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Briefe an Gary

von

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Prolog


 

Vorwort:

Hallo mein Lieben!

Nach mehr als einem Jahr melde ich mich zurück an der Schreiberfront.

Seit dem Tod meiner besten Freundin ging es nur noch bergab, und weil ich mein Leben seit einem Jahr nicht in den Griff gekriegt habe, hat mein krankes Gehirn die Idee für "Briefe an Gary" ausgespuckt.

Der Prolog ist etwas kurz, das erste Kapitel allerdings in Arbeit. Eigentlich war die Geschichte nur für mich allein gedacht, aber ich war schlichtweg zu neugierig, was andere davon halten würden :3

Naja, dann will ich nicht weiter vom Lesen abhalten. Kritik ist erwünscht!

Fuesch
 


 

Das wütende Summen eines Hornissenschwarms veranlasste den jungen Mann dazu, die Augen aufzuschlagen. Benommen fasste er sich an die Stirn, stöhnte leise, richtete sich etwas auf und sah sich vorsichtig um.

Er lag auf einem Bett, einem einfachen Feldbett, das in einer Reihe aus unzähligen anderen Betten stand. Das Bett zu seiner Rechten war leer. Langsam wandte er den Kopf nach links und sah einen älteren Herrn neben sich. Dessen Kopf war mit Bandagen umwickelt, und er schlief tief und fest. Eine stämmige Frau mit ausgefransten kurzen blonden Haaren trat an das Bett des Mannes, untersuchte ihn fachmännisch und routiniert. Bevor sie ging, blickte sie noch kurz auf und warf dem jungen Mann einen forschen Blick zu, dann verschwand sie mit klackernden Absätzen.

Und jetzt sah er auch, dass es keine Hornissen gewesen waren, die ihn geweckt hatten, es waren hunderte, tausende von Stimmen, die durch die stickige, warme Luft trieben und zu einem einzigen Geräusch verschmolzen. Die Besitzer der Stimmen wuselten durcheinander, drängten sich vorbei, prallten fast zusammen, eilten oder schlichen am Fußende der Feldbetten vorüber. Der junge Mann setzte sich etwas auf und ließ den Blick weiter schweifen.

Er befand sich in einem riesigen, nein, gigantischen Saal. Ihm gegenüber, nur wenige Meter Abstand als Durchgang lassend, fand er eine zweite Reihe identischer Betten, mit oder ohne Bewohner; durch die Menschenmenge hindurch konnte er auch eine dritte und vierte Reihe ausmachen, und da er die gegenüberliegende Wand nicht ausmachen konnte, schien es nicht bei vier Bettreihen belassen worden zu sein.

Sein blick schweifte zur Decke des Saals, die sich höher als erwartet über ihm erstreckte. Blanke Neonröhren waren daran angebracht.

„Gary Catrall?“

Gary blickte zum Fußende seines Bettes und traf auf zwei graublaue Augen, die ihn aus einem herzförmigen, leicht zerknitterten Gesicht fragend anschauten.

„Eh- ja“, antwortete er und blickte die alte Dame neugierig an. Sie lächelte und ihre von Lachfältchen eingerahmten Augen funkelten im Licht der Neonröhren, was ihr einen leicht verschmitzten Blick gab.

„Ich bin Mrs. Johnson, aber nenn mich Sophie“, sagte sie und kam um das Bett herum an seine Seite, bevor sie fortfuhr: „Meine Aufgabe ist es, mich um dich zu kümmern, mein Lieber.“

„Kümmern? Um mich? Aber mir geht es gut, ich-“

Moment. Ihm ging es doch gar nicht gut.

Erneut ließ Gary den Blick durch den Saal schweifen. Was genau tat er eigentlich hier?

Das hier war nicht sein Zimmer, er war nie hier gewesen. Er war sich nicht mal sicher, ob es in ganz Cockermouth und Umgebung überhaupt eine derart große Halle gab.

„Wo bin ich?“

Sophie hatte sich an einem Gerät auf seinem Nachttisch zu schaffen gemacht, von dem Gary bis jetzt keine Notiz genommen hatte. Normalerweise hätte man auf einem solchen Bildschirm den Herzrhythmus des Patienten beobachten können; auf diesem zählte ein Countdown langsam nach unten.

Sophie blickte auf.

„Ich mache diese Arbeit schon lange, aber das ist bei weitem immer noch der schwerste Teil“, sagte sie und seufzte. Sie ließ den Monitor Monitor sein und legte ihre warmen, sommerbesprossten Hände auf Garys.

„Gary, bitte bleib ruhig und versuche zu verstehen. Wir sind hier in einem Wartesaal. All die Menschen auf den Betten“ sie hob die Hand zu einer ausladenden Geste, „hatten einen Unfall, wurden überfallen, sind eingeschlafen oder angegriffen worden, manche waren oder sind krank.“

„Und… was hab ich nun getan, dass ich auch warten muss?“, fragte Gary langsam, sein Kopf arbeitete um sich einen Reim auf all dies zu machen. War er nicht eben noch in seinem Zimmer? Hatte er nicht auf dem Bett gelegen und durch die Glasfront nach draußen geblickt, wie so oft?

„Ach mein Lieber, du wusstest doch, dass du krank bist?“ Sophie sah ihn fast mitleidig an.

„Jaah, aber das ist weder was Ernstes noch hab ich die Medikamente vergessen einzunehmen!“, antwortete er und lächelte Sophie verständnislos an. Doch sie schüttelte nur den Kopf.

„Es ist weitaus ernster gewesen, als du dachtest, Gary, als ihr alle dachtet. Du hattest einen Anfall. Wunder dich nicht, dass du dich nicht erinnern kannst, das können nur sehr, sehr wenige“ sie wies auf den Monitor „Dieser Countdown auf dem Bildschirm, ist die Zeit, die dir noch bleibt, die Zeit, in der dich jemand finden und dein Leben retten muss. Wenn sie abgelaufen ist, musst du weitergehen.“

Gary sah sie beinahe spöttisch an.

„Sie- sie machen doch Witze, das-“, fing er an, doch ihr Blick, die Krankenschwestern, die hinter ihrem Rücken Patienten versorgten und deren Monitore überprüften, und dieser ganze abnorme Saal voller kranker, scheinbar gesunder, schlafender und wacher Menschen, all das ließ ihn doch an der Schlussfolgerung zweifeln, dass Sophie ihn auf den Arm nehmen wollte.

„I-ich- ich bin nicht tot, ich, das-“ – „O nein Gary, du bist auch nicht tot.“ Sophie lächelte ihn warm an. Sie warf einen Blick auf den Countdown.

Neunundsiebzig, achtundsiebzig, siebenundsiebzig…

Gary sah ebenfalls auf den Bildschirm. Etwas Schweres schien ihm im Magen zu liegen, und mit jeder vergangenen Sekunde schien dieses Etwas größer zu werden.

Dreiundvierzig, zweiundvierzig…

Er konnte doch jetzt nicht sterben. Himmel, er war doch erst achtzehn!

Was war mit seinen Eltern? Sein Vater, der so oft Überstunden machte, um sich in den Ferien Urlaub nehmen zu können? Seine Mutter, die trotz der Diagnose nie ihre Fröhlichkeit verloren zu haben schien, die mit einem Lächeln für das Glück ihrer Kinder kämpfte? Was war mit seiner Schwester? Durfte er nie erfahren, wie sie heranwuchs?

Einundzwanzig, zwanzig. Neunzehn, achtzehn, siebzehn…

Unwillkürlich drückte er Sophies Hand, die er unbewusst ergriffen hatte. Sie erwiderte den Druck leicht und strich mit dem Daumen beruhigend über seinen Handrücken.

Sechs, fünf…

Bitte, flehte er stumm, sein Blick klebte am Monitor; er merkte nicht, wie er den Atem anhielt.

Zwei.

Eins.

Der Bildschirm wurde schwarz. Gary kniff die Augen zusammen, doch nichts geschah. Er linste durch einen schmalen Lidspalt und sah doch nur Sophie, die ihn beobachtete.

Das war’s also.

Alles Gute zum Todestag, dachte Gary und konnte sich ein bitteres Lächeln nicht verkneifen.

Eine Weile saß er nur da und starrte auf die schwarze Mattscheibe.

„Es wird Zeit zu gehen, mein Lieber“, ertönte Sophies Stimme von weit her, riss ihn aus nicht vorhandenen Gedanken. Gary blickte auf.

„Und wohin? Zu Petrus, vor die goldenen Pforten? An den Styx? Muss ich vielleicht ein paar Leckerli für dreiköpfige Biester einstecken?“ Er wusste, dass Sophie genauso wenig Schuld an der Situation hatte wie er oder irgendein Anderer in diesem Raum, aber es tat gut, sich über ihre Worte lustig zu machen, sie zu verspotten für das, was sie ihm erzählt hatte. Darüber zu lachen war einfacher, als es zu glauben, unendlich leichter als es zu akzeptieren, dass er, Gary Catrall, achtzehn Jahre jung und bis auf seine Osteomyelitis kerngesund, gerade gestorben war.

Einfach so.

Sophie sah ihn aus unergründlichen Augen an. Sie war es gewohnt, dass frisch Verstorbene die Sache leugneten, zynische Kommentare gaben oder sich den Sarkasmus nicht verkneifen konnten; Andere rasteten aus oder brachen unter Tränen zusammen. Für sie war es nichts Neues.

„Weder noch. Du musst zum Meldeamt, du musst einen Pass beantragen und in die Kartei aufgenommen werden“, sagte sie sachlich und zog Gary auf die Beine. Sie wandte sich zum Gehen, doch Gary blieb, wo er war.

„Das kann nicht ihr Ernst sein, Sophie.“

Sie drehte sich um. „Was kann nicht mein Ernst sein?“

„Ich brauche einen Pass? Meldeamt? Kartei? Sind wir hier in der Bundesrepublik Jenseits?!“ Einen herrlichen Moment genoss er es, Sophie so anzufahren, dann tat es ihm Leid. Er ließ die Schultern sinken und ging einige Schritte auf sie zu „Das- ach, es war nicht so gemeint, Sophie. Gehen wir.“ Sie drehte sich kommentarlos um und er folgte ihr genauso stumm. Es war nicht leicht, sie im Gewimmel nicht zu verlieren, ein ums andere Mal stieß er sich schmerzhaft an einer aus dem Nichts auftauchenden Bettkante oder rempelte eine der Krankenschwestern an, die er als solche identifizieren konnte, da sie alle das gleiche Fliederfarbene Dress trugen wie Sophie.

Nach knapp zehn Minuten, die Gary wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichten sie die Stirnseite der Halle. Hier führten unzählige Türen aus dem Wartesaal hinaus, kurze Schlangen hatten sich vor den Pulten vor einer jeden Tür gebildet. Gary und Sophie reihten sich hinter einem hochgewachsenen Krankenpfleger ein (er trug kein lila Dress, doch war auf der linken Brustasche seines hellblauen Hemdes dasselbe Emblem wie auf Sophies). Neben dem Krankenpfleger stand ein stämmiger rothaariger Mann, nicht viel älter als Gary. Er gestikulierte wild und redete auf seinen Pfleger ein.

