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Bonheur éphémère

von

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Das Streben nach Glück

Es klopfte an der Tür und Matthew öffnete sie. Beinahe hätte er sie gleich wieder geschlossen, als er sah, wer davor stand.

„Hey, Mattie“, sagte Alfred und grinste ihn an. Er trug einen makellosen blauen Mantel, doch seine Haare waren so wirr wie eh und je.

„Was willst du?“, murmelte Matthew.

„Was denn? Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen, und du begrüßt mich nicht einmal?“

Matthew wollte die Tür schon wieder schließen, doch Alfred hob die Hände. „Hey, warte doch, Mattie! Ich möchte mit dir über etwas reden.“ Er räusperte sich und versuchte offenbar, wichtig zu klingen. „Über etwas, das große Auswirkungen auf die Zukunft haben wird.“

Unsicher trat Matthew von einem Bein aufs andere. „Auf wessen Zukunft?“

„Auf unsere.“

Unsere Zukunft gibt es nicht“, murmelte Matthew.

„Vielleicht doch“, erwiderte Alfred und legte den Kopf schief. „Genau darum geht es.“

„Mir gefällt es hier sehr, Alfred. Ich werde nicht wieder in dein Haus ziehen. Wir sind keine kleinen Jungen mehr.“

„Lass mich doch erst einmal herein... oder wollen wir das hier zwischen Tür und Angel diskutieren?“

„Ich schon“, sagte Matthew leise, aber entschieden, und blieb in der nur einen Spalt weit geöffneten Tür stehen.

Alfred seufzte tief. „Also gut, Mattie. Es geht darum, dass...“ Er brach ab, senkte den Blick und malte mit der Schuhspitze in den Sand zu seinen Füßen. Matthew erkannte, dass er zögerte, und es überraschte ihn sehr. Alfred zögerte niemals.

„Es ist so... dass Arthur mir in letzter Zeit viel zu aufdringlich wird. Viel zu besitzergreifend, verstehst du? Ich bin nicht sein Besitz, und mittlerweile bin ich schon erwachsen.“

Matthew blinzelte. „Ich habe gehört, dass ihr beide schon wieder Streit hattet. Arthur hat erzählt, du wärst undankbar, Alfred.“

„Ja, wir hatten... ich bin nicht undankbar!“, erwiderte Alfred aufgebracht. „Ich bin Arthur sehr dankbar für alles, was er für mich getan hat. Aber mittlerweile bin ich groß und brauche seine Hilfe nicht mehr. Das ist alles.“

„Und was willst du deswegen tun?“, fragte Matthew leise. „Ihn angreifen? Ihm in den Rücken fallen?“

„Ach was!“ Alfred schüttelte den Kopf. „Wo denkst du hin? Ich würde Arthur niemals angreifen. Ich werde ganz normal zu ihm gehen und ihn darum bitten, mir ein wenig mehr Freiheit zuzugestehen. Das ist alles. Mehr will ich ja gar nicht.“

„Ein wenig Freiheit?“, wiederholte Matthew. „Hast du die nicht schon?“

„Machst du Witze? Ich muss noch immer so viele Steuern an Arthur zahlen, auf Papier, auf Zucker, auf die blödesten Dinge... das geht mir mittlerweile auf die Nerven. Es erdrückt mich, verstehst du, Mattie?“

Matthew schwieg und betrachtete seine Füße. „Wieso erzählst du mir das alles?“, fragte er.

„Nun... um ehrlich zu sein, wollte ich dich fragen, ob du mitkommst.“

„Zu Arthur?“

„Genau. Wenn wir zusammen hingehen und ihn bitten...“

„Ich dachte eigentlich, du würdest dich das allein trauen.“

„Es geht nicht darum, dass ich mich nicht traue!“, stellte Alfred klar, und Matthew glaubte ihm. Alfred hatte keine Angst. „Ich würde dich mitnehmen, um dir einen Gefallen zu tun, Mattie. Wir könnten beide etwas davon haben, dass Arthur uns nicht mehr so bevormundet, oder?“

