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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Das schwächste Glied

Ob nun in den großen Geschichten der Weltliteratur, in kleinen Zitaten kluger Köpfe oder auch nur im so oft zitierten Volksmund - es gibt eine Aussage zum Thema des Verrates, deren Kern in all den Quellen sich doch oftmals gleicht oder zumindest ähnelt:

Die Kette bricht am schwächsten Glied.

Wer seinerzeit einen Blick nach Lumiél warf, bei allen Alten Göttern, der sah ohne jeden Zweifel genug Ketten. Ein Land, das darin gebunden war. Mehr als nur ein Volk, welches unter dem stählernen, geschmiedeten Gewicht zu leiden hatte. Seine Majestät selbst sorgte stets bemüht und gewissenhaft dafür, dass eben jene Bindungen stark blieben, dass sie nie ihren Halt verloren, so eng wie möglich saßen und es eben keine schwachen Glieder gab. Er knebelte und geißelte das gesamte Land - je enger die Ketten, umso mehr Kontrolle erhielt er und umso enger schnürte er die Glieder.

Doch die gleiche Mechanik fand man auch ohne große Mühe an anderer Stelle. Wo sich die Finsternis ausbreitet, kommen über kurz oder lang immer ein paar erste Mutige auf die Idee, Licht zu entzünden. Einen Widerstand findet man, gleich welcher Form, unter nahezu jeder Tyrannei. Mal offener, mal verborgen. Die Rebellen im Land der Monde zogen die Heimlichkeit vor, wissend um ihre noch mangelnde Stärke, wissend um die allgegenwärtige Präsenz der Krone, die ihre für die offene Konfrontation noch nicht ausreichenden Kräfte zerstreuen würde, falls sich nur die Gelegenheit böte.

Eine Kette aus diesem Widerstand, dessen Herz in den unterirdischen Kanälen Samaras schlug, waren eine Hand voll Adliger, deren Besitztümer verstreut im Land lagen, deren Bewohner kaum unterschiedlicher hätten sein können - ganz wie ihre Charaktere, ihre Motivationen. Nur das gemeinsame Ziel band sie zusammen, der Wille, Phillipe den Dritten vom Thron zu stürzen, die Ansicht, dass ein jeder besser würde regieren können als dieses jähzornige Kindergesicht.

Doch wo immer Macht sich sammelt, wo immer Perspektiven erschlossen werden und sich die Möglichkeit bietet, in Weisheit und Weitsicht miteinander zu teilen, wie es die tatsächlichen Qualitäten der Menschlichkeit erlauben würden - da ist der Verrat und die Niedertracht nicht fern.
 

„Bedenklich? Ihr findet das… ‚bedenklich‘? Versteht mich bitte nicht falsch, aber seid ihr noch ganz bei Trost? Das ist eine Katastrophe!“ ereiferte sich Apollonia von Streytlingen. Die betagte Dame wusste, dass sie eigentlich auf ihren Blutdruck achten sollte und spürte bereits mit leicht unangenehmem Kribbeln das Pochen ihres zu schnellen Herzens in der Brust, dennoch spannten sich die Finger mit unnachgiebiger Strenge um das Papier des Sendschreibens.

Eine Woche war es her, dass man ihr diesen Brief übermittelt hatte. Der Bote selbst vermochte nichts zum Inhalt zu sagen, sie hatte auch gar nicht danach fragen müssen. Er war mit Wachs versiegelt worden, darin eingeprägt das königliche Zeichen. Erst vor wenigen Tagen hatte Apollonia vom ‚Unfall‘ der Klingenbrucks erfahren. Lord Osprey hatte sie in einem Eilbrief darüber informiert und seinen besten Boten in Hast und Eile quer durch das ganze Land gejagt.

Er war der Kopf. Das Zentrum. Er war derjenige, der die kleine Schar Adliger in ihrem Willen zum Trotz und Widerstand zusammengeführt hatte und er war derjenige, der das fragile Bündnis verschiedener Motivationen und Interessen noch immer aufrechterhielt. Damit war er auch derjenige, den seine Majestät auf gar keinen Fall in die Finger bekommen durfte. Osprey wusste, wie man sich absicherte. Er war wahrlich alt genug, sich mit diesen Spielchen auszukennen, gleich wie unliebsam sie ihm auch waren. Apollonia dagegen nannte einige Gebiete im Osten ihr Eigen, eine ruhige, mehr als dünn besiedelte Gegend und nicht im Ansatz vergleichbar mit Ospreys Anwesen nahe Samara. Einladungen hatte die rüstige Dame bestenfalls von ein paar alternden Verehrern bekommen. Dieses Pergament in ihrer Hand jedoch war mehr als das, es war eine Aufforderung.

Ein Ball. Nicht ein Maskenball mit schönen Speisen, feinem Tanz, der Gelegenheit, die teuersten Kleider aufzutragen und den Abend gleichermaßen aufregend wie erleichternd zu beenden, so wie es damals im Hause Ospreys der Fall gewesen. Nein, ein ganz normaler Ball… im Schloss von La Coeur. Der König selbst hatte dazu geladen.

Nachdem sie erfahren hatte, dass die Kutsche der Klingenbrucks einen mehr als grässlichen Unfall erlitten hatte und alle dabei ums Leben gekommen waren, hatte sich Apollonia bereits ihre Gedanken gemacht. War man ihnen möglicherweise auf die Schliche gekommen? Aber falls dem so war… wie? Es hätte sich um einen tatsächlichen Unfall handeln können, einen Zufall, ein… dummes, schreckliches Missgeschick des Kutschers oder der Pferde, doch all das war so schwer zu glauben.