„Sie müssen doch verstehen, ich kann nicht sterben, mein Bruder- mei- meine Familie..! Wir sind Zwillinge, Himmel Herrgott! Ich kann da nicht durch, ich muss zurück, zurück, verstehe sie, ich-“ Der Krankenpfleger blickte zu Gary und Sophie Er tauschte mit ihr einen bedeutenden Blick. Sein Schützling ließ sich davon nicht beirren, er hatte das Gesicht verzogen, rang mit den Händen und redete weiter, wusste sich nicht anders zu helfen in seiner Verzweiflung, weil keiner ihm zuhörte, es keinen zu interessieren schien, wie wichtig es war, dass er zu seinem Zwillingsbruder zurückkam.

Währenddessen rückte die Schlange weiter vor. Gary trat einen Schritt nach vorn und verschränkte die Arme, während er weiter lauschte, wie der Rothaarige sich den Mund fusselig redete.

Er konnte sich vorstellen, dass es die Pfleger nicht mehr wirklich berührte, aus welchen Gründen die Toten unbedingt zurückwollten, nein, mussten. Doch er selbst fühlte so sehr mit dem sommersprossigen Zwilling mit, er konnte mehr als nur ahnen, wie sehr es ihn zerriss, von seinen Lieben getrennt zu sein.

Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis und er sog scharf die Luft ein.

Er würde nie zurückkehren.

Er würde sie nie wieder sehen.

Gary merkte nicht, wie er zu Boden ging.

Er merkte nicht, wie sich Sophie und der Pfleger des Zwillings neben ihn knieten, wie dieser aufhörte zu reden und ihn anstarrte, er spürte nicht, wie sich seine Finger in sein Haar krallten, die Fingernägel über seine Schläfen kratzen. Er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Vor seinem geistigen Auge sah er ihre lachenden Gesichter.

Mum, Dad, Katie, Grandpa und Grandma, Onkel Theodore…

Alice.

Er verlor den Halt und schlug unsanft auf dem Steinboden auf, doch er spürte es nicht.

Er sah nur ihr Lachen, den Schalk, der so oft in ihren Augen blitzte, fühlte ihre Hand, die ihm das Haar zerstrubbelte. Und er fragte sich, wer gerade wen für immer verlassen hatte, wer mehr trauerte, die Toten oder die Lebenden.

Er würde sie nie wieder sehen.

„Gary.. Gary..! GARY!“

Klatsch.

Der große Pfleger hatte ihm eine Ohrfeige verpasst. Er nahm die Hände von den Schläfen und richtete sich auf. Gary hatte nicht einmal bemerkt, wie er sich auf dem Boden zusammengerollt und leise gewimmert hatte. Der Pfleger zog seine Hand zurück, mit der er ihn hochgezerrt und ihm eine verpasst hatte, doch sein Blick blieb wachsam. Sophie legte eine Hand auf seinen Arm.

„O mein Lieber, es ist hart, ich weiß, aber du kannst es nicht ändern. Nun komm, wir-“ Sie verstummte, als Gary ihr seinen Arm entriss und von ihr wegrückte.

„Sie.. sie haben keine Ahnung, sie-“ Er würgte und brach ab. Der Schmerz, der eben in seiner Brust aufgelodert hatte, breitete sich langsam und dumpf pochend auf seinen Körper aus wie ein lähmendes Gift, infizierte seine Muskeln, schnürte ihm die Kehle zu. Er schluckte, hustete, bekam keine Luft.

Sie war fort. Für immer.

Gary spürte, wie sich sein Kiefer anspannte, wie sich sein Gesicht verzerrte im stummen Leid, er hätte schreien mögen doch hätte er keinen Laut hervorgebracht.

Eine Hand erschien in seinem Blickfeld, sie gehörte dem Zwilling. Er sah auf und blickte in hellblaue Augen, die seinen Schmerz zu teilen schienen.

Er zögerte, ergriff die Hand und ließ sich hochhelfen. Jähe Sympathie für den rothaarigen jungen Mann ergriff ihn.

Ja, im Grunde waren sie wie Zwillinge gewesen. Mehr. Das Wort „Freundschaft“ wäre eine Beleidigung für das Band gewesen, dass sie beide verknüpfte, dieses unzerstörbare Band, das so scharlachrot aus all den anderen hervorstach, dass sich gegen das unschuldige Weiß der Freundschaft abhob, das so viel mehr war als eine Seelenverwandschaft. Es war stärker. Es war spürbar. Wenn er allein in seinem Zimmer gesessen hatte, wie an so vielen Abenden, so wusste er, er war allein im Haus, doch nicht einsam, er hätte sie Greifen können, diese seidene Schnur, die sie über Kilometer hinweg verband, er hätte sie nur streifen müssen und er hätte gewusst, sie war da und dachte an ihn.

Und er war ihr so unendlich dankbar, und wie eine heiße Woge durchströmte ihn die Dankbarkeit, als er sich ihr Gesicht vor Augen rief, seine innige Zuneigung vertrieb das Gift, ritt auf dem Vertrauen an die Front und bekämpfte die Trauer, den Schmerz.

Sie war fort, und doch war sie da, und er griff in die Leere und fühlte doch das Band, er hielt es ganz fest und genoss die wohlige Wärme.

Sie war nicht fort. Sie war immer da, wenn er sie brauchte.

Nur entfernt merkte Gary, wie etwas an seinem Ärmel zupfte.

„Gary, wir sind dran.“ Er öffnete die Augen, er sah Sophies besorgtes Gesicht und sein Ausbruch tat ihm unendlich Leid. Da hatte er Sophie, die gute Sophie, die er seit nicht mal einer Stunde kannte, angefahren und verspottet, nur, weil er tot war und damit nicht klar kam. Sophie, die sich seiner angenommen hatte und ohne die er aufgeschmissen gewesen wäre. Er lächelte zerknirscht und folgte ihr an das große Pult vor den Toren.
 

to be continued...
 

P.S.: Wer errät, welcher doch recht berühmte Zwilling da vor Gary in der Schlange stand, kriegt.. ähm.. einen Flauscher :3

Sokrates

Der Mann hinter dem polierten Holztisch legte seinen Federhalter beiseite und sah auf. Seine buschigen Augenbrauen warfen einen mürrischen Schatten über seinen genervten Blick.

„Ähm… also, ich brauche einen… Pass“, stammelte Gary und kam sich im nächsten Moment unheimlich dämlich vor. Als ob er hier irgendetwas anderes bekommen würde!

Der Mann nahm seinen Federhalter wieder zur Hand, setzte den Klemmer auf die erstaunlich große Nase und blickte auf einen Bogen Papier vor sich.

„Name?“, bellte er ohne aufzusehen.

„Gary Catrall“, antwortete Gary. Flüchtig sah er sich nach dem rothaarigen Mann um, doch der war schon durch das Tor verschwunden.

„Alter?“

„Achtzehn.“

„Zum Todeszeitpunkt wohnhaft wo?“

„Azaleenweg 21, Cockermouth.“

„Todesursache?“

„Ähm…“ Gary stockte. Stimmt ja. Woran war er eigentlich gestorben? Er blickte zu Sophie.

„Eine Lungenembolie, ausgelöst durch gelöstes Knochenmark. Er hatte Osteomyelitis“, fügte sie hinzu, nachdem sie seine Todesursache von einem kleinen Klemmbrett abgelesen hatte, das jetzt wieder in einer Seitentasche ihres fliederfarbenen Kleids verschwand. Sie warf Gary einen schnellen Blick zu, während der Beamte ungerührt weiter auf sein Pergament kritzelte.

Nach einigen Minuten weiteren Verhörs legte der Mann seinen Federhalter wieder weg, prüfte noch einmal die Notizen und schob diese dann in ein Gerät, das wohl ein Fax darstellte, denn er tippte eine Nummer ein und das Gerät kopierte Garys Angaben. Danach zog er eine Schublade seines Pultes auf, wühlte darin herum und zog schließlich einen Schlüsselbund, eine Karte und ein kleines Stück Pappkarton hervor, auf dass er schnell etwas schrieb.

„Dein Pass wurde beantragt, aber es dauert einige Zeit, bis du ihn abholen kannst. Bis dahin hast du diese Visitenkarte. Der Schlüssel ist für dein Apartment, deine Pflegerin wird dir den Weg zeigen. Auf der Karte sind alle wichtigen Orte eingezeichnet, auch das Meldeamt, wo du deinen Pass abholen und alles Weitere regeln kannst.“ Mit diesen Worten schob er Gary die Sachen zu, verabschiedete sich barsch und wandte sich der nächsten Pflegerin und ihrem Schützling zu.

Sophie nahm ihm die Schlüssel ab und blickte auf das kleine Adressschild, das am Bund befestigt war. Ihr Gesicht hellte sich auf.

„Wie schön, das wird dir gefallen, Gary! Ich hatte befürchtet, sie stecken dich in einen dieser Neubauten. Es werden nur selten Wohnungen in den kleineren Altbauten frei, du kannst dich wirklich glücklich schätzen!“

Gary lächelte schwach; ob man sich glücklich schätzen konnte, wenigstens eine hübsche Bleibe zu haben, nachdem man gerade zwanzig Minuten tot war?

Er steckte die Visitenkarte in seine Hosentasche und folgte Sophie zu den Toren. Wie von Geisterhand schwangen sie nach außen hin auf, als sie sich näherten. Die Sonne schien blendend hell und nach dem schummrigen Licht im Wartesaal mussten sie erstmal die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas sehen zu können. Gary blinzelte die neue Umgebung an; er wusste selbst nicht wirklich, was er erwartet hatte, doch eine herkömmliche Großstadt mit Sicherheit nicht. Tatsächlich sah es nicht viel anders aus als London oder New York: Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen im Schatten der Kaufhäuser, Bürotürme und Wolkenkratzer. Von den Stark befahrenen Straßen und Gebäuden trennte sie ein großer gepflasterter Platz, auf dem hier und da Bänke standen; außerdem gab es hier bedeutend mehr Leute in fliederfarbener oder hellblauer Kleidung als fünfzehn Meter weiter in den überfüllten Straßen.

Sophie hatte ihn beobachtet. Die meisten Leute stellten sich das Jenseits anders vor, als es wirklich war. Sie selbst war damals auch ein wenig enttäuscht gewesen.

„Komm, mein Lieber, wir gehen außen herum“, sagte sie und wandte sich nach rechts. Mit einem letzten Blick auf die Hochhäuser folgte Gary ihr.

Sie gingen zum Ende des Platzes und über eine mäßig befahrene Straße. Langsam aber sicher wurden die Häuser kleiner, während sie am Rand der Stadt den kleineren Straßen folgten. Nach gut zehn Minuten erreichten sie einen Park, auf den Sophie geradewegs zusteuerte. Hin und wieder grüßte sie ein vorbeigehendes Paar aus Pfleger und Schützling; nicht wenige der frisch verstorbenen sahen bedrückt oder verweint aus.

