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Architekture

Eine Hommage an den besessenen Künstler
von

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Architekture

Regentropfen auf dem Boden, sie erinnern mich an dich. Weiße Lilien in meiner Hand, erinnern mich an dich. Schritte auf dem Asphalt, sie erinnern mich an dich. An jedes deiner Worte, an jede Zeichnung, die du mir gezeigt hast, an jede Stunde, die ich mit dir verbringen durfte. Während der Regen unaufhörlich vom Himmel fällt. Während der Regen unaufhörlich aus deinem Himmel fällt und auf den Boden platzscht. Während der Regen unaufhörlich aus deinem Himmel fällt und in die Kanalisation gespült wird, bis er wieder ein Teil des Grundwassers wird, das uns ernährt.
 

Du hast ihn geliebt, den Regen. Der Regen lässt das Kupfer grün werden, wenn er lange darauf fällt. Die Kupferatome reagieren mit dem Kohlen- oder Schwefeldixoid im Wasser und werden zu Kupferhydroxiden. Der Regen lässt den Sandstein schwarz werden, wenn er lange darauf fällt. Er wäscht verschiedene Mineralien aus, sodass die schwarzen zu tage treten. Ich habe dich einmal gefragt, warum du den Regen so magst, wenn er doch alles, was jemand gebaut hat, einfach kaputt macht. Und du hast mir geantwortet, dass er das neue verändert, er lässt es altern, weise werden, lässt es die Erhabenheit über alle anderen Gebäude erlangen. Am Anfang, hast du gesagt, sei ein Gebäude wie ein junges Kind: alle lieben es, seine Schönheit, seine Reinheit, die Hoffnung, die in ihm steckt. Aber es sei auch etwas übermütig, ungewöhnlich, es maße sich an, schöner und vollkommener zu sein als alle Gebäude vor ihm. Doch wenn es dann alt und grün sei und der Sandstein von den Kanten bröckelt, dann sei es klug. Es habe lange gelebt und viel erlebt und wisse mehr über diese Welt als alle anderen Gebäude. In der Zukunft verkörpere es die Vergangenheit.
 

Du hast mir auch erklärt, dass jedes Gebäude einmal sterben müsse. Irgendwann, so sagtest du, würden der Regen und der Wind soviel von ihm genommen haben, dass es zusammenbreche. Die Fensterläden würde der Wind irgendwann öffnen und den Regen hineinlassen, und mit ihm die Insekten, die in dunklen Ecken ihr Nest bauten und ihre Kinder mit Tapeten fütterten. Und nach den kleinen Tieren kämen die großen, die Vögel, Füchse, Marder, sie alle nutzten und zehrten an den Kräften des Hauses, bis es keine Kraft mehr habe. Und dann würde der Wind seine Trümmer über die Felder verwehen und der Regen alles wegspülen, was einmal dagewesen war und schließlich würden die Ziegel wieder zu Stein, das Glas wieder zu Sand und die Tapete zu Humus. Vielleicht fällt es mir deshalb so leicht, den Tod eines Menschen zu akzeptieren. Weil ich weiß, dass er wieder zu Erde wird, dass er wird, was er früher einmal war. Und auch du wirst das werden, was du früher einmal warst. Erde. Stein. Staub.
 

Aber warum fällt es mir so schwer das zu akzeptieren? Du hast mir beigebracht, pragmatisch, klar, unverklärt zu sehen, die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind. Aber wenn ich an dich denke, versperren mir Tränen die Sicht. Warum hast du dein Versprechen gebrochen? WARUM? Du hast mir immer gesagt, dass der Mensch die Natur in ihrer Zerstörungskraft noch weit überbiete, dass es unnatürlich, widerwärtig, falsch sei, wenn der Mensch ein Gebäude zerstöre, nur weil es nicht mehr schön sei, du sagtest … jeder … Mensch … jedes Gebäude … hätte das Recht … in … Ruhe … zu sterben. Du hast mir versprochen, dass du es nutzen würdest, dass du immer für mich da bist! WARUM TUST DU DAS JETZT? Warum kannst du nicht einfach da sein und verrotten, so, wie du es wolltest? Du hast mir gesagt, dass du immer für mich da bist, wenn ich dich brauche, dass du mir soviel beibringen willst – und jetzt ergibst du dich? WAS BIST DU NUR FÜR EIN MENSCH?! Du hast deine Prinzipien, deine Grundsätze verraten und behauptest doch das Gegenteil! Du würdest es tun, damit man sie erhalte – wer soll sie denn erhalten, wenn du nicht mehr da bist? WER? Ich hasse dich! ICH HASSE DICH SO SEHR! ICH HASSE DICH, GERADE WEIL ICH DICH SO LIEBE! TU, WAS DU FÜR RICHTIG HÄLST! MACH ES, WENN ES DICH GLÜCKLICH MACHT! TU, WAS DU NICHT LASSEN KANNST! STÜRZ DEINE FAMILIE INS UNGLÜCK! DU HÄTTEST DOCH SOWIESO SCHON LÄNGST DEN LÖFFEL ABGEBEN MÜSSEN! ICH WEIß NICHT, WER DAFÜR VERANTWORTLICH IST, DASS DU ÜBERHAUPT SO LANGE LEBST! ANDERE WIE DU STERBEN VIEL FRÜHER! SIE HATTEN NOCH NIEMANDEN, DER UM SIE TRAUERTE! ABER DU HAST JEMANDEN, DU HAST MICH! ALSO TU ES ENDLICH, MACH DEM GANZEN EIN ENDE! JE LÄNGER ES DAUERT, JE MEHR ZEIT DU MIT MIR VERBRINGST, DESTO SCHMERZHAFTER WIRD UNSER ABSCHIED! ALSO VERSCHWINDE! HAU AB! MACH ES ENDLICH!
 

Ich liebe dich.
 


 

„Opa, was ist das?“, das kleine Mädchen strich sich ihre blonden Löckchen aus dem Gesicht und zeigte auf das Bild.

„Das ist unser Haus!“, sagte der alte Mann, auf dessen Schoß sie saß. Er hielt die Kleine mit der einen Hand, während er mit der anderen etwas auf das Bild zeichnete.

„Unser Haus? Aber, aber das sieht doch ganz anders aus!“, das kleine Mädchen sah den Alten mit ihren großen blauen Augen an. Sie wusste nicht, was die komischen Kästchen und Kreise auf dem Bild mit ihrem Haus zu tun hatten. Ganz im Gegenteil, für sie sah das alles sehr verwirrend aus, und wenn sie gewusst hätte, was ein Labyrinth war, dann hätte sie es so bezeichnet.

Der alte Mann lächelte:

„Das ist unser Haus, wenn man an der Decke klebt.“

„Hä?“, das kleine Mädchen verstand nicht. Wie konnte man an der Decke kleben? Das ging doch gar nicht, man würde doch runterfallen! Und außerdem: warum sollte man an der Decke kleben wollen?