Dank Thorin, der indes die Rebellen im Untergrund Samaras quasi übernommen hatte, wussten sie von den Mitteln und Wegen der Krone. Sie wussten inzwischen von der verrückten Dryade Medea im Stillen Wald, die über Wochen hinweg jeden terrorisiert und abgeschlachtet hatte, der es wagte, ihre Baumreihen zu überschreiten. Das Gift in ihrem Weiher hatte sie wahnsinnig werden lassen - und wie war es hinein gelangt? Mit einer offenen kleinen Phiole aus der Tasche eines Boten. Der Bote, die Tasche und sogar das kleine Gläschen selbst trugen das Zeichen seiner Majestät. Er duldete keine Mächte neben sich, die ihm nicht folgten, sich unterwerfen oder zumindest in das wirre und schwer durchschaubare Bündnissystem aufnehmen ließen.

Und war es nicht Ammarath ähnlich ergangen? Die Gwaeron - Elben hatten nach Osten pilgern müssen. Die Überlebenden der Westelben, eine ganze Stadt, die in einem einzigen, großen Marsch über Wochen hinweg in Richtung Esgaroth marschierte und im Ostsumpf verschwand. Frau von Streytlingen besaß einige dieser Gebiete und hatte aus erster Hand erfahren dürfen, wie es war. Sie hatte sie gesehen. Erschöpft, niedergeschlagen, mancher noch immer am Boden zerstört um all das trauernd, was verloren wurde: Heim, Geschichte… Verwandte. Ein furchtbarer Brand, der praktisch über Nacht den ganzen Elbenwald erfasst hatte. Welches Feuer aber breitete sich so rasend aus? Und bei allen Göttern, welches Feuer war hartnäckig genug, ein ganzes Volk von Elben vertreiben zu können, die seit jeher für ihre Wind- und Wassermagie berühmt waren?

Nein, betrachtete man sich solche ‚Zufälle‘, dann musste man zu dem Schluss kommen, dass die Klingenbrucks schlicht enttarnt worden waren. Eher stellte sich die Frage, wie weit dieser Prozess reichte. Irgendwie waren sie Morlyn auf die Spur gekommen - und gab es von ihm, von seiner Familie, weitere Spuren? Die zu ihnen führten? Hatte sie deshalb diese Einladung bekommen?

Seit zwei Stunden standen einige der Verräter nun schon beisammen und überlegten, was zu tun wäre. In drei Wochen sollte der Ball stattfinden. Es war Fronica Alvergreiffenmoor, dieses dralle, blonde kleine Püppchen, mit dem sich Apollonia schon mehrfach gestritten hatte, die nun abermals das Wort ergriff. Ihre Stimme schien zu reizen - oder erging das nur ihr selbst so? Ein Ton, das man sie bei den Schultern nehmen, schütteln und hoffen wollte, dass irgendetwas in ihrem Inneren nicht ganz fest saß und sich dadurch einrenken würde. Unangenehm im Ohr. Vielleicht lag es auch an ihrem Tonfall… oder nur daran, das Fronica ein Mensch war, der keinerlei Konkurrenz oder Absage duldete.

„Ihr müsst gehen“, erklärte die Blondine und zog sich allein mit dieser Formulierung des Zwanges erneut grimmige Blicke der betagteren Dame zu, die ihr klar machten, sich besser zu erklären, „Die Sache mit den Klingenbrucks war grässlich und auch ich bezweifle nicht, dass es mehr als ein Zufall war. Aber wir - ihr - würdet euch verdächtig machen, wenn ihr die Einladung ausschlagt. Es gäbe vielleicht genug Grund, euer Heim zu durchsuchen. Die Wache kann sehr fähig und gründlich sein, wenn sie entsprechend dazu angespornt wird. Vielleicht prüft man auch, ob ihr tatsächlich dort seid oder das erledigt, was ihr als Ausrede vorschieben könntet und so oder so… würde die Krone euch nicht nachsehen, dass es etwas geben soll, das wichtiger wäre als einer seiner Einladungen zu folgen. Wir können es uns einfach nicht leisten, aufzufallen oder… noch mehr Misstrauen zu erwecken.“

Lord Osprey kam mit Fronica gut aus. Das mochte daran liegen, dass er trotz seiner charmanten, gutgebauten Erscheinung einfach zu alt war, um in ihr Beuteschema zu fallen und sich daher nie ihrer Annäherungsversuche hatte erwehren müssen. Zumal er auch ihre Anfeindungen nicht dulden musste, solange ihm nicht spontan Brüste wuchsen, die ihn zur Konkurrenz machen würden. Entsprechend fiel es gerade ihm mit am leichtesten, die Logik hinter den Worten von Fräulein Alvergreiffenmoor anzuerkennen.

Apollonia dagegen tat sich schwer. Ihr mochte die ganze Sache nicht gefallen und auf sie, die seit jeher ein skeptisches, misstrauisches Gemüt und einen scharfen Verstand besaß, wirkte das Ganze… nun, als würde man ein Lamm zur Schlachtbank schicken, damit nicht die ganze Herde dran wäre. Sie war nicht erpicht darauf, den Märtyrer zu spielen. Trotz ihres hohen Alters hatte sie noch Pläne, Wünsche und allem voran… wollte sie dabei sein, wenn dieser kleine, goldlockige Bastard in die Niederhöllen geschickt wurde.

