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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Loyalitäten

Warum verweilte sie an diesem Ort?

Müde und noch immer die Spuren der Enttäuschung tragende Augen blickten sich in dem kleinen Verschlag um. Dunkel. Muffig. Die Luft trug noch immer den eigenwilligen Geruch verbrannten Holzes. Eine seichte Note von Verfall, nasser Erde, irgendwo eine Spur Gras, wohl von oben mit einem Luftzug durch die Scharten in den Dielen herein ziehend. Ihr Heim für einige Jahre. Es war nicht unbedingt schön gewesen, nein. Sie hatte wenig Verständnis für Schönheit und gab das jederzeit offen zu, aber beim Nachtvater, es war… es war ihres gewesen. Ein ganzes Reich, egal wie groß, nur für sie allein. Dort drüben hatte sie geschlafen, wann immer sie es musste oder wollte. Niemand hatte sie ins Bett geschickt oder daraus herauf geweckt. Nun, meist zumindest. Gelegentliche Händler, ein paar stümperhafte Plünderer, die durch die Ruine über dem erhalten gebliebenen Keller streiften, auf der vergeblichen Suche nach leichter, übersehener Beute. Das zählte nicht. Selbst dieser elende Magier mit seiner impertinenten Höflichkeit und seine kleine, aufgeweckte Zwergenbegleitung zählten nicht.

Dort, ja, dort hatte sie gebetet. Sie. Zu den Göttern der Menschen. Dem Nachtvater hatte sie all ihren Dank gewidmet. Ihre Inbrunst. Ihre Liebe. Er hatte sie erwidert, nicht persönlich vielleicht, aber durch einen Gesandten. Nun war er fort. Ihr Gönner, ihre Verbindung zum Nachtvater, man hatte ihn ‚bezwungen‘, wie es in der Stadt hieß. Getötet. Sie hatte gesucht, des Nachts. Im Armenviertel, auf dem Markt, in den Gassen. Keine Spuren. Keine Leiche. Er war einfach verschwunden und mit ihm jedes Zeichen, das er jemals existiert hatte. Es gab nichts mehr, was sie in Samara halten könnte. Sie war eine Diebin der Gilde von Sundergrad. In Samara hatte sie eine Zeit lang gefunden, was sie zu suchen geglaubt hatte. Schutz, Beschäftigung, Bestätigung. Diese Phase war nun vorbei - es war wohl soweit, nach Sundergrad zurückzukehren. Zurück in den Schoß der Gilde, zu Aedan und in das dicht gepresste Drängen und Treiben der überfluteten Hafenstadt.

Dennoch hatte sie viele, viele Tage hier verbracht. Selbst nachdem sie die Suche hatte aufgeben müssen ob der Hoffnungslosigkeit aller ausbleibenden Funde. Sie hatte auf der kleinen Kellertreppe gesessen und gestarrt. Auf die noch immer starken Deckenbalken, die die Kellerräume vom zerklüfteten, verbrannten Haus darüber trennten. Auf ihr Bett, das sie mehr als nur einmal mit der Verlockung von Ruhe und Schlaf zu ködern versuchte. Auf ihren Altar, als würde der Nachtvater selbst ihr sagen, dass sie nur zu warten brauche und bald schon ein anderer seinen Willen zu vertreten wisse. Aber es würde niemand kommen.

Und sie machte sich lächerlich, nur stumpf in der Dunkelheit zu sitzen. Sie hatte seit Tagen kein Ohr mehr an die Oberfläche gereckt. Geschweige denn, ihren Lebensunterhalt finanziert. Die letzten Güter ihrer Habe einpackend, schnürte sie an diesem Morgen ein Bündel, stieg die Treppenstufen hinauf und kehrte sich ein letztes Mal um. So hatte sie geglaubt. Nun saß sie wieder hier, das Bündel über der Schulter und… starrte. „Bringt nichts“, maulte sich Ximasxi schließlich selbst voll und hievte sich ein weiteres Mal empor. Diesmal kehrte sie nicht zurück. Nicht zur Treppe, keine vermeintlich letzten Blicke, nicht in ihr Versteck. Sie hatte alles genommen, was noch von Wert gewesen war. Sollte der nächste Dummkopf sich über ihre Hinterlassenschaften freuen. Ein Dach über dem Kopf, ein Bett, ein paar Kerzen. Wenn er sich nicht selbst in Brand steckte, könnte ihr Verschlag dem nächsten dienen. Ihr war es gleich. Sie würde ein letztes Mal nach Samara gehen, ihre alten Hehler und Händler aufsuchen und ihnen ein letztes Mal ihre Habe übergeben. Vielleicht informierte sie den einen oder anderen sogar über ihre Abreise. Damit sie sich nicht zu sehr wunderten und damit sie auch gleich zu hören bekam, ob diese Leute für die Gilde auch weiterhin nützlich wären, oder ob deren Hilfsangebote ausschließlich auf ihre Person und diesen Aufenthalt beschränkt gewesen waren.

 

Samara zeigte sich von seiner besten Seite. Was man auch immer im Allgemeinen darunter verstehen mochte, für den Tiefling bedeutete es schlicht, dass die Wächter sie rasch passieren ließen, ohne Kontrolle, ohne Interesse und sie im Gewirr der gut gefüllten Straßen, die jedoch längst noch nicht so überflutet und überladen waren wie im Süden, ihren Weg rasch fand. Das Wetter dagegen, über das an jeder Ecke geplappert wurde, interessierte sie wenig. Unter der Bettlerkutte wurde ihr bei dem prallen Sonnenschein warm, keine Frage. Letztlich hätte sie aber einen Eissturm ebenso gut überstanden wie die sengende Mittagshitze.

Zwei ihrer Kontaktmänner versuchten sie über den Tisch zu ziehen. Hatte sie beim ersten noch die Geduld, zu feilschen und seinen lumpigen Betrugsversuch so sehr ins Gegenteil zu verkehren, das er draufzahlte, wollte sie beim zweiten einfach nur noch schnellstmöglich weg. Die Verkäufe dauerten ihr zu lange. Wäre sie nicht eine Diebin der Gilde, sie hätte den Ramsch irgendeinem Fremden in die Hand gedrückt, auf das der doch sein Glück damit versuchen solle! So hingegen zog sich ihre kleine Tour durch die Stadt bis in die frühen Nachmittagsstunden.

Just als sie endlich das letzte Stück losgeworden war, änderten sich ihre Pläne. „Du wirst von uns hören“, versicherte Ximasxi bemüht, das durch ihre Zunge entstehende Lispeln zu verbergen. Der Hehler grinste nur, nickte und scheuchte sie mit einer Handbewegung nach draußen. Man mochte sagen, was man wollte: Die besten Händler für heiße Ware fand man nicht im Armenviertel. Dort saßen die Verzweifelten, die wirklich jeden erdenklichen Ramsch kauften, ja. Aber die waren auch… gefährlicher. Unangenehmer. Gewaltbereiter. Die besten Händler für Schwarzmarktware fand man immer noch im Händlerviertel, im Norden der Stadt. Sie wussten, wie man verhandelte, wie man Kompromisse schloss, mit denen beide Seiten leben konnten und vor allem, was die Dinge am Markt wirklich wert waren.

Während das Tieflingsweib sich in Bewegung setzte, wurde sie beobachtet. Aus einer gegenüberliegenden Gasse heraus folgte ihr ein bohrender, abschätzender Blick, ehe sich die gleichermaßen wie sie in Bettlerlumpen gehüllte Gestalt von der Ziegelwand einer Lagerhalle abstieß und ihr folgte. Das eigentlich Schwierige daran, Ximasxi zu folgen, war die Balance zwischen Distanz und Nähe zu finden. Kam man zu nahe, fiel man unweigerlich auf und das konnte nicht nur ungünstig sein, nein, es konnte sogar überaus ungesund werden. Blieb man dagegen zu weit zurück, konnte man sie rasch aus den Augen verlieren. Es war ja nun nicht so, dass sie fünf Meter bemaß, sechs Köpfe hatte und alle zehn Sekunden Feuer spie. Obwohl sich das für ein Scheusal eigentlich gehört hätte, oder nicht?

Gerade noch hatte er über diesen Gedankengang schmunzeln müssen, über die unterhaltsamen Vorstellungen, die ihm sein frivoler Verstand beim Anblick der zierlichen Figur einige Meter vor sich verlieh, als sein Lächeln abrupt erstarb. Die Diebin war nicht einfach stehen geblieben, nein, sie hatte zur Seite geblickt. Ohne sich dessen sicher sein zu können, ahnte er bereits, dass er aufgeflogen war. Sie hatte ihn vermutlich gerochen oder gehört oder seine verdorbene kleine Fantasie erahnt, jedenfalls würde sie ihn aus dem Augenwinkel heraus gesehen haben. Nur das konnte erklären, warum plötzlich ein Ruck durch den zierlichen Körper ging und die sehnige Figur des Tieflings in eine linksseitige Gasse davon flitzte.

„Verdammt!“ maulte er hastig und stürzte ihr nach. Er durfte sie nicht verlieren, da lieber würde er die Konfrontation suchen, nur bei Lenikki, er durfte-

Abermals wurde er genötigt, ruckartig inne zu halten. Diesmal jedoch lag das an einer Dolchklinge, die empfindlich dicht auf der Haut seines Halses aufsaß. Er war ihr direkt in die älteste und einfältigste Falle der Welt gerannt - und über kaum etwas konnte er sich mehr ärgern. „Du bist schwer zu finden, Natti…“ brachte er krächzend hervor. Parallel dazu hatte er, langsam und sich ihres drohenden Blickes bewusst, die Hand gehoben und versuchte vorsichtig, den Dolch von seiner Kehle zu drücken. Zwecklos. Je mehr er die Klinge davon schieben wollte, umso tiefer und energischer presste sie das Stück Metall gegen seine Hauptschlagader. Oh er wusste ja, dass sie nicht unbedingt ein Fan dieses Namens war, doch konnte die Frau nicht ein einziges, verdammtes Mal… nun ja… locker sein?! „Wir müssen reden“, schob er nach, doch noch immer änderte sich seine Lage nicht.

Ximasxi dagegen starrte ihren Verfolger schlicht an. Sie kannte ihn, oh ja, und wie. Sonderlich erpicht darauf, mit ihm Worte zu wechseln, war sie nicht. Zumal er in ihrer Anfangszeit zu denen gehört hatte, die sich ständig über ihre Aussprache hatten lustig machen müssen. Und das war noch längst nicht alles, nein, es war noch nicht einmal der Hauptgrund, warum sie ihn nicht ausstehen konnte. Er war ein Mensch, er hatte sie ausgelacht, er hatte sie hin und wieder als Sprosse für seine eigene Karriereleiter zu benutzen versucht. Doch selbst das verblasste. „Sprich“, warf sie ihm den Brocken zu. Jalil war sein Name, wie sie sich inzwischen erinnerte. Ein gebürtiger Einwohner Sundergrads, wie man ohne Mühe leicht erkennen konnte. Er hatte die dunkel gefärbte Haut der dortigen Bürger, die beständig mit Wüste, ‚gutem Wetter‘ und brütender Sonnenhitze zu kämpfen hatten. Wie so viele Mitglieder der Gilde, hatte auch Jalil klein angefangen. Als Gossenkind, das gelegentlich Brot und ein paar Äpfel stahl. Irgendwann war es zu einer Wette gekommen. Er sollte einem Wachmann sein Schwert stehlen. Tatsächlich hatte der Bursche es geschafft, gewitzt wie er war. Er hatte danach die Beine in die Hand genommen, war gerannt, wie er noch nie gerannt war, den wütend kreischenden Wächter hinter sich. Nur das Lachen, das hätte er wirklich lassen sollen - denn so ging ihm viel zu früh die Puste aus.

Die Gilde war nicht dadurch auf ihn aufmerksam geworden, dass er einen Wachmann bestohlen hatte. Nein, man wurde auf ihn aufmerksam, als er es erfolgreich schaffte, sich aus der Arrestzelle quer durch die Wachstube und mit dem Schwert, welches er einfach noch einmal mitgehen ließ, bis zurück zu seinen Freunden zu stehlen. Jalil hatte Talente. Der eigentliche Diebstahl mochte es vielleicht nicht sein, aber er war ein begnadeter Ausbruchskünstler. Solche Leute kamen meist zum Einsatz, wenn Mitglieder der Gilde bei nicht ganz geplant verlaufenen Aktionen doch mal im Kerker landen. Wenn der Galgen auf sie wartet und diese Pechvögel die Mühe wert sind, schleust man einfach jemanden wie Jalil ein, der sich befreit und bei diesem Vorhaben den Verurteilten gleich mitnimmt.

„Ich war schon bei dir daheim, weil ich hoffte, dich da zu erwischen, aber das Vöglein war schon ausgeflogen und hatte alles mitgenommen. Sehr sauber, wirklich. Also unten. Oben ist es ziemlich dreckig. Mal im Ernst, wie kannst du in so einer Absteige hausen? Ich dachte, sowas wie du würde einen Friedhof bevorzugen, ein paar kuschelige Mausoleen und-“ abrupt keuchte der Langfinger, als Ximasxi ihm ohne jede Zurückhaltung das Knie in die Leiste presste. Einzig der Dolch verhinderte, dass er vornüber sank und sich zusammenkrümmte. Beschwichtigend hob er die Hände und richtete sich wieder auf, dem ungeduldigen Blick der Diebin mit einem längst nicht mehr so amüsierten Lächeln wie zu Beginn begegnend. „Schon gut, schon gut, Herrgott, entspann dich doch mal, Natti! Ich habe Anweisungen aus Sundergrad. Von Aedan. Für dich.“

„Blödsinn!“ fuhr ihn Ximasxi prompt an. Es war völlig undenkbar, dass ausgerechnet diese nutzlose kleine Kröte von Aedan geschickt wurde, um ihr irgendwelche Befehle zu überbringen!

„… und weil er genau wusste, dass du das sagen würdest, hat er mir den hier mitgegeben“, setzte Jalil nach und zog vorsichtig einen Ring aus seiner Tasche hervor. Er brauchte ihn lediglich hoch genug heben, da erkannte die Diebin das kleine Schmuckstück. „Hör‘ mal, mir gefällt diese Scheiße auch nicht. Ich stecke hier, ob du es glaubst oder nicht, genauso tief drin wie du. Denkst du, ich bin hier, weil ich so auf dich stehe? Bestimmt nicht!“ Was dieser dunkelhäutige Schwachkopf weiter faselte, war dem Tieflingsweib reichlich egal. Sie starrte völlig fassungslos auf den kleinen Ring in seiner Hand. Er gehörte dem Gildenmeister, keine Frage. Er hatte das kleine Stück Tand von seiner Schwester geschenkt bekommen, anlässlich irgendeines persönlichen Tages. Ob Feier oder Trauer, das hatte sie nie in Erfahrung bringen können. Es war auch nie von Belang gewesen, wichtig erschien ihr nur, dass er sehr daran zu hängen schien. Man sah ihn nie ohne das Schmuckstück und wann immer Verhandlungen schwierig wurden - wirklich richtig schwierig -, nestelte er daran herum, als wäre es sein persönlicher Glücksbringer.

„Er würde diesen Ring niemals freiwillig hergeben!“ zischte die Diebin erbost. Mit Nachdruck quetschte sie Jalil gegen die Wand. Inzwischen begann die scharfe Dolchklinge sich in seine Haut zu fressen, ein kleines, dünnes Rinnsal seines Blutes bezeugte dies. „Du hast damals schon versucht, die Gilde zu verkaufen!“ Für den Ausbruchskünstler war nun der Moment gekommen, erstmals aufrichtig Angst zu haben. Ximasxi und er hatten einander noch nie ausstehen können, doch sofern das gewünscht worden war, hatte zumindest eine Zusammenarbeit bislang immer geklappt. Es war schwierig, anstrengend und voller Reibereien, aber es hatte funktioniert. Diesmal jedoch fürchtete er aufrecht um sein Leben. Vielleicht war es doch nicht so klug gewesen, ihr den Ring zu zeigen…

„Natti, bitte, mach‘ keinen Scheiß! Wenn ich den Ring geklaut hätte, wäre ich doch niemals lebend aus Sundergrad rausgekommen! Und das damals ist doch schon lange vorbei! Bei Lenikki, überleg doch nur einen Moment! Ich will gar nicht abstreiten, dass ich damals in Versuchung war, aber ich habe mich doch umentschieden, oder nicht?! Zählt das denn gar nichts?“ Er trug noch manche sogenannte Erklärung vor. Rechtfertigungen, Schuldabweisungen, allerhand Kauderwelsch, der ihr reichlich egal war. Er hatte eine gewaltige Summe geboten bekommen und freies Geleit zum Hafen und mit einem Schiff der Krone in fremde Ländereien. Im Gegenzug musste er ja lediglich Aedan und ein paar andere der Führungsspitze ans Messer liefern. Es hätte sogar fast geklappt. Vier gute Männer und Frauen wurden damals hingerichtet. Seinetwegen. Selbst um den Gildenmeister stand es eine Weile wirklich übel, eine Hatz quer durch die Straßen der Stadt hatte ihm gerade so das Leben retten können - denn die Wache hatte strikte Anweisung, keine Gefangenen zu machen. Ein einziges Desaster - für alle. Ausgelöst von der Gier eines Mannes. Dieses Mannes.

Gerne hätte sie die Gilde befreit. Von ihm und auch nur dem geringsten Risiko, nochmals verraten zu werden - doch leider hatte er Recht. Selbst Jalil war nicht dämlich genug, mit dem Ring ausgerechnet hier, bei ihr aufzutauchen, sollte er gestohlen worden sein. Nur langsam zog sie ihre Krallen von seiner Schulter und den Dolch von seiner Kehle zurück. Ein letztes, kurzes Fauchen, ehe sie ihr Werkzeug verstaute und von ihm fort trat, um die Distanz herzustellen, die ihr persönlich grundsätzlich und von der Person unabhängig lieb und recht war. „Also?“ hakte sie schließlich nach und stierte den Kollegen an, während dieser nach Luft rang, sich zu beruhigen versuchte und mit einem Tuch über seinen Hals wischte.

„Ganz wie in alten Zeiten, was Natti? Okay, hör mal. Das hier ist zwar ‘ne schöne Gegend, sehr malerisch und so, aber könnten wir das vielleicht trotzdem wo anders besprechen? Ich habe uns ein verfallenes Lagerhaus angemietet, ist nicht weit von hier.“

 

‚Nicht weit von hier‘ bedeutete sehr zu Ximasxis Leidwesen letztlich, dass sie eine geschlagene Stunde lang hinter Jalil her trotten musste, weil dieser sich in Samara nicht auskannte und geschlagene zwei Mal verlief. Als sie das Lagerhaus endlich erreichten, irgendwo im südlichen Teil des Armenviertels, dunkelte es bereits. Doch selbst das klägliche Restlicht des schwindenden Tages reichte aus, um zu begreifen, was mit einem verfallenen Lagerhaus gemeint war. Das Bauwerk sah nicht wesentlich besser aus als die Ruine, in deren Keller sie nördlich der Stadt zuvor ihre Tage zugebracht hatte. Die Grundmauern standen noch, sogar die oberen zwei Stockwerke waren noch vorhanden, doch… weder den Treppen noch den Zwischenböden sollte man wohl mehr als das Gewicht einer Katze zutrauen. Entsprechend schlichen sie sich ungesehen durch die Seitentür hinein und suchten in dem kleinen Labyrinth aus Gängen und winzigen Kämmerchen, die die eigentliche Halle einzäunten, einen Raum, der noch im bestmöglichen Zustand war.

Dort ließ sich Jalil endlich dazu herab, seiner Begleitung die Umstände zu erklären.

„Also Natti“, begann er und überging schlicht, wie sie ihn einmal mehr dazu aufforderte, diesen Namen sein zu lassen, „der Ring hat dir eigentlich nur zeigen sollen, wie verdammt wichtig das hier ist. Ich übertreibe nicht: Es geht um die Zukunft der Gilde. Kein Auftraggeber. Nicht mal eine Belohnung, die wir herausschlagen könnten. Es geht nur darum, welche Rolle die Gilde in Zukunft spielen wird und natürlich wollen wir das größte Stück Kuchen für uns haben.“

Mit einem unwilligen Schnauben tigerte die Diebin auf und ab. Sie wusste, dass ihn das wahnsinnig machte - und das mochte zum Teil auch ein Grund sein, warum sie davon nicht abließ. Der überwiegende Teil dagegen war reine Ungeduld. Das ganze Gerede konnte er sich sparen! Wie sehr vermisste sie Aedan in diesem Moment. Der hätte ihr gesagt, wann es wo was zu tun galt und vielleicht noch, sollte sie nachfragen, warum. „Komm zum Punkt“, verlangte sie schließlich, als ihr Begleiter sich noch immer über die angebliche Tragweite den Mund fusselig redete. Was hoffte er damit zu bezwecken? Dass sie ihre Aufgabe ernster nahm? Sie nahm jede verdammte Aufgabe ernst, selbst einen billigen kleinen Taschendiebstahl!

Jalil dagegen seufzte lediglich und zuckte mit den Schultern. „Ganz wie du willst…! Wir wissen seit geraumer Zeit, dass die Krone die Rückeroberung Sundergrads plant. Jetzt sind sie offenbar soweit. Sie haben Truppen und Gerät zusammengezogen und etwas südlich von Samara ein kleines Lager aufgebaut. Dort haben sie alles, was eine kampffreudige Armee gerne hätte.“ Einen Moment lang schwieg er, fischte vergebens nach einer Reaktion. Er hatte auf Erstaunen gehofft, auf Zweifel, auf… nun, irgendetwas. Doch das Weib blieb völlig ungerührt, marschierte weiter auf und ab und warf eher beiläufig die Frage ein, ob sie also auskundschaften sollten, womit Sundergrad es zu tun bekäme. Obwohl das nicht war, worauf er gehofft hatte, regte es sein Gedächtnis doch an, ihn daran zu erinnern, wofür er eigentlich hier saß und sich das alles antat.

„Nein, besser. Wir halten sie auf.“

Nun blieb die Diebin tatsächlich stehen. Verspätet zwar, aber er bekam die gewünschte Reaktion. Unglaube, allem voran. Zweifel. Nicht an Aedans Befehlen - nur an der Umsetzung dessen. Sie war gut, flink und fast unsichtbar in der Nacht, sicherlich. Aber weder konnte sie Rüstungen und Waffen von hunderten Soldaten wegschleppen, noch diese Männer allesamt unauffällig im Schlaf meucheln. Zumal sie Diebin war, keine verdammte Schlächterin! Natürlich kam dabei rasch die Frage nach dem Wie. Und auf genau diese einsilbige, für Ximasxi übliche Weise blaffte sie ihm das Wort auch entgegen. Jalil verzog einen Augenblick das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, beruhigte sich jedoch wieder. Mit ihr zu arbeiten war so… anstrengend.

„Aedan hat einen Plan. Wir arbeiten zu sechst. Ich soll für dich den Späher spielen und bin voraus gereist, um dich zu informieren. Die anderen vier kommen bald nach, in zwei oder drei Tagen müssten sie hier sein“, erklärte der Dunkelhäutige. Er lehnte sich zurück, kippte den Stuhl auf die Hinterbeine und balancierte ihn aus, während er sich nun endlich die verdammten Lumpen zumindest vom Kopf zog. Darunter kam eine typische, schwarze Lockenfrisur zutage, die mal wieder einen etwas mehr Ordnung bringenden Schnitt hätte vertragen können.

„Gefällt mir nicht“, fuhr der Tiefling ihn an, „Ich arbeite allein. Wer sollen die sein? Wie ist der Plan?“ Je mehr sie hörte, umso unwohler fühlte sich Ximasxi mit alledem. Sie hatte ihren Krempel verkaufen und heimkehren wollen. Nun aber schien es, als wolle man ihr ein Himmelfahrtskommando aufbürden. Aedan kannte seine Leute. Er kannte sie. Warum verlangte er das von ihr?

„Natti, wir haben nicht viel Spielraum. Es musste schnell gehen, glaub mir. Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, aber… ich darf nicht. Noch nicht. Ich weiß, du bist nicht gerade begeistert davon, aber… wir bleiben hier. Hier in der Halle. Holen uns vielleicht ab und an was zu essen oder so. Ich habe Geld mitbekommen, so ist’s nicht, und du hast ja auch gerade Zeug verkauft, nicht? Aber wir waren einfach die Zeit ab, bis die anderen hier sind und dann… erkläre ich alles. Wirklich, ich verspreche es. Alles. Einfach nur abwarten, okay? Nur geh‘ mir bitte nicht wieder an die Kehle, der Schnitt brennt fürchterlich.“ Kurz überlegte Jalil, etwas dazu zu sagen, als seine Gesellschaft abfällig darüber schnaubte, wie weinerlich er sich anstellte. Sie sagte es natürlich nicht… aber er konnte es in ihren Augen ablesen. Für sie war er nicht mehr als Ungeziefer. So wie die meisten Menschen. Ein weiterer Grund, warum er sich um das Treffen in ein paar Tagen reichlich Sorgen machte.