Schließlich führte Sophie Gary aus dem Park heraus. Die Wolkenkratzer waren in der Entfernung noch zu erkennen, doch vor ihnen erstreckte sich ein kaum befahrenes Straßennetz, das von üppigen Grünflächen und unterschiedlich großen Häusern gesäumt war. Ob das Viertel nobel war oder nicht, konnte Gary nicht recht erkennen, da sich große Villen an bunte kleine Holzhäuschen reihten und stattliche Friesenhäuser sich zwischen Mehrfamilienanlagen drängten. Irgendwo weiter hinten glaubte er auch ein verwinkeltes kleines Schlösschen mit Erkern und Türmen zu sehen.

„Hier ist es gleich viel hübscher, nicht wahr?“, fragte Sophie, während sie die Straße überquerten und den sauberen Bürgersteig entlanggingen. Gary brummte zustimmend und konnte sich kaum an der Vielfalt der Häuser sattsehen. Neben einer nordischen Blockhütte stand etwas, das wie ein aus Sandstein gehauener Quader mit winzigen Fenstern und einer niedrigen Tür aussah.

„Hier sind wir auch schon.“

Sophie hatte ihn vor ein großes Grundstück geführt, das im ersten Moment mehr nach Wald als nach Garten aussah. Zwischen den Bäumen konnte er ein breites Haus ausmachen. Es war in einem matten ozeanblau gestrichen, hatte eine weiß umzäunte Veranda, ebenso weiße Fenster und eine breite Tür. Das Erdgeschoss war breiter, dafür hatte der erste Stock eine rundum gehende Dachterasse, die durch eine hölzerne Trennwand geteilt war. Da haben mindestens vier Familien platz, dachte Gary. Ihm gefiel das Haus, und er hoffte, eine Wohnung im ersten Stock zu haben.

Er nahm Sophie die Schlüssel ab und ging zur Haustür. Neben der Tür hingen Klingelschilder über den Briefschlitzen, von denen drei beschriftet waren. Er beschloss, sich nachher den Nachbarn vorzustellen, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Das Treppenhaus leuchtete in einem hellen Orange, das auf den ersten Blick ziemlich grell wirkte. Der Flur war kurz, etwa in der Mitte lagen sich zwei Türen gegenüber. Vor beiden lag eine Fußmatte, und ein kurzer Blick auf die Klingelschilder sagte ihm, dass beide Apartments bewohnt waren. Gary lächelte kurz und konnte nicht umhin, ein wenig aufgeregt zu sein, als er auf die weiß geflieste Treppe zusteuerte. Den Fuß auf der ersten Stufe, drehte er sich um. Sophie folgte ihm; sie lächelte ihm ermutigend zu und Gary folgte den gewundenen Stufen ins erste Stockwerk. Der Flur wurde durch ein großes Oberlicht erleuchtet, und durch das gegenüberliegende Fenster konnte man auf die Straße blicken. Vor der rechten Tür lag eine Fußmatte, und die Klingel trug ein Namensschild.

„Die Linke ist deine“, kam es von Sophie; Gary steckte den Schlüssel ins Schloss der linken Tür, drehte ihn und drückte die Tür auf.

„Aber die ist ja leer!“, rief er enttäuscht aus, als ihn nackte Wände und ein blanker Fußboden willkommen hießen.

„Ja was hast du denn erwartet?“, fragte Sophie und schloss die Tür hinter sich.

„Wenigstens das Nötigste, Bett, Bad und Küche“, antwortete Gary und spähte in die anderen Räume. „Ich hab doch kein Geld hier, wie soll ich mir denn Möbel kaufen?“

Als Sophie gluckste, fuhr er herum und schaute sie empört an; wirklich komisch fand er das Ganze nicht. Sie lächelte ihn an.

„Hier brauchst du kein Geld. Gut, früher hatten wir mal eine Währung“, gab sie stirnrunzelnd zu, „aber die wurde schon vor langer Zeit abgeschafft. Du musst wissen, hier ist nichts an irdische Bedingungen gebunden. Jede Wohnung, die neu bezogen wird, sieht so aus. Du musst sie selbst möblieren.“

„Hä?“

Sophie schüttelte lächelnd den Kopf und führte ihn in eines der Zimmer.

„Schließ die Augen, Gary.“ Gary gehorchte. „Und nun stell dir dein Zimmer vor, wie es war, als du es das letzte Mal gesehen hast“

„Wirklich so oder darf es auch aufgeräumt sein?“

„Das kannst du dir aussuchen“, antwortete sie mit einem kleinen Lachen. Gary kniff die Augen fester zusammen und versuchte, sich sein Zimmer so genau wie möglich vor Augen zu rufen. Die Wände hatten diese Terakottafarbe, die seine Mutter so gerne mochte und mit der er sich nie anfreunden konnte; der Teppich hingegen war schokoladenbraun und außerordentlich weich. Mit einem leichten Stich fiel ihm ein, dass Alice den Teppich gefunden und darauf bestanden hatte, dass er ihn nehmen würde. Jetzt, wo sie sich einmal in seine Gedanken geschlichen hatte, fiel es ihm gar nicht so schwer, sich zu erinnern, wie sie CDs aus seinem Regal nahm oder mit irgendeinem Wälzer (der ganz sicher nicht aus seinem Regal stammte) quer über seinem Bett lag; wie sie sich über das zugemüllte Sofa aufregte, die Vorhänge aufzog, um im Halbdunkel nicht wieder über seine Gitarre zu stolpern. Von ihr kamen die wenigen Bilder an der Wand, ihr war es zu verdanken, dass die zwei, drei Pflanzen noch lebten. Und natürlich war es Alice, die die Kabel des Fernsehers, der Anlage und der Konsolen entknotet und ordentlich zusammengebunden hatte. Er scheuchte sie vom Aufräumen seines Kleiderschranks weg und öffnete die Augen.

Einen kurzen Moment blieb ihm die Luft weg, als er nicht mehr in dem leeren Raum, sondern in seinem Zimmer stand, das haargenau so aussah wie sonst, nur ohne den Unrat auf dem Boden. Einen Moment lang vergaß er, wo er wirklich war, und als ein Rascheln hinter ihm ertönte, fuhr er herum in Erwartung einer grinsenden Alice, die ihm mal wieder einen unangekündigten Besuch abstattete.

Doch da saß nur Sophie auf seinem Schreibtischstuhl und betrachtete interessiert eines der Bilder.

Enttäuscht ließ Gary die Schultern hängen und sank auf sein Bett. Sophie erhob sich.

„Möchtest du lieber allein sein?“

Er nickte. Sophie seufzte und ging zur Tür.

„Sobald du ein Telefon hast, ruf mich an. Meine Nummer habe ich dir aufgeschrieben. Dann erkläre ich dir alles Weitere.“ Gary blieb einfach reglos sitzen. Die Wohnungstür fiel ins Schloss und er war allein.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die restlichen Zimmer würden ein hartes Stück Arbeit werden, wenn es jedes Mal so real schien, dass er immer aufs Neue ins kalte Wasser geschubst wurde.

Aktzeptier es, schalt er sich selbst, sie kommt dich nie mehr besuchen.

Ächzend stand er wieder auf. Vielleicht war es besser, es schnell hinter sich zu bringen. Nach dem goldgelben Flur mit Dielen aus Nussholz und den Möbeln aus dem Trödelladen, dem grünen Bad, der Küche, die seine Mutter unbedingt in creme und braun streichen wollte und seinem Teil der Dachterasse, den er mit ihren alten Gartenmöbeln und einigen Zierpflanzen austattete, blieben ihm noch das Wohnzimmer und ein kleiner Raum neben der Küche. Die Küche war groß genug für eine Essecke, und da er nicht recht wusste, was er mit diesem Raum anstellen sollte, schloss er die Tür einfach wieder und ließ den Raum, wie er war. Gary fand heraus, dass er den Kühlschrank auf dieselbe Art füllen konnte, und nach einem Sandwich und einem großen Glas Orangesaft erhob er sich seufzend und betrat das Wohnzimmer. Es würde nicht leicht werden, da war er sich sicher. Ein wenig widerwillig schloss er die Augen. Der Teppich war hellgrau gewesen. Seine Mutter hatte sich in diesen Teppich verliebt und ihn kurzerhand verlegen lassen.

Er setzte sich vorsichtig auf den Boden, ohne die Augen zu öffnen. Der Teppich war schon dort. Lächelnd erinnerte er sich, wie sie überall Folie ausgelegt hatten, als es ans Streichen ging. Da kam sein Vater mit zwei großen Farbeimern, Katie mit einem Arm voller Pinsel und Rollen dicht auf den Versen. Seine Mutter trug die Leiter und diskutierte lebhaft mit Alice. Er erinnerte sich, wie er Alice fragen sollte, ob sie beim Streichen helfen würde, und wie sie sofort mit ihm nach Hause ging und seiner Mutter die wildesten Vorschläge machte. Und er und sein Vater hatten bei den ganzen Ideen nur den Kopf geschüttelt. Beim Farbkauf waren die Beiden bei jedem Eimer in Verzückung ausgebrochen. Aubergine und Anthrazit, hatte Alice gesagt, und seine Mutter war einfach begeistert. Sein Vater hatte die Augen verdreht, und Katie hatte gesagt, sie wolle kein Gemüse an der Wand.

Lila und Grau, so hatte Gary es immer genannt, das war es immer für ihn gewesen, und Alice hatte jedes Mal geseufzt und „typisch Kerl“ gesagt.

Er öffnete die Augen ein wenig. Die Wand gegenüber strahlte in Aubergine, und ihre kräftige Farbe wurde von den übrigen dunklen Wänden gedämpft. Gary widerstand der Verlockung, sich nach der streichenden Alice hinter sich umzusehen und schloss die Augen wieder.

Sein Vater hatte Leder gewollt. Seine Mutter und Alice hatten das mit elfenbeinfarbenen Sofas im Keim erstickt. Irgendwo hatten sie sogar farblich passende Regale und Kommoden aufgetrieben. Nur der riesige Fernsehtisch war weiß gewesen, weil die anderen seinem technikbegeisterten Vater zu wenig Platz boten.

Gary öffnete erneut die Augen. Vor ihm stand der unnötig große Flachbildfernseher auf dem Fernsehtisch. Unwillkürlich musste er grinsen, als er die Regale mit der DVD-Sammlung seiner Mutter sah. Allesamt Liebesfilme.

Er legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

Das war es also. Sein neues Zuhause.

Gary legte den Kopf in den Nacken. Gegenüber hing der Schreibtisch von der grauen Decke.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch und kippte fast wieder vornüber. Er rannte zum Schreibtisch, schmiss sich auf den Stuhl und schaltete den Computer ein. Ungeduldig klopfte er ein Stakkato auf die Schreibunterlage, während der Computer den Desktop lud.

