gespeichert.

Unter dem Begriff der "Schwarzen Technologie" werden allerhand mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten oder Modelle zusammengefasst, die ihrer Zeit um mindestens zehn Jahre voraus sind.
 

Wie bereits angedeutet, war niemandem wirklich klar, wer die Whispered eigentlich waren und wie sie hatten entstehen können. Das lag unter anderem wohl daran, dass diese Fragen für die Welt, wie sie eben war, bestenfalls sekundäre Relevanz hatten. Besagte Welt befand sich schon seit Jahrzehnten im Zustand des kalten Krieges, gekennzeichnet durch ein ständiges Wettrüsten, dessen Erzeugnisse im Rahmen von Stellvertreterkriegen - meist als Bürgerkriege getarnt - in kleinen, unterentwickelten Ländern dem Feldtest unterzogen wurden.
 

Entsprechend fokussierte das primäre Interesse der Supermächte an den Whispered sich eher auf die Frage, wie man die Schwarze Technologie kurzfristig und effizient aus ihren Köpfen heraus bekommen und für die neusten Waffen- und Verteidigungssysteme nutzbar machen konnte. Die Tatsache, dass die betreffenden Personen im Zuge der dazu notwendigen medizinischen Untersuchungen und Laborversuche meist starben oder zumindest vollkommen wahnsinnig wurden, tangierte die Verantwortlichen eher peripher.

Es ging schließlich um viel Macht und noch viel mehr Geld. So ein Whispered war auf dem "freien Markt" in Konsequenz all dieser Fakten und Zusammenhänge einiges wert - die Rede ist von Beträgen in sechsstelliger Höhe.
 

Natürlich unterzogen die Whispered sich den erwähnten Untersuchungen angesichts der drastischen persönlichen Folgen nicht freiwillig. Sie wussten selbst ja meist nicht einmal, dass es sich bei ihnen um Whispered handelte, oder auch nur, was so ein "Whispered" überhaupt ist, denn strenge Geheimhaltung solch sensibler Informationen versteht sich in einer vom kalten Krieg geteilten Welt von selbst.
 

Es mag im Lichte der damit verbundenen finanziellen Möglichkeiten aber nicht verwundern, dass sich innerhalb kürzester Zeit Leute fanden, die - allesamt mehr oder minder erfolgreich - Jagd auf die Whispered machten, um sie gewinnbringend zu verkaufen. Dazu gehörte, dass man die Whispered erstens aufspürte und zweifelsfrei als solche identifizierte, und sie zweitens entführte und gegen ihren Willen zu den geneigten Käufern brachte.

Dennoch gab es, zum Glück der Whispered, auch andere, die dieses Vorgehen für moralisch höchst kritikwürdig befanden und deswegen Maßnahmen dagegen ergriffen. Selbstverständlich waren genannte Maßnahmen ebenfalls militärischer und somit gewalttätiger Art, wenngleich hier immerhin der Zweck nobler erscheint.
 

Zu diesen anderen gehörte auch die besagte Söldnerorganisation Mithril, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die unter den weltweit tobenden Konflikten leidende Zivilbevölkerung im Allgemeinen und die Whispered im Besonderen zu schützen. Natürlich machte auch Mithril dabei zwangsweise von Schwarzer Technologie Gebrauch, denn ohne deren Anwendung wäre die durchaus als paramilitärisch anzusehende Gruppierung nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen durchzusetzen.

Entsprechend brauchte auch Mithril die Whispered. Allerdings nutzte die Organisation deren Fertigkeiten auf einer etwas anderen Kooperationsbasis: nämlich auf freiwilliger.
 

Whispered haben, abgesehen von der Sache mit dem geheimen, mysteriösen Wissen in ihren Köpfen, schließlich noch weitere Vorzüge. Sie sind in allen Fällen, in denen sie nicht frühzeitig eines politisch motivierten Todes sterben oder in einem Irrenhaus landen, überdurchschnittlich intelligent und zu extremen geistigen Leistungen fähig, vor allem auf den Gebieten der Mathematik und Physik. Außerdem können sie telepathische Verbindung zueinander aufbauen lernen und einander somit erkennen sowie in Kontakt miteinander treten, aber dazu zu gegebener Zeit mehr.
 

Das eingangs angesprochene Hightech-Unterseeboot, die Tuatha De Danann, war folgerichtig von einem oder besser gesagt einer im Dienst bei Mithril befindlichen Whispered entworfen worden. Konsequenterweise hatte man eben jene Whispered nach Fertigstellung zum Kapitän des U-Bootes ernannt - wobei dieser Umstand auch damit zusammenhängen konnte, dass sie eng blutsverwandt mit Leuten aus den oberen Führungsetagen der Organisation war.

Sie trug den klangvollen Namen Tessa Testarossa. Trotz ihres zarten Alters - sie hatte die Kommandatur über das Boot mit Erlaubnis ihres Onkels noch vor Abschluss der Volljährigkeit übernommen - und ihrer eher schwächlichen körperlichen Konstitution kannte und beherrschte sie ihr Schiff im Schlaf. Genau dafür wurde sie von der großteils männlichen Besatzung als Führungsperson anerkannt, dank ihres resoluten Einsatzes für die Sache Mithrils respektiert.
 

Dieser Einsatz rührte teils wohl von ihrem familiären Hintergrund her, teils von ihrem verantwortsvollen und pflichtbewussten Charakter sowie schlussendlich von der schicksalhaften Fügung, dass sie nun einmal selbst eine Whispered war, was sie dazu motivieren mochte, anderen ihrer Art ein qualvolles, menschenunwürdiges Ende zu ersparen.

Eine große Portion Motivation brauchte sie auch, denn trotz der Achtung, die man Tessa als Kapitän entgegen brachte, blieb Mithril eine Söldnereinheit, deren Mitglieder nicht nur völlig unterschiedliche Qualifikationen aufwiesen, sondern auch aus allen Ecken und Enden der Welt stammten. Die eine oder andere Differenz war da vorprogrammiert.
 

Obwohl Kapitän Tessa Testarossa um alle Soldaten ihrer Einheit sowie um die restliche Besatzung gleichermaßen besorgt war, lag ihr an einigen besonders viel, denn mit jenen teilte sie nicht nur ihr U-Boot, sondern auch mehr oder minder enge persönliche Freundschaften.

Dazu zählten der Scharfschütze Kurz Weber sowie von den Armslave-Piloten - also den Soldaten, die im Kampf gigantische, mit Hilfe von Schwarzer Technologie konstruierte Kampfroboter steuerten - Sergeant Major Melissa Mao sowie im Besonderen Sergeant Sousuke Sagara. Bei letzterem handelte es sich nicht nur um den mit Abstand talentiertesten AS-Piloten und Undercover-Agenten Mithrils, sondern auch um Kapitän Testarossas heimlichen Schwarm - jedenfalls hätten böse Zungen das behauptet. Hinzu kamen noch Tessas linke sowie rechte Hand an Bord der Tuatha De Danann, namhaft Commander Richard Mardukas und der aus Russland stammende Lieutenant Commander Andrei Kalinin.
 

An diesem Morgen befand die junge Frau sich, wie der Zufall es so wollte, auch gerade auf dem Weg zu exakt jenem Lieutenant Commander. Man sah ihr an, dass sie noch nicht allzu lange wach war, sich vor kurzem erst die goldbraune Offiziersuniform angezogen hatte. Im Gehen beschäftigte sie sich noch damit, ihre weißblonden Haare zum üblichen, praktischen Zopf zu flechten.

Der Tag hatte so ereignislos begonnen wie selten ein anderer im Dienst bei Mithril. Entsprechend war es Tessa möglich gewesen, das Kommando auf der Brücke noch für einige Zeit in der Hand der für diese Schicht eingeteilten Mindestbesetzung zu lassen und sich nach dem Aufstehen auf den Weg zu Kalinins Quartier zu machen. Erstens bereitete er hervorragenden Tee - solchen, wie sie ihn gerade nötig hatte, um die Augen nachhaltig auf zu bekommen - und zweitens unterhielt sie sich mit dem Mann, der vom Alter her ihr Großvater hätte sein können, recht gern. Sie mochte seine unerschüttlich ruhige, angenehm unaufdringliche Art.
 

Nachdem sie angeklopft hatte und hereingebeten worden war, wurde Tessa Testarossa von dem grauhaarigen, hageren Andrei Kalinin mit einem Salut begrüßt. Sie hob abwehrend die Hand. "Ich bitte Sie, Lieutenant Commander - stehen Sie bequem. Sie sind nicht im Dienst", entgegnete seine Vorgesetzte hastig, die ihm bei näherer Betrachtung nur bis zur Schulter reichte, und fügte dann noch ein "Guten Morgen" an.

Der Lieutenant Commander folgte ihrer Anweisung, ließ die Hand sinken und entspannte den durchgedrückten Rücken wieder. "Guten Morgen, Captain. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?", erwiderte er auf Tessas Worte.

Diese nickte erfreut - genau darauf hatte sie es schließlich abgesehen gehabt. Während Kalinin den Tee zubereitete, bei dem es sich um diese Art Gebräu handelte, mit der man sprichwörtlich Tote wieder lebendig machen konnte, nahm der Kapitän schon am Tisch Platz.
 

Der Blick ihrer graublauen Augen richtete sich zur Seite, gen des niedrigen Schranks, auf dem der Lieutenant Commander einige gerahmte Bilder stehen hatte.

Vom größten, auffälligsten davon, das sie schon des öfteren betrachtet hatte, wenn sie auf Besuch in seinem Quartier gewesen war, blickte ihm Kalinins bereits seit Jahren verstorbene Frau entgegen. Gemäß allem, was Tessa über sie wusste, war sie eine furchtbare Xanthippe gewesen, aber ihr Ehemann hatte sie wohl entweder wirklich abgöttisch geliebt oder aber huldigte dem alten Grundsatz, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen sollte. Aus seinem Mund jedenfalls war nie ein einziges böses Wort über sie gekommen.
 

Daneben standen verschiedene kleinere Bilder, manche noch Schwarz-Weiß-Fotografien. Bisher hatte der Kapitän sie eher flüchtig betrachtet, aber heute erregten sie Aufmerksamkeit durch den Umstand, dass es zwischenzeitlich mehr geworden zu sein schienen.

Viele der Gesichter, die ihr neugieriger Blick auf den Fotos fand, konnte Tessa Testarossa nicht zuordnen. Das war auch nicht weiter verwunderlich, wenn sie bedachte, dass Kalinin ein vergleichsweise alter Mann war und für Mithril erst seit einigen Jahren arbeitete. Folgerichtig musste er ja ein Leben vor Dienstantritt bei der Söldnerorganisation gehabt haben.

Doch dann bemerkte der Captain der Tuatha De Danann auf einem der Bilder ein Augenpaar, dessen Anblick an diesem Ort mehr als verstörend wirkte.
 

Andrei Kalinin bog in exakt jenem Moment wieder in das kleine, aber hübsch eingerichtete Zimmer ein, das Tablett mit den beiden Teetassen und einer Schüssel mit Keksen auf dem Arm.

"Lieutenant Commander Kalinin . . .", begann Tessa zögerlich, deutete hinüber zu den Bildern. "Seit wann . . . steht das da?", fragte sie dann.

Der Mann folgte ihrem Blick. Er erriet schnell, welches der Bilder seine Vorgesetzte meinte.
 

Eben jenes war in Schwarz-Weiß gehalten und zeigte zwei Männer, beide in einer Uniform, welche sie als Mitglieder des sowjetischen KGB auswies, beide das entsprechende Abzeichen an der Brust. Einer davon war Kalinin selbst, das lange Haar schon damals ergraut und zum Pferdeschwanz gebunden. Der andere hätte verschiedener von ihm nicht sein können, die Haare kurz und pechschwarz, die Haut braun - zu dunkel, als dass es sich um bloße Sonnenbräune hätte handeln können, in Kombination mit den schmalen Augen vielmehr zeugend von einer südasiatischen Abstammung.