Ximasxi, so hatten die Anweisungen gelautet, würde das Kommando über diese ganze Operation haben. Warum? Warum traute man ausgerechnet diesem soziopathischen Dämonenmiststück solch eine Verantwortung zu und nicht ihm? Hatte er nicht in den letzten Jahren alles getan, um seinen Fehltritt zu bereinigen? Um das Vertrauen der Gilde zurückgewinnen zu können?

Wie sehr er bereuen würde, von einfach nur abwarten gesprochen zu haben, wurde ihm tatsächlich erst in den nachfolgenden Stunden klarer.

Obgleich er selbst es gewesen war, der zunächst noch große Töne gespuckt hatte, war es auch kaum vier Stunden später, also mitten in einer sternenklaren Samarer Nacht, an Jalil, in den leeren Korridoren und verwaisten Räumlichkeiten des Lagerkomplexes auf und ab zu laufen. Ganz im Gegensatz zu Ximasxi, die ihrerseits nun endlich ruhig in der Ecke des Raumes saß, in welchem sie ihre kleine Besprechung geführt hatten. Wie ein verflixtes Mahnmal harrte sie dort aus, die katzenhaften Augen geschlossen, scheinbar schlafend in sich zusammen gesunken. Er wusste, dass sie nicht schläft. Vermutlich würde sie sich das nicht leisten, solange er in der Nähe wäre oder zumindest nicht, solange er als Einziger in der Nähe war.

Seine inzwischen fast schon ritualisierten Runden glichen allmählich einem Pilgerpfad, den er wieder und wieder beschritt. Zweimal führte der nahezu einstudierte Ablauf ihn dabei an der offen stehenden Tür vorbei, hinter der die Gildendiebin ausharrte. Jedes Mal starrte er zumindest für einen kurzen Sekundenbruchteil zu ihr herüber - und nie rührte sie sich. Dabei war er sich sogar sicher, sie würde seine Blicke spüren. Oder seine Schritte hören. Vermutlich beides, doch rein äußerlich kümmerte sie das offenbar wenig.

Tatsächlich war Ximasxi nie von der Wache oder sonst irgendwem ohne weiteres gefangen worden, weil sie einen sehr leichten Schlaf hatte. Jalil irrte, als er glaubte, sie würde sich dergleichen nicht erlauben. Wie sonst hätte sie diese Zeit füllen sollen? Sie hatte zuvor genug Tage damit verbracht, trostlose Einrichtung und karge, kleine Räume anzustarren und war entsprechend selbst nicht sonderlich erpicht darauf, in diesen Räumlichkeiten eingepfercht zu werden. Schon gar nicht mit jemandem wie Jalil, den sie trotz aller Mühen nach wie vor für ein Risiko und einen Verräter hielt. Menschen, das hatten ihre Erfahrungen ihr gezeigt, waren niederträchtig und änderten sich nicht. Einmal ein Betrüger, immer ein Betrüger.

Die allzu nachsichtige Politik zweiter Chancen konnte sie nur belächeln, doch sie kannte ihren Platz - es stand ihr nicht zu, die Beschlüsse des Gildenmeisters in Frage zu stellen.

Obwohl ihre Gedanken sich in nicht geringem Ausmaß um die Frage drehten, ob es denn auch die Beschlüsse des Gildenmeisters waren. Der Ring mochte nicht gestohlen worden sein, das leuchtete soweit ein. Doch hieß das wirklich, dass er hier zu sein hatte? Vielleicht hätte er auch nur den Kurier mimen, den Tand überbringen, die Aufgabe erklären und dann wieder verschwinden sollen? Er war ein Ausbruchsexperte. Das Tieflingsweib wusste das und begann sich mehr und mehr zu fragen, wofür ein solcher gut sein sollte bei einer Aufgabe wie… dem Aufhalten und Zermürben einer ganzen Armee.

„Sag mal,“ begann der Lockenkopf irgendwann nach zähen Stunden im Zuge der nächsten Morgendämmerung, „wie wäre es mit… Frühstück? Etwas essen, du weißt schon. Du isst, das weiß ich genau. Fisch? Roh? Nein, okay, Spaß! Ich hole uns einfach was, ja? Natti? Ach, ich gehe einfach.“ Kaum war der gebürtige Sundergrader verschwunden, zog ein seichtes Schmunzeln auf die zuvor reglosen Lippen der Diebin. Der Südländer hatte noch weit weniger Selbstbeherrschung, als sie in Erinnerung hatte. Nur ein paar Stunden in engen, leeren Räumen und er begann schon langsam durchzudrehen. Sollte er nur gehen, ihr war das mehr als recht!

Während Jalil die Stadt unsicher machte und verzweifelt versuchte, sich den Weg zum Lagerhaus zu merken, erhob sich das Tieflingsweib aus ihrer Ecke, streckte und dehnte die Glieder und Muskeln und begann ihrerseits mit einem kleinen Rundgang. Nicht jedoch etwa, weil ihr langweilig geworden wäre oder sie dem Gefühl zu erliegen drohte, die Decke könne ihr auf den Kopf fallen. Nein, vielmehr wollte sie einfach nur das Gebäude ein wenig durchleuchten. Wie viele Eingänge gab es, wo lagen die Fenster, wie kam man dort heran. Einfache und wichtige Dinge. Sie erkletterte sogar das Dachgehölz der Halle, um sich das Ganze aus einer meist nur und ausschließlich ihr zugänglichen Perspektive anzuschauen.

Die Quintessenz ihrer Untersuchung war geradezu frustrierend. Jalil hatte die Halle vermutlich nach eigenem Gusto angemeldet und damit nur seine Unkenntnis Samaras bewiesen. Es gab durch das große, scheunenartige Tor der Halle und die Seitentür nur zwei Eingänge, die auch als solche gedacht waren. Für jemanden, der Interesse hatte, Eingänge zu sichern, mochte das angenehm sein. Für jemanden, der im Zweifelsfall die freie Auswahl der Fluchtrouten haben wollte, war das beengend wenig. Stattdessen jedoch bemerkte sie kleinere Holzstege unter dem Dach, nah an das eigentliche Stützbalkengerüst angebracht, die die Fenster miteinander verbanden. Wozu das auch immer  gedient haben mochte, scheinbar gab es keine Möglichkeit, ohne weiteres von unten herauf zu gelangen. Vielleicht war die Halle mehrfach abgerissen und umgebaut worden, wer wusste das schon. Für die Diebin war nur wichtig, dass sie um einen der massiven Balken ein Seil knoten und es herabbaumeln lassen konnte. Die meisten Fenster grenzten an Straßen oder Gassen an. Und wenn direkt daneben ein Gebäude lag, dann war es von der typischen Bauart des Armenviertels. Schief und krumm und baufällig. Nichts, worauf man bei einer rasanten Flucht auch nur einen verflixten Fuß setzen wollte. Das einzige Fenster, das auf ein stabiles Dach führte, über das sich entkommen ließe, befand sich oben, verbunden mit jenem Holzsteg. Damit blieb zu hoffen, dass sie entweder nicht gestört werden würden oder eben, dass all die anderen, die da noch kamen, ebenso gute und geschickte Kletterer waren wie Jalil und sie.

Jalils Rückkehr erfolgte für Ximasxis Geschmack deutlich zu früh. Ruppig hieß sie ihn „willkommen“, indem sie schlicht ihren Anteil am Frühstück entgegen nahm und sich wort- und vor allem danklos wieder zurückzog. Der Ausbruchsexperte begriff und frühstückte entgegen seines eigentlichen Vorhabens für sich, so, wie er auch die weiteren, über diesen und die nächsten zwei Tage folgenden Mahlzeiten allein einnahm. Immer wieder bemühte sich der Südländer, sich abzulenken. Er begann sogar Kohle und ein paar Kreidestifte mitzubringen und irgendwelchen Unsinn an die Wände zu kritzeln, nur um sich abzulenken - denn seine zukünftige Gruppenführerin schien weder auf seine Gesellschaft, noch auf Unterhaltung wert zu legen. Nicht einmal auf ihre Eigene. „Sag mal, machst du eigentlich irgendwann mal was?“ hakte er deshalb am dritten Tag nach. Draußen verriet die Sonne den Nachmittagsstand und seit knapp einer Stunde hatte er sich wieder in dem kleinen Kämmerchen eingefunden. Der Tiefling aber saß dort in der Ecke wie am ersten Tag, die Augen geschlossen und schien trotzdem durch die Lider hindurch auf irgendetwas zu starren. „Ich meine… leben. Du weißt schon, oder? Saufen. Kartenspiele. Pff, meinetwegen Huren! Wie pflanzt sich sowas wie du eigentlich fort? Natti? Hallo? Hallo! Du weißt aber schon, dass ich mit dir rede, oder?“

„Leider“, erklang nach einer kurzen Atempause die einzige Reaktion der Diebin auf sein kontinuierliches Geplapper. Jalil gestikulierte einen Augenblick hilflos in der Gegend herum, ehe er sich mit einer ermüdeten Geste über das Gesicht strich und die Hände in die Hüften stemmte.

„Na gut. Okay. Weißt du was? Du kannst mich mal! Ich habe wirklich versucht, mit dir auszukommen, wirklich. Aber selbst die Pest ist nicht so ätzend und selbst ein Igel kuschliger als du! Normale Menschen unterhalten sich, Natti. Wir hätten uns hier gegenseitig die Zeit ein wenig vertreiben können, das wäre doch viel besser gewesen, oder nicht? Stattdessen sitzt du nur da und starrst auf weiß-Ceteus-was! Wieso kannst du dich nicht wie jeder verdammte andere normale Mensch auch benehmen?!“ Er hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet, so viel war klar. Oder wurde es zumindest, als er regelrecht erschrocken zusammen fuhr - in dem Augenblick, als Ximasxi ohne Ankündigung aufsprang. Er hatte noch nie gesehen, dass ein Mensch so etwas getan hätte, er glaubte nicht einmal, dass ein Mensch zu so etwas anatomisch fähig wäre. Blitzschnell war sie auf den Füßen, starrte ihn finster an und erklärte ihm, dass es eben genau darum ginge: „Ich bin aber kein Mensch!“ giftete das Weib. Sie trat an Jalil heran, starrte ihn auf knapp anderthalb Meter verbliebene Distanz an, als wolle sie ihn sogleich fressen, ehe sie vorbei schritt und den Raum verließ. Dabei erklang ein geradezu scheußliches Geräusch, dessen Quelle der Dieb erst erkannte, als er sich umkehrte. Von draußen hörte er sie erklären, dass es Zeit sei, zum Treffpunkt zu gehen und tatsächlich, sie hatten die drei Tage irgendwie herumbringen können. Ohne sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Ohne im Bett zu landen. Ohne auch nur sonst irgendetwas zu tun. Außer gelegentlich zu essen.

An der Wand direkt hinter ihm fand er den Beweis ihrer Worte. Kein Mensch. Menschen waren nicht fähig, mit ihren Krallen tiefe Spuren in das Mauerwerk zu kratzen. Weil Menschen keine Krallen besaßen.

Trotzig den Kopf schüttelnd, verbot sich Jalil, irgendetwas dazu zu sagen. Fast hätte er Grund zur Schadenfreude gehabt, wusste er doch genau, was bald folgen würde - doch leider wurde die ihm ebenso vergällt. Denn ihre Laune würde dann unweigerlich ihn treffen, ihn und die anderen und den Rest der Welt gleich noch dazu.

Wie vereinbart, befanden sich die Neuankömmlinge bereits in der Stadt. Separat an verschiedenen Stellen eingereist, wie ihnen angewiesen worden war, erregten sie weniger Aufmerksamkeit und wurden nicht als Gruppe assoziiert. Zudem war das Thema einer Taschenkontrolle durch die Wächter und des Wegezolls damit bereits geklärt.

In der Altstadt Samaras, einem von Ximasxis bevorzugten Jagdgebieten aus den letzten Jahren, sammelten sie sich. Vor dem Verwaltungsgebäude des Stadtvogts gab es eine kleine Allee wundervoller, hoch aufragender Pappeln - und gegenüber auf der anderen Straßenseite eine Taverne. Zum Nachtfalter war keine billige Kaschemme, in der sich nach Feierabend das Handwerker- und Arbeiterpack Bier gönnte, zu lallen und zu singen begann und dem Wirt Ärger bereitete. Hier traf sich die gesellschaftliche Oberschicht, was vor allem bedeutete, dass sie nicht in ihren Bettlersachen dort erscheinen konnten. Jalil hatte in seinem Reisegepäck jedoch bereits vorgesorgt. Während er selbst nun als in feinen Zwirn gekleideter Gönner und vielleicht sogar gut situierter Handelsmann auftauchen konnte, musste seine Begleitung damit Vorlieb nehmen, die Dame aus reichem Hause zu mimen… mit einer opulenten Perücke, die ihre Hörner verdeckte, ihr jedoch auch das Laufen erschwerte. Ihre Augen waren natürlich ein gewisses Problem, doch solche Exotik würde noch keine Fragen oder entsetzten Rufe auslösen, solange Hörner, Schwanz und Klauen artig versteckt blieben. Der Grund, warum sie Fächer, Handschuhe und feinste Lederstiefel trug.

„War das nötig?“ zischte das Tieflingsweib, kurz bevor sie in den Nachtfalter eintraten. Jalil harrte kurz aus, warf einen Blick an ihr herab und nickte stolz. „Aber natürlich. Allein, um dich mal wie ein Prachtweib gekleidet zu sehen, war es das! Jetzt hör‘ schon auf herum zu nörgeln, du siehst fantastisch aus. Für’n Scheusal“, setzte er nach und entging dem Faustschlag gerade noch rechtzeitig. Er drückte die Klinke herab und ließ, wie es sich gehörte, der Dame den Vortritt. Ganz wie erwartet, interessierte sich hier niemand für die neuen Gäste. Falls Pöbel wagte, sich hierher zu schleichen, dann war es am Wirt und den Angestellten, sie freundlich, aber bestimmt des Hauses zu verweisen - und für eben diese wirkten die beiden lediglich wie neue Gäste. Der Rest hob nicht einmal den Kopf, sondern ging weiter den eigenen Gesprächen aus. An Orten wie diesen wurden Verträge geschlossen und Bündnisse geschmiedet… tagsüber zumindest. Nachts wurden hier dagegen Verträge gebrochen und Bündnisse verraten, ganz abhängig davon, wer mit wem zu Tisch saß oder das Bett teilte.

„Da drüben sind sie“, klärte der Südländer seine Gesellschaft gerade auf und deutete zu einem voll besetzten Rundtisch herüber. Prompt bohrte sich ein feiner Damenhandschuh in seine Schulter und die Klauen durchstießen den Stoff ohne jede Mühe, schnitten ihn regelrecht auf. „Was soll das?“ fauchte sie leise und zog Jalil zurück, während die Gäste jenes Tisches bereits zu ihnen herüber blickten, zwei von ihnen sich sogar zu einem Winken hinreißen ließen und offenbar von einem Dritten ermahnt wurden, das zu unterlassen - woraufhin sie betrübt die Blicke senkten.

An jenem Tisch saßen nicht Diebe der Gilde, so viel war klar!

„Natti, nicht hier und nicht jetzt! Lass uns die Leute einsammeln, zum Lager bringen und dann kannst du immer noch herummaulen wie du willst!“ beschwor Jalil seine Begleitung. Die wirkte… nun, verstimmt war noch höflich ausgedrückt. Wenig angetan? Rasend ob des Verdachtes, man würde wie in früheren Zeiten einen Witz auf ihre Kosten machen? Tatsächlich winkte Jalil seinerseits die Gesellschaft jenes Tisches zu sich herüber. Vier Personen erhoben sich und richteten dem Wirt ihren Dank aus, zahlten ihre zwei, drei Getränke und gingen. Über Seitenstraßen, abgelegenere Gassen und Hinterhöfe gelangten sie zurück ins Armenviertel. Schon auf dem Weg dorthin entledigte sich Ximasxi dankbar jedes Stückes, das Jalil ihr abzulegen erlaubte. Er hatte ihre Bekleidung perfekt zusammengesetzt. Solange sie in der Altstadt waren, trug sie alles und fiel nicht auf. Je weiter westlich sie kamen, desto mehr konnte sie ablegen und je mehr sie ablegte, umso besser passte sie sich stufenweise den örtlichen Gegebenheiten an - bis sie am Schluss endlich die Perücke abgeben konnte und ihr unverschämt gutes Gleichgewichtsgefühl wiederhergestellt wurde.

All die Stücke landeten, sehr zu Jalils Enttäuschung, unterwegs auf der Straße oder im Dreck. Sie hegte offenbar trotz des Lobes für ihr Erscheinungsbild kein gesteigertes, ja nicht einmal ein ansatzweise vorhandenes Interesse daran, für irgendwen einen erträglicheren Anblick abzugeben. Wie bedauerlich.

Als sie in der Haupthalle ihres Lagers angelangt waren, harrte der Tiefling am Tor aus, bis auch der Letzte eingetreten war. Sie schloss die Pforte sorgfältig und starrte ‚ihre‘ Truppe einen Moment lang ungläubig an. „Was soll das? Ein Zirkus?“ murrte sie verdrossen und stierte schließlich zu Jalil herüber, der seinerseits nun die leidige Pflicht innehatte, alle miteinander bekannt zu machen. Er schlug zwar vor, man könne sich in einen Raum zurückziehen, doch das Tieflingsweib wiegelte ungeduldig ab. Bevor sie es sich irgendwo bequem machten, wollte sie aufgeklärt werden, wer diese Witzfiguren überhaupt waren!

„Okay, dann eben der Reihe nach“, lenkte der Südländer seufzend ein, „Für den Anfang noch einmal die Grundregeln für alle: Wir sind hier, um einen Job zu erfüllen. Er ist nicht legal und gefährlich. Wir wollen nicht beste Freunde werden, wir wollen alle nur, was uns versprochen wurde. Klar soweit? Dann können wir nämlich auf unsere tollen Lebens- und Leidensgeschichten verzichten. Keine Nachnamen. Es reicht, wenn wir wissen, wie wir einander ansprechen sollen. Klar soweit? Schön, gut. Also Leute, das ist Natti. Laut Aedan wird sie das ganze Unterfangen… leiten. Koordinieren. Sie gibt die Befehle, ihr versteht schon.  Natti, die zwei Kurzen da drüben sind Tawnie und Zunder. Tawnie ist die kleine Braune, eine Gnomin. Zunder ist der Grüne mit den hässlichen Fledermausohren.“

„Hey!“ protestierten im gleichen Atemzug sowohl Zunder selbst - als auch, sehr zu dessen und Tawnies Überraschung, Ximasxi selbst. Jalil stutze einen Augenblick, grinste dann jedoch in sich hinein und nuschelte eine kaum verständliche Entschuldigung, die wohl auch im gleichen Maße ernst gemeint war. Während der Lockenkopf bereits weiter sprach, unterzog Ximasxi die beiden einer genaueren Betrachtung. Tawnie entsprach dem, was für durchschnittliche Gnome wohl galt. Sie trug Arbeitskleidung, einen Werkzeuggürtel und die Intelligenz stach ihr ebenso aus den Augen wie die Lebensfreude. Sie wirkte zwar ruhig, doch es war ihr leicht anzusehen, dass sie das Tieflingsweib am liebsten mit einem unüberschaubaren Wust aus Fragen überschüttet hätte. Bei Zunder verhielt es sich ähnlich. Nur das seine Ohren noch ein Stück länger waren und schon mit zwei ansehnlichen Knicken jeweils Opfer der Schwerkraft wurden. Der blanke grüne Schädel wirkte ein wenig merkwürdig, er schien für die kleine, dürre Gestalt etwas zu groß zu sein. Zunders Blick dagegen konnte man schwerlich lange standhalten - es fühlte sich an, als würde einem der Wahnsinn persönlich winkend zugrinsen.

„Die beiden sind… ein Paar? Irgendwie? Jedenfalls arbeiten sie zusammen. Heute sowieso, ich meine so ganz grundsätzlich und-… na ist ja auch egal. Die Bohnenstange daneben ist-“ Doch noch bevor der Schwarzhaarige etwas erklären konnte, trat die zierliche, schlanke Gestalt der Elbe hervor. Das silberne Haar zu einem strengen Zopf gebunden und möglichst kurz aufgewickelt, verneigte sich das Spitzohr vor dem Tiefling, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Ein durchdringendes, eisblaues Augenpaar, welches das Tieflingsweib musterte, während ein geradezu spielerisches Lächeln über ihre Lippen huschte. „Eloen, nennt mich Eloen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit!“

Sie gefiel ihr nicht. Ximasxi hatte bei diesem Spitzohr ein merkwürdiges Bauchgefühl und gute Güte, ihr wollte erst recht nicht zusagen, wie diese Elbe sie anstarrte. Normalerweise war sie es, das Scheusal und Monster, das andere mit solchen Blicken um Ruhe und Verstand brachte. Schließlich fand sie Ablenkung darin, dass Jalil ihr den Letzten im Bunde vorstellte. Einen Mensch, das war ersichtlich, doch seine Kleidung ließ bereits mehr erahnen. Feinste Seide, weit geworfen. Sie hätte es fast ein Kleid nennen wollen, doch das war es nicht. Eine Tunika, ein Umhang, irgendetwas in der Richtung.

„Das ist Servatius. Aedan hat… irgendeine Abmachung mit dem Zirkel. Er ist hier, um zu helfen. Sagt er. Können wir dich eigentlich Ser nennen?“ hakte Jalil nach und war schon versucht, aufzulachen, als er sah, wie der Magier das Gesicht verzog. Als hätte man ihm einen Teller sich windender, fetter Maden vorgesetzt, ein Messer an die Kehle gehalten und einen guten Appetit gewünscht. Es stimmte also - Magier waren sehr eigen, was ihre Namen anging. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass dieser das so deutlich nochmals zu unterstreichen gedachte. „Servatius reicht völlig“, erklärte das Zirkelmitglied an seine zukünftige Kommandantin gewandt, „Ihr solltet euch glücklich schätzen. Nicht nur, weil ich damit bereits auf meine mir zustehenden Titel verzichte, sondern ebenso, weil nicht jeder in den Genuss kommt, auf die Unterstützung des Zirkels bauen zu können. Wenn ihr nichts dagegen habt, sollten wir wohl rasch zur Tat schreiten, nicht wahr?“ Hatte sie die Elbe schon nicht sonderlich leiden können, schlug die aufgenötigte Zusammenarbeit mit einem Magier dem Fass nun wahrlich den Boden aus! Was hatte sich Aedan dabei gedacht? Konnte nicht jeder andere Dummkopf ebenso tun, was… was auch immer der da tun sollte? Warum nur musste es ausgerechnet ein verflixter Magier sein?!

„Nun, dann nehmt mal ruhig alle Platz, ich hole noch ein… nein, zwei Stühle, dann kann’s losgehen!“ Jalil verschwand kurz in einem Nebenraum, ehe er tatsächlich mit zwei weiteren Sitzgelegenheiten zurückkehrte und um den einfachen Tisch drapierte. Nichts hiervon verbreitete irgendeinen Stil oder schien auf sonstige Weise dem ästhetisch verwöhnten Auge von Herrn Servatius zuzusagen. Er ekelte sich nicht. Alles hier war sauber, bestenfalls staubig. Aber dass es ihm dennoch zuwider war, hier zu sein, erkannte man ohne jede Mühe. Eloen dagegen wahrte die Ruhe selbst, während das kleine, aufgeweckte Pärchen eine ganz eigene Theatervorstellung bot. Zunder schien mit irgendetwas in den Taschen seiner ausladenden Lederweste herum zu spielen und bekam davor von Tawnie beständig eins auf die Finger gehauen. Er zog die Hand hervor, leer natürlich, wartete einige Sekunden - und kramte wieder herum. Zumindest so lange, bis sie beide Platz genommen hatten, dann verlagerten sich die Klapse auf Tritte.

Als der Südländer endlich zufrieden schien, schloss er die Tür und begann, Licht ins Dunkel zu bringen. Nach Ximasxis Empfinden zu urteilen, kam das schon drei Tage zu spät.