„Wonach genau willst du ihn fragen? Nur nach ein wenig Freiheit?“

„Nicht nur“, erklärte Alfred eifrig und schob eine Hand in seine Tasche. „Da ist noch... wo habe ich denn... ach, da.“ Er zog einen zerknitterten Zettel hervor, glättete ihn und räusperte sich. „Freiheit, ja. Mehr Selbstbestimmung und einige grundsätzliche Dinge. Dass alle Menschen gleich sind, zum Beispiel.“

„Gleich?“

„Schau dir Arthur an, mit seinen Königen und Adligen. Ist es nicht dumm, zu behaupten, einige Menschen wären besser als andere, von Geburt an? Das ist doch lächerlich!“

Matthew sagte nichts dazu. „Was steht da noch?“, fragte er.

„Moment, lass mich sehen... Gleichheit... Gerechtigkeit... oh, ja!“ Alfred hob den Kopf und schenkte Matthew ein Lächeln. „Bei dem Punkt habe ich an dich gedacht.“

„Bei welchem Punkt?“

„Hör gut zu, Mattie. Jeder hat ein Recht auf das Streben nach Glück.“

Matthew senkte den Blick und schwieg. Alfred sah von dem Zettel auf und lächelte hoffnungsvoll.

„Mattie? Wir können das durchziehen, zusammen. Wir können Arthur davon überzeugen, dass diese Forderungen hier, Gleichheit und Gerechtigkeit, dass das alles gut und richtig ist. Wir können es schaffen, Mattie!“

„Das Streben nach Glück?“, murmelte Matthew.

„Ja. Gefällt dir die Formulierung etwa nicht? Ich fand sie so hübsch, so...“

„Poetisch.“

„Ja!“ Alfred grinste breit.

„Wenn du es mir in mein Poesiealbum geschrieben hättest, hätte ich es vielleicht auch hübsch gefunden.“

„Was meinst du denn damit?“

Matthew hob den Kopf. Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen, aber seine Augen blieben davon unberührt und melancholisch. „Niemand hat mir je verboten, nach meinem Glück zu streben, Alfred“, sagte er leise. „Ich habe es nur nie erreicht.“

Alfred runzelte die Stirn. „Wie... soll ich es anders formulieren? Schlag du etwas vor, Mattie, ich bin für alles offen! Wie würdest du es ausdrücken?“

Nachdenklich wiegte Matthew den Kopf hin und her. „Lass es so stehen“, antwortete er dann. „Das Streben nach Glück... mehr kannst du niemandem garantieren. Ob man sein Glück erreicht oder nicht, hat letztendlich nichts mit dem Streben zu tun.“

„Doch!“, widersprach Alfred überzeugt. „Du musst dafür arbeiten, Mattie, und daran glauben! Dann schaffst du es auch!“

„Wenn du nicht daran glaubst und nicht dafür arbeitest, wirst du dein Glück nicht erreichen. Aber ob der Umkehrschluss so funktioniert... ich denke nicht, Alfred.“ Matthew schüttelte langsam den Kopf. „Ich denke nicht.“

„Aber...“, begann Alfred und brach dann ab. „Also gut, Mattie, wie auch immer. Was hältst du von den anderen Dingen? Freiheit? Gerechtigkeit? Gefällt dir das wenigstens?“

Matthew betrachtete den mitgenommenen Zettel in Alfreds Händen. „Du wirst einfach zu Arthur gehen und ihn bitten, diesen Forderungen nachzukommen? Auch der nach Selbstbestimmung? Einfach so?“

„Ja. Wieso nicht?“

„Ihr hattet schon eine Auseinandersetzung. Ich habe davon gehört.“

Alfreds Gesicht verdüsterte sich. „Es sind sechs Leute gestorben. Meine Leute.“

„Arthur hat gesagt, du hättest zuerst mit Steinen geworfen.“

„Aber er hat zuerst geschossen.“

Matthew senkte den Blick. „Ich kann das nicht beurteilen. Ich war nicht da.“

Alfred schüttelte den Kopf und setzte wieder sein altes Grinsen auf. Es wackelte nur leicht. „Das ist schon ein paar Jahre her, Mattie. Ich bin darüber hinweg. Und ich bin mir immer noch sicher, wenn wir uns ganz vernünftig zusammen setzen, Arthur und ich, wird es auch ohne einen Kampf gehen. Das kann man doch mit Worten regeln, wirklich!“

Traurig sah Matthew ihn an. „Ich kann mir denken, was herauskommt, wenn du versuchst, etwas mit Worten zu regeln“, murmelte er und drehte sich um.