Zwischen den beiden stand ein Mädchen, offensichtlich noch in den Kinderschuhen, das mit seinem kurzen Sommerkleid, schmucklosen Sandalen sowie losen, offenen Haaren völlig deplatziert zwischen den beiden Soldaten wirkte, ihnen nicht einmal bis zur Brust reichte und sich mit einem breiten Grinsen im weich geschnittenen, kindlichen Gesicht leicht gegen den Südasiaten gelehnt hatte, dessen Namen sowohl Captain Testarossa als auch Andrei Kalinin allzu gut kannten.

Er lautete Gauron.
 

Niemand wusste, ob dies sein richtiger Name war, ob er so etwas wie einen richtigen Namen überhaupt hatte. Jedenfalls war dieser der einzig bekannte und einzig konstante, den er seit Jahren immer wieder benutzte.

Tessa assoziierte rein gar nichts Gutes damit.
 

Gauron war erstens ein Mitglied von Amalgam - einer anderen großen paramilitärischen Organisation, deren Ziele mit denen von Mithril nicht konform gingen - und zweitens ein Terrorist. Er selbst betrachtete sich zwar eher als freischaffender Geschäftsmann und verübte seine Verbrechen tatsächlich in den meisten Fällen nicht aus Überzeugung, sondern weil sich jemand fand, der ihn dafür bezahlte. Das änderte in Tessas Augen an der Natur seiner Taten allerdings denkbar wenig. Er gehörte nicht nur zu denen, die hinter den Whispered her waren, sondern hatte auch die ziemlich nervenaufreibende Angewohnheit, mit penetranter Zielstrebigkeit primär genau das in die Luft jagen zu wollen, was Mithril gerade zu schützen im Begriff war.
 

Lieutenant Commander Kalinin stellte das Tablett vor dem Kapitän auf dem Tisch ab. Dann nahm er das Bild vom Schrank und platzierte es daneben, so dass seine Vorgesetzte es aus der Nähe begutachten konnte, ehe er sich zu ihr setzte.

"Sie sind sicher darüber unterrichtet, dass ich - bevor ich zusammen mit Sergeant Sagara den Dienst bei Mithril antrat - für den KGB in Afghanistan gearbeitet habe, Captain", setzte er zu erklären an, was er Tessa mit einem Nicken quittieren ließ, ehe er fortsetzte: "Gauron unterstand damals auch dem KGB. Er hat als Ausbilder gearbeitet und war mitverantwortlich für die Leitung einer Operation gegen die Rebellen in den Bergen von Helmajistan." Die Augen des Lieutenant Commanders verengten sich leicht. "Wir gerieten mehrfach in Streit über seine Vorgehensweisen, was einer der Gründe war, die mich schließlich zum Desertieren trieben. Sie zu verleugnen ist keine gute Art, mit der Vergangenheit umzugehen, wenn Sie mich fragen", fügte er noch hinzu.
 

Tessa Testarossa nickte erneut langsam. "Ich verstehe. Darum haben Sie das Bild also aufgehoben und hier aufgestellt. Aber sagen Sie, Lieutenant Commander - wer ist denn das?" Einer ihrer zarten Finger deutete auf das Mädchen, das auf dem Foto quietschvergnügt zwischen den beiden Soldaten stand.
 

Kalinin runzelte die Stirn. "Ah, die Kleine meinen Sie?"

Der Lieutenant Commander der Tutha De Danann blinzelte, hielt die Augen dann einen Moment länger als nötig geschlossen, während die Eindrücke vergangener Tage sich einen Weg zurück in sein Gedächtnis bahnten.
 

-
 

Die hastigen Schritte des kleinen Mädchens, das über den Truppenübungsplatz hüpfte, wirbelten Staub auf, der sich in Form einer wenig dekorativen Dreckschicht auf seinen weißen Sandalen und den blassen, schmalen Füßen darin festsetzte. Dieser Umstand schien sie jedoch nicht zu stören.

Ebenso wenig wie jener, dass sie in ihrem hellen Sommerkleid zwischen den aufgestapelten Waffen und umhereilenden Soldaten und KGB-Wachmännern völlig deplatziert wirkte. Die etwas zerzausten, kastanienbraunen Locken mit dem deutlichen Rotstich flogen um ihre Schultern, fielen ihr ins weich gezeichnete Gesicht. Die großen, tiefgrünen Augen des Kindes weiteten sich, strahlten, als es sich dem Schießübungsplatz näherte.

Das knallende Geräusch der Schüsse erschreckte die Kleine schon lange nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt. Und sie kannte die Männer, die dort fast täglich übten, mittlerweile. Natürlich hatte ihr Vater ihr verboten, sich hier herum zu treiben, aber das interessierte sie nicht. Er war eh den ganzen Tag über zu beschäftigt, um nachzuprüfen, wohin genau sie in seiner Abwesenheit ging. Die ganze Zeit in seiner langweiligen Offiziersbaracke zu hocken, das konnte er ja wohl kaum von ihr erwarten.
 

"Onkel Ron! Onkel Andrei!", rief sie aufgeregt, als sie die beiden ihr wohlbekannten Herren am Rand des Platzes erspähte. Wie eigentlich immer waren sie gerade damit beschäftigt, miteinander in ziemlich barschem Tonfall zu diskutieren.

"Das war eine vollkommen unnötige Aktion!", kritisierte Onkel Andrei - der ja eigentlich Herr Kalinin hieß - mit gerunzelter Stirn sein Gegenüber. Onkel Ron - zu dem die anderen im Lager Gauron sagten - machte eine saloppe, sein absolutes Desinteresse bezeugende und ziemlich herablassend anmutende Handbewegung. "Sei doch froh, dass ich dir helfe, das Ungeziefer zu dezimieren", entgegnete er. Andrei wollte gerade dazu ansetzen, etwas darauf zu erwidern, als er das nahende Mädchen bemerkte. Er beließ es bei einem bitterbösen Blick gen Onkel Ron und wandte sich dann dem Kind zu - denn ein Kind war sie zweifellos, sie reichte den Männern nicht einmal ganz bis zur Brust und ihr Körper hatte kaum den Ansatz weiblicher Form.

"Aber Lena. Hat dein Vater dir nicht gesagt, dass er es nicht mag, wenn du uns hier draußen besuchst? Du solltest wieder zurück ins Feldlager gehen", tadelte Onkel Andrei sie in dem ihm zu eigenen ruhigen, aber ernsten Ton.
 

Die kleine Lena war von dieser Feststellung alles andere als begeistert. Sie trat einen entschiedenen Schritt zurück und stampfte mit dem ohnehin schon schmutzigen Fuß auf den trockenen Boden auf, um ihr Missfallen zu bekunden. "Du bist eine totale Spaßbremse, Onkel Andrei! Im Lager ist es langweilig. Und ich will auch so was Tolles lernen wie ihr und nicht immer nur diese doofen Bücher lesen müssen", begann das Mädchen zu schimpfen.

Das brachte ihr einen rügenden Blick Onkel Andreis ein. "Das sind Schulbücher, Lena. Da dein Vater dich nicht auf eine normale Schule schickt, ist es wichtig, dass du zumindest die Bücher liest", versuchte er zu argumentieren, doch Lena stellte sich bereits vollkommen taub, hatte die Arme vor der nicht vorhandenen Brust verschränkt und das Gesicht beleidigt vom Herrn Kalinin abgewandt, die Augen zugemacht, um zu demonstrieren, dass sie auch wirklich nicht zuhörte.
 

Gaurons schallendes Lachen veranlasste sie, die Lider wieder zu heben und neugierig zu ihm aufzuschauen. "Da siehst du's, Kalinin. Selbst die Kleine hat schon kapiert, dass du ein Spießer bist", stichelte er grinsend. Dann richtete er den Blick auf Lena.

Ihre grünen Augen - Katzenaugen nannten die Leute im Lager es immer - hoben sich, um einen Blick in seine zu erhaschen. Seine Art zu grinsen hatte ihr ein bisschen Angst gemacht, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber mittlerweile wusste sie, dass Onkel Ron eigentlich sehr nett war. Er hatte es sogar aufgegeben, dagegen zu protestieren, dass sie ihn Onkel Ron nannte. Er schimpfte sie nicht einmal mehr "freche Göre" deshalb. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er damit in dem Moment aufgehört, in dem sie ihm recht darin gegeben hatte, dass Onkel Andrei langweilig war.

"Onkel Ron? Du lässt mich doch bestimmt auch mal schießen!" Das Mädchen strahlte in freudiger Erwartung übers ganze Gesicht, während Gauron noch damit beschäftigt war, auf sie hinab zu blicken. Dann wandte er sich in Richtung des Übungsplatzes, auf dem einige Zielattrappen aufgestellt waren. "Wenn dein Gequängel danach aufhört, von mir aus. Komm mal mit, Kleine. Aber mach bloß nichts kaputt, sonst spielt dein Papa sich wieder auf", murmelte er missmutig. Lena jauchzte leise und tappste ihm hinterher.
 

Ein leises Klicken ertönte, als er seine Waffe entsicherte. "Du richtest sie immer von dir weg. Und nicht dahin, wo Leute rumstehen, verstanden? Du zielst auf die Holzscheibe da." Das Mädchen nahm die Pistole entgegen, als er sie ihr nach unten reichte, nickte dabei eifrig. "Ja, wie du sagst, Onkel Ron!"

Der Abzug der Waffe ging für eine Kinderhand vergleichsweise schwer. Der Ruck, der sich beim Abdrücken durch ihren Arm zog, ließ sie zusammenfahren. Ihr erster Schuss verfehlte die Zielscheibe um geschätzte zwei Meter und schlug irgendwo im Wald dahinter ein - der glücklicherweise auf Grund eben dieser Lage hinter dem Schießplatz Sperrgebiet war.
 

Gauron murrte leise. "So geht das nicht, Kleine. Du musst schon zielen - so hier."

Das Mädchen zuckte im ersten Moment leicht, als er hinter ihr in die Knie ging und die Arme um sie legte, seine Hände sich um ihre schlossen, die die Waffe hielten. Er korrigierte ihren Schusswinkel um ein beträchtliches Stück.

"Schieß jetzt noch mal."

Lenas schmaler Finger betätigte langsam, ein wenig mühevoll den Abzug. Der ihr wohlbekannte Knall ertönte, wieder einhergehend mit dem Ruck. Gaurons Hände an ihren hielten sie diesmal jedoch davon ab, den Schuss zu verreißen. Sie blinzelte, als sie das Einschussloch inmitten der Holzscheibe erspähte.
 

Onkel Ron nahm ihr die Waffe wieder ab, während sie damit beschäftigt war, aufgedreht hin und her wuseln, zu jubeln. "Getroffen, getroffen!", quietschte das Mädchen vergnügt.

Dann wirbelte sie herum und ging zu Gauron zurück. Sie lächelte, als ihre grünen Augen wieder zu ihm hinauf lugten. "Danke, Onkel Ron. Du bist toll! Ich werde ganz viel üben, um genauso toll zu werden wie du, wenn ich groß bin!"
 

-
 

"Lieutenant Commander Kalinin?", murmelte Tessa unschlüssig mit schief gelegtem Kopf, was den deutlich älteren Mann dazu veranlasste, die Augen wieder zu öffnen, den Kopf leicht zu schütteln und ihr endlich zu antworten:

"Verzeihen Sie, Captain. Das Mädchen hieß Lena Bolschakow. Sie war die Tochter des befehlshabenden Offiziers, er hatte sie mit ins Lager gebracht. Sie war damals elf oder zwölf Jahre alt, wenn ich mich recht entsinne. Ich schätze, sie war auch die einzige Person dort, die gut mit Gauron auskam - zu jung, um das alles zu begreifen, wenn Sie verstehen."
 

Der Kapitän ließ ein leises Seufzen verlauten. "Ja, ich verstehe. Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?", fragte sie weiter.