„Was hat uns also hergebracht? Die Krone ist ziemlich angefressen, weil Sundergrad keine Abgaben mehr zahlt. Kann man ihr nicht verdenken, sie haben uns ja auch ganz schön ausbluten lassen. Sie wollen die Stadt zurück, das war uns schon immer klar, aber jetzt fahren sie alles auf. Knapp außerhalb Samaras haben sie ein provisorisches Lager aufgezogen. Außerhalb der Stadt, damit sie sofort alles sehen und abschießen können, was sich ungefragt nähert. Dort wimmelt es von Soldaten und Wächtern und allem, was die Flucht aus Sundergrad geschafft hat. Also auch ein paar der legendären Scharfschützen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die keine Gefahr darstellen - und ich meine das genau so, wie ich es sage…! Also gut, zum Ablauf. Wir haben insgesamt vier Ziele. Zunächst einmal, werde ich mich nach dieser ganzen Planungskiste zum Lager begeben und mit etwas Glück in die Arrestzelle werfen lassen. Dann breche ich aus und versuche, dabei so viele Informationen wie möglich über den Aufbau mitgehen zu lassen. Ich übernehme also die Späherfunktion und halte euch dann im Anschluss den Rücken frei. In der Zeit könnt ihr einkaufen gehen, ich denke mal, ihr werdet einiges Zeug brauchen. Natti hat, wenn ich richtig informiert bin, hier einige Kontakte, die hilfreich sein können, alles zu bekommen. Ist die Aufklärung soweit und haben wir alles vorbereitet, muss es schnell gehen. Wir haben genau eine einzige Nacht für die gesamte Aktion. Natti soll laut Aedan absichern, dass jeder das tut, was er soll und genug Zeit hat, es sauber, gründlich und ordentlich zu erledigen! Im Lager gibt es drei große Hallen, in denen die Belagerungsgeräte gehütet werden. Natti, du musst Zunder und Tawnie da rein bringen. Eigentlich wollten wir nur Zunder, damit er seine komischen Bomben in den Dingern versteckt. Er hat wohl irgendwas, das erst explodiert, wenn man die Geräte benutzen will. Hoffen wir also mal, dass sie keine Probeschüsse unterwegs abgeben. Jedenfalls hat uns Tawnie nach Zunders Zusage kontaktiert und freundlicherweise darauf hingewiesen, dass es Selbstmord wäre, ihn ohne sie zu engagieren. Sie hält also unseren kleinen Freund hier im Zaum. Außerdem ist Tawnie eine gute Konstrukteurin und kann zeichnen. Wir haben Gerüchte gehört, dass das Heer nicht auf konventionelle Katapulte zurückgreifen wird, sondern sogenannte Triboke benutzt. Wir wissen zwar noch nicht richtig, was das für Dinger sein sollen… aber das soll Tawnie rausbekommen. Während Zunder also die Geräte manipuliert, zeichnet Tawnie die Mechanik ab. Dann müssen sie wieder da raus. Kommen wir zu unserem Herrn von und zu Magier. Servatius muss in die Waffenkammer eingeschleust werden. Es ist nur ein einziges, großes Gebäude. Dort werden sämtliche Vorräte gelagert. Er wird irgendeinen Hokuspokus veranstalten und dafür sorgen, dass die Waffen und mit etwas Glück auch Rüstungen keinen Pfifferling mehr wert sind, wenn die Soldaten an den Stadtmauern ankommen. Dann muss auch er sicher raus. Um Eloen mache ich mir bisher am wenigsten Gedanken. Sie hat drei Zielpersonen im Lager, die sie ausschalten soll. Einmal den Buchführer aus Sundergrad. Er konnte fliehen und weiß noch zu viel über die Stadt, einige Personen, Verstecke und solche Scherze. Der Zweite ist ein junger Offizier. Er fiel früher durch extreme Brutalität und Skrupellosigkeit auf. Da er als Ranghöchster entkommen ist, vermuten wir, dass er den Angriff auf die Stadt anführen wird.“ An dieser Stelle unterbrach Ximasxi fast augenblicklich Jalils Redeschwall. „Sein Name! Wie heißt er?“ verlangte sie hastig zu wissen. Wie sie schon befürchtet hatte, wurde ihr danach genau das gesagt, was sie erwartete. Panaver Urthada. Groß, breit gebaut, sehr dunkle Haut. Ein kahlgeschorener Schädel und eine verheerende Rechte. Sie kannte ihn, oh ja, weit besser als ihr lieb war. Ein weiteres Mal fiel ihr Blick zu Eloen. Die Elbe grinste ihr zu, zwinkerte verschwörerisch. „Keine Sorge, Liebes, der ist so gut wie Geschichte.“

War er das?

Urthada war für Sundergrad mehr als lästig gewesen. Er hatte mehr als ein Attentat überlebt und man hatte dabei nie irgendwelche Straßenschläger oder Strauchdiebe auf ihn angesetzt. Die wagten es gar nicht, ihm im Weg zu stehen. Insgeheim wollte sie der Elbe Glück wünschen… doch sie waren alle Profis. Glück war etwas für Stümper. Stattdessen ließ sie sich die Laune und aufkeimende Sympathie davon verhageln, dass Eloen sie betitelt hatte und diese Sache überaus leichtherzig zu nehmen schien. Weil sie Urthada nicht kannte, wie der Tiefling für sich selbst beschloss. Sie wusste nicht, wozu er fähig war, wie viel er aushielt. Eloen war nicht wesentlich größer und keinesfalls stärker als sie. Wenn ihr Überraschungsmoment erst einmal verpufft wäre, würde Panaver sie ebenso zusammenschlagen wie sie selbst damals.

Jalil jedoch überging Ximasxis Reaktion und hob sich die Nachfrage für später auf. „… naja wie auch immer. Eloens letztes Ziel ist der Punkt, warum wir sie überhaupt ins Boot geholt haben. Das Heer wird von irgendwem begleitet. Wir wissen kaum etwas. Keine Namen, kein Geschlecht, keine Rasse, kein gar nichts. Wir wissen aber, wo die Zielperson untergebracht ist. Ist das alles erledigt, sehen wir zu, dass wir da heraus kommen.“

Schweigen flutete den kleinen Raum. Jeder für sich bedachte sich den Teil, den er zu erledigen hatte. Die Rollen waren von Aedan bereits klar verteilt worden. Späher, Sprengmeister, Technikdieb, Saboteur, Assassine - und Kommando. „Wie viel Zeit haben wir für alles?“ erkundigte sich Eloen nach einer Weile und erinnerte Jalil daran, einen nicht ganz unwichtigen Umstand vergessen zu haben.

„Ah genau, danke! Also… wir wissen nicht so ganz, was es damit auf sich hat. Uns sind Befehle in die Hände gefallen. Das Heer wird in drei Tagen abreisen. Das ist nicht viel Zeit, aber wir brauchen ja auch nicht so viel Vorbereitungszeit, hoffe ich mal. Die Abreise wird um keinen Tag verschoben werden, nicht mal um eine verdammte Stunde. Sie haben einen sehr knappen, strikten Zeitplan. Wir wissen nicht, warum nichts schief gehen darf, aber wenn sie sich selbst die Klinge an die Ader setzen, sind wir so frei, sie durchzuziehen. Nochmal deutlich: Wir verhindern nicht, dass sie pünktlich abreisen. Wir verhindern lediglich, dass sie zu irgendwas fähig sind, sobald sie ankommen. Ziel ist es, dass wir der Krone eine deutliche Botschaft schicken: Wir mögen vielleicht hier unten sein, aber unser Arm reicht sehr viel weiter, als ihr denkt!“

Nach der ersten Besprechung zerstreute sich die kleine Gruppe. Servatius wollte sich nicht länger in der Enge einpferchen lassen und gedachte frische Luft zu schnappen - wobei Eloen ihm Gesellschaft leisten wollte. Dass dem Magier in ihrer Gegenwart nicht unbedingt wohl war, konnte man ihm bestens an der Stirn ablesen, doch die reine Höflichkeit eines Zirkelmitgliedes verbot ihm, es ihr zu verwehren. Etwas, worauf sie unzweifelhaft spekuliert hatte. Entsprechend siegreich lächelnd ließ sie sich nach draußen geleiten.

Zunder und Tawnie stritten. Um irgendetwas. Offenbar wollte der Goblin irgendwelche Chemikalien in seine Bomben einrühren, die der Goblindame einfach zu instabil und gefährlich waren. Es war bemerkenswert, wie laut und schrill so kleine Wesen streiten konnten. Ximasxi dagegen zog es vor, Jalil beim Kragen zu packen, sich zu entschuldigen und den Südländer etwas abseits zu ziehen.

Wie wenig begeistert sie war, brauchte sie ihm nicht sagen. Ihr bohrender Blick verriet mehr als nur das. Doch nicht das war es, was ihr Sorgen bereitete. Genau genommen, gab es dafür nun wirklich genug Gründe! Keiner von denen war in der Gilde. Keiner von denen verstand sich auf die Codes oder Zeichen der Diebe, die Mehrheit wusste sicherlich nicht mal, wie man ordentlich schleichen musste. Um ganz Samara herum, also auch im Süden, war ein gewaltiges Feld. Groß, grün und völlig ebenerdig. Man konnte in einer Vollmondnacht genau so weit sehen wie bei Tag! Vermutlich würden sie zumindest diesbezüglich Glück haben. Morgen wäre Neumond, schlimmstenfalls würden sie also im Sternenlicht operieren müssen. Aber das machte nun wirklich gar nichts besser.

Da gab es immer noch einen Magier. Und Panaver.

„Ich wollte sowieso mit dir reden, Natti“, erklärte der Lockenkopf und blickte ungewohnt ernst drein, während er nochmals einen Blick zurück warf. Eloen schien verschwunden, Servatius ebenso und das kleine Pärchen hörte man noch immer deftig zanken. „Hör mal, wegen… wegen den Leuten. Eloen ist von der Assassinengilde, wie du dir sicher denken kannst. Die Beziehungen sind in letzter Zeit ziemlich… na sagen wir, ‚angespannt‘. Sie haben Angst, wir würden zu schnell erstarken und auf den Trichter kommen, sie nicht mehr zu brauchen. Oder neue Regeln diktieren wollen. Außerdem haben sie noch nicht ganz verkraftet, was beim Umsturz passiert ist. Die Assassinen hatten alles auf die Anführerin der Drachenzähne gesetzt. Aber statt Shandra - das ist die neue Piratenkönigin -, also statt sie zu überbieten, hat sie sie gewinnen lassen und direkt im Anschluss versucht, sie einfach zu töten. Dabei ist sie wohl am eigenen Gift ziemlich elend krepiert. Und wir haben uns sofort an den Sieger gewendet. Eloen darf auf keinen Fall irgendwas passieren. Servatius genauso wenig. Ich traue diesem verdammten Magier nicht. Mein Bauchgefühl sagt mir, der führt was im Schilde. Aber Aedan hat ihn mitgeschickt, es gibt irgendeinen Handel, von dem ich nichts erfahren habe. Wende ihm nicht den Rücken zu, hörst du?“ Fast war es ja rührend, wie sich der Chaot plötzlich um seine Kollegin sorgte. Am Ende, so schien es, standen sich Gildendiebe doch immer noch näher, egal wie wenig sie einander leiden konnten, als alle anderen. Sie arbeiteten hier auf unsicherem Terrain, sehr überstürzt und mit allerhand Kuriositäten, die Spezialisten ihres Faches sein sollten.

Ein Zurück aber gab es nicht. Jalil hatte klar gemacht, was passieren würde, sollten sie Scheitern. Das Aufgebot war zu groß, sie würden Sundergrad vielleicht nicht in der ersten Welle einnehmen - aber sie würden so viel Schaden anrichten und so viel Blut vergießen, dass spätestens eine zweite Welle, die sicherlich käme, alles hinfort fegen würde. Eine unbekannte Zielperson, Urthada, drei separate Ziele, sie würden sich darauf einlassen und es irgendwie händeln müssen. In Ximasxis Gedanken formte sich bereits langsam ein Plan, wie sie vorgehen würden. Trotz Jalils Vorschlag behagte ihr die Idee von drei Gruppen nicht. Weder wollte sie Eloen allein los schicken, noch ihrem Begleiter zutrauen, den Magier zu eskortieren oder das Pärchen zu führen. Nein, am besten wäre es wohl, wenn der Lockenkopf ihren Rückzug absicherte und sie sich mit den vier anderen zum Lager begab. Dort würde sie sie hinein schleusen, Gruppe für Gruppe, und wieder zurück bringen. Sie bräuchten ein Versteck. Vielleicht eine größere Unebenheit im Boden, eine Kuhle, ein Graben, irgendetwas, worin sie sich bei Nacht würden verstecken können.

Nach einigen Minuten, in denen die beiden ihre Gedanken ausgetauscht hatten, kehrte Eloen zurück. Die Miene ernst, schritt sie ohne zu rennen, jedoch mit einer gewissen Eile auf Ximasxi zu. „Wir müssen verschwinden! Wachen kommen und das nicht zu knapp!“

„Wo ist Servatius?“ verlangte der Tiefling sofort zu wissen. Eloen jedoch zuckte mit den Schultern und erklärte, sie habe ihn aus den Augen verloren - und nur Sekunden darauf eilte der Magier durch die Hauptpforte herein. „Wir müssen sofort weg von hier, Wachen kommen!“ wies das Zirkelmitglied an. Misstrauisch verengte die Gildendiebin die Augen zu dünnen Schlitzen, doch natürlich stand ihm nicht auf die Stirn geschrieben, dass er sie verraten hatte. Zumal es dann wirklich dumm gewesen wäre, hierher zurückzukehren. „Wir verschwinden, los!“ Doch da ertönte bereits eine schmerzlich bekannte Stimme vor dem Tor…

 

Wenige Minuten zuvor.

„Es ist so weit!“ keuchte der Soldat, kaum dass er das kleine Zelt für die Führungsoffiziere betreten hatte. Kaum die Worte vernommen, sprang ein dunkelhäutiger Offizier auf und griff mit einem Wisch seiner Pranke sowohl Schwertgurt als auch Helm vom Tisch. Oh wie hatte er auf diesen Satz gewartet, all die Tage über! „Trommelt alle Männer zusammen, Treffen in zwei Minuten, los los los!“ befahl er und scheuchte den ohnehin völlig außer Atem geratenen Laufburschen weiter. Während der die wenigen, tiefen Atemzüge bereuend loshastete, um die Truppen zur Bereitschaft aufzurufen, schnallte Kommandant Panaver Urthada seine Waffe fest und setzte den Helm auf seinen blanken Schädel.

Vor Tagen schon hatte ihnen ein Vöglein gezwitschert, dass Saboteure aus Sundergrad auf dem Weg nach Norden waren, um die Heersammlung zu stören. Wieder und wieder hatte Offizier Urthada den Kommandanten der Samaraner Stadtwache ersucht, die Einreisekontrollen massiv zu verschärfen und ihm zu unterstellen. Als das scheiterte, verlangte er, wenigstens am Südtor eingeteilt zu werden, doch auch das verweigerte man ihm - mit der Begründung, man kenne seine Methoden nur zu gut und wolle Händler und Reisende, die immerhin das Kapital der Stadt ausmachten, nicht seiner Schikane aussetzen.

Man ignorierte völlig, was er vorbrachte. Er stammte aus Sundergrad. War in diesem Pfuhl groß geworden. Hatte dort um sein Leben gekämpft. Er hatte Jahre und Jahrzehnte damit zugebracht, das Ungeziefer dieser Stadt kennen zu lernen, es zu jagen und zu zertreten! Niemand sonst würde einen Spion oder Saboteur so gut erkennen können wie er, er hatte einfach ein Gespür dafür, verdammt! Doch niemand hörte zu. Es interessierte den Kommandanten nicht und die Krone zu kontaktieren… nein, das wäre falsch. Vor allem, da er nur auf dem Papier selbst Kommandant war. Es hatte noch keine hochoffizielle Beförderungszeremonie gegeben, die sollte im zurückeroberten Sundergrad stattfinden. Und solange er ‚nur‘ Offizier war, konnte er sich nicht gegen den Kommandanten der Stadtwache von Samara behaupten. Dieser hatte Weisungsbefugnisse, also verhängte Urthada in seinem Lager knapp außerhalb der Stadt eine völlige Nachrichtensperre. Nach Samara wurde nur noch das weitergegeben, was unbedingt notwendig war. Je weniger der Kommandant wusste, umso besser - das ließ Panaver die Freiheit, zu handeln, wenn es erforderlich wurde.

So wie jetzt. Er hasste es, von solchem Abschaum abhängig zu sein. Verräter waren schon eine Klasse für sich. Niemand mochte sie, sie waren vor, während und nach ihrer Arbeit stets in Gefahr, verfolgt zu werden, doch jeder bediente sich nur zu gerne ihrer Fertigkeiten und Möglichkeiten. Das schmälerte jedoch nicht Urthadas Abscheu gegen solch wertloses, rückgratloses Pack.

Wie erwartet und befohlen, stand ein Dutzend seiner Männer bereit, gerüstet und bewaffnet mit Schwertern, um dem Hinweis nachzujagen. Oder besser gesagt: Dort hätte ein Dutzend stehen sollen. Stattdessen waren es elf und das mochte dem Befehlshaber so gar nicht gefallen. „Wer fehlt?“ blaffte er ungehalten.

„Friedrichs, mein Herr. Er… schlief noch und-“ abrupt hielt der Soldat den Mund, als der Sundergrader ihn anstarrte. Ein Blick, der eine Alte an Herzversagen hätte sterben lassen können und sicherlich schon so manchen Zeugen geschwätzig gemacht hatte! Darin verborgen lag die Drohung, beim Namen seiner Majestät nur ja nicht auf die Idee zu kommen, ihn anlügen zu wollen. Solidarität mit Kollegen hin oder her!

„Friedrichs!“ brüllte Panaver und ein junger Blondschopf mit reichlich zerzaustem Unterhemd eilte daher, in aller Hast die Schnallen seines Panzers festzurrend. „Schwert!“ schrie sein Kommandeur völlig außer sich, das die anderen elf Mann zusammen fuhren, als hätte der Blitz sie getroffen. Friedrichs dagegen tastete seinen Laufschritt bremsend an die Flanke und kehrte sofort hastig um. Oh den Schwertgurt mit der Scheide hatte er sich umgebunden, in der Tat - nur die Klinge darin fehlte. Als die Waffe endlich war, wo sie hatte sein sollen, reihte er sich rasch ein. Doch noch immer fehlte etwas, worauf ihn sein Nachbar hinwies. „Mann, dein Helm!“ versuchte der Wächter neben ihm zu mahnen, doch Urthada entging nichts.

„Maul dahinten! Wenn ihm der Kopf abgeschlagen wird, ist es seine Schuld, wir verschwenden keine Zeit mehr! Abrücken, los los los, Laufschritt!“ Die kleine Kompanie verließ in aller Eile das provisorische Lager und Richtung Südtor. Als sie die Stadtmauern passierten, stellte Jalil Ximasxi gerade die Mitglieder ihrer kleinen Truppe vor. Panaver jedoch wusste bereits, wohin er musste. Ein Lagerhaus, so war ihm gesagt worden. Im Grunde war ihm egal, woher die Information stammte. Irgendein Soldat hatte irgendeinen Draht zu irgendeinem Spion oder wie auch immer das zusammenhängen mochte - die Umstände waren völlig belanglos! Wichtig war, diese Brut von Verrat und Sabotage sofort und mit allem Nachdruck im Keim zu ersticken.

Ein kräftiger Stiefel trat wenig später gegen die mächtige Pforte der Lagerhalle. „Im Namen seiner Majestät, öffnet die Pforte!“ verlangte der Befehlshaber und wies schon im selben Atemzug seine Männer an, sich aufzuteilen. Vier zur Rückfront, der Rest durch das Haupttor. Man würde niemandem die Chance geben, zu flüchten, oh nein. Wenn diese Ratten wirklich aus Sundergrad stammten, dann hatten sie sie vermutlich schon eine halbe Meile gegen den Wind gewittert und ohnehin genug Vorsprung.

Mit Wucht landete der Stiefel erneut am Tor. Drei Tritte, dann barst der einfache, morsche Holzriegel dahinter und gab den Eingang frei. Wie Ameisen fluteten die Männer die große Halle, zeitgleich zu den Wächtern, die am seitlichen Ende des Gebäudes durch den kleinen Nebeneingang einbrachen. Rasch waren alle Räume gesichtet, alle Gänge gesichert. „Hier ist niemand mehr!“ bekundete einer der Männer, als er in der großen Halle auf Urthada zu marschierte. Der dagegen hielt zornigsten Blickes ein Seil in der Hand und starrte zu einem Dachbalken hinauf. Seine Augen folgten dem Gebälk hinüber zu einem kleinen Holzsteg und von dort zu einem offen stehenden Fenster. „Sie können noch nicht lange entkommen sein. Sollen wir suchen lassen?“

Panaver jedoch verlor einen kurzen Augenblick die Nerven. Seine Wut hinaus schreiend, verzerrte er das Gesicht zu einer grotesken, furchteinflößenden Maske, ehe er sich wieder beruhigte und tief durchatmete. Suchen lassen? Ganz sicher nicht. „Wir sind hier nicht die Stadtwache. Und deren feige Bastarde trauen sich nicht mal in dieses Viertel. Das ist die verdammte Armen- und Bettlerstadt, hier werden wir nie irgendwen finden! Nein. Wir rücken ab und warten, bis unser Vöglein das nächste Mal singt... und Soldat?“

„Ja, Kommandant?“ hakte der Wächter nach, als er bereits die Befehle an seine Kollegen hatte weitergeben wollen. Dabei schwante ihm bereits Böses, als er das finstere Gesicht des Offiziers sah.

„Dieser nutzlose Dummkopf… Friedrichs, ja? Sobald wir zurück sind wird er ausgepeitscht. Zehn Hiebe. Für jedes Widerwort noch zwei mehr.“

Der Soldat traute seinen Ohren nicht. Er hatte gehört, dass Urthada grausam war. Unnachgiebig, gnadenlos. Aber er hatte geglaubt, das gelte nur für die Verbrecher, die er jagen würde. Hier nun stand er, wurde blass und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte doch nicht zu diesem wirren blonden Zausel von vielleicht zwanzig Jahren gehen und ihm ins Gesicht sagen, dass er heute Abend mehr Blut verloren haben würde, als in seinem restlichen bisherigen Leben zusammen! „A-Aber… aber Kommandant-“ wollte der Soldat anheben, doch Panaver hob lediglich die Hand und wies ihn darauf hin, dass er sich gleich dazu gesellen könne, wenn er nun Fürsprache für seinen Waffenbruder erheben wollte.

Da wurde er still, schlug den Blick nieder und trat ab.

Panaver hingegen, endlich wieder für sich, starrte zur Decke hinauf, den Kopf in den Nacken gelegt. Es war fürchterlich hoch. Nirgendwo Leitern, keine Treppen, nichts. Man musste schon ein halber Affe sein, um dort hinauf zu kommen. Das Merkwürdige war nur… er glaubte am Holz Kratzspuren zu sehen. Aber das war unmöglich. Völlig ausgeschlossen, das kleine Flittchen war in Sundergrad verbrannt, wie so eine Brut es auch verdient hatte!

„Abrücken!“ befahl Urthada und kehrte selbst um. Er gab Befehl aus, den Besitzer der Halle ausfindig zu machen und ihn notfalls mit Folter auszuquetschen, wer die Halle gekauft hatte. Vielleicht ergäbe das ja eine Spur, der sich folgen ließe. Derweil kehrte er mit elf Männern zurück ins Lager, von denen am Abend einer kaum noch eine Position fand, in der er liegen konnte, ohne vor Schmerz wimmern zu müssen…

 

Der Tag darauf begann unangenehm früh. Das mochte daran liegen, dass die Sonne direkt in ihre klägliche Unterkunft fiel. Daran, dass auf den Straßen des Armenviertels bereits fleißig gebettelt wurde. Oder einfach nur daran, dass Ximasxi sich unwohl fühlte, im selben Raum mit Fremden oder überhaupt irgendwem sonst schlafen zu müssen. Doch mehr als diese kleine Hütte hatte sich auf die Schnelle nicht auftreiben lassen. Sie war über alle Maßen baufällig, heruntergekommen, vor allem aber war sie leer. Das Tieflingsweib hatte keinen Zweifel daran zugelassen, was notwendig war. Ihre Lagerhalle wirkte plötzlich geradezu luxuriös, das mochte sein, doch das hier musste nun genügen. Die halbe Nacht hatte sie sich damit um die Ohren geschlagen, über die Hintergründe zu rätseln.

War Servatius der Verräter? Hatte er etwa so überaus rasch die Wache informieren können? Nein, unmöglich. Panaver war der südlichen Garnison zugeteilt worden, gewiss würde er dort sein. Der Weg bis zum Lagerhaus wäre einfach zu lang. Es sei denn, der Unterschlupf war verraten worden, bevor die Gäste die Stadttore passierten. Das warf jedoch ebenso Fragen auf. Jalil hatte das Lager gemietet. War er nun also der Verräter? Er kam als erster in die Stadt, gab Bescheid, wann die Wache wo zu sein hätte, traf sich mit ihr, überzeugte sie, holte die anderen ab… nein. So ungern sie es zugab, aber obwohl er früher die  Gilde zu verkaufen versucht hatte, traute sie ihm das nicht zu. Zum einen war Jalil dafür einfach nicht konsequent und weitsichtig genug. Es hatte einen guten Grund, warum Aedan ihr und nicht ihm das Kommando übertragen hatte. Er konnte nicht mal seinen Tagesablauf planen, geschweige denn eine Intrige gegen den Versuch, die Gilde zu retten. Und der Magier? Gerne hätte sie ihren Späher gefragt, wann genau die anderen eigentlich über das Lagerhaus und den Treffpunkt informiert worden waren. Doch Jalil war bereits unterwegs, um sich nützlich zu machen. Schon gestern Abend war er verschwunden, dem südlichen Lager entgegen.