Fast den restlichen Tag lang bemühten sich Osprey, Fronica, Kupfermoor und Bluteck, die betagte Dame umzustimmen. Der letztliche Erfolg ging zweifellos vor allem auf das Konto der Hartnäckigkeit, die Fronica an den Tag legte. Die Frauen hatten sich nie grün werden können, teilten aber ihre gemeinsame Leidenschaft für den Niedergang der Krone - vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die Apollonia letztlich dazu brachte, einzulenken.

Ein Ball also.
 

„Ihr werdet alles Nötige vorbereiten“, konstatierte seine Majestät in gelangweilter Gewohnheit, „richtet den Ballsaal her, schmückt ihn irgendwie aus und sorgt für eine musikalische Begleitung. Es muss nicht das Beste sein, nur vorhanden.“ Maßstäbe, die Phillipe selten anlegte. Normalerweise wollte er das Prächtigste, Prunkvollste, Beste und Schönste… was meist auch das Teuerste war.

Diesmal jedoch ging es um ein Theaterspiel. Es sollte niemand beeindruckt werden. Geladen waren nur einige Adlige aus dem eigenen Lande, verschiedene Leute, denen er noch Gefälligkeiten schuldete.

Der gerufene Kammerdiener verneigte sich tief und trat mit den neuen Befehlen ab. Er würde sie verteilen und weiterleiten, damit sich jene mit mehr Geschick und Wissen darum kümmerten, doch er ahnte bereits: Die Formulierung „Ihr werdet“ würde bedeuten, dass jeder Fehlschlag, gleich wie er sich ereignen mochte, am Ende auf seinen Schultern lasten würde. Und sei es in Form einer Axt, die eben jene abrasierte.

Am Hof starb man schnell, wenn man nicht von Nutzen war. Selbst jene von Nutzen waren alles andere als sicher - denn oftmals ließen sich Namen leicht austauschen und Gesichter änderten sich gelegentlich schneller, als man erwarten mochte. Eine rare Ausnahme dessen war Celsor. Des Königs einziger Berater und, wie der Kammerdiener befand, eine grässliche Person. Vom Personal des Schlosses, ja selbst von den Wachen wurde er einfach nur ‚die Schlange‘ genannt. Glaubte man den Erzählungen, so konnte die Stimme dieses Menschen sich direkt durch den Hörgang in den Schädel bohren und einen mit schmierigen Klängen dazu bringen, sich den Tod zu wünschen. Zumindest war unbestritten, dass Celsor ein Talent dafür hatte, sich auszudrücken. Wie die Schlange, vermochte er sich verbal aus jeder Notlage zu retten, durch jeden Türspalt hinein zu drücken und seine eigenen Worte doppelt und dreifach zu verdrehen, um genau den Effekt zu erzielen, den er gewünscht hatte. Wann immer das allein aber nicht greifen wollte, nun, dann bediente er sich anderer Mittel.

Des Königs selbst, beispielsweise. Niemand am gesamten Hof konnte es sich erlauben, Phillipe zu widersprechen. Er tat genau das, wenn auch auf eben jene gekonnte Manier. Doch Celsor war unheimlich - jedem, der über normales Empfinden für Gesundheit und Ästhetik verfügte. Diese gebeugte Gestalt, kränklich blass, dürr und ausgemergelt, papierdünne, rissige Haut in einer ungesunden, unangenehm anzuschauenden Farbe, die eingefallenen Wangen und Augen, der stechende Blick darin. Manchmal konnte man merkwürdige Flecken auf seinem Gesicht und seinen Händen sehen, als hätte er die Pest oder dergleichen.

Was auch immer Phillipe und Celsor verband - es war stärker als alle Vernunft. Die Krone wünschte nicht, diese widerwärtige Gestalt vom Hof zu entfernen. Stattdessen lauschte Phillipe andächtig jedem Wort seines Beraters und nahm dessen Vorschläge ernst… im Gegensatz zu denen aller anderen, ganz gleich wie gut sie verteidigt und untermauert wurden.

Eben diese Gestalt schlich sich von den Toren des Thronsaales her kommend in Richtung des Zentrums der Macht im Land. Ein heimtückisches Lächeln umspielte die liniendünnen Lippen, dass der Diener sich tatsächlich dabei erwischte, einen Blick zurück zu werfen - nur um abzusichern, dass nicht jemand hinter ihm stand, bereits den Dolch erhoben und fast schon zwischen seine Schulterblätter gestoßen. Celsor nahm es ihm nicht einmal übel, dass der Knecht, so wie die meisten im Schloss, einen Bogen um ihn herum schlug. Gemächlichen Schrittes bewegte sich der in die Kutte gehüllte Mann zur Raummitte.

Auch nach ihm war geschickt worden. An diesem Tag herrschte im Thronsaal reger Betrieb, viele kamen und gingen. Die Meisten mit Befehlen und Anweisungen, ein paar Wenige auch mit Schelte. „Ihr habt nach mir verlangt, mein König?“ erklang die leise Stimme des Mannes, den die Meisten für einen Alchemisten oder Giftmischer hielten. Tatsächlich war er das - wenn auch zusätzlich noch viel mehr als nur dies. Die Stimme schmerzte in den Ohren, sodass der Knecht seinen Schritt nochmals etwas beschleunigte, um endlich aus der Halle zu kommen. Währenddessen fragte er sich insgeheim, warum diese Figur es sich eigentlich erlauben konnte, Phillipe den Dritten nur mit seinem weltlichen Titel als König anzusprechen, während jeder andere ihn auch als seinen Gott zu akzeptieren hatte. Es war merkwürdig, oder nicht?