Kalinin schwieg für die Dauer eines tiefen Atemzuges, ehe er langsam den Kopf schüttelte. "Es ist anzunehmen, Captain", hob er zu sprechen an, "dass sie nicht mehr lebt. Nachdem die Rebellen einen großen Teil des Lagers auf Grund verschiedener unglücklicher Umstände überrannt hatten, wurde die Leiche ihres Vaters gefunden. Erschossen. Offiziell waren es Rebellensoldaten, aber ich persönlich gehe von Gauron als Täter aus - Rache für die zahlreichen Auseinandersetzungen, die er mit dem Befehlshaber hatte. Wahrscheinlich hat er auch Lena getötet."
 

Tessa Testarossa nickte leicht, betreten. Dann stand sie auf, um das gerahmte Foto wieder zurück auf seinen Platz auf dem Schrank zu stellen.

"Ihr Tee wird kalt, Captain."

- "Ich weiß. Verzeihen Sie."

Sie nahm wieder Platz und hob die gefüllte Tasse vom Tablett vorsichtig an die Lippen, der Lieutenant Commander tat es ihr schweigend gleich.
 

Andrei Kalinin war zweifelsohne ein kluger Mann. Doch es gab ein paar Dinge, die er nicht wusste, sowie ein paar Schlussfolgerungen, die er auf wackligem Fundament gezogen hatte.

So war ihm beispielsweise nicht bekannt, dass weit entfernt vom gegenwärtigen Augenthaltsort der Tuatha De Danann, auf der anderen Seite der Welt, eine exakte Kopie des Fotos existierte, über das er sich gerade so angeregt mit Kapitän Testarossa unterhalten hatte . . .
 

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[Schlussbemerkung des Autors: Ich hasse das Wort "Lieutenant". Ich hasse es wirklich. Bester Dank geht an meine beiden goldigen Betaleser. Sollte trotz unserer vereinten Bemühungen ein Tippfehler überlebt haben, nehme ich diesbezügliche Hinweise dankend entgegen. Bei Fragen und Anregungen darf man mir auch gerne eine ENS schreiben, ich beiße nicht - meistens jedenfalls.]

Doing Jobs

Sie tat einen leise seufzenden Atemzug und ließ sich langsam nach hinten sinken, bis sie die geflieste Wand im Rücken spürte, die sich hart und kalt an ihrer nackten Haut anfühlte. Das sonore, zischende Geräusch des heißen Wassers, das vom Duschkopf ausgehend auf ihren blassen Körper nieder prasselte, klang ungewöhnlich laut in ihren Ohren - was wohl darauf zurückzuführen war, dass nichts sonst die Stille in dem kleinen Badezimmer hätte ausfüllen können.
 

Das Wasser rieselte auf ihren Kopf hinab, klebte die kastanienfarbenen Haarsträhnen feucht an ihre weich gezeichneten Wangen. Sie hatte die Augen geschlossen - einerseits um das Wasser daraus fern zu halten, andererseits in dem Versuch, sich zu entspannen, die stechenden Kopfschmerzen loszuwerden, die sie nun schon quälten, seit sie aufgewacht war.

Geweckt hatte sie ein Traum. Es war einer dieser seltenen, ganz besonders wirren Träume gewesen, die aus nichts weiter als vorbei rasenden, durcheinander stiebenden und scheinbar keinerlei Sinn ergebenden Aneinanderreihungen von Worten, Zahlen und Symbolen bestanden - und die ihr jedes Mal Kopfschmerzen bereiteten.
 

Das Mädchen hasste diese Träume.

Doch er war schon immer sehr interessiert daran gewesen. Er hatte ihr aufgetragen, alles akribisch zu notieren, was ihr noch einfiel. Und sie war wirklich bemüht, seiner Bitte nachzukommen, hatte stets einen Stift und einen Notizblock neben dem Bett liegen. Aber auch an diesem Tag hatte kein Wort, keine Zahl, kein Zeichen den Weg aufs Papier gefunden.
 

Sie konnte sich nicht erinnern.

So lange sie auch nach dem Aufwachen auf der Bettkante saß und sich das Hirn zermarterte, den Kugelschreiber zwischen den schmalen Fingern hin und her drehte, es brachte kein verwertbares Ergebnis.

Manchmal flackerte ein Eindruck, ein einzelnes, komplexes und sich jeder ihr bekannten Logik entziehendes Bild vor ihrem inneren Auge auf, für weniger als die Dauer eines Lidschlags. Egal wie krampfhaft sie versuchte, jenen Eindruck, jenes Bild lange genug festzuhalten, um ihrer sogleich mit dem Schreibutensil zum Zettel zuckenden Hand Gelegenheit zu geben, etwas davon aufzuschreiben - es gelang ihr nicht.
 

Nach gut einer Stunde, geprägt von Müdigkeit, Frustration und anhaltendem Kopfweh, hatte sie es schließlich aufgegeben, war unter die Dusche gestiegen.
 

Sie hob die Hand, legte sie an den Wasserhahn und drehte ihn zu. Ein leises Quietschen ertönte, gefolgt vom Drip-Drip der letzten paar Wassertropfen, die auf die Fliesen hinab fielen.

Ihre Finger zogen sich zurück, legten sich an ihre Schläfen und rieben ein paar Mal fest darüber in dem Versuch, die letzten Überbleibsel der Kopfschmerzen zu beseitigen. Der Erfolg der Aktion ließ zu wünschen übrig. Das Mädchen strich sich die nassen Haarsträhnen hinter die Ohren und über die Schultern zurück, machte sich schließlich wieder von der kalten Wand los.
 

Nachdem sie aus der Dusche getreten war, sah sie sich nach einem Handtuch um, schnappte das nächstbeste, um damit erst ihre Haare notdürftig trocken zu rubbeln und sich dann darin einzuwickeln.

Die Tatsache, dass der breite Wandspiegel über dem Waschbecken beschlagen war und sie entsprechend wenig erkennen konnte, als sie hinein schaute, kommentierte sie mit einem leisen, verächtlichen Schnauben, ehe sie sich daran machte, mit der Handfläche einen Teil des Spiegelglases wieder klar zu wischen.
 

In der Konsequenz blickte die junge Frau kurz darauf in ihre eigenen hellgrünen Augen, die ihr ziemlich missmutig aus dem ansonsten nicht gerade hässlichen, wenn auch bleichen Gesicht entgegen starrten, dessen offensichtlichster Makel in ein paar kleinen Sommersprossen auf der Nase bestand.

Sie fischte im nahen, offenen Regal blind nach einer Bürste und kämmte sich die nassen Haare aus, steckte sie dann eher notdürftig und halbherzig hoch.
 

Noch immer in das feuchte Handtuch gewickelt - eine schlechte Angewohnheit, die ihr schon die eine oder andere Erkältung eingebracht hatte - verließ sie das Bad und tappste mit nackten Füßen über den Holzfußboden zurück in ihr Zimmer.

Sie hörte im Vorbeigehen Geklappere aus der Küche. Das konnte nur bedeuten, dass die Zubereitung des Abendessens dort schon in vollem Gange war. Der Gedanke daran rief ihr ihren knurrenden Magen ins Gedächtnis, den die Kopfschmerzen zuvor eine ganze Weile in den Hintergrund gedrängt hatten.
 

In ihrem Zimmer angekommen setzte sie sich auf die Bettkante nieder. Ihr Blick fiel auf den allenfalls eine Armlänge entfernt stehenden Nachttisch. Der Notizblock und der Stift lagen noch dort. Daneben stand ein gerahmtes Bild.
 

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie danach griff, es aufhob und musterte, dabei überlegte, wie viele Jahre das nun schon her war. Wenn sie es recht bedachte, mussten es mindestens fünf sein, vielleicht sogar schon sechs.

Im Grunde hatte sich in der Zwischenzeit aber gar nicht viel verändert, wenn sie das Schwarz-Weiß-Foto so betrachtete und das kleine Mädchen, das darauf zwischen zwei Soldaten stand, mit der Person verglich, die ihr ein paar Minuten zuvor aus dem Spiegel entgegen geschaut hatte.
 

Natürlich war sie seitdem noch ein Stück gewachsen - allerdings nicht so viel, wie ihr eigentlich lieb gewesen wäre -, so dass sie den beiden Männern, denen sie damals nicht einmal bis zur Brust gereicht hatte, jetzt immerhin knapp über die Schulter hätte schauen können. Naturgemäß wies ihr Körper mittlerweile auch sichtbare weibliche Rundungen auf, ihre Gesichtszüge muteten nun deutlich feiner und somit weniger kindlich an.

Doch bei allen diesen Veränderungen handelte es sich um ziemlich absehbare, nicht gerade ungewöhnliche, die das Gesamtbild ihrer Person nur marginal verändert hatten, wie zumindest sie selbst fand.
 

Ebenso wenig verändert hatten sich auch die anderen beiden auf dem Foto. Nun ja, zumindest einer davon - dem anderen war sie die ganzen Jahre nicht mehr begegnet.

Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter, wandelte sich zu einem vergnügten Schmunzeln. Wenn sie es recht bedachte, stimmte diese Tatsache sie glücklich. Etwas, das sich nicht veränderte, konnte sich schließlich auch nicht zum Schlechteren wenden.
 

Das Klopfen an der Tür ihres Zimmers zerrte ihre grade ein wenig im Abschweifen begriffenen Gedanken abrupt in die Realität zurück. Mit einem leisen Seufzen stellte die das Bild wieder an seinen Platz, ehe sie ein ziemlich unbegeistert gemurmeltes, aber verständliches "Ja?" verlauten ließ.
 

Die Tür wurde langsam und geräuschlos geöffnet. Die junge Frau warf nur einen flüchtigen Blick zu der eintretenden Person, denn im Grunde gab es da bloß zwei Möglichkeiten, um wen es sich handeln konnte.

"Yu Lan", stellte das Mädchen schließlich denkbar desinteressiert fest, fragte dann nach einem kurzen Moment des Zögerns: "Was ist denn?"
 

Ihr Gegenüber trug eine recht geräumige Sporttasche über der Schulter. "Verzeihen Sie die Störung, Miss Lena. Ihre Sachen für morgen sind fertig", entgegnete die schlanke Chinesin mit den knapp schulterlangen, dunkelbraunen Haaren ruhig. Sie ging durch das Zimmer, zum Bett hinüber, um die Tasche behutsam neben Lena abzustellen.
 

Diese bedachte jene Aktion mit einem knappen Nicken. "Danke, Yu Lan. Gibt es sonst noch etwas?", hakte die junge Dame mit den frisch gewaschenen Haaren und dem Handtuch nach.

Die Angesprochene schüttelte sachte den Kopf, antwortete: "Nein, Miss. Meine Schwester sollte allerdings in wenigen Minuten mit dem Essen fertig sein, falls Sie Hunger haben."
 

Lena hatte derweil die Beine auf das Bett gezogen und sich der Tasche zugedreht, war im Begriff, sie zu öffnen, und ließ sich davon auch nicht mehr ablenken. "Fein. Ich komme gleich, ja?", erwiderte sie beiläufig, ohne ihre Gesprächspartnerin dabei noch eines Blickes zu würdigen.

Yu Lan entfernte sich still, nicht ohne sich vorher flüchtig zu verneigen, und schloss die Tür wieder hinter sich.
 

Das Mädchen blieb allein zurück, hatte die Sporttasche mittlerweile geöffnet und wühlte darin herum. Das erste, was sie zu fassen bekam, war eine Mappe mit diversen Papieren. Als sie dieselbe öffnete, fielen ihr ein Pass und ein Schülerausweis entgegen, auf beidem ein Farbfoto von ihr, daneben ein Name, ein Geburtsdatum und all der andere Kram, der auf so etwas eben stehen musste.
 

Sie lächelte matt.