Der Alte schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er hob sie auf seine Schultern und stieg dann auf den Stuhl, auf dem sie beide zuvor gesessen hatten. Das kleine Mädchen musste den Kopf einknicken, damit sie nicht gegen die Decke knallte. Der alte Mann nahm das Bild vom Tisch und zeigte auf das Viereck in der Mitte:

„Siehst du, das ist der Tisch“, er fuhr mit dem Finger zu dem Bogen ganz links, „Und das hier, das ist die Tür!“

Das kleine Mädchen blickte sich verwundert im Raum um. Tatsächlich, dort, wo ihr Opa hinzeigte, stand die Tür offen.

„Aber warum ist da ein Kreis?“, fragte sie verwundert.

„Weil die Tür einen Kreis macht, wenn man sie auf und zu macht!“, erklärte der Alte, „Siehst du die Spuren auf dem Fußboden? Wenn im Winter kleine Steinchen unter die Tür rutschen und hängen bleiben, dass ritzen sie einen kleinen Kreis in den Boden.“

„Ah!“, das kleine Mädchen hatte verstanden und freute sich, dass ihr Opi so klug war, „Und wo sind die Fenster? Die kann man doch nicht sehen!“

Der alte Mann zeigte auf zwei dicke Striche auf der rechten Seite des Bildes:

„Da sind sie!“

„Aber warum sind die so dick?“, fragte das kleine Mädchen.

Der Alte zog die Augenbrauen zusammen und überlegte. Warum, ja, das hatte er sich auch gefragt, früher, aber irgendwann hatte er es aufgeben.

„Das hat sich einer ausgedacht, und dann fanden es alle so toll, dass sie auch dicke Striche gemalt haben!“

Das kleine Mädchen gab sich damit zufrieden, sie wusste: wenn andere etwas sagten, dann hatten sie recht. Doch etwas war ihr trotzdem unklar:

„Aber, aber warum malst du denn das Haus von oben?“

Der alte Mann lachte. Es faszinierte ihn immer wieder, dass seine kleine Enkelin so wissbegierig war, auch wenn er manchmal lange nachdenken musste, um eine Antwort zu finden. Und recht hatte sie: eine Zeichnung war nur eine Skizze, sie vermochte nur, eine vage Idee festzuhalten, die wahre Schönheit oder Hässlichkeit würde man erst sehen, wenn alles gebaut und eingeräumt war. Egal, wie sehr man auch rechnete und zeichnete, letztendlich bewies erst die Realität, ob ein Gebäude lebensfähig war.

„Opi!“, unterbrach die Kleine seine Gedanken.

„Also …“, begann der Alte, „Es ist nur ein Bild. Vor hier oben kannst du das ganze Zimmer sehen, du siehst das Bild an der Wand, die Tür und die Stühle. Wenn du aber nur auf eine Wand siehst, also sie von vorne anguckst, dann siehst du, dass der Tisch nur etwas kleiner ist als du oder dass das Bild bis zur Decke geht. Von oben siehst du das nicht, alles wirkt verzerrt. Deswegen malt man ein Bild von oben, um zu sehen, wo die Tür und die Möbel sind, und man malt eines von vorne, um die Höhe der Möbel sichtbar zu machen!“

„Ohhhhhhhhhh!“, das kleine Mädchen war fasziniert. Von hier oben sah alles ganz anders aus, so klein und komisch, aber ihr Opi konnte das alles malen! Ob er sich auf einen hohen Schrank setzte und von dort aus zeichnete?

„Opi! Wie…“, wollte das kleine Mädchen gerade fragen, als plötzlich jemand das Zimmer betrat.

„Lilli, wir müssen gehen! Komm Zugf…“, die Frau mit den auftoupierten Haaren sah sie erst verwundert, dann wütend an, „Vater! Willst du meine Tochter umbringen?“

Das kleine Mädchen blickte von oben auf ihre Mutter herab. Sie sah aus, als hätte sie einen rosanen Fleck in ihrem gelben Haar, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihre Mutter ein pinkes Kleid und dunkelblaue Strumpfhosen trug, hätte sie gedacht, dass ein lilanes Monster ihre Mami aufgefressen hätte.

Der Alte stieg vom Stuhl und stellte das kleine Mädchen auf den Fußboden:

„Komm Lilli, geh zu deiner Mami, sie hat dich ganz doll vermisst!“

„Weißt du was, Vater!“, die Frau stemmte ihre Arme in die Hüfte und sah aus wie eine Sanduhr, „Von mir aus kannst du mit deiner ‚Kunst’ tun und lassen, was du willst, du verdienst schließlich gutes Geld damit, aber lass meine Tochter aus dem Spiel, verstanden? Sie ist nämlich mein Ein und Alles und ich möchte nicht, dass sie wegen einem verantwortungslosen ‚Künstler’ stirbt! Du hast in deinem Leben verdammt viel Glück gehabt, aber erwarte das nicht von mir! Sonst wirst du deine kleine Enkelin für lange Zeit nicht mehr sehen, und das willst du doch nicht, oder?“, sie streckte ihren Arm aus und erwartete, dass ihre kleine Tochter zu ihr gelaufen kam.

Die kleine Lili sah zwischen ihrem Opi und ihre Mutter hin und her und fing bitterlich an zu weinen.

„Ich … ich möchte nicht weg, Opi! Ich möchte hier bleiben!“

Der alte Mann strich ihr vorsichtig über die Löckchen.

„Du kommst doch bald wieder!“

„Aber, aber die Mami hat gesagt…“

„Die Mami meint das nicht so.“, erwiderte er gütig. Er wusste, dass seine Enkelin recht hatte, die Situation war ernst. Schon öfters hatte seine Tochter gedroht, ihm seine Enkelin wegnehmen zu wollen, vermutlich war sie eifersüchtig. Von ihrer Mutter wurde Lilli verhätschelt, sie bekam neues Spielzeug, schicke Kleidchen, schöne Schuhe. Aber ihr Opa konnte sie mit einem einfachen Bild zufrieden stellen, eine Bleistiftzeichnung auf einem Blatt Papier, mehr brauchte sie nicht. Jemanden, der ihr zuhörte. Und er brauchte jemanden, der ihm zuhörte, mit dem er die Freude über die Kunst teilen konnte. … Wie seine Tochter gesagt hatte, das einzig Gute war, dass er Geld damit verdiente. Noch.

„Lilli, komm her!“, wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Das kleine Mädchen klammerte sich an ihn und er drückte sie sanft.

„Versprichst du, dass du uns besuchen kommst?“, murmelte Lilli in den feuchten Pulli ihres Opas.

„Ja, das werde ich!“, sagte er und fügte leise hinzu, „Und dann sehen wir uns die ganze Stadt von oben an!“

Das kleine Mädchen lächelte und wischte ihre Tränen weg.

