Überraschende Antwort
Es war später Nachmittag, als Sasuke nach Hause fuhr anstatt noch ins Büro zu gehen. Er hatte keine Lust sich mit Peddington abzugeben oder dem Big Boss Bericht zu erstatten. Eine ganze Weile war er einfach nur durch die Gegend gefahren und hatte nachgedacht; nun wollte er unter die Dusche und vor den Fernseher.
Sasuke bog ins Parkhaus ein, schaltete den Motor des teuren Lamborghini aus und griff seine Tasche und ein paar lose Akten, die schon seit Tagen auf seinen Beifahrersitz lagerten. Seine Laune ließ zu wünschen übrig, und obwohl er glaubte bei dem Mädchen wenigstens etwas erreicht zu haben, fühlte sich sein Gemüt bleiern an. Mit schweren Schritten schleppte er sich zum Lift und fuhr hoch zu seinem Apartment.
Sasukes Wohnung lag im vierten Stock eines luxuriösen Hochhauses, das erst letztes Jahr fertig gestellt worden war. Die Miete war unverschämt, doch Sasuke war seit seiner Kindheit Komfort gewöhnt. Seine Familie lebte seit fünf Generationen in den Staaten, und immer schon waren sie angesehen und wohlhabend gewesen. Sein Vater war General in der US Army, und seine Mutter Anwältin der Navy gewesen, bevor sie Fugaku Uchiha heiratete. Der Großvater hatte gedient, ebenso wie dessen Vater.
Auch sein Bruder Itachi gehörte einst dem Militär an. Er war Pilot bei einem Sonderkommando der US Marines gewesen, genau wie Sasuke. Doch dann war Itachi gestorben, und Sasuke hatte das Militär verlassen und war zum FBI gewechselt.
Vielleicht seines Bruders wegen, vielleicht aber auch nicht. Sasuke hatte damals gehandelt und versucht, sich keine Gedanken zu machen. Weder über Itachis Tod durch einen Flugzeugabsturz, noch über sich selbst. Er war seitdem nur nie wieder in ein Flugzeug gestiegen und die Menschen um ihn herum hatten es verstanden.
Nur sein Vater nicht. Ihr Verhältnis hatte sich verschlechtert, und wenn sie sich einmal sahen, dann wechselten sie kaum ein Wort miteinander. Meist fungierte seine Mutter Mikoto als Vermittlerin, doch auch sie litt unter der schlechten Beziehung. Es hatte sie ohnehin viel gekostet, den Tod ihres ältesten Sohnes zu verkraften. Auf der Beerdigung vor einem Jahr war sie zusammengebrochen, und auch heute noch weinte sie die schrecklichsten Tränen, die eine Mutter weinen konnte.
Und aus irgendeinem Grund fragte sich Sasuke, ob Mrs. Haruno jemals um ihre Tochter geweint hatte.
Draußen war es längst dunkel, als das Telefon Sasuke weckte. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen, und wäre das Klingeln nicht so penetrant gewesen, hätte er es zu ignorieren versucht.
"Ja, Uchiha", meldete er sich und unterdrückte mit Muße ein herzhaftes Gähnen. "Hallo?"
Als sich niemand meldete, legte Sasuke genervt auf. Er gehörte nicht zu der paranoiden Sorte Mensch, die hinter einem geisterhaften Anruf gleich einen Anschlag witterten. Doch Sasuke besaß die Vorsicht eines Mannes, der für eine Sonderabteilung im FBI arbeitete - und als er etwas später ins Bett ging, ließ er seine geladene Dienstwaffe unters Kissen verschwinden.
Am nächsten Tag fuhr Sasuke nicht in die psychiatrische Klinik, sondern ins Büro. Er arbeitete etliche Stunden ein paar Akten durch, ehe ihn General Hemming rufen ließ.
"Ja, Sir?", kam Sasukes gereizt in das Büro des Generals. Zuvor hatte er eine weitere Auseinandersetzung mit Peddington gehabt und es hatte nicht viel gefehlt, dass er ihm die Faust in sein wabbliges Gesicht gedrückt hätte.