Der Nachname und das Geburtsdatum waren nie gleich, doch der Vorname blieb immer Lena. Sie hatte darum gebeten, ihn behalten zu dürfen, und ihre Bitte war bisher jedes Mal erfüllt worden - wohl auch im Lichte des Umstandes, dass es sich bei "Lena" um keinen allzu seltenen oder gar extravaganten Mädchenvornamen handelte, mit dessen Hilfe man valide Rückschlüsse hätte ziehen können.

Sowohl der Pass als auch der Schülerausweis landeten auf der Kante des Nachttischs.
 

Die Russin blätterte weiter.

Auf den nächsten Zetteln fand sich in Kurzform die Biografie der fiktiven Person, deren Identität sie diesmal annehmen sollte. Wieder die alte Austauschschüler-Geschichte - natürlich. Das war zu erwarten gewesen.
 

Zum Anhang gehörte ein kurzer Abriss über die Schule, in die sie am kommenden Morgen gehen musste. Lena wusste, dass der Schulbesuch ein wesentlicher Aspekt ihrer Tarnung war, dass eine Schule zudem den bestmöglichen Ausgangspunkte dafür bot, ihre Aufgabe schnell, effizient und unauffällig zu erledigen. Trotzdem erfüllte die Aussicht darauf sie nicht gerade mit Freude.

Allein schon das frühe Aufstehen war ihr ein Graus, das Erbringen der schauspielerischen Leistung zwecks Mimen des netten Mädchens mit gewöhnlichem familiären Hintergrund nicht weniger.
 

Auf der letzten Seite gab es einen Verweis auf die Schulklasse, die sie am Folgetag besuchen würde, nebst einem Stundenplan. Immerhin waren die ersten beiden Stunden am Montagmorgen Mathematikunterricht. Kein anderes Fach fiel ihr so leicht wie dieses. Mit Sachen wie Geschichte oder Musik, für die es einer faktischen Bildung bedurfte, sah das anders aus.

Lena legte die Mappe beiseite. Sie würde sich die Details später durchlesen und grob einprägen - nach dem Abendessen vielleicht.
 

Weiteres Wühlen in der Tasche förderte eine mit Folie abgedeckte Schuluniform in ihrer Größe zu Tage, die sie auspackte und auseinander faltete, um einen genauen, reichlich kritischen Blick darauf zu werfen. Das Mädchen mochte einheitliche Schuluniformen nicht besonders, aber in Japan und manchen anderen asiatischen Ländern waren sie nun einmal Pflicht. Ohne wäre sie nur unnötig aufgefallen oder hätte Ärger mit den Lehrern bekommen. Beides stand ihrem Vorhaben, einen guten Job zu machen, tendenziell im Wege.

Wenigstens war dieses Modell nicht Blau - besagte Farbe konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Stattdessen: dunkelroter Rock, weiße Bluse, dunkelrotes Halstuch. Zumindest passte der Rotton gut zu ihren Haaren. Es hätte schlimmer sein können und selbst wenn es das gewesen wäre, hätte sie es in Kauf nehmen müssen.
 

Das leichte Schaudern, das unvermittelt durch Lenas blassen Körper fuhr, erinnerte sie daran, dass sie noch immer nichts weiter als das feuchte Handtuch auf der nackten Haut trug. Sie erhob sich, warf es auf dem Weg zum Kleiderschrank nachlässig über den Stuhl an ihrem Schreibtisch.

Aus dem Schrank angelte sie sich ziemlich ziellos einen halblangen, schwarzen Jeansrock und ein beliebiges Trägertop - schließlich passt jede Farbe zu Schwarz - und streifte sich beides über. Dann ließ ihr noch immer knurrender Magen sie den Entschluss fassen, dass es wirklich höchste Zeit zum Essen war.
 

Als Lena die Küche betrat, saß Yu Lan bereits am gedeckten Tisch. Ihre ältere Schwester Yu Fan nahm gerade die Pfanne vom Herd, bedachte das russische Mädchen, das sich derweil setzte, im Vorbeigehen mit einem höflichen Nicken, ehe sie sich daran machte, das Essen zu verteilen.

Reispfanne mit irgendwelchem Fleisch und Gemüse. Wie fast jeden Tag, an dem es nicht Nudelpfanne gab. Was auch sonst? Immerhin war Yu Fan hauptberuflich kein Koch, sondern ein Armslave-Pilot und - ebenso wie ihre Schwester Yu Lan - ein hervorragend geschulter Assassine.
 

Lena wusste sehr genau, wer die beiden Chinesinnen ausgebildet hatte. Sie war mehr als einmal beim Training der beiden dabei gewesen, hatte ebenfalls den einen oder anderen Trick und Kunstgriff gelernt, aber das stand in keinem Verhältnis zur Komplexität und Härte der Schule, durch die Yu Lan und Fan gegangen waren.

Die beiden dunkelhaarigen Mädchen zollten ihrem Sensai blinden Gehorsam und eine Loyalität, die die meisten wohlerzogenen Hunde noch in Verlegenheit gebracht hätte. Exakt darin lag wohl auch der Grund, weshalb er sie präferierte, wenn es darum ging, jemanden zu Lenas Schutz abzustellen.
 

Und irgendwie waren sie ja auch recht nett, eigentlich. Die von Yu Fan zubereiteten Reis- und Nudelpfannen hätten schlechter sein können, wenn man bedachte, dass das Kochen nicht zu ihrem primären Aufgabenbereich gehörte. Genau wie auch ihre Schwester Yu Lan nahm sie ihre Order extrem ernst, pflegte einen äußerst höflichen und zuvorkommenden Umgang mit der jungen Frau und hielt nicht nur etwaige Angreifer, sondern auch manche anderen Unannehmlichkeiten von dieser fern.
 

Der berühmte Haken an der Sache in Lenas Augen war bloß der Umstand, dass den zwei chinesischen Mädchen - obwohl fast im gleichen Alter waren wie die Russin selbst - der Gesellschafts- und Unterhaltungswert von Ziegelsteinen inne wohnte. Sie redeten stets genau so viel, wie es zwingend notwendig war, sprachen auch nie über irgendwelche persönlichen Themen, jedenfalls nicht mit ihr, sondern bestenfalls unter sich. Ihrer beider Humor befand sich - sofern sie überhaupt einen hatten - ebenso auf einer geistigen und emotionalen Ebene, zu der sie Lena keinen Zugang gewährten.
 

Es dämmerte draußen. Vor dem Küchenfenster verlosch langsam das Tageslicht, wich dem Dunkel, das den Dingen, auf die es fiel, nach und nach die Farbe nahm. Nur das leise Klappern des Bestecks auf den Tellern war zu hören, denn Yu Lan und Fan sagten in der üblichen Inbrunst ihrer Gesprächigkeit für die Dauer des Abendessens selbstverständlich rein gar nichts.

Lena hatte den Großteil ihrer Portion verdrückt, der Hunger schwand. Sie stocherte folglich eher elanlos in den letzten paar Krümeln ihrer Mahlzeit herum, der Blick aus den hellen, grünen Augen schweifte zum Fenster ab.
 

Irgendwo da draußen, irgendwo dort in der Dunkelheit, da war er gerade.

Sie ließ die Lider halb sinken und fragte sich, wie es ihm wohl ging, was er dachte, was er machte in diesem Moment.
 

. . .
 

Er tat einen tiefen Zug an der Zigarette in seinem Mundwinkel, die dies mit einem Aufglimmen quittierte, und blies kurz darauf leise hörbar den Rauch zwischen den Lippen hervor. Seine Zigarette verrutschte dabei nicht - er hatte Übung. Schließlich konnte man ihn manchen Tag getrost als Kettenraucher bezeichnen.
 

Er hockte auf einem Stein direkt neben seinem scharlachroten Armslave, lehnte mit dem Rücken am kalten Metall der Maschine. Die dunkle, leder- und kevlarverstärkte und im Brustbereich mit beschusshemmenden Protektoren versehene Pilotenuniform war alles andere als bequem, lag eng an seiner gebräunten Haut an und bedeckte seinen gesamten drahtigen Körper, reichte bis zur Mitte des Halses hinauf. Doch das störte ihn nicht weiter - er war daran gewöhnt.

Seine Augen, deren graubraune Farbe entfernt an wolkenverhangenen Herbsthimmel erinnerte, ruhten auf seinem in der Waagerechten gehaltenen Arm, seinem Handgelenk und der dort befindlichen digitalen Uhr - ein Modell für den Militärdienst natürlich, wasserdicht und robust.
 

Einige Meter von ihm entfernt standen zwei sowjetische Kampfhubschrauber vom Typ Hind. Davor tummelten sich neben einigen Sowjetsoldaten drei KGB-Mitglieder, einer im Anzug, zwei in Uniform - alle drei das entsprechende Dienstabzeichen auf der Brust.

Der Mann im Anzug tigerte aufgebracht, mit vor Anspannung verzogenem Gesicht hin und her. Die Blicke seiner beiden Kollegen, von denen einer einen penibel gepflegten Schnauzbart trug, folgten ihm. Schließlich fuhr er abrupt herum, stapfte auf den dunkelhäutigen Kerl zu, der da seelenruhig neben seinem Armslave hockte und sich vor kurzem die zweite Zigarette angesteckt hatte.

Der KGB-Mitarbeiter blieb neben ihm stehen, sah auf den Armslave-Piloten hinab.
 

Sein Gegenüber war schlecht rasiert, die Stoppeln eines typischen Drei-Tage-Barts - der in diesem Fall auch schon gut vier oder fünf Tage alt sein konnte - zogen sich über sein kantig gezeichnetes Kinn. Die reichlich zerzausten, kurzen Haarsträhnen hingen ihm wirr in die Stirn hinab, in deren Mitte eine kleine, senkrecht verlaufende Narbe prangte. Jene Strähnen hatten eine tiefschwarze Farbe, nur an einigen wenigen Stellen stahl sich bereits das eine oder andere graue Haar hinein.

Das Profil des Südasiaten - wie ein solcher sah er jedenfalls aus - war zu hart und markant, um jugendlich zu wirken, aber die Züge noch nicht zerfurcht genug, um auf ein wirklich hohes Alter schließen zu lassen. Er musste um die vierzig Jahre alt sein, vielleicht sogar noch etwas älter.
 

Der Mittelsmann der sowjetischen Regierung gab ein leises Grollen von sich, schnappte nach Luft, ehe sein Unmut heraus platzte: "Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun? Wir bezahlen Sie nicht fürs Rumsitzen! Gedenken Sie überhaupt, sich heute noch zu bewegen?"
 

Es wurde keine Antwort gegeben.

Nur die Zigarette glomm ein weiteres Mal im Dunkel der Nacht auf. Sie war fast aufgeraucht - ein, zwei Züge blieben vielleicht noch. Der Blick aus den schmalen Augen ruhte weiter auf der Uhr.
 

Die Schimpftriade setzte sich in Folge dessen fort: "Gar nichts tun können wir auch selber! Was heuern wir überhaupt so einen faulen chinesischen Bastard wie Sie an?"

Besagter Bastard tat ohne Hast den letzten Zug an seiner Zigarette, ehe er sie ergriff, aus dem Mund nahm und an dem Stein, auf dem er saß, ausdrückte. Sein Blick richtete sich zur Seite, wanderte aus dem Augenwinkel über das KGB-Mitglied.

"Hören Sie mir überhaupt zu, Gauron!?", fauchte dasselbe gerade zu ihm hinab.

Diesmal kam die Antwort prompt.
 

Die beiden KGB-Soldaten, die bei den Kampfhubschraubern stehen geblieben waren, zuckten zusammen, fuhren blitzartig herum, als allenfalls einen Atemzug später der Knall eines Schusses in ihrer unmittelbaren Nähe durch die Nachtluft donnerte.

Sie sahen den Körper ihres Anzug tragenden Kollegen aus dem Stand nach hinten kippen, einem nassen Sack gleich leblos auf den Boden aufschlagen. Dann lag er still. Inmitten seiner Stirn prangte ein Einschussloch, die Augen waren so weit geöffnet, wie er sie im Moment seines Todes vor Überraschung und Schreck aufgerissen hatte.
 