„Mach schon“, knurrte er und klickte unnötig oft auf das kleine Symbol in der Schnellstartleiste. Der Messenger meldete sich automatisch an. Sein Bild war noch da. Sein Name und sein Status auch. Er fuhr die Kontaktliste mit dem Mauszeiger entlang.

„Ha!“ Triumphierend öffnete Gary das Chatfenster.

Alice?

Er wartete.

Ein Stift erschien neben dem Benutzernamen. Gary hielt die Luft an.

Der Stift verschwand.

Folgende Nachricht konnte nicht an alle Gesprächsteilnehmer versendet werden: „Alice?“

Bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.

„Okay, das heißt nichts, das passiert öfter“, versuchte er sich zu beruhigen. Er schrieb sie erneut an.

Folgende Nachricht konnte nicht an alle Gesprächsteilnehmer versendet werden: „Alice? Bist du da?“

Bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.

Gary raufte sich die Haare. Jetzt komm schon, dachte er. Er versuchte es wieder.

Und wieder.

Und wieder.

Folgende Nachricht konnte nicht an alle Gesprächsteilnehmer versendet werden: „Alice, verdammt! Der dumme Messenger verarscht mich, die ganze Welt verarscht mich grad! Ich bin angeblich tot und dieses Scheißteil hier kriegt es nicht auf die Reihe, dir Nachrichten von mir zu schicken! Ich blick nicht mehr durch! Melde dich, ja?“

Bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.

Er schlug gerade wutentbrannt auf die Tastatur und fuhr den Rechner runter, als es klingelte.
 

Zu dieser Zeit, in einer anderen Welt, in einer Kleinstadt irgendwo im Vereinigten Königreich, startete eine junge Frau gerade ihren Computer.

Während der Rechner hochfuhr, tupfte sie sich die geröteten Augen und schnäuzte sich.

Die Startmelodie des Messengers ertönte. Sie schniefte.

Ein Fenster öffnete sich und das Nachrichtensignal ertönte.

Sie haben während ihrer Abwesenheit neue Nachrichten erhalten von:

Gary.

Möchten sie die Nachrichten jetzt anzeigen?
 

Es klingelte wieder, gerade, als Gary die Tür aufriss.

„Ja?“, fauchte er genervt, stutzte, senkte den Blick und sah den kleinen alten Mann, dessen Finger noch über dem Knopf schwebte. Er war ein wenig mollig um die Hüfte, trug eine braune Cordhose und ein dunkelgrünes Hemd, das sich über seinem Bauch spannte. Über seinem gestutzten grauen Vollbart, der farblich mit seiner weißen Halbglatze harmonierte, saßen zwei kluge Augen, die Gary anblickten, durch ihn hindurchblickten, ihn röntgten und den ersten Eindruck verarbeiteten.

„Ah, sei gegrüßt! Du musst mein neuer Nachbar sein.“

„Offensichtlich“, antwortete Gary. Der alte Mann ließ sich durch seine Unfreundlichkeit nicht beirren.

„Die letzte Familie hier war einfach furchtbar. Laut bis in die Puppen und das Treppenhaus haben sie auch zugemüllt“, plauderte er drauflos, „ Ich hoffe nur, Du bist etwas ruhiger. Noch so eine Rasselbande machen meine Nerven nicht mit! Aber genug davon, ich wollte mich auch nur kurz vorstellen und Hilfe anbieten, es ist zwar etwas her, aber ich als Neuling hab Hilfe wirklich gebrauchen können, weißt du.“

„Danke sehr“, grunzte Gary und überlegte, wie er den Kerl schnellstmöglich abwimmeln könnte.

„Aber gern! Nicht vergessen, solltest du Hilfe brauchen, frag einfach den alten Sokrates.“
 

to be continued
 

So, endlich geschafft :D

Ich habs nicht gründlich durchgelesen, ich wurde zum hochladen gehetzt |D Fehler sind also wohl vorhanden.

Die Sache mit dem Wohnzimmer... Es kommt mir rückblickend lang vor, aber ich fand es wichtig, zu zeigen, an welche Einzelheiten Gary sich erinnert.

Ach, und Sokrates :D

Es musste einfach sein, tut mir sehr leid :D

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„Milch?“

„Etwas Zucker, bitte.“

Der Löffel klirrte, als Sokrates seinen Kaffee umrührte, bevor er an dem brühheißen Getränk nippte. Gary leerte das Kännchen Milch in seine Tasse, trank aber keinen Schluck. Er schaute den Mann, der ihm hier an seinem fünfundzwanzig Stunden alten Küchentisch an seinem ersten richtigen Tag als Verstorbener gegenüber saß und seelenruhig in seinem Kaffe rührte, neugierig an.

„Ist etwas?“, fragte dieser, als er Garys Blick bemerkt hatte. Gary lehnte sich zurück.

„Nun ja, ich weiß ja nicht, ob und wie Tote so über die Welt der Lebenden informiert werden, aber unter anderen Umständen würden wir mit unserem Kaffeekränzchen weltberühmt werden, wissen Sie.“

Sokrates gluckste und stellte seine Tasse ab.

„Den einen oder anderen Professor musste ich auch schon abwimmeln. Und ja, wir sind über die Lebenden informiert, eigentlich sogar recht gut. Aber weißt du, neben Elvis, Caesar und der Hälfte der Beatles bin ich hier relativ unauffällig.“ Er schmunzelte. Gary aber war hellhörig geworden.

„Und wie macht man sich hier über das Diesseits schlau?“

„Zeitungen, Fernsehen, auch Internet. Du kannst die Nachrichten und Medien der Lebenden hier empfangen. Aber bevor du fragst: Diese Verbindung ist größtenteils einseitig. Durch unsere Erinnerungen können wir uns, beziehungsweise, könnt ihr euch eure modernen Geräte erschaffen und sie mit uns alten Hasen teilen“, erklärte er und nahm einen weiteren Schluck. „Aber frag mich nicht, wie ihr die aktuellsten Meldungen bekommt.“

„Hier ist eben nichts an irdische Bedingungen gebunden“, wiederholte Gary Sophies Worte. „Was soll das heißen: Größtenteils einseitig?“

„Eigentlich ist das die Aufgabe deiner Betreuerin, aber na ja. Es heißt schlicht und einfach, dass wir zwar so ziemlich alles aus der Welt der Lebenden mitkriegen, aber andersrum können sie uns so gut wie nie wahrnehmen.“ Sokrates wurde von einem schrillen Läuten unterbrochen. Gary brauchte ein Weilchen, bis er begriff, dass es seine Türklingel war, die da durch die Zimmer gellte. Er eilte zur Tür und betätigte den Summer.

„Und, wer war das?“, fragte Sokrates, als Gary wieder hineinkam.

„Der Postbote“, antwortete er, ließ sich auf seinen Platz fallen und öffnete den dicken braunen Umschlag, den ihm der Kurier lächelnd gegeben hatte. Er riss die Längsseite auf und ein Schwall Papiere ergoss sich auf den Tisch, obenauf ein Zeitungsartikel des örtlichen Käseblatts von Cockermouth.
 

Jugendlicher tot durch Pfusch der Ärzte

Gestern gegen acht Uhr abends wurde der 18-jährige Gary Catrall, Sohn des Gemeindevorsitzenden Roger Catrall, tot in seinem Zimmer aufgefunden.

Da die Leiche Spuren eines vermeintlichen Kampfes trug, wurde sie noch in der folgenden Nacht in die Gerichtsmedizin gegeben. Die zuständigen Pathologen gaben nun Entwarnung: Gary sei kein Opfer von Gewalt geworden, sondern einer Lungenembolie, verursacht durch gelöstes Knochenmark, erlegen; die Verletzungen verursachte er selbst während der krankheitstypischen Krampfanfälle.

„Gary hatte chronische Osteomyelitis, war deswegen in Behandlung“, erzählte seine Mutter, Eileen Catrall, unserem Reporter. „Er wurde regelmäßig untersucht, immer ohne Befund.“

Osteomyelitis ist eine Knochenerkrankung, die häufig nach einem Bruch auftritt. Bakterien dringen in das Knochenmark ein und infizieren es. Bei chronischer Erkrankung bildet sich um die Betroffene Stelle eine Knochenverdickung, in der die Bakterien unerreichbar für jedwede Medikamente sind. Ablösung des Knochenmarks und das Gelangen dieses Stückes in die Blutbahn ist eher selten, aber nicht auszuschließen.

Was veranlasste die Ärzte, auf diese Nebenerscheinung nicht zu achten, wo sie unbehandelt durchaus tödlich sein kann?

Auch wenn wir es erfahren, wird die Einsicht der Ärzte für Gary und seine Familie zu spät kommen.

Er wird Mittwoch im Kreis der Familie und Freunde beigesetzt.
 

„Und?“

Gary schreckte hoch; über den Artikel des unbeliebten, aber von Allen gelesenen Wochenblattes hatte er seinen Gast komplett vergessen. Er warf einen angewiderten Blick auf den letzten Satz und reichte Sokrates den Zeitungsausschnitt. Während der alte Mann las, wühlte Gary sich durch die restlichen Papiere, die in dem Umschlag gewesen waren; gut fünfzehn Leserbriefe, die seinen Arzt mehr oder minder stark beschimpften. Außerdem fand er diverse Trauerkarten und Mitleidsbekundungen an seine Eltern, einen Autopsiebericht und letztendlich eine Einladung zur Beerdigung.

Seiner Beerdigung.

Ich werde da sein, dachte er bitter und bemühte sich, das seidene Briefpapier nicht zu zerreißen.

Sokrates hatte den Artikel inzwischen durchgelesen und zu den Leserbriefen gelegt.

„Warum bekomme ich Post aus dem Diesseits?“, fragte Gary, während er die Papiere grob ordnete und in den Umschlag zurückstopfte. Sokrates räusperte sich.

„Das ist so etwas wie eine Dienstleistung. Nein, eher Tabletten, oder vielleicht ein Herzschrittmacher.“

Gary hob fragend die Augenbrauen. Der alte Mann leerte seine Tasse und fuhr fort:

„Unsere Wohnungen richten wir doch ein, indem wir uns an unser altes Zuhause erinnern, nicht wahr?“

Gary nickte.

„Und die Medien der lebenden können wir empfangen, weil die jüngeren Verstorbenen die Erinnerungen an Fernseher und Radios und so weiter mit uns allen teilten, nicht wahr?“

„Jaah, kann sein.“

„Was könnte es also bedeuten, wenn ich sage, dass diese Erinnerungen unsere Herzschrittmacher sind?“

Gary überlegte, während er den braunen Großbrief anstarrte.