Seither hatte sie das Gefühl, die Dinge würden ihr über den Kopf wachsen. Die ständigen Streitereien zwischen Zunder und Tawnie waren nervenaufreibend, Servatius studierende Blicke sogar noch um Längen schlimmer. Als würde er ihre Anatomie mit dem gleichen Interesse betrachten, mit dem er das Messer griff und sich das Innenleben eines Frosches ansah. Gerne hätte sie ihm dafür die Augen ausgestochen oder ähnlich appetitliche Dinge getan, doch wie hatte man ihr so schön gesagt? Ausgerechnet das laufende Kleidchen und das Spitzohr waren unentbehrlich.

Eloen dagegen… nun, die anfängliche Antipathie verschwand nicht einfach. Aber bemessen an Servatius hatte sie doch wesentlich lieber die Elbe um sich, vor allem aber… zwischen ihnen. Eloen war schmal gebaut, aber das genügte dennoch völlig, damit sie sich im Blickfeld dieses verdammten Zirkelmitglieds drapieren konnte.

Als sie an diesem Morgen erwachte, saß die Assassinin bereits neben ihr, an die Wand gelehnt und schälte mit einem kleinen Klappmesser einen Apfel, den sie sonstwoher hatte. Als sich die Gildendiebin aufrichtete, grüßte die Elbe mit einem kecken Lächeln. „Gut geschlafen, Prinzessin? Auch ein Stück? Sag mal… mir ist aufgefallen, dass du deinen Namen nicht sonderlich magst. Natti. Klingt auch merkwürdig, woher kommt der?“

Eigentlich völlig unwillig, irgendwelche Konversation zu betreiben, blickte sich die Gehörnte zunächst nach einem möglichen Grund um, eben das nicht zu tun. Doch alle anderen schliefen noch tief und fest - oder taten zumindest so. Die in diesem Gedanken zutage tretende, allzeit wachsame, ja fast schon paranoide Natur der Diebin schlug wieder um und widmete sich Eloen. Keine Namen, das war eine der Regeln gewesen. Dennoch saß ausgerechnet die Elbe hier und setzte sich darüber hinweg. Wieso? Was hatte sie davon? Misstrauisch verzog Ximasxi das Gesicht. Sie würde ihr einfach sagen, dass sie das einen Dreck anginge und sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte!

„Natternzunge. Ein Rufname, früher.“ Überrascht lupfte sogar der Tiefling die Brauen. Nun, also das war ganz gewiss nicht so gedacht gewesen. Nun jedoch, da es schon einmal heraus war, blickte sie sich abermals um und beschied, dass es wohl auch nicht den Weltuntergang bedeuten würde. Mit etwas Glück würde die Elbe auch endlich Ruhe geben, ihre Neugier war immerhin befriedigt und-

„Darf ich mal sehen?“ Einen Augenblick überlegte die Diebin, zog neuerlich Unwillen über ihre Miene, ehe sie vorsichtig die Zunge her vor streckte und zwischen ihre Lippen lugen ließ. Eloen dagegen lachte sie nicht aus oder begann sie schreiend ein Monster zu nennen, stattdessen kicherte sie auf eine fast mädchenhafte Weise. „Macht bestimmt Spaß, damit zu küssen. Wie heißt du denn wirklich? Muss ja nicht sein, dass ich dich mit einem Namen rufe, den du nicht leiden kannst.“

„Natti passt“, erwiderte Ximasxi unwillig und schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich noch immer vom Schlaf benommen. Vielleicht hatte Eloen ihr auch irgendwelche Drogen verabreicht, die sie gesprächig machen sollten…?

„Sie sind schon irgendwie niedlich, die beiden, oder?“ erklärte das Spitzohr und nickte auf den verwirrten Blick ihres Gegenübers hin in Richtung der zwei Kurzen, die eng umschlungen wirkten, als wären sie in einem ihrer lautstarken Dispute mitten im handfesten Schlagabtausch einfach eingeschlafen. „Um den da mache ich mir allerdings Sorgen. Ich traue ihm nicht. Weißt du, was für ein Handel da geschlossen wurde? Der Zirkel… hat es nicht so damit, Wort zu halten. Nicht, wenn es zu seinem Nachteil gereicht. Wir sollten vorsichtig sein. Hm. Aber keine Angst, ich halte dir den Rücken frei. Wäre ja schade, sollte irgendein Zauber diesen hübschen Anblick ruinieren.“

Schon wieder starrte sie sie so merkwürdig an! Sie sollte verdammt nochmal endlich damit aufhören… diese ständigen Scherze Eloens könnten sonst irgendwann noch zu einem Unfall der Elbe führen!

Die Gildendiebin richtete sich zur Gänze auf, schlug den Unwillen nieder und die lästigen Stimmchen in ihrem Kopf davon, ehe sie sich aufraffte, den Tag zu beginnen. Es galt immerhin einiges zu erledigen. „Los, hoch mit euch“, wies sie ohne Rücksicht ihre Truppe an. Die unerwartet kräftige Stimme weckte zuerst Servatius, der kurz zusammen zuckte, ehe er sich erhob und die Glieder streckte.

„Was für eine reizende Art, geweckt zu werden. Sowas wie ihr gewinnt bestimmt jeden Beliebtheitswettbewerb, nicht wahr?“ krächzte der noch etwas verschlafen drein schauende Magier und warf dem Tiefling ein gehässiges Lächeln zu, das lediglich aufgrund des Umstandes keine Folgen hatte, dass sich Tawnie ebenfalls erhob und einmischte. „Ach Klappe da drüben. Sie hat ja Recht, je früher wir anfangen und so. Holzkopf, komm schon, hoch mit dir! Zunder, ich warne dich… ich beiß dich ins Ohr!“ Einen halben Lidschlag später war auch der Goblin putzmunter und strich sich, ein Stück von seiner Freundin abgerutscht, über die fledermausartigen Auswüchse, als wolle er prüfen, ob sie das die Nacht vielleicht schon einmal probiert hatte.

„Wir erledigen heute die Einkäufe und machen uns an die Vorbereitungen. Also, was braucht ihr?“ Ximasxi selbst benötigte für sich herzlich wenig. Sie hatte ihre Dolche, ihren Würgedraht, ihre anderen Drähte und Dietriche, sie hatte alles, was sie benötigte. Der Rest dagegen schien sich immerhin schon einmal Gedanken darum gemacht zu haben, was erforderlich wäre - das kam ihr entgegen und sparte Zeit. Eloen musste zu einer Kräuterhändlerin oder jemandem, der exotische Waren führte, um alle Zutaten für ihre Gifte zu bekommen. Die Gildendiebin vermerkte das gedanklich ebenso wie den Hinweis des Magiers, er wolle sich nach ein paar Zutaten für alchemistische Rezepturen der arkanen Richtung umsehen. Vielleicht könne er ja etwas mischen, das ihm die Arbeit erleichtern würde. Tawnie schließlich benötigte lediglich eine Unterlage, auf der sie zeichnen und schreiben könnte und Zunder stellte den Großteil der Liste, indem er irgendwelche merkwürdigen Chemikalien und Gefäße aufzählte, von denen im gesamten Raum außer seiner Gnomfreundin offenbar niemand sonst etwas am Namen erkannte oder verstand. Entsprechend beruhigt war die Gehörnte, als Tawnie auch erklärte, sie würde Zunder begleiten und beaufsichtigen. Zufrieden war der Goblin damit natürlich nicht und maulte auch schon wieder kräftig herum, doch Ximasxi war es lieber, wenn ihre Händler und Hehler in einem Stück und die Waren in ihren Läden unbeschädigt blieben. Entsprechend dankbar war sie der kleinen Frau, auch wenn sie das nicht aussprach. Es genügte offenbar ein etwas längerer Blickwechsel zwischen beiden, ehe die Gnomin ein breites Lächeln auflegte und nickte.

„Dann los, ich weiß, wo wir alles finden sollten.“

Kaum eine Stunde später streiften sie über einen großen Marktplatz im Händlerviertel, der mehr war, als sich auf dem Platz selbst tummeln konnte. Standen hier nur die Buden, Läden und fahrbaren Karren, verbargen sich in den Häusern die dauerhaften Geschäfte. Diese Mischung aus Mietsräumen und Kleinkrämern erstreckte sich jedoch auch jenseits des eigentlichen Marktplatzes in jede einzelne Gasse und Straße hinein, die von dort abging. In der Stadt gab es genug Orte, an denen Kaufkraft auf Warenangebot traf und sich rege austauschte, doch das hier war einer der größeren Märkte. Ausgerechnet hierher hatte die Diebin ihre Meute geführt, weil Hehler in der Menge besser abtauchen konnten, weil es hier einen Händler für magischen Schnickschnack gab, mehr Giftzutaten als Nahrungsmittel und weil hier einer der wenigen nicht völlig wahnsinnigen Goblins sein Geschäft hatte, die Ximasxi kannte.

Die zwei Kurzen waren auch die Ersten, die sich ausklinkten und in jenem Laden verschwanden, als der Tiefling festgelegt hatte, wo und wann sie sich wieder treffen würden. Zurück blieben die Elbe, der Magier und sie selbst. Beide kündigten an, sie würden nach ihren Waren schauen wollen und beide hätte die Diebin eigentlich gerne begleitet… weil sie keinem von beiden traute. Bei dem Goblin und seiner Freundin war sie inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass der Grünling wahn- und leichtsinnig war, aber abseits der Gefahr für sich und seine Umwelt, die von Tawnie bisher bestens gebändigt wurde, nun wirklich keine Verräterqualitäten besaß. Die zwei waren harmlos.

Eloen dagegen bereitete der Gehörnten noch immer Magenschmerzen und der verflixte Magier sowieso!

„Halt. Ich komme mit“, entschied sich die Diebin schließlich an Servatius gewandt, da lachte das Zirkelmitglied herzlich auf und schüttelte den Kopf. „Aber ganz gewiss nicht. Die Krämer, bei denen ich zu kaufen gedenke, würden sich von eurem Anblick beleidigt fühlen und ich möchte ungern mehr zahlen, als nötig wäre. Zudem, wie genau glaubt ihr mir denn helfen zu können? Genau. Also kuscht euch und geht mit eurer kleinen Freundin Blümchen pflücken.“ Das reichte! Nein, wahrlich, sie hatte sich bemüht. Sie hatte versucht, seine Arroganz zu ignorieren, seine herablassende Art zu schlucken, aber es reichte einfach. Die Krallen zu einem todbringenden Schlag quer über sein Gesicht gespreizt, schritt sie rasch auf ihn zu, angespannt, während er lediglich weiterhin lächelte - obwohl er sie kommen sah. Wohl hatte er längst irgendwelche Zauber vorbereitet, als Eloen Ximasxi am Handgelenk packte und zurückzog.

„Nicht! Natti… das ist er nicht wert. Daraus wird zu viel Ärger. Für dich, die Leute hier, die Gilde. Wenn du ihn jetzt angreifst, wird jeder Wächter in einem riesigen Umkreis auf uns aufmerksam, wird unsere Beschreibung haben und wir können das alles vergessen!“ Sie mochte es nicht, wenn man sie ungefragt betatschte. Sie mochte es ganz grundsätzlich nicht, angefasst zu werden, eigentlich war egal, von wem! Wütend riss sich der Tiefling von Eloen los, funkelte sie stattdessen zornig an und fauchte dem Magier zu. Auf der rege belebten Straße brachte das allzu tierische Geräusch einige Passanten um sie herum dazu, überrascht die Häupter zu drehen und ein Stück abzurücken. Selbst in Samara waren Tieflinge selten, aber die Einwohner der Stadt waren gegenüber ihrem Anblick zumindest meist ein Stück weit aufgeschlossener als der Großteil des restlichen Landes. Allerdings waren unter jenen Passanten auch ein paar Reisende, die eben diese Toleranz nicht in die Wiege gelegt bekommen hatten. Sie taten einen Satz fort von der kleinen Dreiergruppe und beschleunigten rasch ihre Schritte.

„Dann geh doch!“ fauchte die Diebin. Mit Eloen an ihrer Seite, verschwand sie in die andere Richtung. Dennoch herrschte auch zwischen den beiden Frauen eisigste Stimmung. „Ich weiß, warum du mitgehen wolltest“, begann die Assassinin, während sie auf den ersten Stand zusteuerten, „Mir gefällt das auch nicht. Vermutlich verrät er uns gerade ein zweites Mal. Wir sollten auf der Hut sein, aber mehr können wir noch nicht tun. Wir brauchen etwas Handfestes.“ Wunderbar! Etwas Handfestes? War sie cleveres kleines Ding da ganz alleine drauf gekommen? Sie hätte diesem Tunichtgut insgeheim folgen können, wie ein zweiter Schatten, aber nein… stattdessen stand sie hier und musste sich anhören, dass sie etwas Handfestes bräuchten!

Lächerlich.

Einige Läden später hatte Eloen alles beisammen, was sie benötigte und auch Tawnie und Zunder hatten sich am Treffpunkt eingefunden. Nur vom Herrn Magier fehlte natürlich wieder jede Spur, was das Tieflingsweib fast vor Zorn schreien ließ. Wie konnte man nur so unzuverlässig sein, so großspurig und zugleich so unprofessionell! Das war kaum zu ertragen, wie sollte sie denn mit so etwas arbeiten können?! Als sich von ihm noch immer keine Spuren abzeichneten, beschloss Ximasxi, mit der restlichen Gruppe im Schlepp den Laden aufzusuchen, an den sie ihn verwiesen hatte.

Die Hexerkiste befand sich in einer der Seitenstraßen und war allzeit gut besucht. Das lag nicht nur daran, dass sie der größte Laden in Samara war, der mit solchen Waren handelte, sondern wohl vor allem, dass der Händler ein einfacher Bürger des Mittelstandes war, der mit kleineren Zutaten und Artefakten handelte, die allen zugänglich gemacht wurden. Er verkaufte keine Schriftrollen, die einen Jahrhundertsturm über Samara entfesseln würden, sondern eher kleine Halsketten, die Müdigkeit bekämpften, Ringe, die der Angetrauten durch Farben anzeigten, in welcher Stimmung ihr Gatte war oder Pulver, die das Feld über die natürlichen Maße hinaus fruchtbar machten. Natürlich kosteten solche Spielereien ungeheuer viel, weshalb sich gerade Bauern, die sich das hätten leisten müssen, nicht in diesen Genuss kamen. Doch wenn ein Gutsbesitzer seinen Grund an eine Bauernfamilie abtrat, um sie dort arbeiten zu lassen und wohlwissend, dass die Felder schlecht waren, dann ging auch dergleichen über die Theke.

Ximasxi hatte den Laden fest im Visier, stand noch auf der anderen Straßenseite und betrachtete einen Augenblick, wer hinein ging und heraus kam. Kein Servatius jedenfalls. Auch durch die großen Schaufenster voller Warenauslagen konnte sie nichts und niemanden sehen, dessen Gestalt dem Magier gleich käme. Ob er überhaupt noch dort drinnen war? Gerade wollte sie den Schritt auf die Straße wagen und sich davon selbst überzeugen, als abermals die Elbe sie am Arm packte und zurück hielt. „Natti! Sieh!“ verlangte das Spitzohr und deutete mit einem subtilen Kopfnicken die Straße herab.

Bastard…!

 

„Mein Kommandant!“ keuchte der Soldat im Laufschritt, „Wohin gehen wir?“

Panaver antwortete nicht sofort. In Gedanken ging er den Plan noch einmal durch. Er hatte ja gewusst, dass das Vöglein sich wieder melden würde, er hatte es gewusst! Auf solches doppelzüngige Pack war eben Verlass, solange sie sich etwas erhofften! Inzwischen dürften seine Leute Position bezogen haben. Jede Gasse, jede Straße, jeder Platz und Hof wurde abgeriegelt. Niemand kam hinein… und ohne gute Kontrolle auch niemand heraus. Zugleich hatte er seine Scharfschützen auf einigen umliegenden Dächern höherer Gebäude Stellung beziehen lassen. Niemand führte ihn zweimal mit dem gleichen Trick an der Nase herum, verdammt!

„Zur Hexenkiste, angeblich sind sie dort!“ erwiderte der Befehlshaber nach einer Weile, als der Laden in Sichtweite kam. Mit diesmal nur sechs Mann Verstärkung trat er vor das Geschäft. Der Rest seiner fünf Dutzend Leute kreiste den Markt mehr und mehr ein und zog den Ring immer enger zu. „Ihr zwei, kontrolliert die Leute im Laden, ihr zwei, den Laden selbst. Wenn es Geheimtüren oder sowas gibt, will ich sie gefunden wissen! Und ihr kommt mit mir!“ Er wollte gerade mit seinen Männern eintreten, als ihm eine kleine Gruppe auf der anderen Straßenseite ins Auge sprang. Sie hatten sich in eine der Gassen zurückgezogen und wären fast kaum der Rede wert gewesen, doch… er erkannte die Lumpentracht. Aus Sundergrad. Das war typisch für das Bettlerpack dort. Bettler in Samara hatten seiner Ansicht nach ein anderes Erscheinungsbild. Ihre Kleidung war zerfetzt, abgewetzt, verdreckt und löchrig. Sundergrader Bettler trugen Flicken und verknotete oder vernähte Textilstreifen, Bahnen, die sie sich umschlangen und gröbere Tücher. Nur einen kurzen Moment musste er die Gruppe genauer anstarren, bis sich die Blicke kreuzten.

Unmöglich… du solltest tot sein…!

Ein einziges, wütendes Schnauben, als er sich auch schon abrupt losriss und auf die Gasse zuhielt. „Mitkommen!“ blaffte er noch und setzte schon in großen Schritten auf die Gruppe zu, die in diesem Augenblick zerfiel und tiefer in die Seitengasse flüchtete. Panaver besaß eine geradezu beängstigende Ausdauer und Kraft - niemand wusste das besser als Ximasxi, die sie schon in Aktion erlebt hatte. Seine Männer dagegen konnten schon bald nicht mehr mithalten. Während wieder und wieder auf gezischelte Befehle der Truppführerin eine Figur aus der Gruppe ausbrach und irgendwo verschwand - nichts, was Urthada veranlasst hätte, von dem Tiefling abzulassen - fielen seine eigenen Männer immer weiter und weiter zurück. Selbst das interessierte ihn nicht, es brachte ihn von der Treibjagd genauso wenig ab wie das Abbrechen des letzten Teils, einer dürren, hoch gewachsenen Figur. Nur noch er und das Scheusal - so hatte es zu sein, wie damals!

Du hättest tot bleiben sollen!

Unzählige Flüche, Verwünschungen und gallige Kommentare speiend, hielt er dennoch den Mund. Er musste atmen, kontrolliert. Der Vorsprung seiner Beute schrumpfte immer weiter zusammen. Sie war flink, das konnte sie ja ruhig sein, aber das hier war verdammt nochmal eine Stadt seiner Majestät, das war nicht Sundergrad, wo die Wache hoffnungslos überfordert war! Ximasxi sprang an eine Hauswand und kletterte behände herauf, ihre Krallen in den Stein schlagend. Unten angelangt, starrte der Offizier herauf, fluchte kurz und versuchte, abzuschätzen, wo sie wieder herunter kommen würde. Und das sie herunter kam, daran war kein Zweifel offen! Tatsächlich flogen ihr oben rasch so viele Bolzen aus Armbrüsten um die Ohren, dass es das Weib überaus zügig wieder in die Gassenschluchten hinab zog.

Unter einem hasserfüllten Aufschrei warf sich Urthada vorwärts, bekam die Diebin zu packen und brachte sie mit festem Griff um ihren Knöchel zu Fall. Ein Fuß landete in seinem Gesicht, Krallen wetzten über den Helm, zerfurchten ihn, doch Panaver war nicht mehr zu bremsen. Mit kräftigem Ruck zog er sie näher zu sich, ballte die Faust und schlug zu. Einmal, zweimal, dreimal. Die Diebin keuchte, versuchte sich zu befreien und gerade, als er ihr das verdammte, hässliche Gesicht einschlagen wollte, landete eine Ladung Straßendreck in seinem Gesicht. „Ah!“ entkam es ihm noch. Blinzelnd und reibend versuchte er, den Unrat los zu werden. Er kam wieder auf die Beine, sah noch eine verschwommene Gestalt davon jagen. Oh nein, so leicht entkommst du mir nicht, Scheusal!

Wieder setzte er sich in Bewegung. Sie war angeschlagen. Er hatte sie dreimal getroffen, sie musste angeschlagen sein. In eine weitere Gasse bog er ab. Wo er inzwischen war? Das wusste er selbst nicht. Aber die Gasse war lang… und leer. Er starrte nach oben, sah die Wände entlang, nichts. Nur eine Tür in der Gasse. Hastig schritt er heran, warf sie mit Wucht auf und platzte in die kleine Räumlichkeit hinein.

Irgendein Hinterhofladen, vermutlich zweifelhaft-legaler Natur. Sehr zu seinem Leidwesen starrten seine zornigen Augen auch prompt auf einen Bolzen, den man samt Armbrust auf ihn gerichtet hielt. „W-Was’n hier eigentlich los, hä?“ stammelte der Händler. Für sowas habe ich keine verdammte Zeit!

„Wo ist sie hin?“ verlangte der Kommandant zu wissen und tat mit finsterstem Gesicht einen Schritt auf den Händler zu. Der zuckte zusammen, legte aber die Armbrust sofort wieder an - und zielte höher, auf sein Gesicht. „Steh’nbleiben! Was soll’n das alles hier?! Da war gerade irgend so’n… so’n Ding, das hat irgendwas gefaselt… bei seiner Majestät, das konnte reden!“ Mit einem großen Satz duckte sich der kräftige Hüne unter dem Schuss durch, der sich unter einem überraschten Aufschrei löste, entging dem Bolzen und packte die Armbrust. Er entriss sie den offenkundig unfähigen Händen, packte den Händler beim Hemd und riss ihn von den Füßen. Ihre Schädel kollidierten auf schmerzhafteste Weise, ehe er den Krämer auf nächste Nähe anfunkelte.

„Wo ist sie?!“ zischte Urthada. Der Händler erklärte ihm jedoch, er habe sofort die Armbrust gezogen und sie verscheucht. Als der Befehlshaber erklärte, dass sie nicht draußen wäre, wies sein Gefangener ihn auf einen Kanaldeckel hin, der vor lauter Staub und Dreck wohl schwer zu erkennen war. Panaver warf den Burschen zu Boden und jagte, die Armbrust fallen lassend, wieder hinaus. Die Kanalisation, natürlich! Rasch war der Deckel gefunden und bei den Feuern der Niederhölle, er ließ sich unangenehm leicht bewegen. Sie war also in die Kanäle entkommen.

Die Ratte im Dreck, das passte.

Und sie lebte noch. Das Feuer hatte sie damals nicht verschlungen! Abermals schrie der Kommandant auf, vor Wut, vor Enttäuschung… vor Hass. Er würde sie finden und er würde sich für das bedanken, was sie ihm angetan hatte!

Die Jagd abbrechend, dauerte es fast zwei Stunden, ehe er zu seinen Männern zurückgefunden hatte. Die Hatz hatte ihn offenbar quer durch das gesamte Händlerviertel getragen, an den Ostrand dessen und damit nahe zum Bezirk der Elben. Allerdings war ihm völlig einerlei, wo er sich befand oder wie lange seine Rückkehr dauerte. Wichtig war nur, ob irgendeiner seiner Männer mehr Erfolg vorzuweisen hatte… und natürlich war dem nicht so.

Nutzloses Pack!

 

„Los!“ heischte Ximasxi noch, dann stob ihre Gruppe bereits in aller Windeseile tiefer in die Gasse hinein. „Zunder, Tawnie, links!“ Das Pärchen verschwand hastig in eine Seitengasse, verbarg sich hinter Müllbergen und blieb ungesehen und unberührt. Nur noch die Eloen und das Tieflingsweib rannten um ihr Leben.

„Natti,“ hob die Elbe mit einem Lächeln an - ihr zumindest schien das alles ein wunderbar unterhaltsames Spiel zu sein, „folge der Elster, ich lotse dich!... Vertrau‘ mir, ich wurde hier geboren!“ Sinnvoll erschien dem Tiefling deshalb noch lange nicht, was das Spitzohr ihr vorschlug. Dennoch ließ sie sich, wenn auch widerwillig, auf Eloens Vorschlag ein und hastete durch die Gassen, ziellos, bis ein samtschwarzer Vogel wenige Meter vor ihr durch die Gasse segelte. Wussten die Götter, wo Eloen war oder wie sie das Tier gefügig hielt, die Diebin stellte es sich zumindest schwierig vor, die Kontrolle zu behalten, Anweisungen zu geben und zeitgleich selbst zu flüchten. Sie konnte ja schlecht wissen, dass das Spitzohr sie eine gehörige Zeit lang in Kreisen führte und von dem zornigen schwarzen Muskelberg hinter sich leicht abgelenkt, bemerkte Ximasxi diesen Umstand auch nicht.