„Tschüss, Opi!“, rief sie, während sie zu ihrer Mutter lief. Diese sah ihren Vater missmutig an. Sie wusste nicht, was er diesmal im Schilde führte, aber gut konnte es nicht sein. Die pure Not hatte sie dazu getrieben, ihre Tochter bei ihren Eltern unterzubringen, sie musste manchmal bis tief in die Nacht arbeiten und bei einem dieser x-beliebigen Penner wollte sie ihre Tochter auch nicht lassen. Selbst Lillis Vater war eine klassische Niete gewesen, viel in der Hose, aber gerade mal soviel im Hirn, um sich bei dem Wort ‚Schwangerschaft’ sofort aus dem Staub zu machen. Genauso wie ihr Vater sich, sobald er eine gute Idee hatte, tagelang in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Sie wusste nicht, ob sie jemals einen Vater gehabt hatte, er verbrachte mehr Zeit mit zeichnen als mit ihr. Selbst wenn ihre Mutter, die versuchte ihren Vater zu ersetzen, ihn zwang am Tisch zu essen, redete er die ganze Zeit nur von dem Gebäude, an dem er gerade arbeitete! Er war regelrecht besessen von der Architektur! Sie hatte ihre Mutter oft gefragt, wie sie nur an einen solchen Mann geraten konnte, doch diese erwiderte nur „Es war eben Krieg.“ Vermutlich war sie froh einen Ernährer gefunden zu haben und er eine Frau, die ihm das Essen kochte, sonst hätte er das vermutlich auch vergessen. Und jetzt fing er wieder an. Er zog seine Enkelin in seinen Bann, sodass aus ihr ebenfalls eine erfolgreiche Architektin wurde, die für nichts als ihre Arbeit lebte. Sie würde keine Freunde haben, keinen Mann, nur sich, und selbst ihre Mutter würde sie vergessen. Und sie würde einsam und allein sterben, obwohl sie gar nichts, rein gar nichts dafür konnte! Aber ihr blieb nichts anderes übrig.
 

Lilli dagegen war froh, wenn sie bei ihrem Opa war. Sie liebte die Ruhe, die er ausstrahlte. Sie liebte das Haus, das sie entdecken konnte, ohne, dass jemand alle fünf Minuten nach ihr rief. Sie liebte das Essen, das ihre Oma kochte und das so frisch schmeckte. Aber am meisten liebte sie es, auf dem Schoß ihres Opas zu sitzen und ihm beim Zeichnen zuzusehen.
 

Ein paar Jahre später stand Lilli tatsächlich mit ihrem Großvater auf dem höchsten Gebäude der Stadt und blickte gebannt auf das Panorama. Er hatte sie zur Eröffnung einer Ausstellung über Architektur der Stadt mitgenommen, gegen die Willen ihrer Mutter. Aber das interessierte Lilli nicht, ihr Großvater hatte sein Versprechen eingelöst und das war wichtig. Sie hatte am Anfang Höheangst gehabt, aber sobald ihr Großvater neben sie getreten war und ihren Blick auf die zahlreichen kleinen Häuschen gelenkt hatte, war sie einfach nur fasziniert. In der Ferne waren die Berge der Mittelgebirge zu sehen und dazwischen thronte die Stadt. Alles wirkte gleichmäßig grau und klein, hätte sie nicht irgendwo die Plattenbauten der Integrationsviertel erkannt, hätte sie völlig die Orientierung verloren. Dann sah sie plötzlich das Rathaus, die Stadtkirche und schließlich das alte Kaufhaus mit den silbernen Waben.

„Das ist schön, oder?“, fragte sie ihr Großvater.

„Ja, das ist es!“, erwiderte sie.

„Es ist doch immer wieder erstaunlich, was der Mensch alles erbauen kann, wenn er nicht gerade mit Zerstören beschäftigt ist.“, sinnierte er, „Vor 50 Jahren war diese Stadt ein einziger Trümmerhaufen, aber jetzt liegt sie zu unseren Füßen, als schliefe sie schon seit 900 Jahren.“

„Was passierte denn vor 50 Jahren?“, fragte Lilli interessiert.

„Der Krieg.“, sagte ihr Großvater. Vorsichtig nahm er ihre Hand vom Geländer und führte sie die Wendeltreppe hinunter, bis sie in einen großen Raum kamen, in dem viele Leute standen und tranken.

„Wohin gehen wir?“, wunderte sich das kleine Mädchen, doch ihr Opa sagte kein Wort. Sie wühlten sich durch eine Menschmasse und standen schließlich vor einem Tisch mit zwei braunen Feldern.

„Was ist das?“, fragte Lilli. Sie verstand nicht, warum sich so viele Leute um den Tisch gedrängt hatten, wenn es da weder etwas zu Essen noch zu Trinken gab und auch keine besondere Statue oder etwas ähnliches.

„Das sind zwei bronzene Abgüsse der Stadt vor und direkt nach dem Krieg.“, erklärte der Alte.

Lilli brauchte eine Weile, um in der braunen Masse Häuser und Straßen erkennen zu können, doch dann kam ihr das Bild von oben wieder in den Sinn und sie begriff.

„SO sah die Stadt damals aus?“, sagte sie erstaunt. Von oben sah die Stadt schon sehr eng und klein aus, aber in dem Modell auf der linken Seite war alles noch viel winziger, die Häuser standen nicht mehr frei, sondern waren geschlossen, wie ein Kreis. Außerdem fehlten einige Straßen, andere waren dagegen dazugekommen. Und ein paar Gebäude waren einfach weg.

„Wieso sieht sie denn so anders aus? Wenn sie im Krieg zerstört wurde, warum hat man sie dann nicht wieder normal aufgebaut?“, fragte die kleine Lilli ihren Großvater.

Der Alte lächelte und als wären sie nicht in einer massigen Menschenmasse, die von allen Seiten drückte, sondern ganz allein in ihrem Haus, begann er zu erzählen.
 

„Weißt du, Lilli ganz früher, lange, bevor du oder ich oder alle anderen geboren wurden, stand hier nur ein Haus, die Menschen beackerten den Boden und verkauften ihre Früchte auf dem Markt.
 

Später wurden dann Maschinen erfunden, und viele Menschen, die früher Gemüse angebaut hatten, zogen in die Stadt, um zu arbeiten. Und da sie nicht lange zu ihrer Arbeit laufen wollten, musste man ganz viele Wohnungen auf wenig Platz bauen. Daher waren die Häuser geschlossen, und in den Innenhöfen hatte meist noch jemand sein Geschäft. Früher war alles noch aus Stein, nicht aus Glas und Zement, wie heute. Außerdem waren die Häuser reich verziert, gerade an den Hauptstraßen. Siehst du“, er zeigte auf eine große, breite Straße, „Dort, wo die Leute entlangliefen, waren die Fassaden edler, die Geschäfte stellten die schönsten Dinge aus, Porzellan, wunderschöne Kleider, Spielzeug, alles. Ich war damals ein kleiner Junge und ging mit meiner Mutter jeden Tag diese Straße entlang, auch wenn ich wusste, dass wir uns das all dies niemals leisten konnten, ich träumte davon eines Tages in eine der Bars mit den Leuchtreklamen zu gehen, wo die Kapellen fröhliche Musik spielten und die Frauen mit ihren Männern tanzten. Heute, Lilli, gehen junge Leute lieber ins Kino oder sie liegen im Park. Aber damals konnte ich Stunden damit verbringen, mir an den Schaufenstern die Nase plattzudrücken. Und sieh dir die Kirchen an!“, er zeigte auf einige, die fehlten, „Menschen hatten sie in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut, aber heute sind sie nicht mehr da. Wenn damals die Glocken zur Mittagsstunde läuteten, konnte man aus jeder Richtung einen anderen Ton hören, für einen Moment schien die ganze Stadt stillzustehen. Heute passiert dagegen nichts.
 