„Mattie? Du kannst doch nicht einfach so gehen!“

„Nein. Aber du kannst jetzt gehen.“

„Wieso willst du nicht mitkommen?“, rief Alfred. „Wieso schließt du dich nicht mir an, Mattie? Was ich tue, ist gut für uns beide!“

Matthew schwieg und griff nach der Türklinke.

„Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfen würde, dein Glück zu finden, Mattie! Weißt du nicht mehr, damals, an Weihnachten, mit den Steckenpferden im Wald? Weißt du nicht mehr? Ich habe es dir versprochen!“

„Ich habe gesagt, ich möchte nicht mitkommen“, sagte Matthew leise. Alfred umklammerte den Zettel in seinen Händen und rang nach Luft.

„Du willst doch nur nicht, weil du mich immer noch nicht leiden kannst!“

Die Tür war schon fast geschlossen. Durch den letzten kleinen Spalt drang Matthews gedämpfte Stimme nach draußen.

„Und wenn es so wäre, Alfred? Welchen Unterschied würde das machen?“

Dann fiel die Tür ins Schloss.
 

Alfred überlegte, ob er Angst hatte, aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er keine. Es war keine Angst, mit der er an die Zukunft dachte. Es war eine nervöse Aufregung, vermischt mit Neugier und einer Freude, die er sich selbst kaum erklären konnte. Er hatte das Gefühl, endlich das zu tun, wozu er von Anfang an bestimmt gewesen war. Als hätte sein Leben niemals einen anderen Verlauf nehmen können als den, den es gerade nahm. Es würde alles gut gehen, dachte Alfred. Er würde seine Freiheit bekommen, egal, was Arthur dazu sagte. Auch, wenn Matthew nicht mitmachen wollte.

Matthews Absage störte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte, und war das einzige, was seine Freude trübte. Was Alfred tat, war gut und richtig, und wenn Matthew nicht mitmachen wollte, war das ganz allein sein Problem. Außerdem: Sobald Alfred geschafft hatte, was er sich vorgenommen hatte, sobald er seine Freiheit und Eigenständigkeit hatte, würde Matthew vielleicht auf den Geschmack kommen. Vielleicht würde er sehen, was er haben könnte, wenn er wollte, und würde sich dazu entschließen, hinzugehen und es sich zu holen. Das war schließlich alles, worum es im Leben ging, dachte Alfred: hingehen und sich nehmen, was einem zustand.

Das Pferd unter ihm schien müde zu sein und ließ den Kopf hängen. Alfred trieb es nicht an, sondern klopfte ihm gutmütig auf den Hals. „Wir sind bald da, mein Guter. Da vorne ist es schon.“

Die Sonne stand bereits tief und tauchte sein Haus in ein warmes Licht. Alfred seufzte leise, als er daran dachte, wie lange er schon hier wohnte. Sein ganzes Leben hatte er in diesem Haus verbracht, und er hatte auch jetzt nicht vor, auszuziehen. Aber trotzdem würde sich einiges am Haus verändern, dachte er. Matthew wohnte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr hier, und erst jetzt bemerkte Alfred, dass er ihm manchmal fehlte. Seine stumme, kaum wahrnehmbare Anwesenheit, abends in seinem Lieblingssessel vor dem Kamin. Matthew war jemand, den man eher dann bemerkte, wenn er weg war, als dann, wenn er tatsächlich da war.