„Wir benötigen ein Tonikum, welches-“ hob die Krone gerade an und verstummte. Der Knecht hatte gar nicht bemerkt, wie sein Schritt wieder langsamer geworden war. Als wolle die Neugier ihn am liebsten gleich umdrehen und interessiert lauschen lassen. Als er sich dessen bewusst wurde, wandte er gleichermaßen ängstlich wie beschämt den Kopf, die Röte schon im Gesicht. Diese begann erst recht zu leuchten, als er die Blicke auf sich ruhen sah. Man starrte ihn an, weil… nun, weil er ein Fremdkörper war, weil er zuhörte und genau das besser nicht täte. Man wartete darauf, das er endlich verschwinden würde und in aller Hast und Eile tippelte der Knecht die letzten Schritte zu der schweren, massiven Pforte und quetschte sich durch einen dünnen Spalt nach draußen auf den Gang hinaus. Er zog das Türholz zu und ließ sich einen Moment gegen sie sinken. Die Augen geschlossen, atmete er tief durch und versuchte das Zittern in seinen Händen zu ignorieren.

„Glück gehabt, was?“ erkundigte sich neben ihm einer der Wächter. Nur unmerklich nickte er, ehe der Diener sich aufraffen konnte, die angenehm kühle Tür zu verlassen und seinem Auftrag nachzugehen. Hinter der Pforte dagegen wurden Einzelheiten besprochen. Details des baldigen Ballabends, der für seine Majestät alles andere als unwichtig werden würde.

„Ich denke, dass eure Anforderungen mich vor kein größeres Problem stellen sollten. Ich werde sofort mit der Arbeit beginnen“, erläuterte Celsor leise und verdiente sich mit etwas so Trivialem wie der Zusage einer Arbeit abermals das Wohlwollen des selbsternannten Gottkönigs. Dieser hieß die Wache an, nach Ximasxi zu schicken, die ihrerseits ebenfalls vom regen Treiben gehört hatte. Wie auch nicht - sie hatte erstaunlich gute Ohren und hockte stillschweigend auf ihrem Bett in einem Raum, dessen Lage geradezu prädestiniert war, um die vielen Schritte unterschiedlichen Schuhwerks draußen auf dem Teppich des Flures zu vernehmen.

Die grazile, schlanke Gestalt erhob sich geschickt vom Bett und folgte den zwei Wächtern, welche sie zum Thronsaal eskortierten. Tatsächlich notwendig war das schon lange nicht mehr… doch sie akzeptierte die Begleitung. Vielleicht handelte es sich um eine persönliche Bitte des Hauptmannes. Insgeheim mochte er wohl noch immer fürchten, sie könne neuerlich einfach so ‚abhandenkommen‘.

Für die ehemalige Diebin war es zweifellos inzwischen etwas Alltägliches. Sie trat durch die Pforte in den Saal ein, sie erblickte diese kleine Gestalt auf dem viel zu groß geratenen Thron, mit seinen Goldlocken, der Krone und viel zu viel Puder im Gesicht. Das kurze Zucken ihrer Mundwinkel bemerkte kaum jemand. Sie wusste es besser, sie wusste so viel besser, was unter dieser Perücke lag, unter der Schminke. Aber solange er dort saß und sie hier stand, vor den Stufen des Thrones selbst, ging es um Aufträge.

Worum es sich diesmal dabei handeln sollte, wurde ihr rasch und recht direkt erklärt. Von den Vorbereitungen des Balles hatte sie bereits gehört. Ob sie sich Vorstellungen davon machten konnte, was ein solcher Abend bedeutete, worum es sich handelte… war Phillipe nicht recht klar. Es spielte tatsächlich auch gar keine Rolle, denn weder war sie angehalten, zu tanzen, noch würde sie sich am Festmahl beteiligen oder gar sinnbefreite Konversation mit den Reichen und Mächtigen des Landes betreiben. Ihre Aufgabe war stattdessen eine, die ihren Fertigkeiten auch entgegenkommen würde - wenn auch in neuem Gewand. Wortwörtlich…
 

Das der Abend nicht ganz nach Plan verlaufen würde - weder dem Ihren noch dem anderer hier Anwesender -, das begann Apollonia bereits zu ahnen, als sie erste Gerüchte aufschnappte. In die Stadt zu gelangen war nicht schwer, die Wache schien bestens informiert und vorbereitet, man geleitete sie mit einer zusätzlichen Eskorte durch die Hauptstraßen dem Schloss entgegen und bot dort ihrer Wache an, sich in den Stuben mit den Männern des Königs zusammen zu setzen und auszuruhen. Ein Angebot, das nur ein Narr ausschlug - wer brachte schon Bewaffnete in ein Königsschloss und beharrte dann darauf, sie mögen immer stets an der Seite bleiben?! Doch Frau von Streytlingen fühlte sich zugegeben weit weniger sicher, als die vier Mann davon stiefelten. Zumal sie bereits von anderen Gästen das eine oder andere aufgeschnappt hatte.

Es begann mit der Dekoration. „Das ist so unverschämt!“, zischte eine Adelsdame in einem nordischen Dialekt ihrem Begleiter zu, der weit jünger und schrecklich gelangweilt aussah, bis er sachte nickte und seine offenkundige Ahnungslosigkeit aufdeckte, „Diese Aufmachung hat seine Majestät vor drei Jahren schon verwendet, zum vorletzten Ball, der hier stattfand!“, erörterte die Aufgebrachte halblaut und wurde nun endlich von ihrem jungen Gesellen besänftigt, indem er ihr den Arm darbot und sie fort führte. Auch von anderen Seiten wurde diese Vermutung bekräftigt. Die Bilder, die Büsten, die Teppiche - das hätte Apollonia ja noch verstehen können. Aber selbst im Ballsaal erkannten viel zu viele der geladenen Gäste das Interieur wieder. Seine Majestät hatte Kosten gescheut, weit mehr als das sogar. Etwas ging hier also schon nicht mit rechten Dingen zu!