"Übrigens bin ich gar nicht chinesischer Abstammung", durchbrach Gauron die pikierte Stille in süffisantem Tonfall. Er hob einen Mundwinkel.

- "Sie . . . !", setzte einer der Soldaten zu brüllen an, wollte seine Waffe heben. Doch sein neben ihm stehenden Kamerad mit dem Schnauzbart verhinderte dies, packte ihn am Arm, was Gauron mit einem trockenen Lachen kommentierte. Er hatte den Kopf nun endlich zur Seite schief gelegt, ein kalter Blick in Kombination mit einem noch kälteren Grinsen traf die beiden Männer.

"Wie schön zu sehen, dass es beim KGB nicht nur hirnlose Gorillas gibt", bemerkte er mit zynischem Amusement, steckte dabei seine Schusswaffe zurück in ihre Halterung an seinem Armslave-Suit. Sein Blick fiel wieder auf die Uhr. Die Stundenanzeige sprang in exakt diesem Moment um.
 

Es war Zeit.

Die zwei KGB-Mitglieder bedachten Gauron mit reichlich irritierten, befremdeten Blicken, als er sich einfach so von ihnen abwandte, sie stehen ließ wie bestellt und nicht abgeholt.
 

Er erhob sich, kletterte zum Cockpit seines Armslaves hinauf, ließ sich in den Sitz gleiten und streckte Hände und Füße bis in die vorgesehenen Halterungen aus. Die Einstiegsluke schloss sich und die verschiedenen Anzeigen flimmerten auf.
 

"Systeminitialisierung gestartet", vermeldete die sonor klingende, maschinell erzeugte Stimme der künstlichen Intelligenz seines riesigen Kampfroboters.
 

Gauron ließ den Blick auf den Hauptmonitor sinken, wartete ab. Er kannte all das, was nun passierte, in- und auswendig, hatte es dutzende, eher sogar hunderte Male miterlebt.
 

- "Sensoranpassung beendet."
 

Er schloss die Augen einen Moment lang. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schmalen Grinsen.
 

- "Radar-Systeme aktiv."
 

Auf der Anzeige vor ihm leuchtete das Radar auf. Natürlich waren zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Feindeinheiten in Reichweite. Doch das würde sich bald ändern.
 

- "Lambda-Driver online."
 

Sein Grinsen wurde langsam breiter. Gleich war es so weit - gleich würde die Jagd eröffnet werden.
 

- "ECS-Tarnfeldgenerator bereit."
 

Er würde der Jäger sein. Seine Beute wartete schon auf ihn.
 

- "Systeminitialisierung abgeschlossen. Alle Systeme kampfbereit."
 

Gauron hob die Lider wieder, ohne dass das Grinsen von seinen Lippen verschwand. "ECS-Tarnfeld aufbauen", wies er die Maschine an, ehe er sich selbst und somit auch den mit ihm verbundenen Armslave in Bewegung setzte.

Es war ein Codarl-AS, kein M9, wie viele andere Piloten bei Amalgam und Mithril ihn benutzen. Natürlich hätte ihm auch die Steuerung des M9 keinerlei Probleme bereitet, doch er bevorzugte seit jeher dieses Modell hier, wenn er die Wahl hatte. Vielleicht war es so etwas wie Nostalgie, das ihn dazu bewog - der Codarl ähnelte in der Handhabung den älteren Modellen wie dem sowjetischen RK92, was jedoch nicht hieß, dass er im Gesamten technisch überholt gewesen wäre. Die in jüngster Zeit produzierten Armslaves dieses Typs im Allgemeinen und seine eigene Maschine im Besonderen standen den westlichen Konkurrenzmodellen in nichts nach.
 

Der Roboter erhob sich aus seiner knieenden Parkposition und richtete sich in einer für so einen riesigen Metallhaufen erstaunlich geschmeidigen Bewegung zu voller Größe auf. Noch währenddessen begannen die Konturen des Armslaves zu verschwimmen, seine Farbe fing an, sich der Umgebung anzugleichen. Es dauerte nicht ganz zehn Sekunden, man konnte förmlich zusehen, wie der Koloss sich Stück für Stück in Luft aufzulösen schien.
 

- "ECS-Tarnfeld aufgebaut", kam die Rückmeldung des Systems, die im Grunde überflüssig war, denn der Pilot hatte die Statusveränderung auch auf dem Monitor mitverfolgt.

Der Codarl-AS bewegte sich unsichtbar und - gemessen an seinem Gewicht - extrem leise durch das hügelige, mit Waldstücken und Grünflächen durchsetzte Gelände. Nur zertretenes Gras und der eine oder andere abgeknickte Ast hätten auf seine Existenz hindeuten können, doch derlei Details versteckte zu dieser Stunde der Schleier der Nacht.
 

Es dauerte nicht lange, bis das Zielgebiet in Reichweite von Gaurons Radar kam. Den Informationen des KGB nach zu urteilen wurde die zu neutralisierende Grenzstellung des US-Militärs momentan nur mäßig stark bewacht. Doch er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, nicht blind auf derlei Angaben zu vertrauen. Er war schon Soldat, seit er laufen gelernt hatte. Und jedes einzelne Jahr, das er am Leben geblieben war, hatte ihn die eine oder andere - mehr oder weniger wichtige - Lektion gelehrt.

Einer der ersten Erfahrungswerte, die man in diesem Geschäft unweigerlich sammeln musste, bestand darin, sich auf andere allenfalls so weit zu verlassen, wie man spucken konnte. Im Zweifelsfall würden hier draußen nicht seine Auftraggeber sterben, sondern er - allein.
 

- "Warnung: Feindeinheiten geortet", vermeldete die monotone Stimme der Maschine pflichtergeben.
 

Gaurons Augen verengten sich leicht, sein Blick huschte über den Radarschirm. Er näherte sich weiter, nun deutlich langsamer, vorsichtiger. Zwar hatten die KGB-Mittelsmänner ihm ebenfalls mitgeteilt, dass die Ausrüstung des Feindes seiner technisch unterlegen war, was bedeutete, dass ihre Armslaves voraussichtlich weder über Lambda-Driver noch Anti-ECS-Geschosse verfügten, aber auch davon wollte er sich zuerst selbst überzeugen.
 

- "Zielgebiet vollständig aufgedeckt. Anzahl georteter Feindeinheiten: 8. Scan gestartet."
 

Eine komplette Armslave-Operationseinheit also.

Er beobachtete die Bewegung der leuchtend rot eingefärbten Punkte aufmerksam, während sein System Daten einfing und die Analyseergebnisse aufbereitete. Seine Gegner waren offensichtlich in fest eingeteilten Zweier-Teams unterwegs. Eins davon patroullierte in einigem Abstand von den Befestigungen vor der Stellung, ein weiteres dahinter. Die verbleibenden beiden überwachten auf fixer Position die seitlichen Zufahrtswege zu dem kleinen Stützpunkt.
 

- "Feindeinheiten-Scan abgeschlossen. Typ: M6-Armslave. Gefundene Upgrades: Anti-Luft-Raketen Typ AAA."
 

Gaurons Grinsen wurde noch etwas breiter. Das erklärte natürlich, wieso die sowjetischen Hinds am Boden geblieben waren und sich nicht am Angriff beteiligten. Für ihn hatte es keine Bedeutung. Es bestätigte lediglich seine bereits bestehende Annahme, dass er dem Feind des Abends in mehrfacher Hinsicht überlegen war.

Er wusste nun alles, was er wissen musste. Es war endlich Zeit für ein wenig Spaß.
 

Gerade lehnte der Pilot des M6, der seit Stunden vor der Stellung auf und ab ging, sich mit einem verhaltenen Gähnen in seinem Sitz zurück - derselbe war zu seinem Leidwesen wenig bequem, was dem Mann ein entnervtes Aufseufzen entlockte. Sein mit ihm über Funk verbundener Teamkamerad, der dies vernahm, kommentierte es mit einem herzhaften Lachen. "Guten Morgen, Johnny! Reiß dich mal bisschen zusammen, hmm? Ich bin auch müde und find' den Job zum Einschlafen. Aber wir sind immer noch im Dienst", tönte es kurz darauf ins Cockpit.
 

Die Antwort bestand zuerst nur in einem verächtlichen Schnauben, bis der US-Armslave-Pilot sich dazu durchrang, seinem Kollegen verbal etwas zu entgegnen: "Das hier ist doch für'n Arsch. Als ob die Sowjets den Nerv hätten, uns mitten in der Nacht den Außenposten zerballern zu wollen. Seit drei Tagen passiert rein gar nichts und das ändert sich in naher Zukunft auch nicht." Um die Worte für sich selbst nochmals zu bestätigen, warf er einen flüchtigen Blick auf die beleuchteten Anzeigen vor sich. Alles, was er auf dem Radarschirm sah, waren die Maschinen seiner sieben Verbündeten.
 

Plötzlich erlosch einer der sieben hellen Punkte. Derselbe hatte zu einem der zwei Mitglieder des Teams gehört, das auf der direkt gegenüber liegenden Seite des Lagers auf Patroullie war.

"Sag mal, spinnt die Sensorenreichweite bei . . .", setzte John dann zu sagen an, um sich zu erkundigen, ob die vermeintliche Fehlfunktion nur bei ihm vorlag. Doch weiter kam er nicht, bevor es ihm die Sprache verschlug. Ein roter Lichtfleck blitzte auf dem Schirm auf - eben dort, wo kurz zuvor der andere verschwunden war.
 

Der an alle Mitglieder der Operationseinheit gerichtete, atemlos heraus gebrüllte Funkspruch durchbrach den Moment ungläubiger Stille, in dem das Gehirn des Mannes noch verzweifelt einzusortieren versuchte, was gerade geschah: "Mayday, Mayday! Mayday! Wir werden angegriffen!"

Johns Augen weiteten sich, dann setzte er sich mitsamt seines Roboters in Bewegung und stürmte in Richtung der Koordinaten, wo - mittlerweile klar, deutlich und wild blinkend - immer noch der rote Punkt auf seiner Anzeige schimmerte. Einen Atemzug später musste er miterleben, wie das Signal des zweiten Pilotens ebenfalls erstarb und der Funkkontakt abriss.
 

Gauron verharrte noch für die Dauer von ein, zwei Sekunden auf seiner Position. Die Einzelteile des zweiten gegnerischen M6, den er gerade aus kürzester Distanz frontal getroffen hatte, schlugen geschwärzt und qualmend auf die Erde auf. Damit war die Stärke seiner Gegner gerade um ein Viertel geschrumpft.

Obwohl "Stärke" ihm nicht das angemessene Wort zu sein schien. Er hatte etwa zehn Sekunden gebraucht, um zwei der acht Feindeinheiten auszuschalten - selbstverständlich irreversibel. Die beiden Armslaves waren nur noch ein Haufen rauchenden Altmetalls, die Piloten mit absoluter Sicherheit tot. Seine eigene Maschine hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen, denn den von seinem Angriff aus dem Hinterhalt völlig überrumpelten US-Piloten war keine Möglichkeit zur Gegenwehr geblieben.
 

Sie verdienten die Bezeichnung "Gegner" im Grunde nicht. Sie waren einfach keine Gegner - sondern nichts als lästige, kleine Ratten. Und er mimte die Katze, die gerade zum Sprung in ihr Nest ansetzte.
 

Die klanglose, maschinell erzeugte Stimme des Systems meldete sich erneut zu Wort, begleitet vom Schrillen eines Alarmtons und dem rötlich getönten Aufleuchten sämtlicher Anzeigen:

- "Warnung: Feindgeschosse auf 6 Uhr."
 

Gauron reagierte, noch bevor der Satz beendet war. Sein Codarl-AS sank in die Knie und drückte sich kraftvoll vom Boden ab, in den keine zwei Sekunden später in kurzer Folge zwei Raketen einschlugen. Die Explosion fetzte versengtes Gras und Erdreich fort und hinterließ einen sichtbaren Krater.
 