„Dass wir ohne Erinnerungen nicht leben können?“

„Korrekt.“ Sokrates nickte. „Wir existieren, weil jemand sich an uns erinnert. Alles, was wir tun, tun wir mit Erinnerungen. Wenn du nun hinausgehen und den Supermarkt besuchen würdest, würde er für dich anders aussehen, als für jemanden, der Zeit seines Lebens in einem anderen Supermarkt eingekauft hat, ganz einfach, weil das Gebäude in seiner Erinnerung ein anderes ist als das in deiner.“

„Macht Sinn. Aber was passiert, wenn sich keiner mehr an mich erinnert? Oder diese Leute sterben?“

„Wenn sie sterben, dich aber nicht vergessen haben, dann ist es kein Problem. Ihr könntet euch sozusagen gegenseitig am Leben erhalten“, erklärte Sokrates. „Allerdings, wenn du vergessen wurdest, bevor die betreffenden Personen gestorben sind… dann verblasst deine Seele und du verschwindest, aber niemand weiß wohin.“

Gary starrte ihn ungläubig an. Die katzenförmige Uhr seiner Mutter tickte unanständig laut, während das Schweigen wuchs. Sokrates räusperte sich.

„Das hört sich schlimm an, aber es kann noch schlimmer kommen.“

„Wie?“, fragte Gary atemlos.

„Indem man Selbstmord begeht.“ Er ließ seine Worte sacken, dann erklärte er: „Die Menschen zu meiner Zeit dachten, die Seele ist unsterblich, und das denken viele, viele Menschen auch heute noch. Aber ich habe dir ja eben erklärt, dass dem nicht so ist.

Und dieser Glaube, dass die Seele das womöglich das Unsterblichste überhaupt ist, machte sie zum kostbarsten aller käuflichen und nicht käuflichen Güter; nicht ohne Grund wurden Selbstmörder auf anderen Friedhöfen beerdigt.“ Sokrates nickte bestätigend, als er sah, dass diese Information neu für Gary war.

„Diese Menschen starben also im festen Glauben, für immer an Gottes Seite zu bestehen, und dann kamen sie hierher und haben gesehen, dass sogar die unendlich kostbare Seele vergänglich ist.“

„Und dann? Haben die dann beschlossen, jeden zu bestrafen, der seine Seele wegschmeißt?“

„Fast“, sagte Sokrates und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob es die ersten zivilisierten Toten so veranlasst haben oder irgendein Gott. Jedenfalls, wenn du dir das Leben nimmst, bevor es eigentlich enden sollte, kommst du zwar auch hierher, allerdings in eine Art abgesperrten Bereich.“

„Ins Gefängnis?“, fragte Gary ungläubig.

„Nein, auch nicht ganz. Sie leben eigentlich wie wir, können aber nicht überall hin. Außerdem sind sie seit ihrer Ankunft hier verpflichtet, sollte eine unschuldige Seele vor ihrer Zeit durch Gewalt aus dem Diesseits gerissen werden, eben jene Seele durch Einsatz ihres zweiten Lebens zu beschützen.“

„Also eine Art Schutzengel?“

Sokrates schüttelte den Kopf.

„Wenn es diesem – gut, nennen wir sie vorläufig Schutzengel – wenn es diesem Engel nicht gelingt, die Seele zu retten, muss er seine eigene Seele in diesen Körper schließen und so das Leben retten.“

„Aber das würde ja heißen“, rief Gary und wurde mit jedem Wort aufgeregter, „wenn man so ein Engel wäre, könnte man sich einen Körper, dessen Seele dann eh schon tot ist, reinschmuggeln und weiterleben!“

Sokrates’ Reaktion stieß ihn in seiner Begeisterung vor den Kopf. Der alte Mann riss erschrocken die Augen auf und rief: „Himmel, nein!“

„Warum?“, fragte er und ließ die Tischkante los.

„Wenn diese Engel ihre Seele opfern – ja, opfern! – dann geht ihre gesamte Persönlichkeit verloren. Sie nehmen alle Eigenschaften der verstorbenen Seele an; dabei geben sie aber ihre eigenen auf und da ihre Seele dann nicht mehr als die ihre existiert, verschwinden sie auch aus den Erinnerungen.

Es ist, als hätte es sie nie gegeben.“

Die katzenförmige Uhr tickte empört.

„A-aber… Das geht doch… das kann nicht…“

Doch Sokrates nickte nur traurig.

„In all meinen Jahren hier habe ich oft erlebt, wie vor allem junge Verliebte von einem Tag auf den anderen, einige Male sogar schon eine Minute später vergaßen, von wem sie mir gerade vorschwärmten.“

„Wie können Sie mir das erzählen, wenn es diese Personen nie gegeben hat?“

„Aus demselben Grund, aus dem du dich gerade darüber wundern kannst: Ich habe sie nie persönlich getroffen.“ Sokrates machte eine kurze Pause und schenkte sich nach, bevor er fortfuhr. „Ich sagte, es ist, als hätte es sie nie gegeben. Das stimmt aber nicht ganz. Leben hinterlässt immer Spuren; ihre Seelen mögen gegangen sein, aber ihre Taten bleiben. Stell dir nur vor, ich hätte den Freitod gewählt: Ich möchte ja nicht angeben, aber dem heutigen Diesseits würde es jetzt an Einigem fehlen.“

„Also um es genauer zu definieren, es verschwinden die Gefühle und Eigenschaften der Seele, nicht aber, was sie einmal getan hat; aber weil sonst nichts existiert, kann man diese Taten mit keiner Person verbinden und sich deshalb nicht an sie erinnern?“

„So könnte man das sagen“, brummte der alte Mann. „Gefühle sind aber auch eine Sache für sich; Liebe verschwindet nicht einfach so. Wie sollte sie auch? Auf der ganzen Welt, in dieser und in jener, gibt es nichts, das so wunderbar und grauenvoll zugleich sein kann.“

„Ich kann nicht ganz folgen.“

„Pass auf: Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf, und in dir, irgendwo in deinem Herzen verspürst du eine innige Zuneigung, die du dir nicht erklären kannst. Das ist fast unmöglich, aber versuch es einfach.“

Gary schloss die Augen. In seinem Herzen gab es eine Menge Zuneigung, aber jedes Mal, wenn er in diese Wärmequelle in seinem Innern eintauchte, erschienen in seinem Kopf die Gesichter seiner Familie und seiner Freunde. Er versuchte, die Erinnerung an sie zur Seite zu schieben und sie zu ignorieren, doch besonders eine Person drängte sich immer wieder ins Rampenlicht. Er öffnete die Augen wieder und merkte, dass Sokrates’ Augen ihn ein weiteres Mal röntgten.

„Wirklich vorstellen konnte ich es mir nicht, aber ich glaube, ich würde mich fragen, wen oder was ich so liebe“, antwortete er, nachdem er noch einmal erfolglos versucht hatte, Alice aus seinen Gedanken zu vertreiben.

„Und so ist es auch“, sagte Sokrates. „Starke Gefühle wie Liebe oder Hass verschwinden nicht so schnell. Ich weiß aber nicht, was ich deprimierender fände: Dem erneut Gestorbenen nachzutrauern oder nicht zu wissen, wer oder was so einen großen Platz in meinem Herzen ausfüllt.“ Er blickte gedankenverloren an die Decke und drehte Däumchen. Garys Blick wanderte erneut zu dem braunen Großbrief, der zwischen ihnen auf dem Holztisch lag.

Eine Weile hörte man nur die geschwätzige Küchenuhr, die fortwährend tickte und die Minuten fraß wie ein hungriger Wolf. Schließlich erhob sich Sokrates.

„Nun ja, ich denke, ich werde dich dann allein lassen“, sagte er, leerte seine Tasse erneut und schritt dann, von Gary gefolgt, zur Tür. Auf seiner Fußmatte angekommen, drehte er sich noch einmal um und blickte seinen Nachbar an.

„Wenn ich du wäre, würde ich mal in meinen Briefkasten schauen.“ Damit öffnete er seine Wohnungstür und ließ Gary allein im sonnendurchfluteten Treppenhaus zurück.

Mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand lief Gary die Treppen hinunter ins Erdgeschoss; die Nachmittagssonne strahlte durch die Glastür herein und der Staub aalte sich in ihrem Licht. Inzwischen hatte jemand ein Namensschild an seiner Klingel angebracht. Er öffnete die blecherne Tür seines Briefkastens und fand tatsächlich einige Briefe darin. Während er die Treppen wieder hinaufstieg, sah er flüchtig seine Post durch. Neben einem seriösen Umschlag, der die Adresse des stellvertretenden Gemeindevorsitzenden trug, fand er auch einen an das Käseblatt adressierten Brief, ein paar karierte Zettel, die unverkennbar die Handschriften seiner Klassenkameraden trugen und – er schnappte nach Luft und fühlte, wie sein Herz zu seinem Adamsapfel hüpfte – einen Brief von Alice.

In seiner Wohnung angekommen, stieß Gary die Tür mit dem Fuß zu und ließ sich mit der Post auf sein Bett fallen. Es drängte ihn, den geliebten Umschlag aufzureißen, und es kostete ihn alle Mühe, sich das Schönste aufzubewahren und erst die anderen Briefe zu lesen.

Der Brief des Stellvertreters seines Vaters enthielt nur die übliche Beileidsbekundung, die niedere Arschkriecher in einem solchen Fall schreiben oder eher schreiben mussten, um auch ja mitfühlend und voller Anteilnahme zu erscheinen.

Im an das Klatschblatt adressierten Umschlag fand er einen Zettel Blankopapier, auf dem in der Handschrift seiner Mutter stand:
 

Gary Catrall

18. Mai 1991 – 21. April 2009

Im engsten Kreise nehmen wir Abschied

Von unserem geliebten Sohn, Bruder und Freund,

der so jung hat sterben müssen.
 

Die Wucht, mit der ihn diese Todesanzeige, seine Todesanzeige, traf, war härter als erwartet. Gary brachte es kaum über sich, die Briefe seiner Freunde und Bekannten zu lesen. Er ließ es auch bald sein, nachdem der dritte Brief einer nahezu fremden Person wieder die unendliche Trauer und Fassungslosigkeit gegenüber eines so sinnlosen Todes beteuerte. Gary war fast ein wenig enttäuscht, dass keiner seiner Kumpel ein Wort über sein Ableben verloren hatte.

Na ja, sagte er sich selbst, immerhin sind es Jungs, und so lang bist du auch noch nicht tot. Du liegst ja nicht mal unter der Erde.

Achtlos warf er die Briefe, bis auf den seiner Mutter, in den Müll, bevor er – vor Aufregung zitternd – den letzten Umschlag aufriss.
 

Lieber Gary, stand da durchgestrichen.

Nein, das ist blöd. Du bist nicht lieb.

O Gott, ich hasse dich so sehr. Wie kannst du mich nur allein lassen?!

Schon mal daran gedacht, dass es hier Leute gibt, die dich vermissen, wenn du einfach so ins Gras beißt?

Hast du vielleicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, wie ich mich fühlen würde, wenn du ohne ein Wort abkratzt?!

Nein, das ist auch nicht richtig. Du kannst da ja nichts für. Wenigstens nicht viel.

Was ist nur los mit mir?

Sieh mich doch an, ich bin so hilflos, dass ich einen Brief an einen Toten schreibe. Zu blöd, dass ich deine neue Adresse nicht kenne.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Oder was ich denken soll.