Aber ich schweife ab. Vor 50 Jahren wurde die Stadt von Franzosen und Amerikanern bombardiert. Weißt du, die Geschichtsforscher streiten sich heute noch, warum sie das gemacht haben. Denn in dieser Stadt waren keine Feinde, die man umbringen konnte, auch kein Waffelager, das macht kaputtmachen wollte, nichts. Hier war nur eine schöne Stadt. Und danach war es ein Trümmerhaufen. Viele Menschen starben im Feuer, ihre Leichen wurden auf dem großen Marktplatz verbrannt. Und fast alle Gebäude der Stadt waren zerstört. Die große Kirche in der Mitte hat drei Tage gebrannt, bevor sie in sich zusammenfiel. Die Arbeit aller großen Baumeister, die Zeugnisse vergangener Jahrhunderte, wurde innerhalb von wenigen Tagen ausgelöscht.“, er zeigte auf das zweite Modell, „Ein bekannter Kinderbuchautor, mir fällt gerade nicht ein, wie er heißt, hat es als Wüste beschrieben.“

Die Kleine klammerte sich an ihren Opi und weinte. Der alte Mann dachte daran, dass er vielleicht zu ausführlich geworden war, sich von seinen Erinnerungen hatte mitreißen lassen und seine kleine Enkelin damit völlig verschreckt hatte. Er strich ihr vorsichtig über das Haar und sagte:

„Aber das passiert nicht wieder, alle Menschen haben sich lieb!“

Lilli weinte immer noch, und so erzählte der alte Mann weiter, um sie abzulenken:
 

„Später hat man die Stadt wieder aufgebaut, aber diesmal lockerer, die Menschen hatten Angst, bei einem Feuer nicht fliehen zu können, daher standen viele Häuser frei. Außerdem waren viele Leute ohne Wohnung, deswegen war es wichtiger, ganz schnell ganz viele Häuser zu bauen, wie sie aussahen, war egal. Außerdem war das Geld knapp, sodass man nur die wichtigsten Bauten wieder aufbaute, die anderen wurden abgerissen oder so lange liegen gelassen, bis von alleine zusammenfielen. Dann wurden neue Baustoffe entdeckt. Und das wichtigste war: man wollte zeigen, dass man neu anfing, daher baute man vieles modern … Es ist schwer zu erklären, aber das Rad der Geschichte und auch der Architektur dreht sich immer weiter, egal, was passiert, die Menschen wollen immer weiter kommen ….“
 

Die kleine Lilli konnte an diesem Abend nicht alleine schlafen, zu schwer wogen die Ereignisse des Tages. Dass etwas, das vorher da war, einfach mit ein paar Bomben ausgelöscht werden konnte, machte ihr Angst. Einfach Angst. Deshalb setzte sich ihr Großvater an ihr Bettchen und zeigte ihr Bilder der alten und der neuen Stadt. Sie tauchte ein in die Welt der Erinnerung ihres Opas und der Architektur, er erzählte von reichen Königen und schönen Mägden, bunten Schaufenstern und Schulstreichen und von der Schönheit der Gebäude. Das alles lenkte Lilli von ihrem Kummer ab, sodass sie schließlich ruhig einschlief ….
 

Ein paar Jahre später war aus der kleinen Lilli eine hübsche junge Dame geworden, die gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand und für ein Schulprojekt ein Gebäude entwerfen musste. Natürlich hatte sie ihren Großvater sofort um Hilfe gebeten, auch wenn er ihr schon viel beigebracht hatte, waren seine Erfahrung und seine Intelligenz immer noch unverzichtbar.

„Wohin gehen wir?“, fragte der alte Mann, während er mit ihr durch die Stadt lief. Er musste sich langsam daran gewöhnen, dass seine Enkelin einen eigenen Kopf hatte.

„Wir sind gleich da!“, erwiderte sie und zog ihn weiter. Ihre Hand zitterte, es war ihr erstes großes Projekt. Er hatte mit ihr oft über die Entwürfe diskutiert, die in seinem Architekturbüro angefertigt wurden, über Materialien, Fassaden und die Innengestaltung, er hatte ihr alles ausführlich erklärt und sie hatte ihm seine Meinung gesagt. Er schätzte es sehr, dass seine Enkelin eine gewisse Unbefangenheit, Naivität hatte, die ihm mit der Zeit abhanden gekommen war. Ihr war es immer wichtig, dass sich die Bewohner und diejenigen, die daran vorbeiliefen, wohl fühlten. Ein Bild konnte man abhängen, wenn es einem nicht gefiel, aber ein Gebäude konnte man nicht abreißen, weil es nicht so gut aussah.

„Da sind wir!“, rief seine Enkelin freudig und zeigte auf die Wiese vor ihr. Sie lag inmitten zweier großer Bürgerhäuser und der alte Mann erinnerte sich, dass man schon Jahrzehnte überlegt hatte, was man damit machen sollte. Vor dem Krieg hatte dort ein ebenso großes Gebäude gestanden, mit einem Metallwarenladen und einem Porzellangeschäft. Danach konnte man sich nicht einigen, wie der Platz genutzt werden wollte. Ein paar Architekten sprachen sich dafür aus, das Gebäude originalgetreu wieder aufzubauen, damit der Platz abgeschlossen war und man nicht auf die Straße dahinter gucken musste. Andere waren dagegen und wollten ein modernes Gebäude erschaffen, da der Platz mitten an der Hauptstraße lag und somit einen repräsentativen Charakter hatte. Und wieder andere waren gegen eine Bebauung, sie wollten stattdessen einen kleinen Park mit einem Springbrunnen, eine grüne Oase inmitten der Stadt. Wettbewerbe wurden ausgeschrieben, sogar Bebauungspläne erstellt, aber keine Partei errang die Mehrheit und so verging die Zeit. Und nun wollte seine Enkelin ausgerechnet diese Ecke für ihr Schulprojekt nutzen. Der Alte lächelte:

„Und was möchtest du hierhin bauen?“

Lilli setzte sich auf das Pflaster und kramte ein paar Zeichnungen aus ihrer Tasche.

„Ein Theater! Aber nur ein kleines, ein unabhängiges, keines, wo man die Klassiker aufführt, sondern etwas Experimentelles. Es muss ein kleiner Saal sein, den man aber auch als Konzert- oder Ballsaal nutzen kann.“

Der Alte nickte und schaute auf die Wiese vor ihnen.