Die leidige Treibjagd fand erst ihr Ende, als das vermaledeite Federvieh in einer langen, schmalen Gasse auf dem Boden hockte und im Dreck herum pickte. Im Dreck vor einer Ladentür. Hastig jagte die Gildendiebin hinein und sah sich prompt einer Armbrust gegenüber.

Nur wenige Augenblicke später erging es Kommandant Panaver Urthada ebenso, nur, dass der sich das nicht gefallen ließ und schließlich mit über alle Maßen frustriertem Blick in den offenstehenden Kanalzugang seine Verfolgung abbrach… während der Krämer in seinem Laden dreimal auf die Bodendielen trat. Eine kleine, kaum zu erkennende Luke tat sich auf und Eloen kletterte von Ximasxi gefolgt wieder herauf. „Du hast was gut bei mir, Jasper!“ Der Krämer jedoch lachte herzlich auf, strich sich mit der schwieligen Hand über Bauch und Gesicht - und zuckte bei Letzterem unter einem gezischelten Schmerzlaut zusammen. „Eine ganze Menge sogar, würde ich sagen!“ ächzte er und trat zur Tür seines Ladens. Nur ein Blick hinaus genügte, um ihm aufzuzeigen, dass keine Gefahr mehr bestand. „Na los, raus mit euch. Und denkt immer dran: Bessere Gewürze bekommt ihr nirgendwo!“

Schon seit geraumer Zeit hatte sich ein semilegaler Drogenhandel etabliert. Es gab ihn quasi überall, man musste nur wissen, wo man zu suchen und nach was man zu fragen hatte. Viele Händler dieser Branche gaben ihre Waren als Gewürze aus, da sie durchaus nach irgendwas schmeckten, worauf vielleicht irgendwer Appetit hatte. Dass sie, natürlich rein zufällig, auch noch andere Wirkungen entfalten konnten, wenn man sie - oh Schreck, wie konnte man nur auf solche Gedanken kommen?! - falsch zu sich nahm, nun, das war ja erst einmal nicht das Problem derer, die diese Gewürze vertrieben.

Immerhin konnte man genauso gut eine Häkelnadel zu einem Fechtkurs mitbringen oder einen Stuhl als Tisch verwenden. Was die Kunden mit ihrer Habe taten, ging ja den nichts an, der sie ihnen gegen Bares zur Verfügung stellte. Ximasxi und Eloen zumindest zogen sich wieder in Richtung Markt zurück. Bald schon waren sie dort angekommen und fanden ihn ruhiger vor, als sie ihn in Erinnerung hatten. Das mochte daran liegen, dass sämtliche Geschäfte, Stände und Besucher mit unbequemen Fragen belästigt und durchsucht worden waren. Nach einer solchen Aktion stellte sich immer eine gewisse Flaute ein, die für Urthada noch ein mehr als unangenehmes Gespräch mit dem Wachkommandant Samaras nach sich ziehen würde. Doch für die Gildendiebin und ihre spitzohrige Gesellschaft war nur ausschlaggebend, dass sie das kleine Pärchen wiederfanden… und den Magier.

Der stand mitten im Zentrum an einem Stand und besah sich in aller Seelenruhe die Auslage der Früchte. Er schien tatsächlich überrascht, als sie hinter und neben ihn traten, bewusst alle Fluchtwege blockierend. „Was machst du hier?“ wollte Eloen wissen, noch bevor die eigentliche Kommandantin die Stimme heben konnte. Servatius dagegen legte ein charmantes Lächeln auf und reichte ein paar Münzen herüber.

„Nun, falls ihr euch recht erinnert: Wir hatten kein Frühstück. Ein weiterer Beweis der Misshandlung durch unsere geschätzte Befehlshaberin hier, also gedenke ich diesem Umstand Abhilfe zu schaffen“, erwiderte das Zirkelmitglied weiterhin unbeirrt lächelnd. Ihn beeindruckte nicht im Geringsten, wie viel Misstrauen und Feindseligkeit ihm entgegen schlugen. Selbst die Frage, weshalb er dann so überrascht wirkte, nötigte ihm nicht einmal ein verräterisches Zucken ab. „Meine Teuerste, gerade noch wimmelte es hier von Wachen und ich kann mir denken, wen die suchten. Ich hätte mir mein Frühstück geholt und wäre zum Haus zurückgekehrt. Damit, dass ihr hier wieder auftauchen würdet, habe ich dagegen nicht gerechnet. Aber es freut mich zu sehen, dass ihr es alle geschafft habt, zu entkommen.“

Das war ja wohl kaum zu fassen! Er log. Ximasxi spürte es, sie ahnte es, alles in ihr schrie ihr diese banale Erkenntnis entgegen, doch… sie konnte ihm ja schlecht auf offener Straße die Kehle aufreißen. Zumal es noch immer den Plan gab, in welchem er irgendeine zentrale Rolle spielen sollte und dann war da auch noch Aedans Befehl. Servatius durfte nichts zustoßen. Er war unentbehrlich. Gerade wollte sie anheben, als ihr neuerlich die Elbe zuvor kam. Diese Zufälle, dass das Spitzohr ständig zuerst einsetzte, behagten ihr genauso wenig…

„Darüber reden wir noch, Freundchen!“ zischte die Elbe mit grimmigem Ausdruck auf den Zügen.

… andererseits war Eloen gar nicht so schlimm.

Das Servatius nur an sein Frühstück gedacht hatte, war wohl nicht sehr verwunderlich für jemanden, der geglaubt hatte, sein verräterischer kleiner Plan wäre aufgegangen. Oder? Er war Magier. Im Grunde hätte das auch einfach nur sein üblicher Egoismus sein können. Bei diesem Volk drehte sich doch alles immer nur um sie selbst. Nein, seine Einkäufe allein waren keine Hinweise. Zumal er offenbar tatsächlich für die Vorbereitungen eingekauft hatte, er trug eine kleine Tasche gefüllt mir verpacktem… Irgendwas.

So kehrte das Gespann nach einer Weile in das Abrisshaus im Armenviertel zurück. Kaum war die Tür geschlossen, baute sich der Tiefling vor dem Magier auf. Neben ihr die Elbe, nicht weniger übellaunig drein schauend und hinter den beiden die zwei Kurzen, die zumindest sorgenvoll und misstrauisch drein blickten. „Antworten“, verlangte Ximasxi lediglich einsilbig, da zuckte Servatius mit den Schultern. „Worauf, hm?“ erwiderte er und ließ sie stets höfliche, freundliche Maske ein Stück weit sinken. Darunter kam Verachtung zutage, seine herablassende, herabblickende Art und allem voran eine gute Portion Ungeduld, „Habt ihr die Wachen gesehen? Ihre Rüstungen, Schilde? Welches Wappen trugen sie? Das Samaras oder das Sundergrads?“

„Sundergrad“, gab Eloen widerwillig zu. Sie wusste bereits, worauf das alles hinauslaufen würde.

„Sundergrad. Schön, fein. Die einzigen Rüstungen und Schilde mit diesem Wappen finden sich wo? Ah ja, im Lager, draußen vor der Stadt, im Süden. Und wir waren wo? Im Händlerviertel, im Norden der Stadt, stimmt. Wie schnell kann ein durchschnittlicher Wächter, der genau weiß, dass er die Strecke von dort unten bis hier hoch durchhalten und am Ende noch kämpfen können muss, rennen? Wie viel Zeit braucht er also ungefähr, um zum Markt zu kommen? Ganz abgesehen von den Schützen, die die Dächer noch beklettern müssen und den Männern, die einen Ring um den Markt bilden sollten. Ja, genau. Und jetzt überlegt nochmal, wann genau ich die Wache hätte informieren müssen. Ich ging in den Laden… kam eiligst wieder heraus, informierte einen Boten der Wache. Der läuft runter. Vielleicht sogar im Staffellauf? Sie informieren das Lager. Die geben Befehle aus, rüsten sich, machen alle Leute bereit. Kommen durch die Stadt, ziehen den Ring und… also bitte! Ich will euch ja nicht noch extra darauf hinweisen müssen, aber… ihr macht euch gerade zum Gespött, voreinander! Und jetzt, denke ich, wären wir ganz gut beraten, endlich mit den Vorbereitungen zu beginnen, oder nicht? Wir haben nur noch heute und morgen Zeit!“

„Halt, nicht so schnell!“ fuhr ihm Eloen dazwischen und hielt ihn, die Hand auf seiner Schulter verkrallt, zurück. Die Elbe funkelte ihn boshaft an und dennoch konnte ihr Unmut nicht im Ansatz an das heran reichen, was in Ximasxis Gesicht geschrieben stand. Allein für die neuerlichen Vorwürfe, Beleidigungen und Anmaßungen wollte sie ihm das Gesicht in Streifen vom Schädel ziehen, die richtigen Werkzeuge dafür waren die Krallen an ihren Händen! Servatius jedoch fühlte sich davon nicht einmal bedroht. Warum auch? Er war für das Gelingen der Operation wichtig und er wusste darum, dass er als unentbehrlich galt. Sollte sie nur versuchen, ihn anzugreifen - wehrlos war er schließlich auch nicht. „Schule! Jeder Magier wählt eine Schule. Wenn ihr Geistmagier wärt, hättet ihr sie benachrichtigen können“, führte das Spitzohr aus. Fast schon triumphierend war das zarte Lächeln auf ihren schmalen Lippen. Sie hatte ihn erwischt, sie musste einfach! Ein Geistmagier scherte sich vermutlich nicht um Distanzen.

Das Problem war: Keiner von ihnen hatte genug Ahnung von dieser Materie. Ximasxi hatte immer Magier, Magie und ihre ganze Hierarchie vermieden. Auch das Wissen darum, wie der Zirkel aufgebaut war oder worin der Unterschied zwischen Hexern und Magiern liegen mochte. Was sie wusste beschränkte sich darauf, dass beide einander auf den Tod nicht ausstehen konnten, aber beide zauberten und dass sie nur zu gerne ihre Mächte missbrauchend ohne jede Rücksicht ihre Ziele verfolgten. Die Kurzen dagegen fanden Magie zwar völlig faszinierend, verstanden jedoch von den Zusammenhängen noch weniger und Eloen, die sich wohl vom Viergespann am besten auskannte, war ihrerseits eine Elbe und hatte mit den Zaubernden der Menschen nie viel zu tun gehabt. Sie wusste, was Hexer waren, was Magier, kannte die Unterschiede und wusste von den Schulen - aber was einem Geistmagier möglich war und was nicht, davon hatte sie keine Ahnung.

Servatius dagegen lachte kurz trocken und humorlos auf, ehe er die Linke in einer seiner Taschen versenkte, wohl der Souveränität geschuldet, die er ausstrahlte, und die Rechte in Richtung eines Stuhles hob, der am Tisch stand. „Netter Versuch, Weib, aber ich bin Kraftmagier“, erklärte er süffisanten Lächelns und ließ den Stuhl umkippen und gut einen halben Meter auf sie zu rutschen, ohne das Möbelstück auch nur berührt zu haben, „Können wir dann jetzt also endlich an die Arbeit gehen, nachdem ihr mit euren lächerlichen Verdächtigungen durch seid?“

Eloen hatte nichts mehr in Händen, was sie ihm vorwerfen konnte und so sehr es ihr widerstrebte… ließ sie ihn los. Die eisblauen Augen der Elbe verengten sich nochmals, ehe sie mit einem frustrierten Schnauben zurück trat. Das war doch einfach nicht möglich! Sie wusste einfach, dass er es war! Sie wusste es!

„Ab sofort,“ zischte Ximasxi plötzlich, die bislang erstaunlich ruhig geblieben war, „führen wir Wachdienst. Einer behält die Straße immer im Auge. Wechsel alle sechs Stunden. Der Magier nicht. Aber den lässt keiner aus den Augen, verstanden?“

Der Magier? Oh Schmerz, mein armes Herz blutet“, spottete Servatius, wandte sich schließlich unter einem energischen Fauchen des Tieflings ab und begann, aus seinem Reisegepäck die Reagenzien, Tiegel und Gläser aufzubauen. Ximasxi, die das Gefühl hatte, dringend Luft zu brauchen, da sie sonst ein Blutbad anrichten würde, übernahm die erste Wachschicht. Sie kletterte behände aus dem Fenster des Hauses im oberen Stock heraus und krallte sich der Figur eines Wasserspeiers nicht unähnlich am Dachrand der halb eingefallenen Ruine fest, in perfekter Balance einen Großteil der Straße und einige kleinere Gassen überblickend.

Unter ihr dagegen kamen immer mehr Apperaturen zum Vorschein. Zunder räumte seine Einkäufe auf dem Boden aus, Eloen nutzte das Licht eines Fenstersims, um im Mörser die Kräuter zu zerkleinern und Servatius köchelte bereits irgendein aufgegossenes Pulver ein.

Tatsächlich waren sie auf einen Großteil beider Tage angewiesen, ehe alles, was hergestellt werden sollte, auch soweit fertig war. Am Ende hatten sogar Eloen und Servatius Tawnie und Zunder bei der Herstellung der Bomben und Sprengsätze helfen müssen. Unauffällig sahen die nun wirklich nicht aus, doch gerade die Gegenwart des Magiers, dem inzwischen keiner mehr traute, sorgte für Verschwiegenheit. Das aufgeweckte Gnomweib erklärte lediglich immer wieder, dass deren unauffällige Unterbringung niemand anderes Sorge sei als die Zunders, der daraufhin mit dem Freudestrahlen eines leibhaftigen Pyromanen in den Augen eifrig nickte und erklärte, dass er schon dafür sorgen würde, dass ganz Sundergrad in den Genuss seiner Feuerwerke käme. Lediglich mit Transport und Lagerung würden sie ein wenig vorsichtig sein müssen, da die Reagenzien nicht restlos unempfindlich wären. Ein zu harter Schlag, beispielsweise würden sie herabfallen, könnte ihre explosive Kraft frühzeitig entfesseln - was für alle beteiligten bei der hier hergestellten und gelagerten Menge höchst ungesund ausgegangen wäre.

Dann endlich, gegen frühen Nachmittag, kehrte Jalil zurück. Ximasxi hatte nicht ohne Grund diese kleine Abfallhütte ausgewählt - von ihrem Beobachtungsposten aus konnte sie sehen, wie sich der Südländer in die Lagerhalle schleppte. Rasch hangelte sie sich herab und pirschte durch die Straßen und Gassen, den Lockenkopf abfangend, als er gerade wieder heraus kam und sich suchend umblickte. Schon als sie aus dem Lager geflohen waren, hatte sie ihren Späher losgeschickt, er solle seinen Teil der Aufgabe erledigen. Er konnte also unmöglich von der kleinen Bruchhütte und dem Entschluss seiner Kollegin wissen, das Lager zu meiden, aber im Blick zu behalten.

Als die Truppe wieder zusammenkam, liefen bereits die Abschlüsse der Vorbereitungen. Gifte wurden verstaut, Sprengsätze eingepackt. Lediglich Servatius saß völlig ungerührt auf einem Stuhl und verfolgte stillschweigend das Spektakel. „Hey Leute. Schön wieder da zu sein!“ bekundete Jalil, als er eintrat. Tawnie strahlte regelrecht und find sich daraufhin einen eifersüchtigen Blick Zunders. Einzig Eloen trat skeptisch näher und fragte sofort nach den gleichen Dingen, die auch Ximasxi zu wissen verlangt hatte - nämlich, woher die Wunden kamen.

Dass er nicht völlig unverletzt dem Lager entkommen würde, war soweit klar gewesen. Allerdings hatte man ihm die Höllen heiß gemacht, als beim Verhör des Lagerbesitzers heraus kam, dass er und niemand sonst das Haus angemietet hatte. Daraufhin hatte sich Kommandant Urthada persönlich dem Gefangenen gewidmet, der sich rein zufällig ins Lager verirrt hatte und ertappt worden war, mit der Hand tief im Geldbeutel eines Soldaten. War die anfängliche Geschichte noch ausreichend für die Arrestzelle des Lagers, hatte er Panavers Foltermethoden rasch kennenlernen dürfen. Der Offizier war ungeduldig und wusste um den unverrückbaren Zeitplan. Er hätte ihm jedes Glied einzeln abgetrennt, sollte ihm das Erfolg versprechen - Jalil wusste, wie knapp er einer völligen Verstümmelung entkommen war. Auch wenn er es erst nach und nach zu realisieren begann.

In allen Einzelheiten berichtete der Südländer von seinen Beobachtungen und Entdeckungen. Von Wachschichten, Stundenzyklen, Patrouillenrouten. Er erzählte von der Beschaffenheit der Arrestzellen, der Positionierung der Gebäude und Zelte, von der Unterbringung der Waffen- und Rüstungskammer und auch von einer Grasnarbe, einer länglichen Kuhle mitten im Feld, die sich ein paar dutzend Meter von der Lagergrenze entfernt hinzog und tief genug wäre, um darin ungesehen zu bleiben. Einmal mehr erstaunte Ximasxi darüber, wie viel der Lockenkopf sehen, bemerken und vor allem, im Gedächtnis behalten konnte. Und das, obwohl er doch im Grunde auf der Flucht gewesen war. Dass er überhaupt dazu kam, zu fliehen, verdankte er, so irrsinnig es klang, der Stadtwache Samara.

Deren Kommandant war im Lager aufmarschiert und hatte Urthadas Befehl, er sei unabkömmlich, einfach außer Kraft gesetzt. Er hatte eine sofortige Unterredung gewünscht und schien auch aufgebracht genug, dass das halbe Lager der Standpauke zuhören konnte. Irgendetwas über Verletzungen der Befugnisse und Überschreitungen der ranggegebenen Kompetenzen - etwas, das mit dem Markt zusammenhing?

Nur knapp gab man Jalil daraufhin einen Abriss des inzwischen schon zweiten Versuches Panavers, ihnen den Garaus zu machen. „Der mag dich wirklich nicht, Natti, oder?“ hakte der Schwarzhaarige daraufhin skeptisch nach und warf einen unbemerkt geglaubten Blick zu Servatius. Ja, auch Jalil konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass dieser völlig ruhig bleibende Magier mit den Vorfällen in Zusammenhang stand. Doch was sollte er tun? Sie hatten klare Anweisungen bekommen und so ungern der Sundergrader das auch zugab: Sie brauchten diese verdammte Schlange!

„Los, es wird dunkel. Wir brechen auf“, befahl Ximasxi schließlich mit einem Blick in die Abenddämmerung jenseits der fensterlosen Aussparung in der Wand. Aufpassen, sich den Rücken frei halten… Servatius im Auge behalten. Wesentlich mehr als das blieb ihnen ja ohnehin nicht zur Option. Ihn töten stand nicht zur Debatte.

Noch nicht.

Einige Zeit später lagen fünf Gestalten in der Grasnarbe nordwestlich des Lagers und versuchten, irgendetwas zu sehen. Für Ximasxi waren die Verhältnisse geradezu ideal, ja, sie pries den Nachtvater dankbar für diesen galanten Zufall. Es war stockfinster. Der Neumond? Unwichtig. Sternenlicht? Pah! Kaum hatten sie das Haus verlassen, waren Wolken aufgezogen und inzwischen verdeckte eine tief hängende, dichte, schwarze Front den gesamten Himmel. Es begann langsam zu regnen, was früher oder später den Wachfeuern und Fackeln zusetzen würde. Selbst würden die Lichter nicht ausgehen, so bot der Regenschleier dennoch weitere Deckung. Die Wächter würden sich ungern hinaus trauen und irgendwelchen Schatten oder Geräuschen folgen, weil man da nass wurde, also kauerten sie lieber unter ihren Unterständen und behaupteten, sie hätten ihre Runde bereits gedreht. Es war geradezu… perfekt. Jedenfalls, wenn man davon absah, dass Servatius maßlos herum maulte. Über das Wetter, über die Unterbringung, darüber, dass seine verdammte Robe nun schmutzig werden würde und er sich bei diesem Wetter im Freien Tod und Teufel holen könnte. Die Gildendiebin dagegen… wünschte ihm nichts sehnlicher als das. Vor allem den Tod.

Jalil war indes zurückgeblieben, nahe des Südtores der Stadt, um den Rückzug zu decken. Denn bis sie ungehindert die Stadt würden verlassen und südwärts ziehen können, mussten nach dem Anschlag wohl erstmal ein paar Tage vergehen. Etwas Gras sollte über die Sache wachsen können. Natürlich: Im Idealfall würde keine Wache Verdacht schöpfen und niemand würde irgendwas sehen. Das gesamte Heer fiel aus allen Wolken, wenn vor den Toren Sundergrads erstmal alles versagen und den Geist aufgeben würde. Aber schon um auf Nummer sicher zu gehen, deckte der Südländer den Rückzug in die Stadt, in der sich viel besser abtauchen ließe als auf den Straßen südwärts.

Während der Rest in der Finsternis nicht das Geringste sah und gegen den Regen anblinzelnd lediglich die Feuer irgendwo jenseits des Tropfenschleiers gewahrte, erkannte der Tiefling gestochen scharf jeden Halm am Boden. „Zunder, Tawnie, ihr zuerst“, erklärte die Diebin nochmals und machte sich bereit. Ein ungeschicktes Paar Hände und Füße über eine offene Fläche führen, um sich an eine verteidigte Stellung anzuschleichen? Oh nun, so etwas Ähnliches hatte sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gemacht, damals mit einem stümperhaften Lichtmagier. War der Unterschied nennenswert? Sicherlich nicht. Einen Magier hatte sie immerhin wieder dabei.

Der Goblin und sein Mädchen waren wenigstens klein. Das war immerhin schon mal ein guter Anfang. Zudem waren auch ihre Augen in der Dunkelheit besser. Nicht so gut wie die ihrer Befehlshaberin, aber immerhin besser als die Servatius‘ oder der Elbe.

Langsam hob sich das Dreigespann aus dem Graben heraus und kletterte, zunächst dicht am Boden, über den Kamm der Kuhlenbegrenzung. „Halten die Zeichnungen das Wasser aus?“ erkundigte sich das Tieflingsweib noch und wurde daraufhin von Tawnie aufgeklärt, dass sie sich einen mechanischen Stift mit einer speziellen Graphitmiene gebastelt habe, sodass sie sich um die Zeichnungen weniger Sorgen mache als um das Papier, auf denen sie aufgetragen würden. Dafür jedoch wäre Zunders Tasche gut, wenn sie erst einmal leer war. Für den Moment beschützte Tawnie ihre Papiere, indem sie sie unter ihrer Weste direkt am Körper trug.

„Dann los!“

 

Das kurz geratene Pärchen in gebeugter Haltung, aber auf beiden Beinen erreichte letztlich die gleiche Höhe wie Ximasxi - die auf allen Vieren über das Feld pirschte und dabei dennoch eine wesentlich elegantere Figur zu hinterlassen fähig war. Im Schutze der Nacht und des Unwetters pirschten sie sich an die von Jalil bezeichnete Stelle heran. Fast das gesamte Lager hatte man symmetrisch aufzubauen versucht. An dieser Kante jedoch versagte der zunächst gut gemeinte Ansatz, vermutlich aufgrund irgendwelcher baulichen Hindernisse oder schlichter Unzulänglichkeit. Die Türme mit den Wachfeuern standen hier weiter auseinander und boten einen kleinen, schlecht beleuchteten Korridor, über den das Dreigespann schlüpfen konnte. Noch außerhalb der Sichtweite, harrte die Diebin am Boden kauernd aus und beobachtete abwechselnd die Scharfschützen auf den Hochständen. „Auf mein Zeichen“, flüsterte sie mit angespannter Stimme und deutete zur Rückwand eines ersten großen Gebäudes herüber. Als sich beide Wächter auf beiden Türmen von der Passage abwandten, glaubend, diese Gegend gesichert zu wissen, winkte sie das Gespann vorwärts. Völlig bewusst blieb sie hinter Tawnie und Zunder zurück, um zu garantieren, dass nicht Papier, Stift, Bomben oder gar einer von beiden plötzlich auf dem Weg verloren ging.

Als sie die Rückwand des Gebäudes erreichten, glaubte sie einen Moment sogar das Pochen in Tawnies Brust zu hören, die für ihre gräuliche Gnomhautfarbe sogar ein wenig blass und bleich wirkte. „Das ist schlimmer als Holzkopf dabei zuzusehen, wie er was ‚Experimentelles‘ mischt!“ erklärte die Gnomin und rang nach Atem. Die Gehörnte jedoch ließ ihr nicht die notwendige Zeit, um sich wieder zu beruhigen, sondern drängelte das Pärchen vorwärts. Die Wachen patrouillierten in großzügigen Runden mit herzlich angenehmen Intervallen, dennoch musste man sein Glück nicht herausfordern und der Regen konnte ja sehr wohl zu ein paar Verschiebungen im Plan führen. Es musste nur plötzlich ein Wächter auf die Idee kommen, er könne seine Runde machen, solange der Regen noch nicht so stark war, um sie später etwas nach hinten schieben zu können, sobald er nachlegte.