Schwing doch mal deinen Hintern von deiner rosa Wolke und sieh dir an, was du mit mir gemacht hast.

Siehst du es?

Nein, wie auch. Der Herr hat sich ja entschlossen, die Augen nie wieder zu öffnen.

Da auf meinem Bett liegen meine Fotoalben. Und daneben das Sweatshirt, das ich dir schon ewig zurückgeben wollte.

Das Grüne. Das Schwarze habe ich an.

Mir ist nie aufgefallen, dass es nach dir riecht.

Eigentlich ist es Selbstmord, es zu tragen.

Aber es wäre ebenfalls Selbstmord, es nicht zu tun.

Was, wenn es verschwindet? Geklaut wird, verbrennt? Was bleibt mir dann von dir, bis auf die Fotos?

Ich bereue es, meine Kamera nicht öfter mitgenommen zu haben. Ich bereue so vieles im Moment. Ich bereue jedes einzelne Mal, das ich dir ein Treffen absagen musste.

Wie konnte ich denn nur so kostbare Zeit verschwenden?

Ich werde sparsamer sein. Ich werde jede Minute an dich denken.

Komisch, wie kalt es im Frühling werden kann.

Ich vermisse dich so entsetzlich, jetzt schon.

Allein der Gedanke, morgen aufzuwachen – vorausgesetzt, ich kann schlafen – und zu wissen, dass der zweite Tag, ein Tag von vielen, ohne dich anbricht, macht mich wahnsinnig.

Du kannst doch nicht einfach aufhören zu existieren! Sieh mich doch an!

Siehst du, wie fertig ich bin?

Ich kann die Fotos nicht mehr sehen, aber wenn ich sie wegräume, habe ich Angst, dich zu vergessen.

Ist das nicht krank? Zwei Tage und ich fürchte mich davor, die Erinnerungen an dich zu verlieren.

Die Uhr tickt entsetzlich laut.

Hilf mir, Gary.
 

Etwas Heißes tropfte auf Garys Hand und holte ihn zurück in die Gegenwart. Er bemerkte, dass es eine Träne war, die sich ihren Weg seinen Nasenrücken entlang gebahnt hatte, bis sie todesmutig auf seine Hand und den Brief, den er umklammert hielt, herabstürzte. Er merkte auch, dass ihr viele weitere Tränen folgten, aber er machte sich nicht die Mühe, sie abzuwischen oder zu verbergen.

Wozu auch? Hier war niemand außer ihm.

Er war allein.

Ablenkungen


 

Ablenkungen
 

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Gary sich aufsetzte. Er war eingeschlafen, vielleicht hatte er auch vor lauter Kummer nicht mitbekommen, wie spät es bereits war; Fakt war jedoch, dass er den Postboten verpasst hatte und somit das erste Mal bei einem der anderen Nachbarn klingeln musste.

Außer der Mitteilung des Paketboten fand er zwei Briefe und eine CD, ohne Cover, ohne Beschriftung. Schulterzuckend steckte er sie ein und machte kehrt, um sein Paket zu holen.

Die Überraschung war beiderseits, als Gary die Klingel betätigte und nach polternden Schritten niemand Anderes öffnete als der rothaarige Zwilling, den er vor dem Meldeschalter getroffen hatte. Sie stutzten, bevor sie fast synchron grüßten.
 

„Du willst sicher dein Paket holen.“ Er duzte ihn, und das gefiel Gary. Sein Gegenüber beugte sich nach rechts und erschien gleich darauf wieder im Türrahmen, ein kleines, mit viel Paketband umwickeltes Päckchen in der Hand. Als er es Gary überreichte, fiel sein Blick auf die Briefe, die aus der Kängurutasche des Sweaters lugten.

„Kannst du deinen Pass auch schon abholen?“, fragte er neugierig.

„Was?“ Gary folgte seinem Blick und zog den vordersten Brief hervor. Er war maschinell adressiert und trug anstatt einer Briefmarke einen amtlich wirkenden Stempel. Der Absender war ein gewisses Zentralamt des Bezirks C31. Schnell riss er das Kuvert auf und überflog das Schreiben.
 

„Wenn du magst, können wir zusammen hingehen.“ Der Rotschopf versuchte ein Lächeln, das Gary nur zu gern erwiderte. Sein Gesicht fühlte sich seltsam verkrampft an, als ob er für Stunden eine Grimasse gezogen hätte. Das Schweigen wurde unangenehm, und Gary beeilte sich zu sagen: „Ähm… Ich bin Gary, Gary Catrall.“

„Ted Weatherby. Freut mich, Gary“, antwortete der Zwilling und sein Lächeln war gleich um Einiges herzlicher.

„Okay, Ted. Wann hattest du denn geplant, loszugehen?“ Und wo ist dieses Amt überhaupt, wollte er hinzufügen, besann sich aber rechtzeitig auf die Karte, die nutzlos in einer Schublade im Flur lag. Ted zuckte mit den Schultern.
 

„Pack doch erstmal aus, ich hab eh noch nicht gegessen. Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich dann und hole dich ab.“ Sie beließen es bei dieser Abmachung und verabschiedeten sich. Gary stieg die Treppe wieder empor und trat in seinen Flur. Er war froh, dass Ted und er im selben Haus wohnten, es nahm dieser ganzen Welt etwas von ihrer Monstrosität. Sie kannten sich kaum, aber beide waren sie Hals über Kopf aus einem jungen Leben gerissen und hierher gebracht worden, in ein Paralleluniversum, dass ihm bis jetzt nur zu einem Bruchteil offenbart worden war. Gary gestand sich ein, dass er sich so lang wie möglich vor dem Besuch in diesem Zentralamt gedrückt hätte. Aber zu zweit ist man immer mutiger, sagte er sich, während er die Post auf den Küchentisch legte und nach einer Schere fahndete.
 

Er fand sie in der Besteckschublade und erinnerte sich mit einem Gefühl belustigter Wehmut daran, wie sein Vater immer geschimpft hatte, weil seine Mutter sämtliche Scheren in die Küche verschleppte. Er schluckte und öffnete das Paket. Es war recht schwer gewesen, was daran lag, dass es fast vollständig mit allerlei Tand gefüllt war. Ganz obenauf lagen ein verknotetes Wollknäuel und ein Foto, das ihn und seine Familie bei einem Grillfest vor zwei Jahren zeigte. Beherzt kippte er das Päckchen aus und forstete sich durch das Sammelsurium an Alltagsgegenständen, Kitsch und Dingen, die auf den ersten Blick in den Müll zu gehören schienen. Stück für Stück nahm er unter die Lupe, bevor er es zurück in den Karton warf.
 

Er war ungefähr beim ersten Drittel angelangt, als er ein kleines Plättchen in der Hand hielt. Er kannte dieses Plättchen. Es war ein Plektrum, das er vor einigen Jahren auf einem Konzert gefunden und das Alice ihm abgeschwatzt hatte. Sein Vater hatte ein Loch hineinbohren müssen, damit sie es sich ans Ohr hängen konnte. Gedankenverloren strich er über die ausgefransten Ränder des Loches, den metallenen Haken. Wieder und wieder fuhr er mit dem Daumen um den Rand, während er es einfach betrachtete. Sie hatte es, soweit er den Überblick über ihre unzähligen Ohrlöcher behalten hatte, oft getragen, und er fragte sich, was es hier zu suchen hatte. Seufzend legte er es beiseite und durchkämmte weiter den Schnickschnack. Eine halbvolle Garnrolle in dunkelrot und ein kleines Messingglöckchen erregten seine Aufmerksamkeit.
 

Er legte sie zu dem Plektrum, stierte die Gegenstände an und suchte die Verbindung zwischen ihnen, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Es waren allesamt Gegenstände, die er irgendwann einmal im organisierten Chaos von Alice’ Zimmer gesehen hatte. Mit der Garnrolle hatte sie eines seiner alten Hemden enger gemacht und das Glöckchen hatte sie vom Halsband einer Katze abgetrennt. Nach und nach erkannte er auch die anderen Dinge aus dem Paket; das Foto, auf dem sie sein Lachen so hübsch fand, ein verknitterter Zettel mit Kritzeleien aus einer langweiligen Unterrichtsstunde, ein trockener Hundekuchen. Langsam dämmerte es ihm: Das alles mussten Dinge sein, die sie gesehen und bei denen sie an ihn gedacht hatte. Beinahe schon zärtlich nahm er das Leckerli und betrachtete es lang. Er konnte sich nicht erklären, warum ein Hundekuchen Alice an ihn erinnerte, aber es war seltsam befriedigend zu wissen – oder viel mehr zu hoffen – dass sie dieses harte Stück Brot berührt und dabei an ihn gedacht hatte.
 

Er fühlte sich seltsam verbunden mit ihr, während er die restlichen verstreuten Dinge betrachtete und sie am liebsten alle auf einmal gehalten hätte. Jedes Stück, jeder Bindfaden stammte aus der Welt, in der Alice war und in die er gehörte. In diesem Moment hatte er den Beweis, dass sie nicht verschwunden war, dass sie einfach getrennt waren für eine unbestimmte Zeit, und es erschien ihm ungerecht, dass er ein Stück Diesseits mit der Post bekam, während seine liebste Freundin sich verzweifelt an einen Hundekuchen und eine große geschliffene Glasscherbe klammern musste. Gary ließ das Leckerli fallen und wischte die Erinnerungsstücke mit seinem Arm zurück in den Karton; er wollte es nicht mehr sehen, nicht jetzt, wo ihn eine Garnrolle beinahe zum Heulen brachte.
 

Er verstaute das Paket auf einem der Hängeschränke, bevor er die Briefe aufhob. Wie gehofft war einer von Alice dabei. Er riss ihn auf, begierig darauf, gemeinsam mit ihr im Selbstmitleid zu versinken – doch es waren lediglich unzusammenhängende Fetzen, Bruchstücke und wirre Gedanken, sein Name. Enttäuscht strich er über die raue Stelle, an der das Papier eine Träne aufgesogen hatte. Gary konnte sich nicht erklären, warum ihn diese scheinbar wahllos geschriebenen Sätze so mitnahmen wie ihr erster Brief. Es ergab keinen Sinn, und das konnte es sein, dass ihr die Trauer die Fähigkeit nahm, einen Text zu schreiben.
 

Mit zitternden Fingern faltete er den Brief und schob ihn ans andere Ende des Tisches. Kaum zwei Stunden war er wach, doch er fühlte sich ausgelaugt und vergrub müde das Gesicht in den Händen; so verharrte er, bis ihn das Schreien seiner Türklingel fast vom Stuhl riss. Vage erinnerte er sich, dass er ja zu diesem ominösen Amt gehen wollte (oder eher musste). Am liebsten hätte Gary abgesagt, doch als Ted vor der Tür stand, grinsend und ahnungslos ob des Gefühlschaos, das gerade in Gary tobte, brachte er es nicht über sich. Mit dem amtlichen Brief und der Karte in der Jackentasche folgte er Ted hinaus.
 