„Aber der Platz könnte ein Problem werden: selbst ein kleines Theater benötigt Bühnentechnik, und diese braucht einen festen Standort. Wie willst du sie unterbringen, die Fläche ist nicht tief genug!“

„Sie kommt in den ersten Stock, dort wäre sie auch vor Hochwasser geschützt.“, erklärte seine Enkelin, „Das wäre auch für die Kostüme gut. Im dritten Stock finden die Angestellten eine billige Unterkunft.“

„Und was ist mit dem Essen?“, fragte der Alte und wartete gespannt, ob sich seine Enkelin auch darüber Gedanken gemacht hatte.

„Im Saal selbst sollen Tischen stehen, an denen die Gäste essen können. Da wir aber mitten in der Innenstadt sind und es daher genug Möglichkeiten gibt, werden wir Kooperationsverträge mit den umliegenden Restaurants abschließen. Somit ist keine eigene Küche nötig und für einen Schokoladenvorrat findet sich immer eine Ecke!“, lachte sie.

„Das klingt alles sehr gut! Hast du dir überlegt, ob sich ein Theater überhaupt rechnen würde?“

„Auch daran habe ich gedacht!“, seine Enkelin zog eine computergeschriebene Tabelle aus ihrer Tasche, „Da in den umliegenden Häusern Wohnungen mit mittlerem Mietniveau sind, ist genug einheimische Bevölkerung vorhanden“, erklärte sie, „Außerdem liegt der Platz an der Hauptstraße, auch der öffentliche Personennahverkehr liegt an, sodass das Theater gut erreichbar ist. Die Oper und das Staatstheater liegen circa einen Kilometer entfernt, eine Konkurrenz besteht nicht, da das Theater eine Nische bedient. Da es auf dem Platz viele Restaurants gibt, bietet sich sowohl Einheimischen als auch Touristen, die in den nahe gelegenen Hotels nächtigen, eine Alternative.“

„Und wie soll es aussehen, dein Theater?“, fragte der Alte schließlich.

„Genau das ist das Problem!“, erwiderte seine Enkelin nachdenklich, „Einerseits würde sich ein originaler Neubau gut in den Platz einfügen, andererseits fehlt in diesem Viertel noch etwas außergewöhnliches… Und es ist ein Theater, das für eine neue Richtung steht …“

„Da hast du recht“, begann nun auch der Alte zu grübeln, „Was hast du dir denn überlegt?“

Lilli zeigte ihm ihre Entwürfe. Das eine Gebäude war rund und aus Glas, sehr modern aber im Vergleich zum Rest das Platzes zu mächtig. Das zweite bestach durch seine bunte Fassade aus irgendeinem glänzenden Material, es war eckig wie die Gebäude um es herum, aber es könnte die ein zu starker Kontrast sein. Der dritte Entwurf spiegelte alle Farben und Formen des Platzes wider, wäre aber beinahe untergegangen. Es schien, als sei sie wütend darüber, dass sie nicht so frei und fröhlich zeichnen konnte. Sie war deswegen nicht sauer auf ihn, nur auf sich, aber sie wusste auch, dass es im Grunde nicht ihr gefallen musste, sondern den Planern und anderen Experten.

„Hast du schon mal versucht, das Alte zu nehmen und es so weiterzuentwickeln, dass es neu und frisch ist, den Betrachter aber nicht irritiert?“

„Was meinst du?“, fragte seine Enkelin.

„Was ist typisch für diesen Platz?“, regte ihr Großvater an.

„Die bräunlichen Pastelltöne … der nicht zu grobe Putz … und die wenigen Verzierungen …“, überlegte sie.

„Und versuch, irgendetwas dieser drei Dinge zu verändern!“, ermutigte sie der Alte.

„Ich könnte die Farbe des Putzes intensivieren ... oder ein anderes Material für die Fassade nehmen….“, langsam verstand sie, worauf ihr Großvater hinauswollte.

Hektisch holte sie ihren Skizzenblock hervor und begann zu zeichnen. Immer wieder diskutierte sie die Entwürfe mit ihrem Großvater, bis sie schließlich gefunden hatte, wonach sie suchten: ein Haus, dass sich gut in das Ensemble des Marktes einfügte und trotzdem etwas besonderes war.
 

„Gehen wir noch ein Stück?“, fragte der Alte während sie sich von ihrem unbequemen Sitzplatz erhoben. Seine Enkelin sah in verwundert an:

„Meinst du nicht, dass etwas spät ist? Es ist schon dunkel, Mutter hat bestimmt schon tausend Mal angerufen!“, sie zog ihr Handy, das sie genau deswegen stumm geschaltet hatte, aus der Tasche und blickte auf das Display. 22 Anrufe waren innerhalb der letzten Stunde erfolgt, und nur einer war nicht von ihrer Mutter. Aber das war nicht so wichtig, seit ihre beste Freundin bei ihnen eingezogen war, war sie froh, wenn sie mal ungestört war und ihren Großvater sah sie auch nicht oft, die Zugverbindung war so schlecht, dass es doppelt so lange dauerte, bis er bei ihr war. Und wie lange würde sie ihn überhaupt noch haben, er wurde ja nicht jünger.

„Gerne, Opi!“, lächelte sie.
 

Und so gingen sie, durch die hell erleuchtete Stadt, und auch wenn sie viel über die Gebäude redeten, verlor sie doch irgendwann die Orientierung. Zu spannend waren die Geschichten, die er erzählte, zu konfus die Diskussionen, die man wegen jedem neuen Gebäude führte. Lilli genoss es.
 

Irgendwann blieb ihr Opa vor einem Gebäude stehen, das Lilli bekannt vorkam; es glänzte silbern und war riesig – es war das Wabengebäude, das sie damals auf der Eröffnung gesehen hatte.

Eine Weile standen sie schweigend davor und betrachteten ehrfürchtig das riesige Bauwerk.

„Gefällt es dir?“, fragte Lilli rhetorisch, um die Stille zu durchbrechen.

„Es ist mein Lieblingsgebäude.“, erklärte ihr Großvater.

„Wirklich?“, wunderte sich die Kleine. Bis jetzt hatte sie immer geglaubt, ihr Opa liebte jedes seiner Bauwerke, er hatte immer dieses Leuchten in den Augen, nichtmal ihre Oma konnte diesen Glanz bewirken.

„Ja!“, begann er, „Als ich klein war, vor dem Krieg, arbeitete meine Mutter hier. Manchmal ging ich nach der Schule hierher, um sie abzuholen, es war ein Kaufhaus und wunderschön. Überall hingen Leuchter und alles wirkte so riesig, Vielleicht kam mir das als Kind nur so vor, aber ich hatte am Anfang immer Angst, dass ich mich dort verirrte. Später bereitete es mir große Freude, durch die Gänge zu spazieren und mir alles anzusehen. Oder mit anderen Kindern fangen zu spielen. Oder mich irgendwo zu verstecken. Auch von außen war es das schönste Gebäude, was ich kannte. Es war aus hellem Naturstein, nicht so verwittert, wie die anderen Gebäude. Außerdem hatte es verzierte Fensterbretter und zwischen den Fenstern der Etagen waren Reliefs angebracht, die Allegorien der Jahreszeiten darstellten. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Kaufhaus so schön sein konnte … damals habe ich mir vorgenommen, eines Tages auch so schöne Gebäude bauen zu können. Aber ich merkte schnell, dass mir die Kraft fehlte, daher begann ich zu zeichnen.
 