Gemeinsam umrundeten sie das Haus Stück für Stück. Immer wieder presste die Diebin, die inzwischen ihre Schützlinge dicht hinter sich hielt, die beiden an die Wand und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Die zwei beiden taten es ihr zwar gleich, konnten jedoch trotz ihrer Fledermausohren nichts außer dem Prasseln des Regens vernehmen. Sie waren nicht daran gewöhnt, Geräusche auszublenden, Hintergründe heraus zu filtern oder auf spezielle Laute zu achten, die für das Diebeshandwerk bis hinunter zum unbemerkten Herumschleichen notwendig waren.

Sobald ein Wächter sie passiert hatte, schoben sie sich wieder einige Schritte vorwärts, bis sie endlich die Vorderseite erreicht hatten. Eine äußerst gefährliche Gegend - alle drei Lagerhallen für die Belagerungswaffen standen hier dicht beisammen, der Bereich wurde gern und häufiger patrouilliert als der Rest des Geländes, denn auch die Waffen- und Rüstkammer stand nicht wesentlich weit entfernt.

Einen Augenblick zeigten sich die zwei Winzlinge von den schier gewaltigen Dimensionen des Haupttores beeindruckt, doch da schob Ximasxi sie bereits voran, das Tor ignorierend in einen kleinen, für Personen gedachten Nebeneingang. Jalil hatte gute Aufklärung geleistet, dennoch schloss sie sorgsam die Tür, befahl beiden völlige Laut- und Reglosigkeit und durchsuchte die Halle nochmals. Keine einzige Menschenseele befand sich darin, also flüsterte sie die zwei Namen und schickte das Pärchen an ihre Arbeit. Sie behielt derweil sehr genau den Eingang im Auge, lugte durch einen winzigen Spalt immer wieder hinaus und überprüfte an den vorbei ziehenden Schatten, ob die Wächter ihre Patrouillenzeiten auch einhielten. Die Intervalle hatten sich tatsächlich verschoben, waren kleiner geworden - das war ärgerlich. Es schmälerte den zeitlichen Rahmen, den sie hatten, um von einer Halle zur nächsten zu gelangen.

Derweil hörte sie hinter sich allerhand Laut, die sie immer wieder durch das Heranziehen und gelegentlich sogar durch das völlige Schließen der Hallentür zu dämpfen versuchte. Zunder hatte nie mit einem Wort gesagt, dass er Löcher in die Konstrukte bohren würde! Tawnie dagegen schien keineswegs von dieser Vorgehensweise überrascht, musste es also gewusst haben… und hatte auch keine Silbe darüber verloren. So sehr sich die Gehörnte darüber aber auch ärgerte, nun waren sie hier und mussten ihren Job erledigen. Einfach nur noch durchhalten und sich nicht erwischen lassen. Für Umdenken und große Planänderungen war es nun ohnehin viel zu spät.

Als die Gnomin ihre Zeichnungen der gewaltigen Anlagen vollendet hatte, ging sie ihrem Liebsten zur Hand und legte mit ihm zusammen die letzten Sprengsätze. Kleine Löcher im Holz nahmen die Sprengkörper auf. Die Holzspäne verschwanden in seiner Tasche, wo sie die verbleibenden Bomben polsterten und später Tawnies Zeichnungen vom durchdringenden Regenwasser abhalten würden. Nur einen kleinen Pfropfen steckte der Goblin wieder in das gebohrte und befüllte Loch, damit niemand bemerkte, dass diese Technik manipuliert worden war.

Schließlich fanden sich beide wieder bei Ximasxi ein, die auf den richtigen Zeitpunkt wartete und dann nach draußen huschte. Sorgfältig sah sie sich um, lauschte. Nichts und niemand in der Nähe, jedoch hörte sie Stimmen, die von rechts kamen und wohl bald um die andere Seite der ersten Halle biegen würden. „Beeilung!“ flüsterte die Diebin und winkte das Pärchen aus der Halle heraus. Auch das zweite Lager stellte sie noch nicht vor große Herausforderungen, lag es doch mit einigen wenigen Metern Abstand direkt nebenan. Auch dort gingen die Arbeiten rasch und ungestört voran, doch dann mussten sie zum letzten Unterstand wechseln. Dieser befand sich gegenüber, von einer äußerst breiten Straße für den An- und Abtransport der Waffen getrennt.

Ein heikles Unterfangen und um ein Haar wäre es schief gegangen. Mitten auf der Straße, in bester Sicht für alles und jeden, rief plötzlich einer der Wächter vom Turm herüber. „Hey! Du da!“ Abrupt riss die Diebin den Kopf herum und starrte zu dem Wächter auf. Noch zielte er nicht auf sie. Warum nicht? „Geh‘ mal rüber und sag Hans, er soll endlich seinen Arsch her schieben! Ich warte schon zu lange auf meine verdammte Ablösung!“ Der Regen! Aber natürlich. Er sah lediglich eine Gestalt mit einem Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Solche Kapuzenmäntel hatten die Wächter vermutlich auch, solange sie nicht in Helm und Rüstung unterwegs sein mussten. Und niemand würde sich ja einfach so in dieses Lager einschleichen können, nicht wahr? Auf diese Distanz, bei der schlechten Sicht und diesen Umständen, was hätte sie da anderes sein sollen als ein Wächter ohne Rüstung, auf dem Weg zurück in die Baracken? Sie nickte dem Schützen zu, der sich zufrieden wieder seinem unangenehm klammen Posten widmete. Dass die zwei Kurzen nicht aufgefallen waren, glich keineswegs einem Wunder - die beiden hatten sich nur vor ihr gehalten und kaum, dass der Ruf erklungen war, hinter ihr versteckt. Kluge kleine Dinger!

„Husch, los, rasch!“ trieb sie die beiden zur Eile an. Sie hatten Zeit verloren, kostbare Sekunden und ein Wachposten näherte sich von Osten. Er würde sie sehr wohl erkennen und im Zweifelsfall eben näher treten können. Dann wäre die ganze Aktion verloren. In Windeseile scheuchte sie das Paar vor sich her und drohte dabei sogar Zunders Beinen zuviel abzuverlangen. Völlig außer Atem keuchte und jappste der Goblin, als sie hinter der Tür der Halle verschwanden und ließ sich zunächst auf seinen Hintern fallen. Allein, wie er nach Luft rang, klang erbärmlich. „Alles gut, beruhige dich! Hol tief Luft!“ versuchte Tawnie ihn zu besänftigen. Erst nach einigen Minuten schien ihre Mühe Erfolg zu haben. Für Ximasxi war das im Grunde einerlei - solange sie hier drin waren und die beiden noch nicht arbeiteten, gab es keinen Lärm, nichts Verdächtiges, solange hatten sie alle Zeit der Welt.

Abgesehen davon, dass diese Nacht noch zwei andere Durchgänge im Lager nötig waren und sie die exzellenten Witterungsbedingungen gerne für sich ausnutzen wollte, solange sie das noch konnte. Doch die beiden nun antreiben würde auch nichts bringen, bestenfalls, das Zunder sich wieder aufregte. Davon hatte sie nichts.

Also harrte sie geduldig aus, wortlos, beobachtete durch den Türspalt wie schon zuvor das Treiben jenseits der Lagerhalle und lauschte auf die inzwischen bekannten Geräusche, als das Pärchen an die Arbeit ging. Inzwischen mit einer gewissen Routine und grundsätzlicher Erfahrung aus den anderen beiden Hallen gesegnet, kam das Pärchen deutlich schneller voran. Zumal Tawnie keine neuen Konstruktionen fand und daher die Zeichnungen bereits als komplettiert in Zunders Tasche verstauen konnte. Erst nach einigen Minuten, in denen es bereits leiser und leiser geworden war, hörte sie die Zwistigkeiten der Beiden abermals ausbrechen. „Zunder, lass das! Finger weg da!“ fauchte das Gnommädchen, „Ich warne dich, lass das liegen! Beim großen Schraubenschlüssel, dass du nur nicht hören kannst.“

„Reg dich doch nicht so auf, hilf mir lieber! Schau nur, da glitzert etwas!“ flüsterte eine aufgeregte Stimme zurück. Der Gildendiebin hätte das im Grunde völlig egal sein können, doch kurz darauf erklang ein grässliches Scharren, wie Metall auf Metall, plötzlich ein kurzer Knall und ein überraschter Aufschrei. „Verdammt, Ruhe!“ heischte die Gehörnte von ihrer Warte an der Tür aus in die Halle hinter. Was die beiden dort trieben, war ihr völlig einerlei. Sie verstand von der Technik nichts. Hätten sie begonnen, die Geräte einsatzbereit zu machen, um das Lager mit den eigenen Geschossen in Grund und Boden zu bombardieren, nun, was hätte sie schon machen können? Sie hätte wohl nicht einmal erkannt, wozu das Umlegen irgendwelcher Hebel dienen sollte. Also blieb ihr nur, darauf zu vertrauen, dass Tawnie als die Vernünftigere ihren Liebsten im Zaum hielt.

Was einen Moment wahrlich nicht danach geklungen hatte…

Immerhin: Gemeinsam ging die Arbeit nach dem Zwischenfall noch einmal schneller voran und so dankte Ximasxi dem Nachtvater einmal mehr, als sie sich rasch wieder zurückziehen konnten.

Abermals zeigte sich, wie gefährlich die Überquerung der Straße war. Der Streifen zwischen den Hallen war kahl und karg, zu breit, um einem zufälligen Blick zu entgehen. Das Letzte mal mochten sie Glück gehabt haben, doch wie sehr wollte und konnte sie das überstrapazieren, ehe der Faden riss? Sehr bald schon würde sie Servatius hier lang führen müssen und er brauchte Zutritt zur Waffenkammer, die direkt neben der dritten Lagerhalle aufgebaut worden war. Das hieß, noch einmal über den breiten Streifen hin und wieder zurück zu marschieren. Vermutlich konnten sie angesichts dieser nicht zu geringen Hürde sogar noch froh sein, dass die vier Hallen relativ am Rand des Lagers platziert waren und nicht im Zentrum. Dort befand sich die ausufernd große Lagerstatt der Zelte, in denen die Soldaten und Offiziere untergebracht worden waren. Die Kämmerer, Köche, Laufburschen, eben jeder Mann und jedes Weib, alle, die irgendeine Rolle bei Sundergrads Rückeroberung zu spielen hatten.

Mit Ausnahme des Kommandanten, des Buchhalters und der ominösen dritten Person. Diese befanden sich allesamt in einem größeren und daher leicht sichtbaren Zeltkomplex abseits der Soldatenunterkünfte. Der Herr Kommandant wollte offenbar deutlich machen, dass er besser war als seine Männer. Großer Fehler, wie sich nach Ximasxis Wünschen zeigen würde, denn von ihrer Einmarschroute aus gesehen lag das große Zelt wesentlich näher, nur einige dutzend Meter hinter dem Hallenkomplex.

Sicher, lautlos und tatsächlich völlig unbemerkt führte das Tieflingsweib die zwei Kurzen wieder aus dem Südlager heraus und brachte sie auf die gleiche, geduckte und vorsichtig schleichende Weise zurück zur Grasnarbe, wie sei auch anfangs hineingekommen waren.

„Uh, war das spannend!“ merkte Zunder an, als er sich endlich wieder traute, den Mund aufzumachen. Nervös spielte er mit der Hand in seiner Tasche herum und wühlte etwas hervor, das noch reichlich in einen Ballen Holzspäne eingewickelt war. Die Tasche übergab er seinem Herzblatt, ehe er ein kleines, eigenartig geformtes Schmuckstück in seiner Hand hielt. Nahezu augenblicklich wurde Servatius darauf aufmerksam. „Was ist das?“ wollte er wissen und bemühte sich um ein Lächeln. Er rutschte etwas näher, doch Tawnie, die sich das Misstrauen der restlichen Gruppe angenommen hatte, packte Zunders kleinen Schatz und verbarg ihn bestmöglich in ihrer kleinen, geschlossenen Faust. „Nichts. Kümmer‘ dich um deinen Kram!“ heischte sie den Magier an. Vielleicht wäre sie ihn sogar losgeworden, hätte Zunder nicht begeistert eingestimmt. „Ja, genau, dein Kram! Ich hab’s gefunden, buddel‘ dir selbst was aus!“

Servatius wollte gerade das Wort erheben, um die beiden um irgendetwas zu bitten. Zu beleidigen, zu fordern, was auch immer - er kam nicht dazu. Ximasxi kam ihm schlicht zuvor. „Magier! Schnell jetzt, nicht trödeln!“ verlangte die Befehlshaberin und drängte den Menschen zum Aufbruch. Nur unwillig und unter dem besorgten Blick Eloens raffte sich das Zirkelmitglied auf und erhob sich zur vollen Größe. „Wurde ja auch Zeit, dass ich aus diesem vermaledeiten Erdloch heraus komme, mir schmerzen schon alle Glieder! Ich bin durchgefroren, nass und dreckig. Ich glaube, ich kann dieses Land jetzt schon nicht mehr leiden und werde-“

Ohne das Ende seiner zweifellos ausufernden Beschwerde abzuwarten, packte sie ihn am Ärmel seiner ach so heiß geliebten Kutte oder was immer das Kleidchen nun war und zerrte ihn nicht nur vorwärts, sondern auch ein gutes Stück herab. „Wirst du gesehen, bist du tot. Bleib unten!“ wies sie ihn scharf an, die Augen zu drohenden Schlitzen verengt, „Ich will nicht deinetwegen draufgehen. Ich werde nicht deinetwegen sterben!“ Mit einem höflichen Lächeln und einer weitschweifig die Richtung des Lagers deutenden Geste seines Armes bedeutete er ihr, voraus zu gehen. Die Gehörnte stieß ein verächtliches Schnauben aus, ehe sie sich brüsk abwandte und abermals auf allen Vieren vorauseilte. Dabei war ihr bei all den Frechheiten inzwischen nahezu egal, ob dieses Menschenvieh Schritt halten konnte. Vielleicht sollte sie auch einfach später zu Aedan zurückkehren, unschuldigen Blickes die Schultern heben und ihm erklären, dass der Magier ganz plötzlich und ohne Zutun ihrer Krallen zu kreischen begonnen hatte, woraufhin alle Wächter aufsprangen und ihn mit Lanzen und Bolzen durchbohrten, dass er wie ein Nadelkissen aussehen musste! Ob der Gildenmeister ihr das übelnehmen würde?

Zumindest in dieser überaus leidschweren, blutigen Vorstellung fand die Diebin eine Weile Trost und Vergnügen gleichermaßen. Servatius durch die zwielichtige Passage zu schleusen, war weitaus schwieriger. Er war nicht nur einfach größer und damit weniger unauffällig, er war vor allem ungeschickt hoch zehn, ans Schleichen so gar nicht gewohnt und auch komplett talentfrei. Immer wieder musste sie ihn wider seines leise genuschelten Gezeters an der Kutte packen und herab ziehen, weil er dazu neigte, sich weiter und weiter aufzurichten. Ob ihm die Lage zu unbequem war, interessierte sie nicht im Geringsten, wie sie ihm leise zuzischend klar machte, und wenn er durch die regennasse Erde kriechen und robben musste - er würde verdammt nochmal unten bleiben oder sie würde ihn in der nächsten Matschpfütze ertränken!

Die überaus opulente, gezischelte Drohung schien endlich Wirkung zu zeigen. Zumindest lange genug, damit er sich im Zaum hielt, bis sie die Rückwand der zweiten Lagerhalle erreicht hatten. An der Seite entlang zur Vorderfront, schlüpften sie abermals durch die kleine Passantentür ins Innere und harrten durch den dünnen Spalt schauend aus, um auf die richtige Gelegenheit zur Überquerung des Streifens zu warten. Wie sehr ihr dieses Aas dabei auf den Leib rückte, behagte ihr gar nicht und mehr als einmal stieß sie ihm mit Wucht den Ellbogen in den Magen, damit er verdammt nochmal auf Abstand blieb. Doch immer wieder kam er näher heran. Scheinbar, um ebenfalls durch den Türspalt schauen zu können. Als ob! Er war doch genauso blind dort draußen wie die Wächter auf ihren Türmen…

„Scheiße, ist das kalt… Mann, wo bleibt Hans?! Dieser miese kleine Hund sollte längst hier sein, ich frier‘ mir noch den Arsch ab“, maulte einer der beiden Scharfschützen auf dem Hochstand und drehte erneut eine Runde. „Ach hab‘ dich nicht so, das ist nur Wasser. Du hast gleich Schluss und kannst dich abtrocknen, ich habe noch drei Stunden!“ maßregelte ihn sein Kumpane und schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur so undankbar sein? Ständig war dieser Bursche nur am Jammern und Maulen! Er sollte sich lieber mal Friedrich ansehen, dann wüsste er, dass man gelegentlich besser einfach die Klappe hielt und abwartete. „Hey, was’n das da?“ Abrupt kehrte die Ernsthaftigkeit in den Hochstand zurück. Stille brach herein und weder gute noch schlechte Laune fanden genug Halt für weitere Bemerkungen und Kommentare. Stattdessen sahen sie einen Schatten in die Waffenkammer verschwinden. „Patrouille?“ Die Hoffnung, nicht auch noch mit noch irgendeinem vorwitzigen Dieb konfrontiert zu werden, hing unausgesprochen in der Luft. Hatte es nicht gereicht, dass dieser schwarze Lockenkopf kürzlich erst hier herum geschnüffelt und dann obendrein auch noch ausgebüchst war? Kommandant Urthada hatte den gesamten restlichen Tag getobt wie ein irrer Stier und alles und jeden hatte er anschreien müssen, das man glaubte, einem würden gleich die Ohren bluten. Doch dann bog ein Wächter um die Ecke, trotz Regen sein Liedchen pfeifend und alle Hoffnungen schienen dahin. „He, du da!“ plärrte der Nörgler herunter und machte den Mann unten auf sich aufmerksam, „Schau mal in der Waffenkammer nach!“ wies er ihn weiter an und klopfte auf seine Armbrust, als Zeichen, vorsichtig und kampfbereit dort hinein zu gehen. Er selbst legte das schwere Gerät auf das Gebälk des Hochstandes und zielte auf den Eingang. Sollte sein Kamerad einen Dieb hinaus jagen, würde er ihn erwischen - mit dem Bolzen in der Brust ließe er sich zwar nicht mehr befragen, aber das wäre vielleicht auch ganz gut für Urthadas Blutdruck.

Der Wächter am Boden riss die Tür abrupt auf, den Rundschild vor sich und das Schwert zum Stoß direkt daneben hervor lugend. Vorsichtig trat er über die Schwelle des lächerlich schlechten Ziegelbaus. Ximasxi war schon zuvor an den Lagerhallen der Belagerungswaffen aufgefallen, wie schlecht hier gearbeitet worden war. Viele Ziegel machten noch lange keine solide Mauer. Zu wenig Mörtel, die Fugen zu groß und breit. Vermutlich hatte man nie mit Eindringlingen gerechnet. Es ging nur darum, die Waffen vor Sichtung und schlechtem Wetter zu verbergen. Aber schon ein kräftigerer Sturm würde genügen, damit seine Winde alles hier zum Einsturz brachten. Vielleicht war das ja der Grund für den knapp bemessenen Zeitplan? Es erleichterte auch die Arbeit, dieses Lager wieder abzubrechen ungemein. Sie warteten einfach auf besagten Sturm, der ließ die Hütten einstürzen, fegte die Hochstände auseinander und in den Monaten darauf würden die Armen und Bettler das Arbeitsmaterial ins Armenviertel schleppen und dort nach und nach in die Ruinen ihrer zerbröselnden Häuser einbauen. Nachträglich könnte seine Majestät sogar behaupten, in einem Akt reinster Großzügigkeit gegenüber den Ärmsten der Armen diesen kostenlos Baumaterial zur Verfügung gestellt zu haben.

Und die Mehrheit würde diesen Köder sogar schlucken, weil er bequemer war als die Wahrheit.

Mit solchen und anderen Gedankengängen versuchte sich Ximasxi abzulenken, während der Magier sie unerträglich dicht an sich gepresst hielt. Am liebsten hätte sie ihm das Gemächt abgerissen und ihm so tief in die Kehle gestopft, dass er daran erstickt wäre, noch bevor der Blutverlust ihn fällen konnte! Doch leider hatte sich die Entdeckung als höchst hinderlich erwiesen. Sie hätten es nicht einmal mitbekommen, hätte der Schütze nicht über den ganzen Platz hinweg geplärrt, um eine Patrouille auf sich aufmerksam zu machen und zu lotsen. Doch das grundlegende Problem blieb: Die Kammer war gewaltig, aber übersichtlich. Die Rüstungsständer befanden sich am Rand oder in kleinen, dicht geballten Grüppchen, die Regale dazwischen trugen die Piken, Hellebarden, Schwerter, Lanzen, Bögen, Armbrüste, Bolzen, Pfeile, Dolche, Schilde, alles, was das Herz begehrte. Aber überall konnte man durchsehen. Nichts, wohinter man sich hätte verstecken können, gar nichts.

Das war der Moment gewesen, in dem sie zerknirscht die Hilfe des Magiers hatte annehmen müssen. Schrecklich genug, dass sie auf ihn angewiesen war. Sie traute ihm noch immer nicht, weshalb sie auch den Dolch gezückt und dicht an seinen Bauch gedrückt hielt. Doch er hatte auf dem Markt offenkundig mehr gekauft, als notwendig gewesen wäre. Irgendein magischer Schnickschnack, dessen Wirkung zu spüren sie fast wahnsinnig machte. Ein unangenehmes Stechen und Prickeln, als würde eine Horde wütender Ameisen unter ihrer Haut toben. Doch die Magie war effektiv. Servatius hatte versucht, es ihr zu erklären. Irgendetwas mit umgelenktem Licht. Das Ergebnis war lediglich, dass sie unsichtbar blieben. Allerdings gab es wohl eine gewisse Verzerrung, weshalb sie dennoch erpicht darauf sein sollten, außerhalb seines Sichtbereiches zu bleiben. Der Wächter schritt direkt vor ihnen vorbei, standen sie doch quasi neben der Tür, sah sich genau im durch ein paar wenige Öllampen beleuchteten Raum um und trat dann wieder hinaus.

„Nichts!“ rief er seinen Kollegen hinauf und setzte seinen Rundgang fort.

„Ich bin doch nicht blöde! Du hast es auch gesehen, oder? Da war jemand!“ widersprach der Nörgler. Der andere Wächter klopfte ihm lächelnd auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Lass gut sein. Deine Schicht war lang, du siehst Gespenster. Das kann auch einfach nur ‘n Marder gewesen sein. Du weißt, wie die Häuser gebaut sind, die würden es nicht mal aushalten, wenn du dich dagegen lehnst. Vermutlich hat er sich ein Loch gebuddelt oder ist durch eines im Mauerwerk wieder raus.“

„Das war doch kein Marder!“ protestierte sein Begleiter und wies auf die Größe des Schattens hin, den der Zweite kaum noch hatte sehen können. Ja, sicherlich, irgendwas hatte er gesehen. Aber eine Person auf vier Beinen? Lächerlich. „Dann war’s eben ein Hund, mir doch egal. Geh jetzt endlich runter und schlaf dich aus. Und schick mir Hans hoch!“

Während sich draußen die Lage entspannte, löste sich im Inneren die Gildendiebin von ihrem vermeintlichen Retter und schüttelte sich vor Ekel. „Das da früher zu erwähnen war nicht nötig, weil…?“ fauchte sie ihn bitterböse an. Servatius jedoch zuckte lediglich lächelnd mit den Schultern. „Weil es ein Spielzeug ist. Einmalige Verwendung. Ich wollte es eigentlich in die Heimat nehmen und damit eine Dame beeindrucken. Dass ich es nun für ein Scheusal verschwende, war nicht geplant, aber es freut mich auch, dass wir unentdeckt geblieben sind. Ich nehme euren unterwürfigsten Dank selbstredend an.“

Gereizt fauchte die Gehörnte dem blasierten Bastard entgegen, der lediglich weiterhin abfällig lächelte und sich im Raum umsah. Schließlich, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, fokussierte er wieder die Diebin. „Nun, so sehr ich charmante Gesellschaft auch schätze, sofern ihr nicht vorhabt, mir gefällig zu sein, auf die Knie zu sinken und eure gottbestimmte Aufgabe als Weib zu erfüllen, würde ich doch nun wirklich vorschlagen, dass ihr nicht meine Zeit verschwendet und das Weite sucht. Das hier,“ hob er an und zog eine kleine Reihe von Gläsern hervor, die ungemein zerbrechlich wirkten, „sollte wohl selbst für so ein Ding wie euch tödlich sein. Oder zumindest sehr ungesund. Also tut uns den Gefallen, geht raus und spielt ein wenig herum. Ich werde hier eine Weile brauchen. Ihr könntet beispielsweise herausfinden, ob sich die Ziele der Elbe noch am vorgesehenen Ort befinden. Nun?“ Sie zitterte und Servatius sah das. Sie rang mit sich, sie versuchte alle Beherrschung in die Waagschale zu werfen, die sie hatte. Das Problem war, dass sie nicht über so viel verfügte, wie möglich gewesen wäre… einfach, weil sie sich im Grunde gar nicht beherrschen wollte. Sie wollte dagegen viel lieber über diesen Hurenbock herfallen, ihn zerfetzten, sein Innerstes nach außen kehren und-

„Schon weg“, zischte sie bitter und suchte tatsächlich das Weite durch die Hintertür der Anlage. Servatius dagegen, endlich für sich allein, setzte sich erst einmal und klopfte sich die gröbsten Erdbrocken von der Kleidung. „Gute Güte, das sieht fürchterlich aus“, konstatierte er beim Anblick der Flecken aus Dreck und Wasser. Und Dreckwasser. Ein schweres Seufzen rang er sich ab, ehe er sich wieder erhob. Je schneller das sein Ende fand, umso besser. Er öffnete lediglich die Ampullen vorsichtig, alle kerzengerade haltend. Eine nach der anderen, langsam und sorgsam. Dann, als wäre alles zuvor nur unnützes Schauspiel gewesen, warf er die Ampullen quer durch den Raum. Einzeln schleuderte er sie in unterschiedliche Teile des Raumes, wo sie am Boden zerschellten und die Flüssigkeit verdampfen ließen, die nicht unterwegs schon durch die Rotation das Gefäß verlassen hatte. Die Schwaden des Gases waren hochgiftig, noch zumindest. In einer Stunde würde man hier drinnen die beste, frischeste Luft vorfinden. Als alle Ampullen zerstört waren und die für den Moment noch in zartem Grünton sichtbaren Schwaden sich im Raum immer weiter auszubreiten begannen, zog sich der Magier durch die Vordertür wieder zurück.