*
 

„Bitte lächeln!“ Garys Mundwinkel verzogen sich. Es blitzte und sofort entspannten sich seine Züge wieder. Der Fotograf betrachtete das Foto kritisch auf dem Monitor, und Gary konnte es ihm nicht verübeln; er bezweifelte, dass auf diesem Bild auch nur der Ansatz eines Lächelns zu sehen war. Der bärtige Mann zuckte die Schultern und ließ das Bild drucken, bevor er es auf dem unterschriebenen Pass befestigte und laminierte. Indes gesellte sich Gary zu Ted, der seinen Pass bereits in der Hand hielt und ihn neugierig drehte und wendete.

„Bürokratie im Jenseits, schon krass, oder?“
 

Gary brummte. Ted war, seit sie über die Schwelle des gelb getünchten Neubaus getreten waren, von einer unerschütterlichen Euphorie gepackt gewesen. Der alte Herr, der vor dem Tresen hinter ihm gestanden hatte, hatte sich mehrmals vernehmlich geräuspert, doch Ted hatte nicht im Traum daran gedacht, seinen Pass zu unterschreiben, sondern mit der Beamtin geplaudert und ihr eine Frage nach der anderen gestellt. Gary konnte diesen Wissensdurst beim besten Willen nicht teilen; dass das Jenseits so normal war, machte ihm tatsächlich nur mehr Angst vor dieser Welt und er wollte nichts sehnlicher, als alles schnell hinter sich bringen. Folglich hatte er nur kurze Worte des Dankes übrig, als der Fotograf ihm seinen Pass aushändigte, und zog Ted sogleich zum Ausgang.
 

„Was hast du denn für einen Geist gesehen?“, fragte Ted amüsiert, als sie in den warmen Schein der Nachmittagssonne traten. Die Straße war mäßig belebt, einige drängten sich an ihnen vorbei, als sie den Schotterweg zurück zum Bürgersteig gingen.

Gary antwortete nicht und Ted folgte ihm einfach, bis sie aus dem Stadtzentrum heraus waren, wo die Straßen kleiner und die Gärten zwischen den Villen größer wurden. Er blieb stehen und atmete einmal tief durch. Gerne wäre er weitergegangen, immer weiter und weiter, auch wenn Ted umkehrte; er wollte laufen bis ihn seine Füße nicht mehr trugen oder er das Ende dieser verwirrenden Welt erreicht hatte.
 

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Ted zögerlich.

„Ja, das heißt, Nein“, gab Gary zu. Er unterdrückte den Impuls, einen sagenhaften Sprint hinzulegen und wandte sich dem Rotschopf zu. „Ich meine… guck- guck dir das doch an!“ Er hielt den Pass hoch, der seinem alten Personalausweis bis auf die Schriftart glich. „Ein Pass im Jenseits? Ich bin gestorben und nicht volljährig geworden! Das ist doch vollkommen bescheuert. Warum sitzen wir nicht auf bekloppten pinken Wolken bei Gott oder Petrus oder Elvis und gucken uns die Welt der Lebenden an? Warum ist hier alles so widerlich normal? Es ist als wäre ich umgezogen und ich hab verdammt noch mal keinen Bock umzuziehen, ich will mein altes Leben und meine alten Freunde und ich will bei meinen Eltern wohnen und verdammt noch mal Geld für krebserregendes, fetttriefendes Junk Food ausgeben und den Leuten im Chat antworten können und mir nicht dieses gottverdammte Trauergedöns anhören müssen! Ich will…“, endlich holte er Luft und stieß sie in einem deprimierten Seufzer aus. „Ich will einfach nur nach Hause.“
 

Ted hatte ihm schweigend zugehört, jetzt runzelte er die Stirn.

„Alter, glaubst du ich bin freiwillig hier?“

„Was? Nein“ Gary lachte tonlos. „Zumindest nicht allein, oder?“

„Keine Ahnung. Es ist ziemlich scheiße ohne meinen Bruder, aber ich weiß nicht, ob ich ihm den Tod wünschen sollte damit ich hier nicht alleine rumhocken muss. Und was wäre mit unserer Mum? Ich glaube, einen Sohn verloren zu haben reicht ihr fürs Erste.“ Er lächelte ein wenig gequält, als wäre ihm etwas Großes auf den Fuß gefallen. Ihre Blicke trafen sich und Gary merkte, wie er sich langsam beruhigte.

„Lass uns gehen. Ich verspüre den immensen Drang, mich bei den Nachbarn durch unerhört laute Musik unbeliebt zu machen und dabei eine Packung Chips zu leeren.“

„Klingt nach anspruchsvoller Freizeitgestaltung“, bemerkte Gary und merkte, wie seine Mundwinkel ganz leicht nach oben zuckten. Mit Ted war es aber auch schwer, ein bockiger Teenager zu sein.
 

Sie schlenderten zurück zu ihrem Wohnhaus, und Ted schlug vor, eine andere Route zu gehen, um mehr von der Stadt (denn sie gingen davon aus, dass auch das Jenseits in Städte und Länder unterteilt war) zu sehen. Und so kam es, dass sie irgendwann in einem turbulenten Einkaufsviertel standen und vollkommen die Orientierung verloren hatten. Um einfach einen Blick auf die Karte, die Gary mitgenommen hatte, zu werfen, waren aber beide zu stolz.
 

„Ich brauch ‘ne Pause“, stöhnte Ted und wischte sich theatralisch über die Stirn. Auch Gary wurden langsam die Füße lahm und er schaute sich auf dem lauten, geräumigen Marktplatz um. Einzelne Jahrmarktbuden boten Zuckerware oder Bratwürste an, das Aroma der kandierten Äpfel verschmolz mit dem des gegrillten Fleischs und ließ den Jungen das Wasser im Mund zusammen laufen. Gary war drauf und dran, sich den fetttriefenden Köstlichkeiten hinzugeben, als Ted ihn am Arm packte und freudig rief: „Das gibt’s ja gar nicht, schau!“ Er folgte Teds ausgestrecktem Arm; der Zwilling deutete auf ein kleines, in hellorange gehaltenes Geschäft, dass sich zwischen einen Starbucks und eine große Bäckereifiliale quetschte. Ein erfreuter Ausruf entwich ihm. Dort war doch tatsächlich das kleine Café, das unter den Jugendlichen zwischen Whitehaven und Carlisle als absoluter Geheimtipp galt.
 

„Was, du kennst The Cupcake-Shop?

„Gegenfrage: Welcher britische Jugendliche kennt den Cupcake-Shop nicht?“

„Auch wieder wahr“, grinste Gary, und konnte selbst nicht glauben, wie flexibel seine Mundwinkel plötzlich waren. Eins seiner Lieblingscafés in der Welt zu sehen, in der er sich seither nur verloren und allein gefühlt hatte, nahm ihm eine Last von den Schultern; es gab auch außerhalb seiner Wohnung vertraute Dinge hier, und das war beruhigend. Voller Vorfreude schritten die beiden über das Kopfsteinpflaster auf die verglaste Eingangstür zu.
 

Das Innere von The Cupcake-Shop unterschied sich recht deutlich von herkömmlichen Bistros und Cafés. Trat man zur Tür herein in den hellrosa gestrichenen, niedrigen Schankraum, wurde man rechts von den Köstlichkeiten, die sich auf und in der verglasten Theke stapelten, dazu eingeladen, sich einen Cupcake selbst zusammenzustellen und seinem Zuckerschock mit einem seligen Lächeln entgegenzutreten. Links, direkt an der mit Fingerfarben bemalten Fensterfront, stand ein schnuckeliges kleines Kaffeetischchen, umringt von Stühlen und Sesseln, die abgewetzt und bunt zusammengewürfelt waren, mit den selbstgenähten Patchworkkissen aber gemütlicher waren als jedes teure Lederarrangement. Im hinteren Teil des Schankraumes fanden sich ähnlich multikulturelle Sitzgelegenheiten, vom riesigen Samtkissen bis zum barocken Königsstuhl. Die Wanddekoration reichte von der bemalten Wand bis zur hauseigenen Fanartikelecke; aber Schmuckstück des ganzen Raumes war die riesige Pinnwand mit Fotos von Kunden und ihren kulinarischen Meisterwerken, und direkt davor stand, die Arme begrüßend ausgebreitet –
 

„Frank!“

„Frank! Sag, bist du tot? Wie das?“

„Hello! Gary, long time no see! Und Ted!”, dröhnte der Besitzer des Ladens mit breitem australischem Akzent und schloss jeden von ihnen in die Arme, und Gary wurde es warm ums Herz. Gleichzeitig fragte er sich genau wie Ted, ob Frank tatsächlich tot war, aber dieser Gedanke wurde schnell von der Tatsache verdrängt, dass hier jemand war, den er kannte.

„Ihr seid hungrig? Kommt, ich hab frische Cakes im Ofen, und Peppermint-Icing ist auch da, Ted!“

„Du weißt, wie ich meinen Cupcake mag“, grinste Ted und trat an die Theke, während Frank nach Topflappen, die natürlich die Form kleiner Törtchen hatten, langte und ein Blech dampfenden Gebäcks auf die Arbeitsplatte stellte. Die Kuchen sahen eigentlich aus wie normale Muffins, nur hatten sie in der Mitte ein großes Loch. Frank nahm ein Törtchen, füllte das Loch mit eingelegten Sauerkirschen und Schokoraspeln und klatschte dann eine ordentliche Portion mintfarbener Creme auf den Cupcake. Zur Krönung drückte er ein Toffee in die Creme und überreichte sein Meisterwerk dann strahlend an Ted.
 

„And you, Gary? Willst du mal was Neues testen?“

„Äh- klar“, antwortete Gary, der sich dem Enthusiasmus des Ladenbesitzers einfach nicht entziehen konnte. Frank grinste, als hätte er im Lotto gewonnen, und bevor Gary sich versah, hatte er ein Törtchen in der Hand, von dem nur Frank wusste, was seine Zutaten waren.

Er setzte sich zu Ted, der sowohl in seinem Essen als auch in dem riesigen Beanbag förmlich versank, und biss in den süßen Dinkelteig. Das Icing musste eine neue Kreation von Frank sein, er konnte den Geschmack nicht recht einordnen, es war ihm aber auch egal. Das Erdbeermousse im Inneren des kleinen Kuchens füllte seinen Mund mit seinem köstlichen Geschmack und seinen Kopf mit bittersüßen Gedanken an Leute, mit denen er hier so manchen entspannten Nachmittag verbracht hatte.

Nein, nicht hier. In der Welt, in die er gehörte.
 