"Scheiße! Ich hab' ihn verfehlt. Wie konnte das Aas so schnell ausweichen?", drangen die wütenden Rufe seines Teamkameraden, gefolgt von weiteren wüsten Beschimpfungen, über Funk in Johns Cockpit. Er selbst hatte keinen Schuss abgegeben. Er hörte auch nicht mehr auf das angefügte weitere Fluchen, das an seine Ohren, aber nicht an sein Bewusstsein drang.

Johns Aufmerksamkeit in diesem Moment galt allein der Maschine, deren geschmeidige, rasend schnelle Bewegung er einen kurzen Augenblick zuvor mitverfolgt hatte. Der gegnerische Armslave war auf Grund seiner schieren Größe auch schwer zu übersehen, selbst bei Nacht.
 

Eine ganze Menge Fragen schossen dem Amerikaner in diesem Moment durch den Kopf - auf keine davon fand sein so plötzlich mit Adrenalin geflutetes Hirn eine befriedigende Antwort.

Wie hatte dieser Typ sich in einem riesigen, knallrot lackierten Kampfroboter unbemerkt anschleichen können, ohne dass irgendein Mitglied der Einheit oder die Überwachungssysteme der Stellung auf ihn aufmerksam geworden waren?

Überhaupt - mit was für einem Modell hatten sie es da zu tun? Ein M6 war das jedenfalls nicht, ein sowjetischer RK92 erst recht nicht. Die Maschine entsprach im Gesamten keinem ihm bekannten Typ, von irgendwelchen Details ganz zu schweigen.

Eins stand fest: Dieser Armslave gehörte nicht zur regulären Ausrüstung der Sowjets. Entsprechend lag die Vermutung nahe, dass es sich auch beim Piloten nicht um einen gewöhnlichen Soldaten handelte.
 

Gaurons schmale, graubraune Augen hefteten sich derweil einen Atemzug lang an den Radarschirm.

Lageanalyse.

Sechs seiner ursprünglich acht Gegenspieler waren noch übrig. Einzeln betrachtet stellten sie offensichtlich keinerlei Bedrohung für ihn dar. Selbst wenn einer von ihnen ihn treffen sollte, konnte er ohne Spezialmunition weder seine ECS-Generatoren nachhaltig beeinträchtigen noch das von seinem Lambda-Driver erzeugte Schutzschild durchdringen.

Sollten sich jedoch alle sechs zusammenrotten und gemeinsam sowie gleichzeitig auf ihn feuern, könnten sie sich höchstwahrscheinlich dennoch zu einem echten Ärgernis entwickeln. Ausweichmanöver wurden in der Umsetzung problematisch, wenn man erst einmal umzingelt war und keine Rückzugswege mehr offen hatte. Die Sprengkraft von sechs gleichzeitig aufschlagenden Raketen würde eng an der Grenze dessen liegen, was sein Lambda-Driver potenziell absorbieren konnte.

Zudem hatte er seinen offensichtlichsten Vorteil - nämlich das Überraschungsmoment - bereits genutzt und somit aufgebraucht.
 

Es gab exakt eine wirklich effektive Möglichkeit, das Zustandekommen dieser tendenziell unangenehmen Situation zuverlässig zu verhindern - eine einzige, die dem Grinsen auf dem kantig geschnittenen, dunkelhäutigen Gesicht des Südasiaten alles andere als abträglich war.
 

Johns Teamkamerad sprintete unterdessen in dem festen Vorsatz, seine beiden gefallenen Kumpanen zu rächen, bereits blindwütig in Richtung des Codarl-AS, dessen Typbezeichnung er natürlich ebenso wenig kannte wie John selbst. Letzterer war - obwohl noch nicht klüger bezüglich der technischen Spezifikationen des gegnerischen Armslaves - immerhin zwischenzeitlich zu dem Entschluss gekommen, dass es keine gute Idee sein konnte, einen gänzlich unbekannten Gegner unverzüglich frontal anzugreifen.

"Warte! Komm wieder her!", kommandierte John über Funk, doch der Order wurde nicht Folge geleistet.
 

Gauron konnte sich ein leises, raues Auflachen nicht verkneifen, murmelte dann zu sich selbst: "Sieh an . . . und schon der erste Freiwillige. Wie zuvorkommend!"
 

Was in den folgenden zehn, vielleicht zwanzig Sekunden passierte, übertraf alles, was John sich in den wenigen, wie in Zeitlupe vergangenen Augenblicken dazwischen hatte vorstellen können. Der M6 seines Kameraden erreichte den scharlachroten Armslave tatsächlich, scheinbar ungehindert - er war bis auf eine Entfernung heran gekommen, aus der ein abgegebener Schuss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit treffen und den Feind mit ebensolcher Präzision elimieren musste.

Ein Fehlschlag war ausgeschlossen - vollkommen ausgeschlossen. John fragte sich, ob er vielleicht falsch gelegen, die Gefährlichkeit des Gegners überschätzt hatte. Womöglich basierte die verheerende Wirkung seines ersten Angriffes nur darauf, dass die Piloten der US-Einheit übermüdet und unkonzentriert gewesen sowie von ihm überrascht worden waren.
 

Einen Augenaufschlag später fielen alle diese Hoffnungen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der M6 hob seine Waffe, betätigte den Abzug. Es folgte - erwartungsgemäß - ein Knall. Doch es war nicht der von auf Metall treffender und dort hochgehender panzerbrechender Munition, sondern einer, der diesen an ohrenbetäubender Lautstärke noch um ein Vielfaches übertraf.

Es war diese Art Knall, die eine große Menge plötzlich erhitzter, sich abrupt ausdehnender Luft zur Ursache hatte. John glaubte, das flüchtige Aufflimmern eines künstlich anmutenden, grell-roten Lichtscheins um das ihm unbekannte AS-Modell herum wahrzunehmen, als das donnernde Geräusch an seine Ohren drang.
 

Der Amerikaner hätte nicht sagen können, was ihm zuerst zu Bewusstsein kam: Die Tatsache, dass der Lichtpunkt, der zum Armslave seines Teamkameraden gehörte, vom Radarschirm verschwand, oder das grauenhafte Bild, das die Außenkameras einfingen und das aus einem verdammt schlechten Film zu stammen schien. Die Maschine seines langjährigen Kameraden zerbarst in ihre Einzelteile, so als bestünde sie nicht aus Zentimeter dicken Panzerstahlteilen, sondern aus billiger Plastik. Ganz wie eine Glasfigur, die von einem unsichtbaren Hammer getroffen wurde.

Verbeulte Trümmer verteilten sich auf dem Boden, gesellten sich zu den anderen, die dort bereits lagen.
 

In diesem Moment wusste John mit an Bestimmtheit grenzender Sicherheit, dass weder er noch irgendein anderes Mitglied seiner Einheit den nächsten Sonnenaufgang erleben würden.
 

Der Rest des Operationstrupps - noch vier weitere Männer samt intakter Maschinen - hatte sich mittlerweile gesammelt und erreichte gemeinsam den Ort des Geschehens. John hörte ihre Funksprüche mit, sie hatten also auf die globale Kommunikationsfrequenz umgeschaltet. Sie redeten durcheinander, ein Wirrwarr von Stimmen. Er hatte Mühe, den Inhalt der Worte zu realisieren, hockte noch immer wie zur Salzsäule erstarrt reglos in seinem Pilotensitz.

"Scheiße, was geht hier vor sich?" - "Ruhe bewahren, das ist doch nur einer!" - "Zusammen bleiben und gebündelt angreifen, keine Einzelaktionen mehr!"

Dazwischen ertönte immer das leise, monotone Rauschen der Funkübertragung.
 

Dem aus der Not geborenen neuen Plan folgend rotteten die vier M6-Armslaves sich in einem engen Kreis zusammen. Drei richteten die Waffen auf den Gegner, der verbliebene deckte ihnen den Rücken.

John war noch immer unfähig, auf ihre Funksprüche zu reagieren, die ihn aufforderten, sich endlich zu ihnen zu gesellen.
 

Gauron ließ seine Kontrahenten nicht lange warten. Als der Codarl-AS sich blitzartig von der verbrannten Erde abstieß, einen Satz nach vorn machte und in gerader Linie auf die Formation zu hechtete, wurde das Feuer auf ihn eröffnet.

Ein wahrer Patronenhagel prasselte auf ihn ein, flankiert von zwei weiteren Raketen. Das grelle, rote Leuchten, das die Außenhülle seines Kampfroboters umgab, intensivierte sich beim Kontakt mit der ersten Munition augenblicklich, breitete sich flammend hell in der Luft vor ihm aus. Die Raketen, die auf den Wall aus Licht auftrafen, explodierten in einer Wolke aus Qualm und Feuer, ohne ihr dahinter liegendes Ziel zu erreichen. Die metallenen Geschosse, die den glühenden Nimbus berührten, zerbröselten wie morsches Holz.
 

Erneut drang Stimmengewirr über Funk in Johns Cockpit. Die Rufe waren lauter geworden, so laut, dass der Mann sie nicht mehr ignorieren konnte.

"Was zur Hölle ist das?!" - "Schießt doch!" - "Ich treff' ihn einfach nicht!"

Johns Augen weiteten sich. Er brauchte einen weiteren Atemzug, dann noch einen, um seinen paralysierten Zustand endlich abzuschütteln. Die erste und letzte Antwort, die einzige Erwiderung, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte, bahnte sich ihren Weg aus seiner Kehle: "Haut ab! Scheiße, haut doch ab!"

Viel Gelegenheit, den durchaus guten Ratschlag ihres Kameraden zu erfassen oder gar umzusetzen, blieb den vier US-Piloten nicht mehr.
 

Gauron hatte sie erreicht.

Noch immer zerschellte der unablässig und verzweifelt weitergeführte Versuch eines Sperrfeuers lärmend an dem energetischen Schild, das er durch Stabilisierung seines Lambda-Drivers aufrecht hielt. Es kostete erhebliche Konzentration und nicht wenig Kraft, Dauerbeschuss damit abzufangen. Selbst der allerbeste Armslave-Pilot konnte solcher physischen wie mentalen Belastung nicht ewig standhalten.

Doch glücklicherweise gab es auch hier eine effiziente Methode, dieses Problem zu umgehen, die der Volksmund mit dem saloppen Sprichwort "Mach kaputt, was dich kaputt macht!" zu umschreiben pflegte.
 

Mit einem Sprung, der die tonnenschwere Metallkonstruktion seines Armslaves meterweit über den Boden beförderte, begab Gauron sich fast punktgenau in die Mitte des Kreises, den seine Gegner in der irrtümlichen Annahme gebildet hatten, einander so besser decken zu können.

In der Praxis führte ihre Aufstellung nun dazu, dass sie ihm für die Dauer von etwa drei Sekunden alle den Rücken zudrehten. Diesen Fehler bezahlte einer von ihnen mit dem Leben.
 

Das überdimensionale Kampfmesser, das der Codarl-AS noch im Fall zog, schnellte nach vorn, umgeben vom roten Glimmen des Lambda-Drivers, und bohrte sich in den Torso des gegnerischen Armslaves, genau auf Höhe der Pilotenkabine. Der Gestank von Hitze, geschmolzenem Metall und verschmorten Kabeln stieg in die Luft auf.

Als die Klinge wieder zurückgerissen wurde, klebte neben den Maschinenflüssigkeiten aus den beim Durchschlag durchtrennten Leitungen auch Blut daran. Es war im Verhältnis nur ganz wenig, kaum sichtbar zwischen den matt schimmernden Schlieren von Öl und Kühlmittel. Dennoch reichte es aus - der Kampfroboter bewegte sich nicht mehr.
 

Gauron ließ sich mitsamt des mit ihm verbundenen Armslaves sofort wieder in die Hocke fallen, angespannt und sprungbereit. Er rechnete damit, dass spätestens jetzt Panik unter seinen verbliebenen Kontrahenten ausbrechen würde, die die Fehlerquote steigerte.