Der zweite, weit gewichtigere Punkt waren aber die Schulden. Inzwischen war es ein offenes Geheimnis, wie Phillipe der Dritte es zur Macht geschafft hatte. Er war der Bastard seines Vaters, das war sicherlich nützlich, doch er hätte die auf Rache sinnenden Kräfte der Loyalen seines Vaters nie bezwingen können. Er musste sie umstimmen, bekehren, besänftigen. Über Monate hinweg hatte er das Land bereist, hatte Versprechungen gemacht und Zusagen, Perspektiven für eine noch rosigere Zukunft aufgezeigt. Die Generäle waren sein beliebtestes Ziel gewesen - und wohl auch nahezu die Einzigen, die nach der Machtergreifung des Puppenkönigs auf die Einlösung wenigstens der Hälfte ihrer Versprechungen hoffen durften. Der Adel, den diese kleine Ratte ebenso bestochen und begeistert hatte, kam weniger gut weg.

Auch das hörte man hier.

„Er verwendet dieselbe Ausstattung nochmals. Ob er uns wohl vorgaukeln will, er hätte kein Geld? Für wen hält er uns, seine Hofnarren? Ich denke, wir sollten ihn nochmals auf seine Verpflichtungen ansprechen. Wir wissen schließlich alle, dass es gut um ihn bestellt ist und er, er weiß es erst recht!“ hörte Frau von Streytlingen unweit eine junge Dame flüstern. Ihr Blick glitt hinüber und einen Moment erwog sie, sich zu diesem einfältigen Ding zu stellen und ihr den Kopf gerade zu rücken. Glücklicherweise tat ein junger, etwas fülliger Galan genau das, bevor sie es konnte. Beschwichtigend hob er die Hände und blickte sich übervorsichtig unter den Gästen um. „Sei doch still! Man weiß nie, wer mithört. Außerdem kannst du ihn ja gerne darauf ansprechen, ich… ich warte lieber. Notfalls lasse ich das auch sein, aber ich hänge an meinem Leben. Hast du das von den Klingenbrucks gehört? Ein Unfall mit der Kutsche, die ganze Familie tot! Zack, einfach so. Alle weg. Und plötzlich heißt es, man habe nachträglich Beweise dafür gefunden, dass sie Verräter waren.“

Bei jenem letzten Satz wurde Apollonia hellhörig. Nur zu gerne wäre sie herüber gegangen und hätte nachgefragt. Was für Beweise waren gefunden worden? Wusste man etwas darüber, ob nach noch mehr Verrätern gesucht wurde? So viele Dinge waren plötzlich wichtig geworden, nur nicht dieser verflixte Ball und die sozialen Verpflichtungen: Schön lächeln und artig sein. Ehe sie sich jedoch zum entscheidenden Schritt durchringen konnte, entwickelte sich das Gespräch bereits wieder in eine andere Richtung.

„Die Klingenbrucks? Gute Güte, nein, das wusste ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Verräter waren. Bestimmt war er ihnen auch etwas schuldig und hat es eingefordert. Vielleicht sollten wir das wirklich noch lassen und noch etwas abwarten…“

„Nun sei schon still!“ wies ihr Gegenüber sie abermals zurecht, als das junge Weib endlich Einsicht zeigte. Artig nickte sie, blickte betreten zu Boden und schüttelte den Kopf. So etwas war einfach nicht recht. Wer sein Wort gab, sollte es auch halten. Dass diese gehobenen Kreise der Gesellschaft von Verrat durchdrungen waren und von Intrigen lebten, das war ihr durchaus klar - aber seit wann war die Krone selbst der bissigste Hund im Käfig?

Apollonia dagegen versuchte, sich wieder auf die Geschehnisse um sie herum zu konzentrieren. Das bedeutete zunächst einmal, sich der ausgeblendeten Stimmen wieder bewusst zu werden und zu lauschen, ob denn vielleicht in anderen, um sie herum stattfindenden Gesprächen Signalwörter auftauchten, die ihr neuerlichen Aufschluss über einen Herd von Interesse geben konnten. Zugleich schweiften trotz des Alters scharf gebliebene Blicke durch die Menge der versammelten Gäste, selbst als seine Majestät den Saal betrat und seine Gäste mit einer kleinen Rede in Empfang nahm. Sie war tatsächlich furchtbar froh, nicht so weit vorne zu stehen. Obwohl sie nur einmal zuvor mit Phillipe engeren Kontakt gehabt hatte, war ihr dessen penetranter Geruch nicht aus der Erinnerung entschwunden. Und seine Stimme erst! Selbst auf diese Entfernung war sie noch anstrengend und da waren die Türen des Ballsaales praktisch direkt hinter ihr… verschlossen und von Wachen flankiert, die überall im Raum Position bezogen hatten. Sie hatte lange versucht, sich dieses Detail schön zu reden. Phillipe war unbeliebt, es gab genug Leute, die ihm schaden wollten. Er wusste das, jeder wusste das. Vermutlich war es nicht einmal unbedingt paranoid, er… sicherte sich eben einfach gerne ab. Wer hätte das nicht getan, wenn er die Möglichkeiten dazu besaß? Doch warum mussten sie selbst an einem solchen Abend gerade hier sein, in solcher Zahl?