Und Arthur, dachte Alfred. Arthur, der völlig unverhofft in der Tür stand, der wieder einmal früher ankam als geplant. Der in der Küche das Abendessen richtete, der auf der Bank hinter dem Haus saß und Alfred Holzpferde zum spielen schnitzte. Vielleicht würde er es vermissen, dachte Alfred, schüttelte aber im nächsten Moment den Kopf. Er war kein Kind mehr, das mit Holzpferden spielte. Diesen nostalgischen Zug kannte er gar nicht an sich.

Das Pferd hielt vor dem verschlossenen Tor an und begann, am Wegrand zu grasen. Alfred stieg ab, öffnete das Tor und schnalzte ihm zu, doch das Pferd hörte nicht.

„Willst du noch eine Weile hier bleiben? Also gut. Ich hole dich später rein, in Ordnung?“

Das Pferd schnaubte, ohne aufzusehen. Alfred grinste und machte sich auf den Weg zum Haus hinüber. Ein paar Blätter lagen auf dem Weg. Vielleicht sollte er den Garten rechen, dachte er.

Den Besucher bemerkte er erst, als er die Veranda beinahe erreicht hatte. Er setzte schon den Fuß auf die unterste Stufe der hölzernen Treppe, als er ein diskretes Räuspern hörte. Der Mann stand halb im Schatten und war gegen die untergehende Sonne kaum zu erkennen.

„Guten Abend“, sagte Alfred überrascht. „Kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann trat einen Schritt vor und lächelte. „Das weiß ich nicht“, sagte er. „Aber ich kann dir helfen.“

„Wer sind Sie?“

„Nenn mich Francis.“

Alfred machte große Augen, als ihm das durch den Kopf ging, was Arthur immer erzählt hatte, als er klein gewesen war. Francis?

„Aber du bist böse!“, platzte er heraus.

Francis zog die Augenbrauen hoch und lachte auf eine selbstsichere Art, die Alfred erröten ließ. „Das hat Arthur früher immer gesagt“, erklärte er.

„Ach ja? Und, hat er es in letzter Zeit nicht mehr gesagt?“

„Nein“, gab Alfred zu, hatte aber nicht vor, Francis den Grund dafür zu nennen. In den letzten Jahren hatte er selten mit Arthur gesprochen, und wenn, dann hatten sie meistens gestritten.

Francis legte den Kopf schief und lächelte. „Ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten“, sagte er.

„Wobei?“

„Nun... ich habe von dem Konflikt gehört, der sich in letzter Zeit zwischen dir und Arthur anbahnt.“

„Ach ja?“, fragte Alfred verdutzt. „Ich wusste nicht, dass jemand außer uns davon weiß.“

„Ich weiß viel“, erwiderte Francis und zuckte die Achseln. „Ich habe gehört, dass du vorhast, zu Arthur zu gehen und deine Rechte einzufordern.“

„Ja“, sagte Alfred.

„Und ich habe auch gehört, dass du offenbar viel zu gutgläubig an die Sache heran gehst.“

„Gutgläubig?“, wiederholte Alfred, der nicht sicher war, ob es ihm gefiel, in welche Richtung dieses Gespräch sich entwickelte.

„Ich kenne Angleterre schon lange, musst du wissen“, erklärte Francis. „Und...“

„Wer ist das, Uncle Terr?“

„Ich spreche von Arthur.“

„Ich kenne ihn auch schon lange“, sagte Alfred und zuckte gleichgültig die Schultern. „Mein ganzes Leben lang.“

„Aber du hast bisher nur seine, wie soll ich sagen... seine Schokoladenseite kennengelernt.“

„Schokoladenseite?“

„Du kennst Arthur nur als deinen Freund und großen Bruder“, sagte Francis und musterte Alfred von Kopf bis Fuß. „Aber du weißt nicht, was sonst noch in ihm steckt. Ich kenne Arthur schon länger, sowohl als Freund wie auch als Gegner.“

„Moment“, sagte Alfred misstrauisch und trat einen Schritt von ihm weg. „Arthur ist nicht mein Gegner, und er wird es nie sein. Nur, damit das klar ist. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass deine Ratschläge mir nützen können.“

„Das glaubst du“, erwiderte Francis sanft. „Deswegen sage ich dir ja, dass du zu gutgläubig an die Sache herangehst.“