Als ich nach der Bombardierung wieder auf die Straße gehen konnte, suchte ich als erstes das Kaufhaus – aber es war ein Trümmerhaufen. All die schönen Steine lagen zerbrochen auf dem Boden, die Reliefs zerstört dazwischen, man konnte gar nicht mehr erkennen, dass sie einst gewesen waren. Es machte mich sehr traurig, dass selbst seine Schönheit es nicht retten konnte, ganz im Gegenteil: gerade weil es so schön gewesen war, wog die Trauer über den Haufen aus Schutt noch schwerer.
 

Als es dann in den 60iger Jahren wieder aufgebaut werden sollte, beteiligte ich mich daran, ich wollte auch, dass wir etwas neues schafften, ohne seine Wurzeln zu vergessen. Obwohl mir auch klar war, dass wir nicht genug Steine hatten, um es genauso wieder aufzubauen, wie es vorher aussah. Letztendlich einigte man sich auf die Waben. Sie kamen mir erst komisch vor, sie waren so silbern, ‚futuristisch’ würde man heute sagen, aber sie fügten sich gut in das neue Stadtbild ein. Und innen sah es genauso aus wie das alte – alles leuchtete, es gab alles, was man kaufen konnte, und es lag sehr zentral. Ich habe deine Mutter oft mit hierher genommen, aber sie langweilte sich immer und war froh, wenn sie wieder bei ihren Freunden war. Deine Mutter ist ein sehr sozialer Mensch, sie liebt es, anderen zu helfen und macht sich immer Sorgen, dass es anderen schlecht gehen könnte. Auch wenn sie manchmal etwas überfürsorglich ist, will sie doch nur, dass es dir gut geht!
 

Weißt du, ich liebe dieses Gebäude, ich liebe diese Straße. Sie erinnert mich an meine Kindheit und daran, dass man etwas schaffen kann, wenn man will. Aber heute … ich habe das Gefühl, dass all die alten Zeiten einfach ausgelöscht werden sollen. Viele Nachkriegsgebäude wurden inzwischen wieder abgerissen, unter dem Vorwand sie seien baufällig. Aber das stimmt nicht. Natürlich müssen sie renoviert werden, aber das wäre kein Problem. Das größere Problem ist, dass man sich nicht mehr erinnern möchte. Man möchte sich nur an die glorreichen Zeiten erinnern, als die Stadt reich an Kunst, Kultur und königlichen Affären war. Aber die Zeit nach dem Krieg betrachten wir als hässlich, für fast 50 Jahren waren wir nicht Teil der Welt, sondern ein Außenseiter, obwohl es uns viele Möglichkeiten eröffnet hat, die uns sonst verschlossen blieben, man denke an Russisch, das heute immer wichtiger wird. Daher wollen wir diese Zeit auslöschen. Das ist es. Stattdessen bauen wir kalte Gebäude aus grauem Stein, mit glatten Fassaden und riesigen Glasfenstern. Keiner stellt sich mehr die Frage, ob es zur Stadt passt, wichtig ist nur, dass es billig und außergewöhnlich ist …“, er sah resigniert aus, „Aber vielleicht sterbe ich bald und muss diesen Unfug nicht mehr mitansehen!“
 

Lilli stockte der Atem. Sie hatte ihrem Opa aufrichtig zugehört und konnte verstehen, dass er so verzweifelt war. Aber deswegen sterben wollen?

„Opi, das kannst du doch nicht machen, wer soll denn dafür kämpfen, wenn du nicht mehr da bist? Gerade alte Menschen wie du erinnern uns an unsere Wurzeln, die kannst du doch nicht sterben lassen!“

„Wenn es kommt, dann werde ich mich nicht wehren!“, erwiderte der Alte fest.

„Nein!“, schrie Lilli, sodass ein paar Passanten stehen blieben, „Du musst dableiben, auch für mich, hast du verstanden!“, doch ihr Großvater schien sie zu überhören. Ohne etwas zu sagen ging er weg und sie folgte ihm. Lilli war zum ersten Mal wirklich sauer auf ihren Opa. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie mit ihm über nichts als Architektur reden konnte, das konnte sie gut mit ihrer Oma, und er hatte für alles, was er sagte, eine Begründung. Aber jetzt wollte er sterben, nur weil er sah, wie seine Vergangenheit vernichtet wurde? Es gab doch noch die Erinnerung im Herzen, er würde die Bilder niemals vergessen, selbst wenn die Gebäude irgendwann zu Staub zerfallen waren! Aber sie? Was wäre sie ohne ihren Großvater? Ohne die ruhigen Worte, ohne die Stille, das stumme Verständnis, das zwischen ihnen herrschte? Wer war an ihrer Seite, wenn er weg war? Ihre Mutter war mit allem beschäftigt, nur nicht mit ihr, ihre Freundinnen hatte nicht die Weitsicht, die ihr Großvater hatte, und ihre Oma … er war einfach unersetzlich! Er durfte nicht gehen!
 


 

Aber letztendlich gingst du doch! Du gingst in den Tod! Es war nur eine Frage der Zeit, und ich bin sehr glücklich, dass ich diese noch mit dir nutzen durfte, aber ich konnte dich nicht aufhalten. Du warst der Kunst genauso verfallen wie andere der Musik, du warst bereit, dafür zu sterben. Und als die Pläne aufkamen, das alte Kaufhaus abzureißen, weil der Brandschutz unzureichend war, hattest du wohl den Entschluss gefasst. Denn du wirktest danach wie ein Roboter, ein Schatten deiner selbst. Du hast gesagt, dass man das Gebäude renovieren könnte, aber man wolle ja lieber die Zeit auslöschen. Ich kann es nicht beurteilen, aber lieber sollte man die Zeit auslöschen als dich!
 

Als ich heute in dein Zimmer kam, dachte ich an einen Scherz, als du nicht da warst. Du hattest mir vorgeschlagen, dass wir dem Abriss des Gebäudes beiwohnen könnten, und obwohl ich wusste, dass du es nicht verkraften würdest, konnte ich es dir nicht ausreden. Aber dann dachte ich, dass du bei dem Untergang deines Lieblingsgebäudes dabei sein solltest.
 

Ich wusste doch nicht, dass du es so ernst meintest!
 

Aber auch wenn mir die Worte, die ich statt deiner in einem Brief auf dem Schreibtisch fand, zuerst komisch vorkamen, weiß ich doch, dass du jedes dein voller Ernst ist. Es ist wahr: du möchtest mit deinem Gebäude untergehen.
 