Sicherheit. Nur der Sicherheit wegen.

Immerhin könnte jemand vielleicht einen Dolch herein geschmuggelt haben. Der hätte dann mehr Armbrustbolzen im Leib als Finger an den Händen, noch bevor er das Ding auch nur zum Wurf hätte ausholen lassen können. Überhaupt war doch verwunderlich, wie-

Einen Moment blieben die Gedanken der betagten Dame schlichtweg stecken. Ihr Blick haftete an etwas, genauer gesagt… an jemandem. Ein weiterer Gast, eine Adelsdame, so vermutete Apollonia zumindest. Eine sehr dünne Gestalt, die sich geschickt und grazil bewegte. Was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war zum einen dieses überaus kräftige, dunkle Weinrot. Eine leuchtende Farbe, die einfach Interesse wecken musste. Der ganze Saal war mehr oder minder bunt, gewiss, aber das stach doch hervor.

Und zum anderen trug niemand sonst ein Kleid mit Kapuze. Sie war kunstvoll mit dem restlichen Erscheinungsbild verflochten, keine Frage, doch wie merkwürdig mutete es an, jemanden mit Kapuze in einem geschlossenen Raum zu sehen. Auf einem Ball obendrein! Der König jedoch bemerkte sie, musste es einfach, und erhob nicht ein Wort in ihre Richtung. Entweder wusste er also nur zu gut, wer das war oder… störte sich daran schlicht nicht.

Die Wachen. Was soll ihm eine schon anhaben können?

Als die Gestalt sich zudem in ihre Nähe bewegte, sah die Ältere ihre Chance gekommen, zumindest ein klein wenig ihrer Neugier nachzugeben. Sie gesellte sich, in höflicher Distanz wie es sich gehörte, zu eben dieser Figur und versuchte einen kurzen Blick zu erhaschen. „Das ist ein ungewöhnliches Kleid, junge Dame“, merkte Apollonia an. Tatsächlich war es das, mehr als das sogar! Es besaß Einschnitte an den Seiten, die fast bis auf halbe Höhe der Oberschenkel empor reichten und damit einen weit mehr als nur anzüglichen Eindruck erweckten. Einen Ausschnitt an Rücken oder Front dagegen suchte man völlig vergeblich, als hätte jemand versucht, eine… oh gute Güte! Hatte hier jemand eine Dirne als Abendbegleitung mitgebracht?

Gut, zugegeben, sie hatte viel zu wenig Brust und Hüfte, aber die Geschmäcker waren verschieden und vielfältig - vorstellbar wäre es wohl auf jeden Fall gewesen. „Danke“, erwiderte die Jüngere lediglich in einer ungewohnten Stimmführung. Zumindest über eines war sich die betagte Dame nun sicher: Neben ihr stand keine Adlige. Vielleicht nicht einmal ein Mensch.

„Wollt ihr denn nicht weiter vorne bleiben? Bald beginnt der Tanz und diese Ehre gebührt heißblütigen jungen Burschen und schönen jungen Damen“, erkundigte sich die Adlige weiter, doch einmal mehr wurden ihre Bemühungen, ein Gespräch zu inszenieren, recht einsilbig abgeschmettert. Sie bliebe gerne in der Nähe der Türen und Säulen, erwiderte die in Rot Gewandete, blickte kurz zur Seite und ließ genug von ihrem Gesicht unter der Kapuze hervor blicken, dass Apollonia ein freundliches, schmales Lächeln sehen konnte - jedoch nicht viel mehr als das.

Vielleicht hätte es sie beruhigen können. Vielleicht hätte es das tun sollen. Doch irgendwie fiel es ihr schwer, sich auf all dies hier einzulassen, solange sie nicht einmal wusste, wer und was neben ihr stand.

Als wenig später tatsächlich der Tanz begann, sich Paare zusammen fanden und zu den zart im Raum schwelgenden Melodien ihre Schritte folgen ließen, ward der Pegel der Geräusche ausreichend, damit Apollonia sich in aller Ruhe von diesem Treiben abwenden konnte. Sie machte sich mit ihrem Gegenüber bekannt und staunte tatsächlich nicht schlecht. Wie sie es vermutet hatte, harrte sie neben einer jungen Frau aus - und wie vermutet, war sie kein Mensch. Einen kurzen Moment erschrak sie etwas, als sie die gelben Augen erblickte, die gewundenen Hörner, wie zwischen der Frisur hervor lugten. Tatsächlich senkte der Tiefling die Kapuze daraufhin auch schnell wieder und lächelte leicht beschämt.

„Deshalb diese ungewöhnliche Anfertigung“, erklärte Ximasxi, „Ich möchte die Gäste dieses Abends ungern erschrecken. Ich weiß, wie man auf meinesgleichen reagiert.“ Es war interessant, ihr zuzuhören. Sie schien hin und wieder kleinere Probleme mit der Aussprache zu haben, redete langsamer, um sich eben diese zu erleichtern und ihr ‚S‘ klang immer ein kleines Stück zischelnd. Doch Apollonia von Streytlingen hörte von ihren Untergebenen oft genug Geschichten über Elben aus Esgaroth, über Schnitterdämonen im Sumpf, über allerhand merkwürdige Reisende und stets nahm sie sich die Zeit, sich alles genau beschreiben zu lassen. Wenn sie in ihren Jahren etwas gelernt hatte, dann war das wohl der Umstand, eine Person nicht nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Phillipe beispielsweise, klein und lächerlich wie er aussah und dort jenseits der Tanzfläche auf dem Thron am anderen Ende des Saales saß, konnte Tausende ins Verderben stürzen - aus einer Laune heraus, weil er es wollte, weil er es für nötig befand. Mit wenigen Worten. Etwas, das man ihm gewiss nicht ansah.