Wie lange für diese kleine Missgeburt wohl eine Weile war? Zweifelnd sah sich der Magier um. Hier zu warten war sicherlich unklug…

 

„Tawnie?“

„Hm?“ Das Gnommädchen wandte sich freundlich lächelnd um, als sich die Elbe neben sie setzte. Eloen mochte ihre aufgeschlossene Art. Sie war eine begnadete Zeichnerin, eine Konstrukteurin… oder irgendetwas in der Richtung. Jedenfalls war sie weder Dieb noch sonst eine Anhängerin der zwielichtigen Branchen. Dennoch saß sie neben einer Assassinin. Neben einer Frau, die trainiert war und ihr Geld damit verdiente, andere je nach Auftrag zu töten. Aber mangelte es ihr an Umgangsformen? Sah sie Angst in ihren Augen schimmern? Zurückhaltung? Nein. Nicht die geringste Spur. „Gibst du mir die Pläne?“ erkundigte sich Eloen. Natürlich wollte Zunders Freundin erst einmal wissen, warum sie die Tasche aus der Hand geben sollte, doch als die Attentäterin ihr erklärte, sie würde sie vorsorglich schon einmal zu Jalil bringen und ihm erklären, dass die erste Runde exzellent und komplett nach Plan verlaufen war, nickte das junge Ding freudig.

„Aber natürlich, da! Grüß ihn auch schon und sag ihm, er soll sich irgendwo unterstellen. Das Wetter wird bestimmt noch schlimmer! Hm. Magst du Zunders kleines Dings auch gleich mitnehmen? Er hat es in einer der Hallen aus einer Schatulle ausge…graben. Gewissermaßen.“ Kaum aber, dass sie das Schmuckstück erwähnte, mischte sich der Goblin empört ein und grabschte es aus Tawnies Hand hinfort. „Nix da, ist meins!“ protestierte er und verwies abermals darauf, dass sie sich doch einen eigenen Schatz suchen sollte, wenn sie unbedingt einen haben musste. Seiner jedenfalls bliebe ganz bestimmt bei ihm, jawohl, damit würde er wunderbare Dinge und total tolle Experimente anstellen… oder es verkaufen und mit dem Erlös wunderbare Dinge und total tolle Experimente finanzieren! Jedenfalls würde es etwas mit Experimenten zu tun haben, dessen war sich der kleine, grüne Holzkopf sicher.

Eloen schmunzelte über die fast kindisch-trotzig wirkende Art des Goblins. Ob sie etwas sagen sollte? Aber sie wollte die beiden nicht verstören. Oder ihnen ihre gute Laune trüben. Nein, nein - besser sie ließ es, wie es war. Die Elbe nahm die Tasche an sich, dankte und wollte sich schon abwenden, als sie sich noch einmal herab beugte. Sie strich dem Gnommädchen über die Wange und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. „Wirklich, du bist prima! Ich kann dich gut leiden“, erklärte sie Tawnie mit einem milden Lächeln. Die kicherte einen Augenblick und lächelte dann glückselig. „Ich dich auch!“

„Und ich?“ mischte sich Zunder quengelnd ein. Eloen wandte sich daraufhin ab und verließ geduckt im Schutz der Dunkelheit die Grasnarbe. Hinter sich hörte sie das Gespann zanken, wie so oft. Tawnie warf ihm vor, dass sie die gefälligst die Einzige wäre, deren Küsse er je abbekommen würde, woraufhin sich Zunder zunächst zur Wehr setzte, dass er ja eigentlich auch nur davon gesprochen hatte, wer hier wen alles gut leiden könne. Dann jedoch wechselte er die Strategie und warf ihr stattdessen vor, was denn mit seinen Küssen und ihr wäre, ob da Sonderregelungen gelten würden. Das Gezanke war noch ein paar Meter zu hören, glücklicherweise nicht weit genug für die Schützen im Hochstand und bald schon auch nicht mehr für Eloen, die in der Nacht in Richtung Südtor verschwand.

Eine ganze Weile war die Elbe schon fort, da schlich sich ein anderer Schatten auf die Kuhle zu. „Zunder! Deckung!“ flüsterte Tawnie erschrocken und zog den Kopf ein, an ihrem Werkzeuggurt nach dem schweren Schraubenschlüssel greifend. Sie war bereit, jeden anzugreifen, falls es nicht Ximasxi war… oder… naja gut, den Magier vielleicht auch nicht. Unbedingt. Nicht sofort. Plötzlich hörte sie Zunders Stimme hinter sich.

„Weißt du… ich… ich bin es wirklich… wirklich so unendlich leid… dass du mich ständig herumkommandieren musst!“ krächzte der Goblin irgendwo im Nachtdunkel. Seine Stimme klang so… fremdartig. All die Wärme, der Witz seines genialen Geistes schien daraus gewichen. Was sich darin noch fand, war Zorn. Nur noch Zorn. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu sprechen? Nach allem, was sie für ihn getan hatte? Nach all den Experimenten und deren Ergebnissen, vor denen sie ihn bewahrt hatte? „Vielleicht wäre das nicht nötig,“ setzte sie nicht weniger gereizt an, „wenn du nur einen Funken Verstand in deiner riesigen Rübe hättest!“ Hastig wandte sie sich um, wehrte mit dem Schraubenschlüssel einen Schlag Zunders mit einem kleinen Lötkolben ab. Mit der Rechten zückte sie einen Schraubenzieher aus ihrem Gürtel und brachte den Goblin auf Abstand. „Das wirst du noch bereuen!“ fauchte sie wütend.

 

Er war weg. Natürlich war er das, er hatte ja auch die Gruppe verraten, nicht wahr? Ximasxi hatte nur den Kopf durch die Hintertür hinein strecken müssen um zu bemerken, dass ihr irgendein widerwärtiger Geruch entgegen kam, der unmöglich gesund sein konnte. Vielleicht hätte sie daran früher denken sollen? Er hatte sie auf die Konsequenzen der Reagenz hingewiesen. Wenn sie das also nicht überlebte, wie sollte er dann? Nun, sie war davon ausgegangen, dass seine Magie ihm schon irgendwie helfen würde. Dazu war er ja schließlich Magier, oder nicht? Außerdem, war sie nur einen Augenblick ehrlich zu sich… so tragisch hätte sie einen Verlust gar nicht empfunden. Und hätte er nicht auch von sich aus den Mund aufmachen können? Er schien ja so schon kaum fähig, ihn wieder zu schließen, sobald er einmal in Fahrt war. Hätte er nicht irgendwo in seiner Rede voller Hohn, Spott und Beleidigungen den Vermerk einbringen können, dass er dieses Raumes ebenso würde flüchten müssen, wenn erstmal sein Werk getan war? Vorsichtig schlich sich die Diebin um das Gebäude herum, doch auch an der Vorderseite war Servatius nirgendwo zu sehen. Nun hatte sie also ausgespäht, dass zumindest der Schatzmeister Sundergrads und Urthada beide im großen Zelt sein mussten - immerhin hatte sie verfolgt, wie jemand den Befehl bekam, eine Information zu überbringen und der war auf dem Weg zum Kommandanten in eben dieses gelaufen - und hatte im Gegenzug ‚ihren‘ Magier verloren.

Mit etwas Glück war er zum Sammelpunkt zurückgekehrt. Falls nicht, würde sie ihm jeden Knochen einzeln brechen, beim Nachtvater, sie würde, ganz egal wie unentbehrlich er war! Mit gebrochenen Knochen war man ja noch nicht zwangsläufig tot, nicht wahr? Einmal mehr begann das leidige Schauspiel, das perfekte Timing abzupassen. Zwischen den Rundgängen von sechs Männern auf drei Hochständen und drei Männern auf Patrouille schlüpfte sie auf allen Vieren hinüber hastend durch die Maschen des Netzes und schlüpfte ebenso behände durch den Korridor hinaus. Sie eilte sich sogar dann noch, als sie unmöglich von den Wachen hätte gesehen werden können.

Zwei von drei Zielen waren erfüllt. Sie würde nur noch die Elbe ins Lager eskortieren müssen. Vielleicht wäre es ganz klug, für Zwischenfälle und dergleichen einen alternativen Sammelpunkt zu vereinbaren? Andererseits, Eloen war von allen, die an dieser Sache teilgenommen hatten, noch die mit dem höchsten Grad an Professionalität. Von einer Attentäterin erwartete Ximasxi einfach, dass sie sich entsprechend verhielt, die Regeln, die Grundsätze und sogar die Feinheiten von Infiltration und Flucht kannte!

Schließlich kam sie an der Bodenwelle ihres gemeinsamen Versteckes an. Der Regen hatte immer weiter zugenommen. Man versuchte im Lager die großen Feuer dagegen anleuchten zu lassen, indem man mehr Öl hinein gab, während die meisten Pechfackeln, die nicht direkt durch ein Dach geschützt waren, längst ihre Flamme verloren hatten. Das führte letztlich zu noch mehr größeren, helleren Feuern und dazwischen noch mehr umso dunkleren Flächen. Ein Spaziergang im Grunde, das Licht ballte sich dicht zusammen und rang mit der Nacht um die Vorherrschaft - ein kläglicher, ein lächerlicher Versuch des Aufbegehrens. Der Nachtvater siegte immer.

Als der Tiefling am Sammelpunkt ankam, fluchte sie hörbar. „Das darf nicht wahr sein!“ zischelte sie und blickte zu Eloen herüber. Die Elbe saß seelenruhig auf der anderen Seite der Kuhle, auf dem Kamm des Erdwalls und wartete. Von Servatius fehlte natürlich jede Spur. „Er hat uns verraten. Wir bringen das zu Ende und verschwinden!“ wies der Dämonensprössling an. Die Attentäterin erhob sich, ein ernstes Gesicht tragend, und schritt neben Ximasxi, bereit, den letzten Lauf zu bewältigen. „Wir sollten sie zu Jalil schicken. Je früher wir verschwinden, umso besser. Sie sind hier eh fertig“, schlug die Gehörnte vor und blickte die Elbe verwirrt an, als diese ihre Worte mit Nachdruck wiederholte.

„Allerdings, fertig sind sie.“

Erst jetzt nahm sich die Gildendiebin Zeit. Sie kniff die Augen zusammen, fokussierte ihren Blick in die dunkle Kuhle… und selbst sie musste einen Moment schwer schlucken. In Zunders Hals steckte ein Schraubenzieher. Bis zum Anschlag in das weiche Fleisch getrieben. Die Wunde wirkte, als habe man sogar noch daran herum gerissen. Ähnlich schwere und tiefe Löcher klafften quer über seinen Körper. Tawnie dagegen lag neben ihm. Man sah ihr nicht eine Wunde an… weil sie auf dem Bauch lag. Doch die spezielle, einzigartige Schattierung des Schwarzes, welches sich in der Wasserpfütze am Grund der Kuhle sammelte, bezeugte die Menge an Blut, die dort nicht fähig war, einfach im Boden zu versickern.

Zweifelnd blickte die Diebin zu Eloen auf. Eine Attentäterin… eine Mörderin… aber eine Professionelle. Assassinen richteten nicht solch eine Schweinerei an. Wenn sie das konnten, töteten sie sauber, schnell und am besten laut- und spurlos. Das hier, das war ein verdammtes Schlachtfest gewesen. Aber wieso? Wieso jetzt? Wieso hatte dieser Bastard sie nicht ins Messer laufen lassen, als sie gemeinsam in der Rüstungskammer festsaßen?

„Wenn ich raten soll,“ hob Eloen mit einer niedergeschlagenen Stimme an, „hat Aedan mit dem Zirkel einen Handel über ein Schmuckstück vereinbart. Das Heer zieht südwärts, wird aufgerieben und dem Sieger gehört die Beute. Aedans Leute beschaffen das Armband und geben es weiter. Im Gegenzug hilft Servatius bei… dem hier. Aber Zunder hat’s ausgegraben. Er hat es schon vorher gefunden. Ich denke… Servatius hat uns einfach ausgespielt. Wollte wohl schauen, durch wen er schneller an das Ding heran kommt.“

Eloen hatte nicht gelogen. Sie hatte Tawnie wirklich gemocht, ihren Freund ebenso, doch… was hätte sie tun sollen? Servatius wusste, wo der Treffpunkt war. Er hätte sie eingeholt, hätte sie die beiden schon vorgeschickt. Dann wäre Jalil jetzt sicherlich auch tot. Und sie allein? Die zwei gegen einen Kraftmagier verteidigen? Vielleicht wäre es möglich gewesen, aber dann hätte das Lager den Krawall bemerkt und die Aktion wäre aufgeflogen. Es gab hier noch einen Auftrag zu erfüllen, dafür hatte ihre Gilde sie hergeschickt. Das Einzige, was sie für die Zwei hatte tun können war, ihnen das Schmuckstück hier zu lassen. Das hätte ihren Tod schneller machen sollen. Leidloser, so hatte die Elbe gehofft. Er brachte sie um und bekam, was er wollte. Doch danach sah es nicht aus, nicht wahr? Hätte er das Amulett nicht mehr vorgefunden, hätte er vermutlich Himmel und Höllen in Bewegung gesetzt, um Jalil abzufangen, um Ximasxi zu stellen, um sie selbst gefangen zu nehmen. Nur wegen dieses Tands. Wussten die alten Götter, was das Ding konnte, das der Zirkel so verrückt danach war. Wäre das Amulett nicht dort gewesen, er hätte die beiden gefoltert. Gequält. Aber ihre Mühen, sie davor zu schützen, schienen gescheitert.

Für Ximasxi, die nach und nach die Zuammenhänge begriff, auch Eloens Sichtweise zu begreifen begann, wurde alles noch viel schlimmer. Ihr erstes richtiges Kommando über eine größere Gruppe, mit dem Einsatz von Experten und Mitgliedern anderer Organisationen und sie… führte sie alle in den Tod. Die ganze Zeit über hatte sie genau gewusst, dass dieser Schlange nicht zu trauen war. Aber sie hatte auf Beweise gehofft. Auf etwas Handfestes. Selbst jetzt sah es so aus, als wäre einfach nur eine der unzähligen Streitereien eskaliert. Aber wer die beiden je hatte streiten sehen und hören können - und dazu hatten sie in den vergangenen Tagen genug Gelegenheit gehabt -, der wusste einfach, dass sie sich viel zu sehr geliebt hatten, um einander auch nur ein Haar zu krümmen.

Sie gab es ungern zu… doch sie hatte die beiden ebenfalls gemocht. Jeder auf seine Weise hatte sie an ihre erste richtige Freundin erinnert. Luzula, die aufgeweckte keine Zwergin mit nur einem Arm und ihrer merkwürdigen Art, über Kohlewagen und Zahlen zu reden. Gerade Tawnie hätte ein kleineres, schmaleres Abziehbild der aufgeweckten Zwergin sein können. Nun lagen beide tot und durchlöchert in einem Graben. Sie bemühte sich darum, sich auf die Sache zu konzentrieren. Alles drohte aus dem Ruder zu laufen, alle Pläne kippten. Dabei war der Auftrag doch erfüllt, nicht wahr? Die Maschinen waren sabotiert. Servatius konnte nicht wissen, wo oder wie. Der Zeitplan würde einen Austausch der Belagerungswaffen auch nicht mehr erlauben. Die Waffen waren präpariert… oder hatte der Magier das nur vorgetäuscht?

Selbst wenn, es gab noch einen Punkt zu erfüllen. Selbst wenn sie den Auftrag nicht mehr vollständig würde abschließen können, so konnte sie für Sundergrad, für die Gilde, für ihren Meister Aedan, doch noch immer das Beste herausholen, was möglich war. Dazu müsste sie ‚nur‘ Eloen ins Lager bringen. Drei Attentate, drei Tote und sie hätten alles getan, was in ihrer Macht stünde. Ob sie dabei sterben würden? Können war ein hoher Wert, der vieles garantieren konnte. Aber konnte er auch das Überleben gewährleisten, wenn man so etwas beabsichtigte, wie sie es nun mit der Elbe im stummen Blickwechsel plante?

„Darf ich mir einen Glücksbringer holen?“ erkundigte sich die Assassinin. Ximasxi zuckte mit den Schultern. Ihr war egal, ob sie die Leichen plünderte. Tote brauchten ihre Habe ohnehin nicht. Sehr zu ihrer Überraschung jedoch trat die Elbe plötzlich näher, viel näher, zu nahe. Sie hob, eher aus einem Reflex, bereits die Klaue und wollte weichen, lehnte sich zurück, doch die geschickte Elbe hatte sie schon mit der Rechten im Nacken gefangen und ihre Linke hielt das Handgelenk des Tieflings davon ab, die Krallen durch ihr Fleisch zu jagen.

Völlig erstarrt blickte die Gehörnte ihr Gegenüber an, spürte ihre Lippen, die unerwünschte Nähe… die Zunge, die sich in ihren Mundraum schob und ihre Eigene anstupste. Sie hätte zubeißen können. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihre Zähne waren scharf und spitz, sie hätte ihr elendig ein gutes Stück Frechheit abreißen können!

Doch sie tat es nicht. Stattdessen ließ sie die forsche Elbe gewähren, hob ihre Zunge ein Stück weit und ließ dennoch mehr oder minder unbeteiligt geschehen, was vor sich ging. Als sich Eloen wieder von ihr löste, lag in ihrem Blick keine Reue. Keine Entschuldigung wurde geflüstert, nichts. „Sie ist wirklich gespalten… unglaublich…“ hauchte sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit leise und lächelte zufrieden, „Danke. Wir sollten jetzt los.“

 

Kein Wort ging darüber verloren, was sie in der Grube zurück ließen. Kein Wort, wie aussichtlos ihre Lage inzwischen geworden war. Noch nicht einmal darüber sprachen sie, wo sich Servatius wohl aufhalten mochte und dass es ebenso denkbar war, dass er das Weite gesucht hatte - er besaß ja nun immerhin alles, was er wollte und wofür er gekommen war -, als auch, dass er Urthada längst von den Attentatsversuchen und den genauen Zielen unterrichtete. Was davon zutraf, würde sich nicht einfach nur zeigen, wenn es soweit war, nein: Es spielte auch absolut keine Rolle. Eloen und Ximasxi waren beide Experten ihrer Profession. Sie waren beide hier, um das Band zwischen ihren Gilden wieder zu stärken und Sundergrad als die Macht abzusichern, frei und unabhängig, die sie inzwischen geworden war. Kein Zurück. Sie konnten sich lediglich auf ihr Können verlassen und… hoffen. Auf Glück, auf einen, wenigstens einen funktionierenden, reibungslos ablaufenden Plan.

Im Geiste betete die Gehörnte zum Nachtvater, er möge schützend die Hand über sie halten. Eloen… nun, die konnte ja wohl für sich selbst beten! Tatsächlich tat die Elbe das sogar. Sie rief jedoch Lenikki an und erbat sich nicht einfach nur ein Gelingen ihrer unsicheren Route zum Ziel, sondern allem voran auch die glückende Flucht - jedoch für sich und den Tiefling. Ob der Affengott ihr hold war oder es amüsanter fand, wenn sie ins offene Messer rannte, würde sich zeigen müssen.

Rasch schlich sich das Duo durch die schlechte Beleuchtung der Eintrittsstelle. Niemand sah die zwei Schatten, die agil durch das Zwielicht glitten und lautlos zwischen den ersten Hallen verschwanden. Ein Zeitfenster von ein paar Sekunden genügte ihnen völlig, um sich in geradezu beeindruckender Geschwindigkeit und dennoch vollkommen lautlos unter allen Blicken hindurch zwischen zwei Patrouillen auf die andere Seite des Streifens zu begeben. Von dort aus führte der Weg über einen kleinen Abhang hinunter auf die Ebene, auf der die Soldaten untergebracht waren. Der Proviant, die Planwagen, schlichtweg alles andere. Das Zelt der Führungsoffiziere stand fast zuvorderst. Ohne Mühe hätte man eine der Lagerhallen darin unterbringen können - und das für kaum mehr als ein Dutzend Personen.

Die Gilden der Attentäter und Diebe hatten eine lange Vergangenheit und sie war an weit mehr als nur einer Stelle eng miteinander verknüpft. Das hatte irgendwann dazu geführt, dass man gemeinsame Operationen unternahm und sich damit unweigerlich auch auf gemeinsame Zeichen zur Verständigung einigen musste. Die Kodizes, mit denen sie zu Werke gingen, glichen sich daher fast vollständig und unterschieden sich lediglich in einzelnen Bereichen, die doch sehr auf die jeweilige Gilde spezialisiert waren. So brauchte ein Attentäter keine Zeichen dafür, auf welche Weise man ein Schloss öffnete oder etwas aus einer Tasche holte, während ein Dieb nicht die Tötungsart wortlos umschreiben können musste. Nun jedoch, da beide, Diebin und Attentäterin, gemeinsam an der Rückwand des Zeltes angelangten, verständigten sie sich über eben dieses Signalsystem.

Der Plan war ursprünglich gewesen, dass Ximasxi für Ablenkung sorgte und Eloen ihre Arbeit erledigte. Doch die Attentäterin war schmal und schmächtig, sie war auf ihre Gifte und wenige, präzise Treffer angewiesen. Würde Servatius jedoch tatsächlich im Lager herumstreunen oder hätte gar längst Urthada und die Offiziere gewarnt, so war der Überraschungsmoment verschenkt und darauf zu hoffen närrisch. Wenn sie ihre Arbeit gut machten, brauchten sie gar keine Ablenkungsmanöver, die unnötig Staub aufwirbeln und schläfrige Sinne schärfen würden. Begingen sie jedoch ohnehin einen Fehler, war es eh vorbei - entsprechend einigten sie sich rasch darauf, dass das Tieflingsweib mit hinein ging, um Eloen den Rücken frei zu halten und im Notfall… selbst den Streich zu führen.

Mit einem möglichst leisen und daher langsamen Schnitt ihrer Krallen trennte sie eine Zeltrückwand auf. Dahinter hatte kein Licht mehr gebrannt, gleichwohl wie in den Kammern daneben. Derbe, schwer durchschaubare Leinenwände, die bestenfalls Silhouetten erahnen ließen, trennten die Zellen der Offiziere voneinander. Allerdings war ihnen entgegen der Hoffnungen beider nicht vergönnt, in eine leere Zelle zu schlüpfen. Der schmächtige Bursche darin schlief lediglich und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Geräusche von draußen oder ein kühler Luftzug wecken würden. Die Einigung war schnell erzielt… und das Leben des Burschen ebenso schnell beendet. Die Finger dicht auf seine Lippen gepresst, harrte die Elbe aus, bis das Nervengift wirkte. Nur wenige Sekunden des Verkrampfens, dann erschlafften seine Glieder bereits.

Weiter pirschten sie sich. Jalils Informationen hatten lediglich die ungefähre Position des Schatzmeisters enthalten. Neben der Aufklärung diente ihnen zur Orientierung lediglich, was ihm Aedan über das Äußere mitgegeben hatte, doch schwerlich konnten sie in jede Zelle lugen und prüfen, ob zufällig der richtige Mann darin wäre. So war zumindest die Theorie. In der Praxis jedoch hatten sie schon rasch erkennen müssen, dass ihnen im Grunde nichts anderes übrig blieb, weshalb sie damit begannen, die dunklen Abteilungen zuerst zu kontrollieren. Leer oder schlafend, bei vier Gelegenheiten fanden sie nicht, wen sie suchten - bei der Fünften schon.