Ich bin mir sicher, du bist über die Bauzäune geklettert, irgendwie, vielleicht hast du auch eine Lücke gefunden, und selbst wenn du dir dabei etwas gebrochen hättest wärst du in das Gebäude gekommen. Da man die Rolltreppen ausgebaut hat, würdest du die Treppen nehmen, mit Hilfe von alten Kabeln oder Steinen so weit hochklettern wie möglich, nicht zu hoch, damit noch genug Stockwerke über dir sind, vielleicht würdest du dir auch eine Stelle suchen, an der die Statik so günstig ist, dass bei der kleinsten Erschütterung etwas herunterfallen würde. Du würdest dich so hinlegen, dass man dich von außen nicht sah, dann würdest du zur Sicherheit Schlaftabletten schlucken, falls der Abrissbagger es nicht schaffen sollte. Und dann würdest du warten, bis die Birne in das Gebäude krachte … immer und immer wieder … und du von den Trümmern erschlagen werden würdest.
 

Ich kann mir das nicht ansehen. Ich weiß, ich hätte dir beistehen sollen, aber ich kann es nicht. Ich kann dir nicht beim Sterben zu sehen. Weil ich dich verachte! Ich verachte deine Tat! Ich verachte alles, was du tust!
 

Aber wünsche dir auch, dass es schnell geht, dass du nicht leiden musst. Und dass du endlich deinen Frieden findest.
 

Ich kann dir nicht helfen, aber ich möchte dich würdig verabschieden. Ich habe weiße Lilien gekauft und werde sie vor jedes alte Gebäude legen, ich werde in der ganzen Stadt, die du so sehr liebtest, Lilien verstreuen. Und dann, wenn die Abrissbirne ihr letztes Werk tut, werden sie alle winken, sie werden alle winken und eine Träne vergießen. Sie werden denjenigen verabschieden, dem sie soviel bedeutet haben, und ich bin mir sicher, wenn einige könnten, dann würden sie mit dir untergehen.
 

Ich … liebe … dich.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  w-shine
2011-08-15T13:31:43+00:00 15.08.2011 15:31
Hallo,

dann bekommst du gleich noch einen Kommentar von mir, damit ich das mit dem „bald“ gleich noch mal üben kann ;)

Mir hat der Einstieg in die Geschichte sehr gut gefallen.
Die Beschreibung des Lebens eines Gebäudes und wie es vom Regen angegriffen wird, finde ich sehr schön dargestellt und hat meine Neugier in Bezug auf das weitere geweckt.
Die anderen haben Recht, die Großschreibung stört schon etwas, aber sie unterstreicht auch die besondere Emotionalität, die sich in diesem Absatz wieder spiegelt.
Auch dieses „Ich liebe dich“ am Ende des ersten Abschnittes finde ich toll. Es unterstreicht nur noch die widersprüchlichen Gefühle, die sie in diesem Moment hegt.

Den Umschwung dann zu der Vergangenheit von Lilli und ihren Opa fand ich auch sehr gelungen. Im ersten Moment wundert man sich drüber und dann möchte man gerne mehr dazu wissen. Das Verhältnis der beiden hast du sehr liebevoll dargestellt.
Da wundert man sich natürlich sofort, warum Lillis Mutter so wütend darauf reagiert, aber im Verlaufe der Geschichte wird das natürlich klarer, auch wenn ich ihre Reaktion trotzdem noch etwas überzogen finde.
In diesem Zusammenhang fand ich den Satz: „Ihre Mutter war mit allem beschäftigt, nur nicht mit ihr...“ besonders aussagekräftig.
Dieser Mittelteil beschreibt schön die Entwicklung von Lilli und ihre Beziehung zu ihrem Großvater. Leider ist er nicht ganz so berührend wie der Rest der Geschichte. Vielleicht hätten kleinere, kürzere „Snapshots“, aber dafür mehrere etwas besser gewirkt.
Allerdings fand ich die Ausführungen über die Stadtentwicklung und den Einfluss des zweiten Weltkriegs sehr interessant. Gleich noch ein bisschen was gelernt ;)

Der letzte Abschnitt rundet die Geschichte dann schön ab. Es ist sehr berührend und man muss erst mal schlucken und kurz inne halten (und ein paar Tage warten bis man einen Kommentar schreibt…). Das Bild mit den Lilien ist wirklich schön.
Treffend fand ich auch das „man wolle ja lieber die Zeit auslöschen“. Das Gefühl habe ich allerdings manchmal auch.

Insgesamt eine wirklich gelungene Geschichte, die sich mit einem außergewöhnlichen Thema beschäftigt und auch zum Nachdenken anregt.
Wirklich schön, hat mir gut gefallen ^_^

Liebe Grüße,
Shine

Von:  Foresight
2010-07-02T16:43:44+00:00 02.07.2010 18:43
Guten Abend. :)

Auch von mit gibt's im Rahmen von "KmS ließt" ein kleines Kommi. ^^
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich anfangs etwas skeptisch wahr, da ich schlecht einschätzen könnte, was gaenau in dieser Geschichte auf mich zukommt, aber du hast mich eindeutig überzeugt. Schade, dass ich deine OF nicht schon früher entdeckt habe. ;)

Vor allem Anfang und Ende der Geschichte haben mir gut gefallen und sind sehr emotional gestaltet. Generell hast du die Strukturierung meiner Meiung nach gut gewählt. Der Einstieg beginnt völlig unvermittelt und wirft den Leser direkt ins Geschehen und somit auch gleich zu Beginn mehrere Fragen auf, die zum Weiterlesen veranlassen. Nicht so gut hat mir in diesem Abschnitt jedoch die Wahl der Großbuchstabenschrift gefallen. Ich kann zwar nachvollziehen, dass du damit nur die Wut und Verzweiflung der Protagonistin besonders hervorheben wolltest, aber es ließt sich nicht besonders schön. Letztenendes ist es aber wohl geschmacksache.

Gut haben mir auch deine Vergleiche gefallen, insbesondere der der Häuser mit einem heranwachsenden Menschen. Das ist mal etwas Neues und Anderes.
Mir ist auch aufgefallen, dass du dich auf dem Gebiet der Architektur gut auszukennen scheinst oder dich zumindest gut informiert hast. Die Erklärungen und Beschreibungen wirken sehr authentisch, ebenso die Beziehung zwischen der Protagonistin und ihrem Opa.

Gleich zu Beginn der Geschichte hast du jedoch mit vielen Wiederholungen gearbeitet, die man teils umgehen könnte. Ich fand es zwar realtiv passend, aber zumindest Kleinigkeiten könnte man evtl abändern (z.B. das Wort Regen nicht direkt im nächsten Satz wieder als Anafng etc). Dann hab ich noch ein paar Rechtscheibfehler gefunden, die jetzt aber kein Weltuntergang bedeuten und größtenteils glaube ich auch eher Tippfehler waren.

Besonders gut gelungen ist dir das Ende. Das Bild der Lilien, die sie vor den alten Gebäuden verteilen will um ihrem Großvater auf diese Weise Lebewohl zu sagen, ist sehr stark emotional behaftet und bleibt dem Leser gut und positiv in Erinnerung.