Je weiter der Abend fortschritt, umso mehr bemühte sich Apollonia um das Gespräch. Sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, sich mit einem Tiefling zu unterhalten und wollte die Chance nicht verstreichen lassen, zumal es ihr so erschien, als wäre das eine wundervolle Möglichkeit, sich diesem Abend zu entziehen und dafür zu sorgen, dass er etwas schneller vergehen würde. Ximasxi dagegen tat, was sie am besten konnte: Sie ließ andere reden, unterbrach selten und lauschte geduldig. Ihre Erklärung, was sie hier zu suchen hatte, war schlichtweg brilliant. Wohl auch, weil sie so makaber anmutete.

Wenig war über Morlyns Verhältnisse bekannt gewesen. Damals, auf dem Maskenball von Lord Osprey, hatte Fronica Alvergreiffenmoor ihn regelrecht durch den Raum gejagt, in dem Glauben, er sei noch Junggeselle und damit ein gutes Ziel für ihre Mühen, eine exzellente Partie zu finden. Ximasxi dagegen erklärte, dass sie anwesend sei, um die Interessen seiner Hinterlassenschaft zu klären. Ein von den Bewohnern gewähltes, neutrales Mitglied, welches um verschiedene Dinge ersuchen solle. Im weiteren Gesprächsverlauf streute sie dann die brisanteren Informationen ein - beispielsweise, dass sie sich freiwillig gemeldet habe, da es eine Liaison zwischen ihr und Morlyn gegeben habe.

Apollonia hatte Mitleid mit diesem armen Geschöpf, etwas, das - wie sie vermutete - auch Morlyn schon dazu gebracht hatte, sich mit ihr einzulassen. So viele Dinge waren allgegenwärtig, Ximasxis Geschichte zu stürzen. Das Gerede der Adligen über das Eintreiben alter Schulden seiner Majestät, Morlyns Flucht vor Fronica, die Kapuze auf einem Ball voller menschlicher Adliger, es wirkte schlicht… stimmig.

Genau das war es letztlich wohl auch, was Apollonia dazu veranlasste, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Schon allein, damit sie nicht unnütz an der Tür stehen musste, fluchtbereit, falls man sie doch noch enttarnen würde. Stattdessen tranken sie etwas Wein, die Stunden schritten fort, die Melodien wurden gemächlicher, die Tanzfläche leerer, der Rand voller. Es war der nahezu klassische Verlauf eines Ballabends, selbst das Essen zog sich ganz wie gewohnt mit Geplapper und kleinen Intrigen in die Länge. Man tauschte Informationen - manchmal auch solche, die bewusst fehlleiten sollten. Frau von Streytlingen dagegen war selten das Ziel solcher Attacken und gedachte auch nicht, sich daran zu beteiligen oder einzumischen. Ihre Sorgen waren andere als der Gedanke, wie man wohl jemand anderem so billig wie möglich den Schneid würde abkaufen können. Oder stehlen, notfalls.

Nach dem Festmahl schlossen sich weitere Tänze an, während Apollonia sich wieder nahe der Tür einfand. Länger als gedacht verharrte sie dort mit ihrem Weinglas allein, ehe Ximasxi wieder zu ihr zurückkehrte. Sie hatten einander während des Mahles aufgrund der Sitzordnung unweigerlich außer Augen verlieren müssen, darüber war sich die Ältere durchaus klar.

Nochmals nippte sie zufrieden über den sich offenkundig entspannenden Abendverlauf an ihrem Weinglas, ehe sie zu dem Tiefling aufsah. „Wisst ihr, ihr hättet eine wunderbare Partie abgegeben, meine Liebe. Morlyn war sicherlich froh um die gemeinsame Zeit.“

Ein hintergründiges Lächeln umspielte die schmalen Lippen der einstigen Diebin. „Danke, dass ihr das sagt“, erwiderte sie schlicht, „Ich wünschte, ich hätte mehr für ihn tun können.“

„Ihr könntet fortführen, was er begonnen hat“, führte Apollonia mit einem Lächeln und einer weitläufigen Handbewegung in Richtung des Saales aus. Das ist keine gute Richtung für das Gespräch, mahnte ihr Verstand sie scharf an.

„Was hat er denn begonnen?“ erkundigte sich ihr Gegenüber indes. Wer konnte ihr die Frage schon verdenken?! Da ergab sich eine Möglichkeit, eine ungeahnte, unbekannte Option. Aber war dieses junge Ding denn überhaupt fähig und willens? Sie besaß keinen Adelstitel, hatte keinen Anspruch auf die Besitztümer der Klingenbrucks. Sie war nur als gewählte Vertreterin eines Landstriches hier, als zurückgebliebene Geliebte.

„Oh, euch das zu sagen wäre… wäre nicht so gesund“, erörterte Frau von Streytlingen und kicherte in einem fast mädchenhaften Anfall kurz. Langsam und leise begann es, steigerte sich jedoch mit jedem weiteren Herzschlag zu einem unbeugsamen, unüberhörbaren Dröhnen in ihrem Schädel: Die Alarmglocken, die sie vor dieser Situationen zu warnen versuchten. Unsicher blickte die betagte Dame in die Runde.