„Und ich glaube, dass ich dich nicht eingeladen habe“, sagte Alfred entschieden, „und obwohl ich eigentlich ziemlich gastfreundlich bin, denke ich nicht, dass ich dich hier aufnehmen möchte. Es wäre mir lieb, wenn du jetzt gehen würdest.“

Francis seufzte leise. „Ich meine es gut mit dir, mon ami.“

„Das sagt Arthur auch. Ich bin gerade dabei, mich davon zu befreien.“

„Arthur wird dich nicht gehen lassen. Notfalls wird er Gewalt anwenden, um dich zurückzuhalten. Alles, was du in Bezug auf kriegerische Taktiken kannst, hat Arthur selbst dir beigebracht. Es wird ihm ein leichtes sein, dich zu durchschauen und zu schlagen. Ohne einen erfahrenen Unterstützer wirst du untergehen, Alfred. Dein schöner Traum von Freiheit und Gleichheit wird zerplatzen und für immer vernichtet werden.“

Francis hatte so schnell gesprochen, dass Alfred ihn nicht einmal hatte unterbrechen können. Mit offenem Mund stand er da und starrte ihn an.

„Das würde Arthur nicht tun“, brachte er nach einigen Schrecksekunden hervor.

„Du sagst doch selbst, dass er besitzergreifend ist“, erwiderte Francis und hob gespielt gleichgültig die Hände. „Aber gut, wenn du nicht willst... dann kann ich dir nicht helfen. Ich will dir meine Hilfe nicht aufzwingen.“

Ohne ein weiteres Wort ging er an Alfred vorbei und stieg die Treppe der Veranda herunter. Alfred starrte ihm nach und konnte sich nicht rühren. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Woher war dieser Francis plötzlich aufgetaucht? Konnte Alfred ihm trauen? Arthur hätte ihm sicher davon abgeraten. Andererseits hatte Francis Recht, wenn er sagte, dass Alfred Arthur nur als seinen Freund kannte. Wer konnte wissen, wie er reagierte, wenn er...

Was dachte er hier für einen Unsinn? Arthur würde Verständnis für Alfreds Träume haben, ganz sicher. Wenn sie ganz vernünftig miteinander redeten, würde er es verstehen. Vernünftiger als bei ihren dummen Streitereien in letzter Zeit. Arthur musste sich eben langsam an den Gedanken gewöhnen, dass Alfred kein kleiner Junge mehr war. Er wollte doch, dass Alfred glücklich war, oder? Und Alfred wollte seine Freiheit. Er wollte sie mehr als alles andere in der Welt. Wollte er sie mehr als eine freundschaftliche Beziehung zu Arthur? Bisher hatte Alfred nicht geglaubt, sich für eines von beidem entscheiden zu müssen. Aber nachdem er das gehört hatte, was Francis gesagt hatte... wenn es nun so wäre? Wenn er sich entscheiden müsste zwischen Arthur und seiner Freiheit? Was würde er wählen?

Dein schöner Traum von Freiheit und Gleichheit wird zerplatzen und für immer vernichtet werden.

„Hey!“, rief Alfred.

Francis hatte bereits das Gatter erreicht, neben dem noch immer das Pferd graste. Er schnalzte ihm zu und öffnete das Tor lautlos.

„Hey!“, brüllte Alfred ihm nach. „Francis! Warte mal kurz!“

Langsam blieb Francis stehen und sah sich um. „Mon ami?“, fragte er überrascht.

Alfreds Herz raste in seiner Brust. Er konnte ja auf Nummer sicher gehen, dachte er. Vorsorgen. Er wusste noch nicht, wie Arthur reagieren würde. Sicher würde er Francis' Hilfe am Ende doch nicht brauchen. Aber falls doch...

„Wie kann ich dich erreichen? Bleibst du in der Gegend?“

Einen Moment lang sah Francis ihn prüfend an. Das Lächeln, das über seine Lippen zog, warf in der untergehenden Sonne scharfe Schatten über sein Gesicht.