"Was tun sie hier, Uchiha?", fragte Hemming, ohne viel Schnickschnack in seine Worte zu legen. Er saß in seinem Stuhl, qualmte eine Zigarette und zog dabei eine Miene, als wäre es eine Beleidigung. "Sollten sie nicht mit der Zielperson arbeiteten?"
"Die Zielperson", sagte Sasuke betont. "Lässt nicht mit sich arbeiten. Miss Haruno ist mit Abstand die sturste Person, die ich kenne, Sir. Ich glaube nicht, dass sie kooperieren wird."
"Sie sind die sturste Person, die ich kenne, Uchiha. Lassen sie sich was einfallen."
Sasuke setzte sich dem General gegenüber. "Das Problem ist, dass sie uns nicht glaubt."
"Dann machen sie es ihr so glaubwürdig wie möglich, Uchiha! Die Zeit läuft uns davon. Sobald die japanische Mafia Wind davon bekommt, dass wir uns Zugang zu ihrer Datenbank verschafft haben, ist das Spiel aus. Für uns ist es aus!"
Sasuke nickte. "Sir?", fragte er nachdenklich. "Ist es nicht zu gefährlich ihr die Freiheit zu versprechen? Immerhin weiß sie Dinge, die nicht nach draußen sollten."
"Es ist nicht gefährlich, ihr die Freiheit zu versprechen, Uchiha. Sie ihr zu geben wäre es. Das habe ich aber nicht vor."
"Dann hat sie mit ihrem Misstrauen Recht?"
"Sicher ist sie zu Recht misstrauisch. Das Mädchen ist überdurchschnittlich intelligent. Sie weiß ganz genau, dass wir sie gar nicht gehen lassen können, egal was passiert."
"Und warum soll ich dann noch versuchen ..."
"Hoffnung, Uchiha. Hoffnung lässt auch den rationalsten Verstand auf Sparflamme umspringen. Mach ihr die Hoffnung schmackhaft, und allein für diesen winzigen Funken wird sie am Ende doch mitarbeiten."
Sasuke nickte erneut. "Verstanden", sagte er.
Doch sein bleiernes Gemüt wurde nicht leichter.
Bis zum Wochenende fuhr Sasuke jeden Tag zur Klinik. Ein paar Mal sprach er auch mit Dr. Eysenck, und die Gespräche mit ihm brachten mehr als mit Sakura, die entweder keinen Laut von sich gab oder Sasuke anbrummte und über die nichtigsten Dinge der Welt sprach.
Am Freitagabend, als er wieder einmal genervt im Besucherraum saß und schweigend die anderen Patienten beobachtete, war Sakura noch verhaltener und reagierte nicht einmal auf seine bohrenden Fragen.
„Am Wochenende komme ich nicht“, sagte er, als er nach seinen Sachen griff und aufstand. Es wurde im zu bunt neben jemanden zu sitzen, der ihn ignorierte als wäre er Luft. Sein Blick schweifte noch einmal zu den anderen Patienten und hinüber zum Fenster. Es war dunkel geworden. Er war wirklich spät dran.
„Hast du frei?“, wollte Sakura so unerwartet wissen, dass er erst glaubte, sich verhört zu haben.
„Hmm.“
„Und … Montag?“, fragte Sakura vorsichtig. „Kommst du da wieder?“
Sasuke zuckte mit den Schultern. „Mal sehen. Viel Sinn macht es nicht.“
„Stimmt“, sagte Sakura und grinste. Es wirkte gezwungen, aber Sasuke ging nicht weiter darauf ein.
„Na dann.“ Er nickte knapp bevor er Sakura zurückließ, doch begann sich ein seltsames Gefühl breitzumachen.
Er wusste es nur noch nicht.
Eigentlich hatte Sasuke vorgehabt am Samstag ein paar Akten durchzuwälzen und sich danach mit Nichtstun zu beschäftigen. Irgendwann hielt er aber die Mappe von Sakura in den Händen, und von sich selbst genervt begann er darin zu blättern. Er hatte sie schon einmal durchgelesen, allerdings nur flüchtig.