Auch damit sollte er recht behalten.
 

Die beiden sich im Kreis gegenüber stehenden US-Piloten realisierten im selben Moment, dass der Feind direkt in ihrem Rücken stand, ihre Systeme schlugen schallend Alarm. Das Adrenalin in ihren Adern veranlasste sie, sehr schnell, aber ebenso gedankenlos zu reagieren - es war einer dieser Momente, in denen kein noch so strenger militärischer Drill mehr genügte, um die natürlichen Instinkte des Durchschnittsmenschen zu unterdrücken.

Die M6-Armslaves fuhren zeitgleich herum und feuerten. Gauron hatte sich bereits von der Erde unter den Füßen seines Codarl-AS abgestoßen, war einen Sekundenbruchteil zuvor von seiner Position zwischen ihnen verschwunden. Doch der einmal ausgelöste Reflex ließ sich nicht mehr aufhalten.
 

Diesmal ertönte der Klang, der eigentlich so typisch für Armslave-Schlachten war: das Geräusch von durch Metall schlagenden Geschossen, gefolgt vom Geräusch einer ganz gewöhnlichen Explosion, die funkensprühende Maschinenteile in alle Richtungen fortstieben ließ.

Ein paar der Bruchstücke schlugen in den Schutzschild ein, den der Lambda-Driver um Gaurons Kampfroboter herum erzeugte. Sie wurden dort ebenso pulverisiert wie die gegen ihn gerichtete Munition zuvor.
 

Nun verblieb nur noch ein letztes Mitglied der einstigen Kreisformation. Der Qualm, der von den Wracks der Maschinen seiner Teamkameraden ausging, die sich in Aufregung und Chaos gerade gegenseitig hochgejagt hatten, versperrte dem Piloten die Sicht. Trotzdem riss er seine Gatling-Kanone hoch, ballerte blindlings in die Rauchschwaden hinein.
 

Gaurons Codarl-AS kam unterdessen seinem Gewicht entsprechend geräuschvoll, aber dennoch erstaunlich elegant wieder auf dem Boden auf. Das feindliche Feuer verfehlte ihn um mehrere Meter, er sah sich nicht einmal gezwungen, den Lambda-Driver zur Abwehr aktiv zu halten.

Die vollkommen sinnlosen, mittlerweile auch absolut unkoordinierten Bemühungen dieses Mannes, dessen Verhalten ihn in Gaurons Augen nicht nur als Amateur auswies, sondern zum blutigen Dilettanten abstempelte, amüsierten und beleidigten ihn gleichermaßen.
 

"Wir wollen doch mal sehen, ob du fangen kannst", flüsterte der Südasiate den zahllosen beleuchteten Anzeigen im Inneren seines Cockpits entgegen. Ein einzelner Schweißtropfen rann dabei an seiner Stirn, über seine Wange hinab, verfing sich dann im Stoppelfeld seines seit Tagen nicht rasierten Kinns.

Der Arm des scharlachroten Armslaves, der noch immer das besudelte Kampfmesser hielt, holte nach hinten aus und ließ die Klinge dann in Richtung seines Gegners fliegen, der - dank des Mündungsfeuers - für Gaurons Systeme selbst durch die Wand aus Qualm und Funken problemlos zu orten war.

Die kurz darauf erfolgende dritte Explosion verriet ihm, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte - und seinem Widersacher das Talent zum Fangen in der Tat fehlte.
 

Johns Augen verengten sich wieder. Er machte langsam einen Schritt rückwärts, während die Sensoren seines M6 das Trümmerfeld und die darüber aufsteigenden Rauchsäulen scannten. Es tat nicht Not, auf den Radarschirm zu schauen. Ihm war auch ohne das klar, wer diesen Kampf gewonnen hatte.

Ein paar Augenblicke später wurde seine diesbezügliche Vermutung bestätigt. Der mysteriöse Roboter unbekannter Typklasse drängte sich aus dem qualmdurchsetzten Dunkel der Nacht zurück in Johns Sichtfeld. Die farbige Legierung der Außenhülle hatte nicht einmal eine Schmarre abbekommen.
 

Gauron tat einen tiefen, leise hörbaren Atemzug, als er den Lambda-Driver deaktivierte. Er hatte es nun nur noch mit einer einzelnen feindlichen Einheit zu tun - deren Pilot wahrscheinlich in höchstem Maße eingeschüchtert war. Dafür bedurfte er keiner Schwarzen Technologie. Ganz im Gegenteil: Deren Einsatz hätte ihn am Ende sogar um den ganzen Spaß gebracht.
 

Der weitere Verlauf des Kampfes hing davon ab, wie sein allerletzter Kontrahent nun reagierte. Eine Kapitulation erschien Gauron unwahrscheinlich, denn sich kampflos einem Gegner zu ergeben, der offensichtlich weder ein Interesse an friedlicher Verhandlung noch Skrupel vor dem Töten hatte, machte keinen Sinn, brachte keinen Vorteil. Jeder, der auch nur ein Minimum an Verstand besaß, musste das wissen.

Diesen Verstand wiederum glaubte er bei seinem aktuellen Gegenüber durchaus zu erkennen, wenn man bedachte, dass jenes Mitglied der US-Operationseinheit nur deshalb immer noch lebte, weil es sich bisher erfolgreich aus dem Kampf heraus gehalten hatte.
 

Der Codarl-AS blieb etwa fünfhundert Meter von Johns M6 entfernt stehen. Der US-Pilot ging - eher unbewusst denn absichtlich - einen weiteren Schritt zurück. Es gab nur zwei mögliche Optionen: Flucht oder Angriff. Wirklich vielversprechend mutete ihm angesichts der Geschwindigkeit und Stärke seines Gegners weder das eine, noch das andere an.
 

Gauron quittierte das merkliche Zögern seines Gegners mit einem schiefen, nur mäßig begeisterten Grinsen. Alles, wirklich alles musste man selber machen.

"Aktiviere ABHS-System. Scanne Funkfrequenz", befahl er der künstlichen Intelligenz seiner Maschine.

- "Scan gestartet. Haben Sie eine Minute Geduld", entgegnete die Computerstimme.

Der Südasiate verzog das Gesicht, erwiderte trocken: "Nein. Mach es in dreißig Sekunden."
 

John zuckte zusammen, als die Funkanzeige in seinem Cockpit aufleuchtete. Der kalte, gleichmütige Tonfall der tiefen, rauen Stimme, die er gleich darauf vernahm, ließ ihn erschaudern. Der US-Pilot konnte Gaurons Grinsen zwar nicht sehen, aber mühelos aus den Worten heraus hören: "So viel zur angeblichen Supermacht Nummer Eins. Eine erbärmliche Vorstellung, meinst du nicht auch?"
 

Der Amerikaner schnaubte leise, verächtlich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein M6 ahmte die Bewegung natürlich nach, schloss die metallenen Finger enger um das riesige Gewehr. "Reicht es nicht, dass du gewonnen hast? Willst du uns auch noch verspotten?!", bellte er zurück. Dabei bemerkte er erst, wie trocken sein Mund sich anfühlte.
 

Als Antwort schlug ihm Gaurons schallendes Lachen entgegen. "Natürlich. Das ist das Privileg des Stärkeren", raunte er schließlich, fügte dann hinzu: "Aber du hast durch Mitdenken geglänzt, Soldat. Deshalb bist du als letzter noch am Leben. Das ist etwas, worauf du wirklich ein bisschen stolz sein kannst . . ."
 

Ja. Er war noch am Leben, ganz im Gegensatz zu seinen Kameraden. Er hatte sie im Stich gelassen, nichts getan, um ihnen zu helfen - auch wenn das zweifelsohne bedeutet hätte, ihr Schicksal zu teilen.

John ließ die Lider sinken. Er empfand keinen Stolz. Doch vielleicht konnte er das noch ändern. Sterben würde er ohnehin - so oder so.
 

"Dein Gequatsche nervt!"

Mit diesem zornigen Ausruf - gleichsam wütend auf sich selbst und auf das arrogante Arschloch, das diesen scharlachroten Armslave steuerte - hob er die Waffe und feuerte.
 

Gauron tänzelte mit spielender Leichtigkeit beiseite, die Schüsse gingen an ihm vorbei ins Leere. Die Funkverbindung stand noch immer, wodurch John erneut das Lachen seines Kontrahenten zu hören bekam.

Der Codarl-AS wich zurück. "Komm schon. Hat denn keiner von eurer Gurkentruppe Eier in der Hose?", flüsterte der zugehörige Pilot süffisant grinsend.
 

Die Provokation verfehlte ihre Wirkung nicht. Der M6 setzte sich in Bewegung und stellte ihm nach, schoss dabei erneut.

Der Tanz hatte begonnen.

Rational betrachtet diente dieses Spielchen keinem Zweck mehr - jedenfalls keinem anderen als Gaurons persönlicher Belustigung. Er hatte bereits gewonnen. Aber es bereiteten ihm nun einmal nur wenige Dinge auch nur annähernd so viel sadistische Befriedigung wie das Eintreten auf einen Gegner, der schon längst am Boden lag.
 

Der Amerikaner entpuppte sich sogar als halbwegs passabler Pilot. Immerhin gelang es ihm, Gauron in angemessenem Tempo zu folgen. Auch als die beiden Kontrahenten sich zunehmend weiter von der Stellung und somit auch vom ebenen Gelände entfernten, hielt er Schritt - jedenfalls in dem Maße, das die technischen Grundlagen eines M6 hergaben.

Dabei eröffnete John zu jeder sich bietenden Gelegenheit das Feuer auf seinen Widersacher, teils aus Wut und Verzweiflung heraus, teils der rein logischen Erkenntnis geschuldet, dass ein Sieg seine einzige Überlebenschance darstellte.
 

Allerdings schaffte der US-Pilot es nicht, einen direkten Treffer zu landen. Lediglich ein Streifschuss schrammte über die Oberfläche des scharlachroten Armslaves, schlug dabei Funken und hinterließ einen feinen, dunklen Kratzer auf der Legierung.

Dies nahm Gauron zum Anlass, den Spieß umzudrehen.
 

Ohne Vorwarnung brach der Codarl-AS zur Seite aus, seine Schritte beschrieben eine scharfe Kurve. Dem Südasiaten war nicht entgangen, dass sein Kontrahent bereits mehrmals die Waffe gewechselt hatte. Raketen flogen seit einigen Minuten keine mehr, die Feuersalven der anfänglich verwendeten Gatling-Kanone blieben mittlerweile ebenfalls aus.

Hinter einem solchen Verhalten konnte die Absicht stehen, den Gegner zu verwirren, zu verunsichern, indem bewusst ein falscher Eindruck bezüglich der eigenen Angriffsstärke erzeugt wurde. Doch davon ging Gauron nicht aus. Der Wechsel der Bewaffnung war von keiner merklichen Änderung der Taktik begleitet gewesen.

Unter diesen Bedingungen lag eine deutlich unspektakulärere Erklärung nahe: Munitionsmangel.
 

John erstarrte in seiner Bewegung, als der feindlichen Armslave seine bisherige Route verließ, sich zu ihm umwandte. Anstatt den nächsten Satz vorwärts zu tun, zu dem er bereits angesetzt hatte, machte er einen nach hinten. Sein Blick wanderte hastig, unruhig über die diversen Anzeigen in seinem Cockpit. Auf fast jeder stand zumindest irgendwo am Rand in blinkenden Großbuchstaben derselbe Warnhinweis geschrieben: OUT OF AMMO.

Das für Notfälle gedachte Reservemagazin für die Pistole seines M6 - die letzte Waffe, für die er überhaupt noch irgendeine Form von Munition besaß - hatte er bereits angerissen. Er schätzte, dass sich darin vielleicht noch zwei oder drei Patronen befanden.

Schweiß stand dem US-Piloten auf der von Nervosität und Erschöpfung erhitzten Stirn, seine eigenen hektischen, leise keuchenden Atemzüge klangen ihm in den Ohren. Er war sicher, dass auch sein Widersacher sie über Funk hören konnte.
 