Ximasxi harrte in professioneller Geduld hinter dem Einlass der kleinen Kabine aus, während die Attentäterin ihr erstes Opfer in den ewigen Schlaf geleitete. Gleichermaßen unschön anzuschauen, wie es das auch beim ersten Mal der Fall gewesen. Wieder draußen auf dem kleinen, provisorischen Gang inmitten des Zeltes, blieben ihnen noch zwei Opfer zur Wahl. Urthada als Kommandant dieses Heerlagers und Befehlsführer des Angriffes und der ominöse Fremde. Schon als sie eine dunkle, tiefe Stimme nahen hörten, ahnte Ximasxi, das ihr Auftrag im Begriff war, noch eine Spur schwieriger zu werden. Sie kehrten rasch in das Zelt des Buchführers zurück und schlossen es so gut sie konnten. Eloen verbarg sich unter dem Bett des Verstorbenen, Ximasxi drückte sich flach an den Boden. Obwohl es dunkel war, konnte keiner von beiden ausschließen, dass das Licht aus dem Korridor nicht genügen würde, ihre Umrisse zu erkennen - in dem Fall wirkte es wie einer, der vor Feierlaune das Bett nicht gefunden oder sich in einem Alptraum heraus gerollt und selig auf der Erde weitergeschlafen hatte. Beides war völlig in Ordnung, solange nur Panaver nicht auf die Idee kam, nachzuschauen - denn kein geringerer als ihr Ziel marschierte mit einem Soldaten an seiner Seite prompt an ihnen vorbei.

„Mir egal, was er will. Wenn es nicht wichtig ist, reiße ich ihm den Kopf ab!“ grollte der Befehlshaber und verschwand jenseits des Zeltes in der Lagerstadt. Damit wurde er zumindest für den Augenblick nahezu unangreifbar, denn dort draußen warteten mehr Pfeile, Bolzen und Klingen, als sie beide zu überwinden und zu umtänzeln fähig waren. Das Schicksal, so schien es, hob zumindest vorläufig noch seine schützende Hand über die Ausgeburt der Skrupellosigkeit und bevorzugte damit das Verscheiden des Fremden.

Sein Quartier wiederum war rasch gefunden. Noch immer brannte Licht in der kleinen Zelle, die dreimal so groß war wie alle anderen abgegrenzten Bereiche. Das musste es einfach sein! „Tretet nur ein“, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Inneren. Erschrocken wechselten Ximasxi und Eloen Blicke, ehe sie sich beide wieder fassten. Sie waren also erkannt worden. Vielleicht nicht als Attentäter, aber das würde gleich folgen - sie würden diesen Auftrag zu einem Ende bringen!

Doch schon als sie den Vorhang durchschritten, versagte dieser Mut.

Bei beiden.

 

„Was soll das?“ fauchte Panaver, als man jemanden… nun, zu ihm eskortierte. Eigentlich hatte er Handschellen verlangt. Er ging von einem Gefangenen aus, als man ihn darauf hingewiesen hatte, der Verräter sei zur Stelle, um endlich seinen Teil des Geschäfts zu erfüllen. Urthada wusste, dass das Heer morgen abrücken würde. Er wusste es so gut wie jeder andere hier, so gut wie die Saboteure ebenfalls. Er gedachte sich nicht länger hinhalten zu lassen und nun endlich, da der Dummkopf direkt in sein Lager spaziert war, war er obendrein nicht nur erkannt worden, sondern greifbar! Er würde zur Not alles, was er benötigte, aus ihm heraus bekommen. Egal wie! Doch nun brachten seine zwei Männer diese in Wasser und Matsch gehüllte Witzfigur eines Adligen her, der wohl kaum etwas mit Mördern und Dieben zu tun hatte.

„Danke. Ihr könnt jetzt gehen“, ließ Servatius leise verlauten. Daraufhin kehrten sich die Burschen mit leeren Blicken ab und verschwanden irgendwo zwischen den Zelten, während der Geistmagier seine Taschen leerte. Einige Steine kamen zum Vorschein. Utensilien, die er in der Hexenkiste gekauft hatte und sie sich im Verlaufe dieser Farce als unersetzlich erwiesen hatten. Zwei davon ließ er ungeachtet in den Dreck fallen. Einer hatte sie vor dem Wachmann in der Rüstkammer verborgen… der Zweite hatte sich in seiner linken Tasche befunden, als er den Stuhl hatte umkippen und sich bewegen lassen. Überaus nützliche kleine Dinger, um irgendwelchen naseweisen Elben vorzugaukeln, dass man nicht war, was man eben doch war. Der Rest verschwand wieder in der Tasche, noch immer drei oder vier Stück, die er einzig anhand ihrer eigenwilligen Farbgebung auseinander halten konnte. Kiesel, die man angemalt und mit einem Einwegzauber belegt hatte. Jeder Magier, der wirklich etwas auf sich hielt, kaufte bessere Artefakte als dieses Spielzeug! Aber es hatte seinen Nutzen erfüllt.

„Ich gedenke einzufordern, was mir gehört. Aber ach, stimmt ja! Ihr wolltet mich inhaftieren, nicht wahr? Nun, es steht euch natürlich frei, das zu versuchen. Allerdings würde ich euch raten, eure Prioritäten zu überdenken. In diesen Sekunden schlachtet sich ein ziemlich übellauniges Pärchen durch die Reihen eurer Getreuen, mein Freund. Eine elbische Attentäterin, die auf euren speziellen Gast ganz versessen ist. In Begleitung einer alten Bekannten, wie ich vermute? Ein weibliches Scheusal, eine Dämonenbrut? Tiefinge? Mir ist eigentlich egal, wie ihr sie nennt. Ihr solltet sie jedenfalls aufgreifen, solange sie noch bei der Arbeit sind, nicht wahr? Los, kuscht euch! Ich denke, ich werde derweil wieder gehen und wir sehen einander nicht wieder. Ein guter Vorsatz, nicht wahr?“ Am liebsten, das sah Servatius ohne jede Mühe, hätte Urthada ihm die Zunge herausgerissen und noch so manches mehr angetan. Doch Fakt war: Das konnte der Kommandant gar nicht. Denn der Befehlshaber dieses Heeres war nicht länger allein in seinem Kopf und die Stimme, die dort sprach, war so unglaublich bohrend, so schmerzhaft… sie allein kontrollierte ihn. Ließ seine Miene reglos verharren, ließ ihn stehen, die Lippen öffnen, ließ ihn fragen, warum er das alles täte und ihnen helfen würde. „Oh, wie schön das ihr fragt. Nun, ich habe am Niedergang dieses Geschöpfes ein gewisses Interesse. Nichts Persönliches im näheren Sinne, ich… kann ihresgleichen einfach nur nicht leiden, ihr versteht? Oh ja, ich denke, gerade ihr versteht das bestens, wenn ich mir euer Gesicht so anschaue.“

„Geht jetzt!“ verlangte Panaver, nach wie vor nicht Herr seiner Selbst. Servatius dagegen hob beschwichtigend die Hände, verabschiedete sich in aller Höflichkeit mit einer Verbeugung und schritt wieder in die Nacht davon. Erst als er das Lager verlassen hatte, brach der Zauber über Urthada, der aufkeuchend sich vornüber krümmte. Fast ein Dutzend Männer hatte das Spektakel verfolgt, hatte es geglaubt und keiner von ihnen verstand, was plötzlich mit ihrem Kommandanten vor sich ging. „Können wir euch helfen? Herr?“ Doch der Hüne stieß die hilfsbereiten Hände mit einer rüden Geste von sich und heischte sie an, sich verdammt nochmal endlich in Bewegung zu setzen. Nur wenig später rannte auch er so rasch er das vermochte auf das große Zelt zu.

 

Sie kannte ihn.

Eine Erkenntnis, die Ximasxi mehr schmerzte als alles andere. Völlig bar aller Furcht tat sie einen Schritt hervor, noch einen, noch einen. Sie näherte sich dem Feind. Dem Ziel. Der Person, die sie zu töten hatten, der Geheimwaffe dieser Armee. Wie aber hätte sie ihren Auftrag jetzt noch durchführen können? Sie kannte ihn! Er sah anders aus. Das Gesicht war breiter, kantiger, die Figur nicht gänzlich ausgemergelt. Doch wenn sie in seine dunklen Augen blickte, tief in die Höhlen eingesunken, dann erkannte sie darin, was sie auch damals in ihm gefunden hatte.

„Natti… Natti nicht, bitte! Höre doch, wir müssen fort von hier!“ bettelte Eloen, der eine Gänsehaut nach der Nächsten den Rücken herab jagte. Einmal nur kurz musste er die Hand heben und die Elbe verstummte. Für immer. Sorgenvoll wandte Ximasxi den Blick, sah nach ihrer Begleiterin, doch sie war fort. Kein Tropfen Blut, nein. Keine Schreie, keine Schleifspuren, nichts. Sie war einfach fort. Verloren in Dunkelheit und Kälte.

Die Diebin jedoch begab sich vor dem Stuhl ihres vermeintlichen Opfers auf die Knie, zitterte, als er die Hand hob. Tränen rannen über ihre Wangen, als er über ihr struppiges Haar fuhr, wirr, zerzaust, unter den Lumpen verborgen, mit denen sie sie zu verstecken versucht hatte. Er strich sie zurück, entblößte ihre Hörner, sah in ihre Augen und erblickte nur Schönheit und Nutzen, eine Fusion aus beidem, die glorreicher nicht hätte sein können. „Die Welt hat dir Schreckliches angetan, Kind. Sie versteht dich einfach nicht. Du fühlst dich allein… du fühlst dich verlassen. Du glaubst, er hat dich verlassen. Verzweifle nicht, mein Kind. Der Nachtvater hat dich erhört.“

Haltlos schluchzend brach der Tiefling unter der fürsorgenden Hand des Priesters zusammen, drängte sich an seine Beine, barg den Schopf in seinem Schoß. Sie versuchte ihr Gesicht zu verstecken, die Peinlichkeit ihrer Schwäche. Seine Worte trafen sie so schmerzhaft, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Wahr, sie waren so grässlich wahr, jede Silbe davon! Was aber, wenn er nicht log? Was, wenn der Nachtvater sie nie verlassen hatte? Eine Prüfung? Ein Missgeschick? Dummes, wertloses Menschenvieh, das in Unkenntnis seine Pläne gestört hatte?

„Ergreift sie!“ dröhnte Panavers hassverseuchte Stimme hinter ihr. Sein Zorn zerschnitt die Harmonie und Eintracht, die den Raum zu fluten begonnen hatte. Selbst der Diener des Nachtvaters zog verärgert die Stirn kraus. Konnte dieser einfältige Stümper denn nicht erkennen, wie unpassend er kam?

Mit einem Ruck löste sich die Diebin, ihre Lumpen wieder über die Hörner zerrend. Der Dolch landete zielsicher zwischen den Rüstungsplatten, kaum, dass sie sich unter dem Schwerthieb des ersten, nahenden Soldaten hindurch geduckt hatte. Hastig riss sie die Rückwand des Zeltes auf und stürmte hinaus ins Freie.

Flucht. Sie musste fort von hier. Soldaten, sie waren überall, Wächter schrien Befehle. Ergreift sie, ergreift sie! Sie musste fort von hier. Zurück nach Hause, zurück in ihren Keller! Der Nachtvater hatte sie nicht verlassen, nicht verloren, nicht aufgegeben… oh wie hatte sie das nur glauben können?!

„Auf wessen Seite steht ihr eigentlich?“ fauchte Urthada den Priester harsch an, der daraufhin lediglich mit einem drohenden Funkeln in den Augen das Haupt hob. „Und ihr?“ erwiderte der Diener lediglich, ehe er sich aus dem Stuhl erhob, das Buch auf seinem Schreibtisch schloss und sicher am Leib verstaute, „Ihr werdet dieses Geschöpf gehen lassen. Und ich begleite euch nicht länger nach Sundergrad. Meine Geschäfte hier haben sich geändert.“ Fassungslos starrte der Kommandant in das fahle, faltige Gesicht seines Gegenübers. Das musste ja wohl ein schlechter Scherz sein! Unmöglich, das war völlig undenkbar! Seine göttliche Majestät selbst hatte ihm die gesamte verdammte Hilfe zugesichert, die sich hier versammelt hatte. Das betraf die Männer, die Waffen, die Katapulte und ja, verflucht, das betraf auch dieses widerliche kleine Gerippe!

„Das werden wir ja noch sehen!“ fauchte der Befehlshaber und stürmte durch den Riss in der Zeltwand davon. Ximasxi laufen lassen? Aber ganz gewiss nicht, er würde ihre Innereien auf als Dekoration auf der zertrümmerten Mauer Sundergrads verteilen, das ja, aber er würde sie ganz gewiss nicht laufen lassen! Sie hatte damals schon sterben sollen, dieses kleine Dämonenflittchen, es wurde Zeit, dass dieser Fehler korrigiert, diese Missgeburt endlich ihrem Schicksal zugeführt wurde.

 

Tatsächlich schien Kommandant Urthada Glück zu haben. Das gefühlt erste Mal in seinem Leben erwiesen sich die Männer, die man ihm unterstellt hatte, als fähig und reaktionsschnell. Sie hatten das kleine Miststück eingekesselt und in die Enge getrieben. Fünf Mann hatte sie bereits angegriffen, zwei von ihnen getötet, zwei schwer verletzt, als sie sich daran versucht hatten, die Lagerhalle Nummer drei zu erstürmen. Die Hauptpforte, so klärte man Panaver auf, ließ sich nur durch einen schweren Riegel von innen öffnen und die Nebentür hielt sie verbarrikadiert und gesichert.

Zornig zerrte er den Wächter heran, der ihm die Lage zu erklären versucht hatte und deutete auf das Gebäude. „Mir egal, wie ihr es macht! Holt ein Katapult und schießt das Tor in Stücke, holt einen Hammer und schlagt fünf neue Eingänge, mir egal, aber bringt mir dieses Weib!

 

Noch immer aufgelöst, war ihre Sicht verschwommen. Ihre Hände zitterten, alles brach über sie herein. Die Einsamkeit der letzten Tage und Wochen, ihr Leiden, alles, was sie zu verdrängen und zu begraben versucht hatte, es war wieder da. Einfach so, ungefragt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Was also sollte sie nun machen? Blindlings war sie geflüchtet, hatte sich in dieser Lagerhalle versteckt, weil man ihr bereits zahlreich entgegen kam. Und nun? Was gab es hier schon! Holz und Metall, eingebaut in große Belagerungsmaschinen, mit denen sie nicht das Geringste würde anfangen können!

Abrupt hielt sie inne. Selbst ihr unregelmäßiger, verzerrter Atem stockte einen Moment und aus aufklarenden Augen blickte sie auf die gewaltigen Wallbrecher hinüber. Zunder hatte diese kleinen Röhrchen mit dem merkwürdigen, bläulichen Gemisch immer so vorsichtig behandelt und Tawnie hatte die Tasche immer sorgenvoll im Auge behalten, wann immer es darin klimperte… weil die Chemikalien empfindlich waren.

Sie hatte schon einmal ein brennendes, einstürzendes Haus überlebt. Und das hier, dessen Baustruktur war geradezu lächerlich! Kinder bauten Sandburgen, die stabiler und haltbarer waren. Bei der Menge würde es einen gewaltigen Feuerball geben. So wenig Mörtel würde die Steine nicht halten können, es würde sie wie Geschosse nach außen werfen und sie… ihr konnte die Druckwelle vielleicht das eine oder andere brechen. Aber die Flammen würden ihr nichts anhaben. Sie könnte durch ein gesprengtes Loch entkommen, während die von den Ziegeln getroffenen Wächter noch am Boden lagen.

Kein schönes Szenario… aber das Beste, das sie im Moment hatte. Denn der Mann, der dort draußen herum brüllte, dass sie keine Chance mehr hatte, würde ihr keine Gnade gewähren. Das wusste sie. Hastig rappelte sie sich auf ihre wackeligen Beine, stolperte zum ersten gewaltigen Katapult herüber und begann zu suchen. Sie hatte genug Wächter am Eingang verletzt, damit sie erst einmal abwarten und sich eine andere Lösung einfallen lassen würden. Sie musste nur eines der Löcher finden, den Pfropfen entfernen und die Phiole zerstören. Vielleicht würde das in einer Kettenreaktion auch die anderen auslösen. Mehr als es versuchen und sich im Falle des Scheiterns stellen und das Beste hoffen konnte sie inzwischen ohnehin nicht mehr.

Alles war gescheitert - da konnte man sich doch verzweifelte Pläne erlauben, oder nicht?

„Kommandant, wir wären bereit, um-“ setzte der Wächter gerade an, da verlor sein Befehlshaber alle Geduld. „Schnauze, weg da!“ blaffte Panaver nur noch, schubste seinen Adjutanten zu Boden und zog das Schwert. Dann würde es eben wie damals laufen. Er prügelte ihre verdammte, verdorbene Seele aus ihrem Leib und diesmal würde ihm kein verdammtes Feuer in die Quere kommen. Er würde garantieren, dass sie tot war!

Just als er mit dem schweren Stiefel gegen die Tür treten wollte, um sie mit Schwung aufzubrechen und das Scheusal, sollte sie dahinter lauern, gleich umzuwerfen, platzte im Inneren eine von Zunders Mischungen. Die folgende Kettenreaktion bewirkte fast, was Ximasxi sich gewünscht hatte. Ein gewaltiger Feuerball ließ das Lagerhaus regelrecht aufplatzen, hunderte Ziegelsteine schleuderten herum und verletzten zahllose Soldaten schwer oder töteten sie gar, während Panaver mit der Druckwelle mehrere Meter zurückgeschleudert wurde, dem Geschosshagel so jedoch entging. Ächzten und keuchend lag der Kommandant einige Momente am Boden, während sich für Ximasxi zeigte, worin der Fehler ihres Planes lag. Ein Großteil hatte die oberen Bereiche der Seitenwände zerstört und weggesprengt, sodass das fast nahtlos abgehobene Dach aus tonnenschwerem Gebälk und Ziegeln keinen gleichmäßigen Aufsatzpunkt mehr fand. Es rutschte, knackte, brach und barst, bis das halbe Gebäude in sich zusammen fiel und lodernd in Flammen aufging. Selbst die Steine schienen unter Kontakt mit Zunders Gemisch lichterloh zu brennen.

Sein Adjutant war es abermals, der Urthada wieder auf die Beine half. Der blickte fassungslos auf die immer weiter in sich zusammenfallende, bedrohlich knackende Ruine, auf die in den Himmel aufragende Rauchsäule, die gelegentlichen Stichflammen. „Nein. Nein!“ schrie der schwarze Hüne außer sich vor Zorn. Abermals packte er den Soldaten neben sich, „Holt sie da heraus! Sofort!

„Aber Kommandant, seht doch! Das Haus brennt, es stürzt ein! Es wäre zu gefährlich, jemanden hinein zu schicken. Sie verbrennt sowieso bald. Sie ist vermutlich längst tot!“ Alle Versuche, ihm diesen Irrsinn auszureden, scheiterten. Er konnte es sehen. Schon an der maßlosen Wut, ehe Panaver die Faust durchzog und ihn mit einem verheerenden Hieb in den Magen zu Boden gehen ließ.

„Sie ist nicht tot!“ zischte der Offizier wie ein Besessener und eilte einige Meter vor. Sein Schwert vom Boden greifend, verschwand er in der immer weiter zusammenbrechenden Gluthölle. „Komm raus! Zeig dich, ich weiß, du bist hier! Komm heraus!“ keifte er so laut, dass selbst die fassungslosen Männer, die ihn im Gebäude hatten verschwinden sehen, hören konnten. Zwischen eingestürztem Mauerwerk arbeitete er sich mit dem Schwert und Stiefel hindurch, die Flammen ignorierend stieg er über brennende, massive Querbalken hinweg und quetschte sich immer tiefer ins Zentrum der Verwüstung, bis er schließlich ein kleines, nahezu unversehrtes Areal fand… auf dem sein Ziel kauerte. Sie hielt sich die Rippen mit einem Arm, dessen Schulter selbst nicht mehr recht wirkte. Im anderen Arm hatte sie bereits keinerlei Gefühl mehr, ragte ein beachtlicher Holzsplitter aus dieser Schulter hervor. An ihrem Fuß waren zwei Klauen in einer Pose abgebogen, die unmöglich gesund sein konnte - selbst für eine Dämonenbrut nicht. Ihr ach so genialer Fluchtplan, so erkannte Panaver, hatte ihr selbst beinahe das Leben gekostet.

Nun, einen Fehler  gab es bei dieser Erkenntnis: das beinahe.

Mit der erhobenen Klinge trat er näher, doch sie sah ihn nicht einmal an. Sie flüsterte, nuschelte irgendetwas vor sich hin. Nickte. War sie wahnsinnig geworden? Und ganz plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, krochen die Schatten zusammen, die das Feuer formte, bildeten eine Gestalt jenseits des Lichtes der Flammen. Direkt neben Ximasxi hockte plötzlich der Priester. Er kümmerte sich anfangs noch nicht einmal um die Gegenwart des Offiziers. „Nimmst du mein Angebot an?“ erkundigte er sich, fuhr mit der krankhaft dürren Hand über die tränenfeuchte Wange der Missgeburt und lächelte über ihr artiges Nicken. Schließlich richtete er sich auf und wandte sich mit einer Miene völliger Gleichgültigkeit an Panaver. „Ich habe euch doch gesagt, ihr hättet sie gehen lassen sollen. Ich nehme sie mit mir.“

Der Hüne trat vor, die Klinge drohend erhoben. Doch er wusste, selbst in seinem rasenden Zorn, dass er dieser Gestalt, so schwächlich und widerlich kränklich sie auch wirken mochte, nichts entgegensetzen konnte. Stattdessen also deutete er mit der Schwertspitze zu jenem Scheusal herab, das er schützte. „Glaube mir… ich werde dich suchen… ich werde dich jagen und ich werde dich finden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Mit einem Blick auf die umliegenden Mauern zog ein zartes Lächeln auf die bläulich untersetzten Lippen des Dieners. „In der Tat.“

Sekunden später wurden die Soldaten Zeugen, wie der klägliche Rest der Lagerhalle völlig in sich zusammenfiel. Dem Kartenhaus gleich, welches am Ende kaum über die Fläche erhaben war, auf der man es errichtet hatte, blieb scheinbar kaum ein Stein auf dem anderen.

 

Tags darauf wurde das Heerlager geräumt. Die Armee zog südwärts vor die Tore Sundergrads und Jalil, der vergeblich auf seine Gruppe wartete, überbrachte seinem Gildenmeister einige Wochen später Tawnies Zeichnungen und alle Informationen, die er über den Ablauf des Einsatzes und den Verbleib der Mitglieder hatte.

Die Armee hatte sämtliche Waffen eingehend geprüft und keine Spuren der Manipulation gefunden. Ohne es gewusst zu haben, war der Auftrag dennoch gelungen. Die Belagerungsgeräte, die verblieben waren, töteten dutzende sie umgebende Soldaten, als man damit auf die massiven Wälle der Stadt zu feuern versuchte. Als die Männer mit Leitern die Wälle zu erstürmen versuchten, konnten ihre Rüstungen den Pfeilen kaum mehr Widerstand bieten als es jedes läppische Leinenhemd vermocht hätte und ihre Schwerter brachen schon beim ersten Mal, da sie auf einen Schild oder die Klinge eines Piraten stießen. Die Geheimnisse des Buchführers Sundergrads gingen mit ihm ins Grab ein und die erhoffte Geheimwaffe setzte weder Schrecken noch Seuchen aus. Die Stadt blieb verschont, vorerst, nur ein kurzes Gefecht, bei dem einige hundert Soldaten regelrecht dahingeschlachtet wurden. Kein Krieg, kein Scharmützel - eine Schlachtbank, zu der man die Lämmer geführt hatte, die Wölfe zu sein glaubten.

Panaver Urthada jedoch traf es wohl am härtesten. Er erduldete nicht das milde Schicksal eines raschen Todes in einem grausigen Gefecht. Von unzähligen Trümmern waren seine Glieder zerschlagen worden. Seinen rechten Arm würde er nie wieder führen können, wie er es gewohnt war. Ob er je wieder laufen könnte, stand sogar völlig in Zweifel. Sein Gehör, sein Augenlicht, seine Lungenfunktion, alles hatte unter Rauch, Feuer, Staub und Stein gelitten.

Und die Wache beschäftigte keine Krüppel…

 

Von Ximasxi Natternzunge jedoch fehlte jede Spur. Die Flammen hatten sie geholt, behauptete man unter den Soldaten, die noch nicht wussten, dass sie todgeweiht waren. Ein Dämon soll sie gewesen sein, der heimgekehrt war, behaupteten skeptische Stimmen in Sundergrad.

Nichts von alledem aber hielt Aedan davon ab, alle Hebel zu bedienen, um sie wieder aufzustöbern. Seiner Erfahrung nach konnten Diebe unsichtbar werden… aber wahrhaftig in Luft auflösen, das vollbrachte niemand. Dabei war es weit mehr als nur das professionelle Interesse an ihren erstaunlichen Fertigkeiten. Mehr als nur der Wille, sie zu nutzen.

Es war etwas Persönliches.



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