Insgesamt eine schöne Kurzgeschichte, die zu Teilen sogar noch lehrrreich ist. ;) Weiter so. ^^

Lieben Gruß,
Chimizu
[KmS]
Von:  -Moonshine-
2010-06-23T22:09:11+00:00 24.06.2010 00:09
Hallo,

im Zuge "KmS liest" bekommst du auch von mir einen Kommentar. :)

Puh. Jetzt muss ich mich aber ersmal akklimatisieren. Der Schluss war ganz schön tragisch und hat mich ein wenig mitgenommen.
Was mir sehr gut gefallen hat, war deine Rahmenhandlung. In der die Enkelin aus der Ich-Perspektive erzählt und den Großvater direkt mit "Du" anspricht. Es war sehr gefühlvoll, sowohl die Einleitung, als auch der Schluss. Obwohl ich mich nicht so richtig mit der Schrift in Großbuchstaben Mitte der ersten Seite anfreunden kann. Mir ist klar, dass du das so geschrieben hast, um die Wut und die Verzweiflung der Protagonistin auszudrücken, aber generell find ich, sowas wirkt immer recht aggressiv und gehört eigentlich nicht in einen Text. Es gibt so viel schönere Arten, etwas "besonders" auszudrücken, beispielsweise Kursivschrift. Aber ich finde, gerade an der Stelle hätte es nichts ausgemacht, wenn du einfach normal wetergeschrieben hättest. Es wäre nicht irgendwie beudetungslos gewesen, denn es ist ja eine sehr gefühlsvolle Stelle und irgendwie macht die aggressive Großschrift alles kaputt und stößt ein bisschen bitter auf.

So. Dann versteh ich nicht ganz, wieso die Mutter so überreagiert. Also, ich kenn jetzt natürlich die Hintergründe und ihre Gefühle gegenüber ihrem Vater, aber wenn ich das im Verhältnis betrachte zu dem, was gerade passiert, als sie ins Zimmer tritt, scheint es doch etwas übertrieben zu sein.

Im Zuge dessen hat mir besonders diese Textstelle gefallen:

>Ihre Mutter war mit allem beschäftigt, nur nicht mit ihr...

Ich weiß nicht, ob das Absicht von dir war oder nicht. Aber es ist auch egal. Diese kleine, kurze, aber doch (für mich) wichtige Stelle zeigt genau das, was wir eigentlich alle schon wissen: Wenn nicht auf die eine, dann werden wir sicherlich immer auf die andere Art genau nach unseren Eltern kommen. Und manchmal ist das tragisch.

Der Hauptteil der Geschichte hat mich allerdings weniger berührt, als Anfang und Schluss. Es wird halt alles neutraler erzählt und da spielen Gefühle keine allzu große Rolle, zumindest ist da bei mir nichts angekomen. Es geht auch bisschen schnell. Erst ist sie Kind, dann älter, dann eine junge, intelligente Frau. Wobei ich finde, besonders da hast du die Protagonisten und ihren Charakter sehr gut ausgearbeitet. Sie ist mir richtig sympathisch geworden und man sieht, dass sie eine Menge von ihrem Großvater "geerbt" hat. :)
Gerade deshalb ist es ja besonders tragisch und traurig, wa am Ende mit ihm passiert. Hach. Das hat mich echt mitgenommen. ;_;

Noch ein paar (wirklich wneig) formale Sache:

>Seine Enkelin sah in verwundert an:
Hier fehlt bei "ihn" ein h.

>„Es ist mein Lieblingsgebäude.“, erklärte ihr Großvater.
Kein Punkt am Ende der wörtlichen Rede, wenn ein Redebegleitsatz folgt. Never ever! *das immer predigt*

Das war's erstmal von mir, denk ich. Ich fand die Story sehr schön. Hät ich sie mal früher gelesen. ;)

LG
Eli



Von:  In-Genius
2010-06-15T19:34:40+00:00 15.06.2010 21:34
Hi,

nach dem ersten Eindruck ist deine Geschichte sehr schön. Die Idee und auch die gewählten Szenen sind sehr gut und es regt einen auch zum Nachdenken an. Aber sprachlich nicht optimal, es gab ein paar Rechtschreib- und/oder Grammatikfehler. Die fallen aber nicht weiter ins Gewicht.

Rein sprachlich hätte ich noch die Anmerkung, gewisse Dopplungen und Forumlierungen zu überdenken. Im ersten Absatz zum Beispiel wird so wohl "erinnern" viel wiederholt als auch "Regen aus [dem] Himmel fällt" - das mag Absicht sein, beides aber auf so engem Raum klingt ungekonnt.
Außerdem hätte man das Synonym "Großvater" nutzen können, um "Opa" nicht zu häufig zu wiederholen und den Lehr-Anspruch deutlicher machen zu können.

Außerdem ist mir aufgefallen, dass du gewisse Schwierigkeiten heißt, eine allgemeine Möglichkeit darzustellen, wenn du das Epische Präteritum nutzt bzw. viel auf würde und hättest zurück greifst, was schnell öde klingt. Dafür könnte man sich noch einmal mit dem Konjuntiv I und II auseinandersetzen.

Sehr gut finde ich aber deine Struktur. Das Mädchen beginnt vollkommen unvermittelt und auch der Übergang zum Hauptteil ist uneingeleitet - das zwingt einen Nachzudenken und weiter zu lesen. Schöner Kunstgriff.
Der Part des Mädchens könnte allerdings seiner Funktion nach sprachlich kunstvoller dargestellt sein.

Sehr positiv aber fand ich schon gleich am Anfang deinen Vergleich von Gebäude und Kind. Ich studiere Kunstgeschichte und kann Architektur so gar nicht leiden, aber das Bild macht es mir sympathischer.

Auch fand ich die kleine Lili am Anfang sehr niedlich und das hat die angespannte Atmosphere der Einleitung gut abgefangen. Als Gegengewicht dazu die Mutter, ist ein sehr füllendes Detail und gibt der Story mehr Tiefe, auch wenn es nur eine Randfigur ist.

Gerade deine Ausführungen über Stadtentwicklung und Kriegszerstörungen fand ich sehr angenehm dargestellt. Man hat auch die Mühe herausgelesen, wie man was wo in welchem Zusammenhang sagt. Da ich gerade ein Seminar besuche was zum Teil Stadtgründung behandelt, konnte ich da gute Vergleiche ziehen. Du hast auch keinen Müll erzählt ;)

Aber fast am schönsten fand ich das Schlussbild, wie sie die Lilien zu den alten Gebäuden bringt und diese dann winken, wenn er stirbt. Das ist ein starkes und emotionales Bild und direkt danach zu Enden ist eine sehr gute Entscheidung.

Alles in Allem hat mir deine Kurzgeschichte sehr gut gefallen, gerade Idee und Inhalt finde ich gut. An Kleinigkeiten der Darstellung übt die Zeit.

lG Jan Knight-ofthe-Pen
[KmS]


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