Auf Gaurons Gesicht breitete sich unterdessen erneut ein schmales, ungerührtes Grinsen aus.

Sein Gegner hatte wenig bis keine Munition übrig und offensichtlich auch keine Kraft mehr. Das Katz-und-Maus-Spiel war vorüber, der beste Zeitpunkt da, um es zuende zu bringen - endgültig.
 

Der Codarl-AS sprintete nach vorn.

John feuerte. Ein Mal, noch ein zweites Mal. Beide Schüsse verfehlten. Der rote Armslave bewegte sich einfach viel zu geschwind - oder er selbst sich zu langsam, ganz wie man es betrachten wollte. Als sein Finger den Auslöseknopf zum dritten Mal betätigte, passierte nichts mehr.
 

Gauron blieb direkt vor dem M6 stehen. Die Außenhüllen der beiden Kampfroboter berührten einander beinahe. Das Metall reflektierte das rötliche Glimmen des Lichtscheins, der sich wieder um seine Maschine herum aufzubauen anfing.
 

"Keine Munition mehr? Das ist aber schade", übermittelte die Funkverbindung die leise geraunten, hämischen Worte des Angreifers in Johns Cockpit.

Der Amerikaner ließ sich in seinen Pilotensitz zurück fallen. Er wusste, dass es vorbei war. Der Schweiß auf seiner Haut fühlte sich nun kalt an. Ein Zittern durchzuckte seine Glieder. Vorbei - jetzt würde er sterben.

Er schnappte nach Luft, schluckte und spürte den Kloß in seinem Hals dadurch nur umso deutlicher.
 

"Wie sagen meine sowjetischen Freunde doch immer?", vernahm er erneut Gaurons leise, grauenhaft ruhige und furchtbar gleichgültige Stimme.
 

Das, was den US-Piloten davon abhielt, einfach zu verweilen, das ohnehin Unausweichliche aufrechten Hauptes zu erwarten, war nicht etwa sein Verstand, nicht das schlichte Fehlen von Stolz oder Ehrgefühl. Es saß tiefer, viel tiefer. Ein Instinkt, ein Trieb - der ursprünglichste von allen, der, den alle Lebewesen für gewöhnlich gemeinsam hatten.

Der M6 fuhr herum, drehte dem Codarl-AS dabei den Rücken zu und rannte los.
 

Gauron verzog das Gesicht. Natürlich - was sonst hätte er von einer feigen Ratte erwarten sollen?

"Doswidanja."
 

Er war nicht weit gekommen. Zehn, zwanzig Meter vielleicht. Dann holte das rot aufflackernde Energiefeld des Lambda-Drivers ihn ein.

Der M6 wurde von der Wucht, mit der das Erzeugnis der Schwarzen Technologie ihn traf, wie ein Spielzeug zu Boden geschleudert. Teile der Außenhülle platzten aus ihren Halterungen, flogen in alle Richtungen davon, bevor sie, eingehüllt vom grellen Licht, unter dessen verheerender Kraft zersplitterten.

Als die Helligkeit wieder der Schwärze der Nacht wich, ließ sie einen Haufen halb geschwärzten, halb geschmolzenen Metalls zurück, dessen deformierte Gestalt allenfalls noch grob an einen Armslave erinnerte.
 


 

Nicht ganz eine Stunde später hallte das Propellergeräusch der beiden sowjetischen Kampfhubschrauber durch die Luft, begleitet von dem dreier Transporthelikopter. Es hatte zu gewittern begonnen. Sporadisch zuckten, ganz zum Unbehagen der Piloten, Blitze durch den wolkenverhangenen nächtlichen Himmel, meist gefolgt von dumpfem Donnergrollen.

Die kleine Grenzstellung des US-Militärs - oder besser gesagt das, was davon übrig war - anzusteuern, gestaltete sich trotz der schlechten Witterungsverhältnisse extrem leicht, denn obwohl es seit etwa zehn Minuten wie aus Eimern schüttete und der Regen zumindest sämtliche Brände gelöscht hatte, hing noch immer ein Rest Rauch in der Luft. Er dämpfte das Scheinwerferlicht der Helikopter und erschwerte ihnen die Landung. Einer der Hinds flankierte sie, der andere schwärmte bereits aus, um das Gelände in Augenschein zu nehmen.
 

Die beiden uniformierten KGB-Mitglieder sprangen sichtlich missmutig ob des Wetters aus ihrem Gefährt. Unter ihren Stiefeln, die mit einem schmatzenden Geräusch auf dem schlammigen Boden auftrafen, spritzte schmutziges Regenwasser beiseite. Im Moment waren die Männer wohl dankbar dafür, dass zu ihren Uniformen nicht besonders formschöne, aber wenigstens temporär Wasser abweisende Mützen gehörten.
 

"Was für ein beschissenes Wetter", murmelte einer von ihnen in seinen Schnauzbart. Sein neben ihm stehender Kamerad zuckte die Schultern, knurrte zurück: "Ihre Nerven möchte ich haben, wenn Sie heute Nacht nur das Wetter beschissen finden."

Der Initiator des wenig fruchtbaren Gesprächs ignorierte die Bemerkung, ging stattdessen ein Stück. Die Scheinwerfer der Hubschrauber leuchteten das Gebiet so gut wie möglich aus. Der Mann sah sich um.
 

Wohin auch immer sein Blick schweifte, fand er nichts als verbrannte, lose verstreute Trümmer vor - dazwischen einige leblose Körper, durchweicht und mit Matsch beschmiert. Den größten Teil des Blutes, das den Boden unter den vom Maschinengewehr eines Armslaves durchsiebten Leichen normalerweise gefärbt hätte, hatte der starke Regen bereits weggewaschen.
 

Sein Kollege eilte ihm nach einem kurzen Moment des Zögerns hastig hinterher, trat wieder neben ihn. Das Gesicht des Russen schien auf diesen paar Metern ein wenig an Farbe verloren zu haben. "Was . . . zur Hölle . . .? Es hätte doch gereicht, wenn er die gegnerischen Maschinen mit den Anti-Luft-Raketen . . .", begann er deutlich leiser als zuvor.

Sein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf, blieb dann abrupt stehen, als die wachsam, beinahe schon angespannt umher huschenden Augen die Umrisse des Codarl-AS in einiger Entfernung durch den Schleier von Regen und Rauchschwaden hindurch erkannten. "Nein", antwortete er leise, "Nicht für ihn."
 

Gauron saß wieder neben seinem Armslave, das Metall der Maschine im Rücken. Das Wasser, das aus den Wolken hinab fiel, prasselte auf ihn ein. Es durchnässte sein Haar, klebte die schwarzen Strähnen klamm an seine Stirn, rann an seinem Gesicht, seinem von der maßgefertigten Pilotenuniform bedeckten Leib hinab.

Trotz der Nässe und der Kälte, die unter dem Armslave-Suit eine leichte Gänsehaut über seinen Hals zog, war der Regen ihm willkommen. Er wusch ihm Schweiß aus den Haaren, kühlte Körper und Gemüt.

Zudem hatte er in seinem Leben bereits öfter und zuweilen auch schon sehr viel schlimmer gefroren.
 

Eine halb aufgerauchte Zigarette steckte in Gaurons Mundwinkel, glomm unter dem tiefen Zug auf, den er daran tat. Er hielt den Kopf ruhig, während sein Blick sich zur Seite wandte, aus dem Augenwinkel auf die beiden KGB-Leute fiel, die dort in einiger Entfernung herum lungerten, ihn beobachteten, sich nicht näher heran zu trauen schienen.
 

Der KGB-Soldat mit dem perfekt zurecht gezupften Schnauzbart versteifte sich, sein ein winziges Stückchen weiter zurück gebliebener Kollege machte einen zusätzlichen Schritt nach hinten. Er konnte es ihm angesichts der graubraunen Augen, die sie beide aus der verregneten Nacht heraus fixierten, nicht verübeln.

So unheimlich diese Gestalt ihm vorher auch schon gewesen sein mochte, jetzt übertraf der Kerl sich selbst. Der spöttische Blick, untermalt von dem bösartigen Grinsen, das sich gleich darauf auf Gaurons Lippen ausbreitete, erinnerte ihn - der Vergleich drängte sich seinem Hirn förmlich auf - an ein Raubtier, das zufrieden und satt gefressen, mit noch blutbesudelter Schnauze gerade von seiner frisch geschlagenen Beute abließ.
 

"Dieser . . . dieser Typ ist doch vollkommen krank", murmelte es von hinten verhalten, ganz leise, um sicher zu gehen, dass der Südasiate es nicht zu hören vermochte.

Bevor das zweite KGB-Mitglied etwas entgegnen konnte, gab sein Funkgerät ein lautes Piepen von sich. Er nahm es von seinem Gürtel. Die Qualität der Verbindung war mäßig, es rauschte hörbar zwischen den Worten, doch sie waren verständlich: "Bisher haben wir die Wracks von sieben US-Armslaves gefunden. Der Posten wurde vollständig zerstört. Keine Überlebenden. Suche läuft weiter."
 

Der Mann ließ die Hand langsam sinken, ehe er endlich erwiderte: "Oh ja, das ist er. In mehrfacher Hinsicht. Er hat hier binnen einer Stunde im Alleingang eine ganze Operationseinheit auseinander genommen."

Sein Kollege war nun still. Nur seine Wangen wurden noch eine Nuance bleicher.
 

. . .
 

Die Lampe in Lenas Zimmer erlosch, als die Finger des Mädchens den Lichtschalter betätigten. Als sie auf dem Weg zu ihrem Bett am Fenster vorbei kam, warf sie noch einmal einen kurzen Blick hinaus. Ein sachtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Sie war sicher, dass es ihm gut ging. Irgendwann würde er wieder nach Hause kommen - in einer Woche, vielleicht auch zweien. Er kam immer zurück - immer.
 

Sie ließ sich auf der Bettkante nieder, die Lider senkten sich halb über ihre tiefgrünen Iriden. Zum Schlafen fertig gemacht hatte sie sich schon, trug nur noch ein etwas zu langes T-Shirt. Die Haare fielen ihr offen, glatt gekämmert über die schmalen Schultern, bis etwa zur Mitte der Oberarme.

Es war spät geworden. Sie durfte nicht noch länger wach bleiben, sofern sie am nächsten Tag nicht müde sein wollte. Und das wollte sie beleibe nicht, wenn sie bedachte, wie nervtötend dieser Tag auch ohne das potenziell werden konnte.
 

Lena fiel in die Kissen zurück, rollte sich in ihre angenehm weiche, aber noch ziemlich kühle Decke ein.

Sie würde einen guten Job machen. Er tat das schließlich ebenfalls und sie wusste, dass er es auch von ihr erwartete. Ihr Ziel war klar. Es gab nur dieses eine für die Russin, schon seit über fünf Jahren:
 

Ron sollte stolz auf sie sein.
 

Die junge Frau schloss die Augen ganz. Die Bettdecke erwärmte sich durch den Kontakt mit ihrem Körper rasch. Wenige Minuten später dämmerte sie tatsächlich langsam in einen Schlaf hinab, der zu ihrer Erleichterung diesmal keinen dieser seltsamen Träume gebar.
 

~
 

[Mein herzlicher Dank geht an meinen heiß geliebten Main-Beta-Leser. Drei Stunden lang das Kapitel gemeinsam auseinander zu nehmen, hat wirklich irrsinnigen Spaß gemacht. Ebenfalls dankbar bin ich meinem Vater für eine ausführliche Erklärung zum Thema Kampfhubschrauber im Allgemeinen und dem Hind im Besonderen.

Sehr gequält habe ich mich mit der Kampfszene. Die musste ich drei oder vier Mal komplett neu schreiben, ehe ich halbwegs zufrieden damit war. Damit wäre das Einleitungs- und Vorstellungs-Blablubb auch vorbei, in den nächsten Kapiteln passiert sogar was! ^^]



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