„Ich werde in der Gegend bleiben.“
 

„...verdammter Dummkopf“, murmelte Arthur und stützte den Kopf schwer in seine Hände. „Dummkopf.“

Matthew saß ihm gegenüber am Tisch und hörte unsicher zu. Seine Hände waren um den Becher vor ihm gelegt, doch er hatte noch nichts getrunken.

„Wie kann er denn einfach... einfach hingehen und sagen, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will? Weißt du, was er gesagt hat, Matthew? Ich brauche deine Hilfe nicht mehr, Arthur. Ich möchte meine Freiheit haben.“ Er lachte auf. „Freiheit! Als ob er die bei mir nicht haben könnte! Aber er hat mir nicht einmal zugehört. Er will... scheint zu glauben, ich würde ihn einsperren. Tue ich das etwa, Matthew?“

Stumm schüttelte Matthew den Kopf. Arthur nickte und nahm noch einen Schluck Rum.

„Sag selbst, Matthew... bin ich nicht immer gut zu euch gewesen? Habt ihr nicht immer von unserer Beziehung profitiert?“

„Ja“, sagte Matthew leise. „Er noch mehr als ich.“

„Siehst du!“ Arthur gestikulierte in seine Richtung. „Siehst du! Ich habe doch immer das getan, was am Besten für Alfred war, und wie dankt er es mir? Was tut er?“

Matthew schwieg.

„Er verlässt mich, das ist es! Aber das werde ich nicht zulassen.“ Arthurs Augen glänzten entschlossen. „Ich werde ihn davor bewahren, einen furchtbaren Fehler zu machen. Auf sich allein gestellt ist er hilflos. Er ist doch noch immer ein Kind, und mein kleiner Bruder. Ich werde ihn beschützen.“

„Wie willst du das tun?“, fragte Matthew leise.

„Ich werde ihm sagen, dass er das nicht machen kann. Ich werde ihn aufhalten. Ich werde... ich werde...“

„Wirst du gegen ihn kämpfen?“

Mühsam hob Arthur den Kopf, als sei er wesentlich schwerer als sonst. Sein Blick war müde. „Wenn es nötig ist, Matthew“, sagte er leise. „Wenn es nötig ist.“

„Und wird es nötig sein?“

„Wenn Alfred vernünftig ist, nicht. Wenn er vernünftig ist, lässt er es nicht auf einen Krieg gegen mich ankommen. Denn...“ Er holte tief Luft, hob sein Glas und rezitierte in einem Ton, der nur entfernt an Singen erinnerte:

„We don't want to fight, but by jingo if we do,

We've got the ships, we've got the men, we've got the money too!“

Er ließ das Glas sinken und sackte wieder auf seinem Platz zusammen.

„Wer oder was ist jingo?“, fragte Matthew vorsichtig.

„Eine gute Frage, Matthew. Eine sehr gute Frage.“

„Und wer sind wir?“

„Wie meinst du das?“, fragte Arthur und runzelte die Stirn.

Matthew senkte den Blick und betrachtete eine Weile lang den Becher in seinen Händen. „Es gefällt mir nicht, dass du gegen Alfred kämpfen möchtest.“

„Mir auch nicht, Matthew. Aber...“

„Ich habe einen jungen Eisbären gefunden“, unterbrach Matthew ihn.

„Einen was?“, fragte Arthur, verwirrt von dem plötzlichen Themenwechsel.

„Ein Eisbärjunges. Es kann nicht älter sein als ein paar Wochen. Ich habe es allein bei einer Wanderung gefunden. Es war in eine Spalte im Boden gefallen... ich habe es gerettet und mit nach Hause genommen. Es schläft jetzt in einem Korb in der Küche.“

„Ah“, machte Arthur und sah Matthew fragend an.

„Ich weiß noch nicht, wie ich ihn nennen soll“, murmelte Matthew. „Es ist ein er, weißt du. Er braucht sehr viel Pflege, muss ständig gefüttert werden... und sauber gehalten, natürlich. Ich hoffe nur, ich kann ihn durchbringen.“

Arthur nahm noch einen Schluck aus seinem Becher und seufzte leise. „Ich habe verstanden“, sagte er.