Sasuke holte sich einen starken Kaffee aus der Küche und setzte sich wieder über ihre Akte. Eigentlich war sie nutzlos, denn es gab keine wertvollen Informationen, die ihm weiterhelfen konnte. Abgesehen davon war ihr Lebenslauf nur stichpunktartig und wies etliche Lücken auf, die ihm nicht weiterhalfen. Er griff nach ihrer Krankenakte, doch hatte er sich nie mit den internationalen Abkürzungen befasst, von denen es dort wimmelte. Soweit Sasuke es feststellen konnte, waren hier in erster Linie die unzähligen Tests notiert, die die Ärzte mit Sakura gemacht hatten. Es gab mehrere Ausführungen von IQ-Tests und anderen Tests, die psychische Störungen feststellen sollten. Alle waren mit negativ bewertet und Sasuke wollte die Krankenakte schon weglegen, als ihm etwas anderes ins Auge fiel.
Sasuke lehnte sich über die Couchlehne und langte nach dem Telefon. Er selbst verstand das Verschlüsselungssystem der Ärzte nicht und Dr. Eysenck wollte er nicht fragen. Er traute ihm nicht, auch wenn er einen vernünftigen Eindruck machte.
„Ja?“, hörte er die nervige Stimme am anderen Ende sagen. „Uzumaki?“
„Ich bin's“, sagte Sasuke im brummigen Ton, den Naruto aber schon zur Genüge gewohnt war.
„Wahnsinn, dass du dich mal meldest!“, rief er schon durchs Telefon, so dass Sasuke den Hörer vom Ohr halten musste. „Aber ich hätte dich auch bald angerufen. Hinata und ich haben in zwei Wochen Urlaub, und wir wollten dich ein paar Tage besuchen kommen. Solange, wie wir uns nicht …“
„Ja, schon gut, Naruto. Sprechen wir später drüber, okay?“, wimmelte Sasuke seinen Freund aus Kindertagen ab. „Ist Hinata in der Nähe?“
„Näher als du denkst“, lachte Naruto ins Telefon. Sasuke runzelte nur die Stirn, behielt sein Kommentar aber für sich.
„Ich müsste was wissen. Es geht um die Klassifikation von Krankheiten. Ich hab hier eine verschlüsselte Diagnose bei einem Fall. Wäre nicht schlecht, wenn sich das schnell klärt.“
„Hinata ist ’ne super Ärztin, Sasuke. Sie weiß alles, also schieß los.“
„Frag sie, was P95 bedeutet“, las Sasuke von dem Blatt ab und klemmte dabei das Telefon zwischen Ohr und Schulter. Er suchte in der Akte nach noch einer Ungereimtheit, aber eigentlich schien ihm nur diese wichtig.
„Hinata fragt, nach welcher Klassifikation? IC … äh wie?“ Narutos Stimme wurde leiser, da er sich offenbar zu seiner Freundin umgedreht hatte.
„Die Klassifikation nennt sich ICD, ja“, sagte Sasuke schnell, damit er sich nicht zu lange damit befassen musste.
„Okay, warte …“ Naruto hatte den Hörer wohl wieder weggelegt, denn Sasuke konnte das Summen eines Radios im Hintergrund hören, nicht aber seinen Freund und dessen Verlobte.
„Noch da?“, rief Naruto plötzlich.
„Hmm. Weiß sie’s?“
„Sicher. Es handelt sich dabei um … ähm wie war das Hinata? … Ah ja, um eine Störung in der Perinatalperiode … war das richtig?“
„Eine was? Was soll das für ein Quatsch sein?“
„Ähm warte …“ Wieder schien Naruto seine Freundin zu fragen, und Sasuke fragte sich, warum er nicht einfach nach Hinata verlangt hatte …
„Noch da?“
„Immer noch, ja“, murrte Sasuke gereizt. „Was soll das nun sein?“
„Bist du denn sicher, dass du P95 meinst?“, fragte Naruto zurück.
„Ja, verdammt. Also was …“
„P95 bezeichnet einen Fetaltod nicht näher bezeichneter Ursache, meint Hinata.“
„Einen was?“
Naruto räusperte sich. „Eine Totgeburt, Sasuke.“