„Ted?“

„Mmmph?“

Gary versicherte sich, dass Frank in der kleinen Wohnung über seinem Laden beschäftigt war, und wandte sich an seine Begleitung: „Woher kennen du und Frank euch so gut?“

Ted kaute zu Ende, schluckte und betrachtete dann den letzten Bissen, den er noch in der Hand hielt. Schließlich zuckte er mit den Schultern und verleibte sich auch diesen ein, bevor er sich die Finger leckte und antwortete: „Ich komme aus Carlisle, hab aber kurz in Brayton gejobbt und mir dann gerne mal einen Feierabend-Muffin gegönnt.“ Grinsend beendete er die Grundreinigung seines Ringfingers und lehnte sich zurück. „Und du?“

„Zufall, purer Zufall. Irgendwer hat mir mal einen Flyer zukommen lassen, ich war neugierig, bin hergefahren und na ja“, Gary hob die Hand zu einer ausschweifenden Geste, „der Sucht verfallen.“

Ted lächelte ihn schweigend an, und Gary aß weiter.
 

„Möchtest du mal meinen Bruder sehen?“

Bevor Gary antworten konnte, stand Ted auf und ging hinüber zur Fotowand, die Frank im Laufe der Jahre angelegt hatte. Er suchte eine Weile, nahm dann eines der Fotos ab und kam zu ihrem Tisch zurück. Mit einem undefinierbaren Ausdruck reichte er Gary das Polaroid-Foto.

Es war draußen, vor dem bemalten Schaufenster. Damals gab es keinen Lieferservice, sondern das neu erfundene Bananensplit-Icing wurde in bunten Farben angepriesen. Vor dem Schriftzug, auf genau der hellblauen Bank, die an der Kellertreppe hochkant an der Wand lehnte, saßen Ted und noch ein Ted. Man hätte meinen können, jemand hätte das Foto am Computer gespiegelt, wenn es keine Polaroid mit einem Eselsohr gewesen wäre. Beide Teds hatten ein blaues Polohemd an, beide hielten einen Cupcake mit safrangelber Creme in den Händen, und beide hatten einen Klecks safrangelber Creme auf der Nase; beide lächelten identisch in die Kamera.
 

„Bananensplit?“

„Nein, Gregory, aber alle nennen ihn Greg“, antwortete Ted mit einem spitzbübischen Grinsen. Unwillkürlich lachte Gary auf.

„Er ist sechzehn Minuten älter als ich. An dem Tag hatte ich früh Feierabend und er hat mich abgeholt. Wir sind hierher gefahren und er hat mich eingeladen. Frank hatte nie Zwillinge zu Gast gehabt und kroch förmlich auf den Knien, als er uns um ein Foto bat.“

Schweigend betrachtete Gary das Foto, dann legte er es auf den Tisch und schob es zu Ted hinüber. Ted sah es nicht an.
 

In diesem Moment kam Frank wieder hinunter. Er blickte zu seinen beiden Gästen, dann fiel sein Blick auf das Foto.

„Oh, it’s you and your twin! Geht es ihm gut? Wo ist er?“

„Nicht hier Frank“, antwortete Gary an Teds Stelle, der mit einem gepressten Lächeln da saß. „Sag, kannst du uns zwei Cupcakes einpacken? Denk dir ruhig was aus.“ Der Ladenbesitzer machte sich an die Arbeit und Gary schnappte sich das Foto und ließ es in seine Hosentasche gleiten, während Ted zum Tresen schlenderte.

„Sag mal, Frank…“

„Yes?“

„Du bist doch nicht gestorben, oder?“ Das letzte Wort klang in Garys Ohren fast schon hoffnungsvoll.

„Oh nein, nein, nein“ Er reichte dem Rotschopf eine quietschbunte Papierbox, in der zwei kleine Kuchen gerade so Platz fanden. „Ich bin hier nur, weil ihr hier seid.“

Ted und Gary blickten gleichermaßen verwirrt.

„Du bist nicht tot?“

„Nein, nur ein Gedanke. Have a nice day!“ Und er verschwand wieder im Obergeschoss.
 

Gary wollte seine Zeche einfach auf den Tresen legen, da fiel ihm wieder ein, dass er sowieso kein Geld hatte und niemand im Jenseits bezahlte. Er winkte Ted und hielt ihm die Ladentür auf. Ein wenig konsterniert trat der Zwilling ins Freie.

Keiner von ihnen hatte groß Lust, eine weitere irreführende Tour durch fremde Welten zu machen, also benutzten sie für den Heimweg die Karte, die Sophie ihm gegeben hatte. Gary nahm sich vor, seine Mentorin die nächsten Tage einmal anzurufen und sie über das Rätsel zu befragen, dass ihm Franks Antwort auferlegt hatte.

Als sie vor dem blauen Gebäude ankamen, hatte sich auch Ted wieder gefangen.
 

„Noch Lust auf laute Beschallung und ungesundes Essen?“, fragte er, den Schlüssel in der Hand.

„Ich könnte mich an keinen Tag erinnern, an dem ich das nicht hatte“, grinste Gary. Sie traten ins kühle Treppenhaus, und ohne sich abgesprochen zu haben, gingen sie beide ins Obergeschoss; etwas sagte Gary, dass seine Wohnung die klügere Wahl war. Er schloss auf und ließ den Rotschopf eintreten.

Ted pfiff anerkennend durch die Zähne. „Der Flur ist schon mal ganz schick. Jedenfalls geschmackvoller als der in meinem Studentenwohnheim.“ Er grinste. Gary lächelte zurück und freute sich, wie leicht es ihm fiel, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Er lotste seinen Gast ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. „Hast du eigentlich eine Terrasse?“

„Hatte. Jetzt habe ich eine Unkrautplantage.“

„Die Nachbarn werden entzückt sein. Und apropos Nachbarn – ich hoffe, Sokrates hat dicke Wände.“ Mit diesen Worten legte er eine seiner Lieblings-CDs in die Stereoanlage seines Vaters.
 

„Auf welchen Virtuosen fiel die nervenaufreibende Wahl?“, feixte Ted vom Sofa her.

„Mund zu und hinhören“, gab Gary zurück, „ist eine meiner Lieblingsbands.“

Entgegen ihrer halbherzigen Drohungen drehte Gary die Lautstärke nicht voll auf; während er in der Küche seine plötzlich vorhandenen Süßigkeitenvorräte plünderte, schallte der erste Track der CD aus dem Wohnzimmer herüber. Als er mit seiner Beute zurückkehrte, wippte Ted schon mit den Zehen im Takt.

„Gut, oder?“

„Viel besser würden sie klingen, wenn du mir widerstandslos die Tüte Weingummis überlässt.“

„Es ist ja nicht so, dass du dir vor einer halben Stunde eine Kalorienbombe sondergleichen reingezogen hast“, murmelte Gary, warf ihm aber die knisternde Packung zu. Ted riss sie noch im Fangen auf.

„Genau, vor ‘ner halben Stunde. Mittlerweile hat sich mein Magen fast selbst verdaut!“

Gary erwiderte nichts, sondern schwang die Beine über die breite Lehne des Sessels und gab sich Geschmacksverstärkern und E-Gitarren hin.
 


 

*
 

Als er Ted an diesem Abend verabschiedete, lud ihn der halbe Zwilling ein, am nächsten Tag die nähere Nachbarschaft zu erkunden. Gary sagte zu, weniger, weil ihn die Nachbarschaft interessierte, sondern mehr, weil er gern Zeit mit Ted verbrachte.

Das mittelschwere Chaos im Wohnzimmer ließ er unberührt, er hüpfte unter die Dusche und putzte sich die Zähne. Bevor er seine Klamotten in den Wäschekorb schmiss (und bemerkte, dass dieser nicht leer war), fischte er noch das Bild aus seiner Hosentasche. Sich die Haare trockenrubbelnd tappte er in sein Zimmer, ließ die Jalousien herunter und legte sich mit dem Bild aufs Bett.

Er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er es ohne zu fragen eingesteckt hatte. Aber als er es auf den Nachttisch legte und unter die Decke kroch, war er trotzdem froh, es an sich genommen zu haben.

Er verbrachte gern Zeit mit Ted. Er war lustig, etwas kindisch, aber auf jeden Fall eine Persönlichkeit. Ted kam aus dem gleichen Teil Englands, kannte und mochte ähnliche Dinge wie Gary. Im Diesseits wären sie bestimmt Freunde geworden.

Hier aber, das musste sich Gary eingestehen, mochte er Ted vor allem deswegen, weil er ihn daran erinnerte, dass er zwar tot war, aber nicht die Hälfte eines Ganzen, die nicht einmal in den Spiegel schauen konnte, ohne an das erinnert zu werden, was sie zurücklassen musste.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2010-11-06T15:08:40+00:00 06.11.2010 16:08
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Tote uns mit ihrer Abwesenheit strafen und nicht damit, dass sie als Geister zurückkehren.
Vielleicht wäre es genau das, was Alice in diesem Moment brauchen würde.

Irgendwie klang ein Teil des Briefes erstaunlich selbstsüchtig, aber vermutlich trauern die meisten Menschen tatsächlich aus diesem Grund, nicht weil der Tote nicht mehr alles mögliche Erleben kann, sondern weil sie es sind, die zurückgelassen wurden.

Ein wirklich interessantes Kapitel.
Obwohl man sich vermutlich darüber streiten könnte, ob Sokrates nicht doch so etwas wie Selbstmord begangen hat.

LG
Zwiebel
Von:  Shinosuke
2010-11-05T20:48:58+00:00 05.11.2010 21:48
Ich hab's ja vorhin schon gesagt und sag's gerne wieder:
Du hast echt Talent.
Das ist echt schön und super zu lesen.
Ich freu mich auf die nächsten Kapitel.
Von: abgemeldet
2010-08-27T21:04:43+00:00 27.08.2010 23:04
Das Kapitel war sehr farbenfreudig. (Ein grau/lila gestrichenes Zimmer stell ich mir allerdings ziemlich dunkel vor.)
Dass Gary sich die Wohnung wie sein diesseitiges Zuhause einrichtet ist gut nachvollziehbar, ebenso dass er anschließend quasi auf seine eigene Vorstellungskraft hereinfällt und versucht sich mit Alice zu unterhalten.
Bin mal gespannt, ob sie tatsächlich etwas von Garys Nachrichten bekommen hat oder ob es noch ein ante mortem Satz war und was es mit Sokrates auf sich hat.

LG

Zwiebel
Von: abgemeldet
2010-08-27T20:42:56+00:00 27.08.2010 22:42
Salü,

ich fang mal beim Nachwort und mit meiner Vermutung an: Fred Weasley?

Und jetzt zum Eigentlichen.

Ich hab mitgezählt als der Countdown ablief und widersinnigerweise gehofft, dass Gary doch noch rechtzeitig gefunden wird und musste bei seinem folgenden Sarakasmus doch ein wenig schmunzeln, um dann als ihn die Erkenntnis über den Verlust seiner Familie und seiner Freundin getroffen hat, wieder zu wünschen, dass ihm das ebenso wenig passiert wäre wie dem rothaarigen Zwilling.

Kurz gesagt, es hat mir sehr gut gefallen. U. a. die Ironie, dass Bürokratie selbst im Jenseits nicht tot zu kriegen ist. (Wie war das mit dem Teufel und der Erfindung der Bürokratie...?)

LG

Zwiebel


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