„Ich werde dich nicht im Stich lassen, Arthur“, sagte Matthew hastig. „Aber...“

„Aber es tut weh, gegen einen Bruder zu kämpfen“, führte Arthur den Satz zu Ende. „Ich verstehe. Mir wäre es auch am liebsten, wenn dir das erspart bliebe, Matthew.“

Matthew seufzte leise, und Arthur wusste nicht, ob es Erleichterung oder Sorge ausdrückte. „Ich werde beobachten, was passiert, Arthur. Wenn es kritisch wird, werde ich vielleicht...“

„Nein, du hältst dich da heraus. Das ist eine Sache, die Alfred und ich unter uns klären müssen.“

Unsicher sah Matthew ihn an.

„Und jetzt geh schon“, sagte Arthur und lächelte. „Du musst doch nach deinem Eisbären sehen, oder? Er vermisst dich sicher schon.“

Matthew nickte und stand auf. „Ja, ich sollte ihn wohl füttern... ich bin sofort wieder da.“

„Nimm dir Zeit“, erwiderte Arthur, ohne ihn anzusehen. Sobald Matthew den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte er es sich, sich über die Augen zu wischen.

„Verdammt“, murmelte er. „Es liegt am Alkohol, dass du melancholisch wirst, Arthur. Nur am Alkohol. Das wird es sein.“
 

(Wir befinden uns 1776, die Unabhängigkeitserklärung wird verabschiedet. Der Krieg läuft offiziell schon seit 1775, aber anscheinend hat Alfred noch Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Die sechs Toten, von denen er spricht, sind die vom Boston Massacre 1770.

Warum haben die kanadischen Kolonien eigentlich nicht zusammen mit den amerikanischen ihre Unabhängigkeit erklärt? Nun, die französischstämmigen Kanadier waren katholisch, die Amerikaner zu einem nicht unbedeutenden Teil Puritaner, also Protestanten. Die Briten hatten den Quebec Act erlassen und den Katholiken damit Religionsfreiheit und sogar ein wenig Eigenständigkeit gewährt, was in Amerika weniger gut aufgenommen wurde. Trotzdem ging ein Angebot an die Kanadier raus, die Vereinigten Staaten von Amerika gemeinsam auf die Beine zu stellen. Die Anfrage wurde abgelehnt. Ich denke mal, Nachbarn können sich selten gut riechen. Lange Rede, kurzer Sinn, Kanada wollte nicht mitspielen und Punkt.

Arthurs Trinklied... ich kann beim besten Willen nicht in Erfahrung bringen, ob es ein Anachronismus ist. „Jingoism“ wird übersetzt mit „Hurrapatriotismus.“ Ich habe zwei neue Wörter gelernt.

Dass Matthew Arthur nicht unterstützt, hat keine historische Bewandtnis, sondern hängt nur mit Matthews Charakter zusammen. Dass Francis Alfred unterstützt, ist dagegen zu belegen, denn die Amerikaner (die „Patrioten“) wurden von französischen Soldaten und Generälen unterstützt, und zwar nicht zu knapp. (In „1000 Years of Annoying the French“ von Stephen Clarks, das ich mangels Internet gerade zur Rate ziehe, heißt es ganz salopp, die Franzosen hätten die amerikanische Unabhängigkeit gewonnen, aber das Buch darf man nicht wörtlich nehmen.) Um ehrlich zu sein: Diese Fußnote über die französische Beteiligung in einem Geschichtsbuch war der Grundgedanke der ganzen Geschichte. Das und die Sache mit Quebec. Da soll noch einer sagen, Fußnoten wären nutzlos.)



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  NukeUke
2011-12-02T22:13:27+00:00 02.12.2011 23:13
Matthew war jemand, den man eher dann bemerkte, wenn er weg war, als dann, wenn er tatsächlich da war.

Das ist eine wirklich schöne Stelle in der FF <33 x33
*die mag*

Denk dran!

1812 war der Krieg zwischen Kanada und USA, wo Kanada dann doch für England kämpfte und gewann xDD


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