„Warum wäre es nicht gesund?“ hakte ihre Gesprächspartnerin rasch nach. Antworte nicht!, plärrte etwas mahnend in Apollonias Kopf. Doch als hätte ihr Verstand keinerlei Macht mehr, als wäre ihre Vernunft nur noch ein Zuschauer, der der Theateraufführung ungebührlich etwas dazwischen rief, reagierte ihr Mund völlig anders.

„Weil er deswegen ja jetzt tot ist, nicht?“ hörte sie sich sagen und neuerlich so schauderhaft kichern. Wieder blickte sie sich um. Etwas stimmte hier nicht, bei allen Göttern, etwas stimmte hier aber ganz und gar nicht!

Erst jetzt bemerkte sie, wie andere Gespräche verliefen. Erzürnte Gesichter hier und da, haltloses Kichern und Lachen an anderer Stelle. Je länger sie sich dies anblickte, in einem Panorama dieses Bild einfing, umso mehr erwachte der Eindruck, sie würde sich in einem Irrenhaus befinden. Ximasxi dagegen blickte zum Thron herüber und nickte nur kurz, ehe sie sich wieder Apollonia zuwandte. „Ich hoffe, das Mahl war üppig genug… und der Wein schmeckte“, zischelte die Stimme der früheren Diebin leise, ehe sie sich geschickt dem Versuch entwandte, gepackt zu werden. Apollonia dagegen, nachdem sie diese kleine Schlange schon nicht erwischt hatte, fühlte sich… unwohl.

Ihre Beine würden nachgeben, sollte sie wagen, auch nur einen Schritt zu setzen. Sie wusste es, weil sie ihre Knie kaum noch spürte - und nichts darunter. Mit zitternden Händen hob sie das Weinglas und starrte hinein. Ihr Geist wurde träge, ihr Hals fühlte sich plötzlich so trocken an, sie… sie wollte noch einen Schluck nehmen. Nur einen kleinen, um die Lippen anzufeuchten. Ihr Verstand schrie, kreischte, wütete - sie wusste genau, wie dumm es wäre, nur noch einen weiteren Tropfen zu nehmen, aber dieser Drang, zu trinken… bei den Göttern, wie viele Gläser hatte sie diesen Abend getrunken, ohne etwas zu merken? Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie plötzlich das erste Glas in der Hand gehalten hatte.

Gift. Oder irgendetwas anderes, es musste… im Wein sein. Um sie herum kicherten und lachten die meisten inzwischen und warfen sich grausamste Beleidigungen, frivolste Witze und mörderische Geheimnisse an den Kopf, als gäbe es kein Morgen mehr.

„Wache!“ ertönte es irgendwo aus der Menge heraus. Apollonia wich zurück. Genauer gesagt, versuchte sie es, setzte einen Schritt nach hinten und kippte schlicht um. Sie stürzte gegen die Wand, sank daran herab und sah, wie die Wächter in aller Seelenruhe die Bolzen aufspannten. Eine lachende, kichernde, hier und da schon in Wut aufschreiende Menge - unfähig, sich zu wehren, bis die Bolzen von den Sehnen schnippten und sich in ihre Leiber bohrten. Schönste Gewänder, feinste Stoffe, teuerste Färbemittel… überzogen von Blut. Zerrissen von Metall und Holz. Es brauchte drei Wellen, ehe auch der Letzte lag. Drei Wellen… und Armbrüste brauchten Zeit, um gespannt zu werden. Selbst als die Todesangst und nackte Panik in ihrer aller Gesichter stand, konnten sie nicht aufhören, zu lachen, sich die Mägen zu halten, sich zu krümmen und selbst jetzt noch ihre Geheimnisse auszuplaudern, bis sie ebenfalls niedergestreckt wurden.

Entsetzt blickte Apollonia in die Augen der jungen Dame, die sie eingangs bemerkt hatte. Sie wollte Phillipe ersuchen, seine Versprechen einzulösen. Jetzt lag sie dort… und starrte aus leeren Augen zu ihr herauf.

Nur zwei Figuren blieben in der Menge stehen. Ximasxi, die ihre Kapuze zurück schlug. Eine kunstvolle Frisur darunter, jenseits derer ihre zwei Hörner aufragten. Erhobenen Hauptes stand sie wenige Meter von Apollonia entfernt, in einem Kreise des neuen Teppichs aus Menschenkörpern. Direkt neben ihr, deutlich kleiner, aber ebenso zierlich… harrte seine gottkönigliche Majestät Phillipe der Dritte aus - bis der letzte Bolzen das letzte Zucken beendet hatte.

Eine gespenstige Stille kehrte in den Ballsaal ein. Grausam wie in einer Grabeskammer, wo eben noch Lachen erschallte. Er schritt auf Apollonia zu, hob ihre Hand und zog zwischen Weste und Gürtel einen Dolch hervor, den er ihr in die Fläche drückte. „Wie schon bei eurem Verrat“, hob der Tyrann Lumiéls an und blickte kalt in die Augen der alten Adligen, die aus einem Reflex heraus die Hand zurückzog, „habt ihr euch auch euren Tod selbst ausgesucht.“ Er erhob sich wieder, verstaute die Klinge. Apollonia begriff nicht, worauf dies hinaus laufen sollte, bis sie das schreckliche Brennen spürte, welches sich in ihrem Arm ausbreitete und zur Schulter herauf zog. Ihr Blick rollte herab… ein winziger, feiner Schnitt in der Handfläche. Hätte sie die Hand nicht weggezogen… nun, vermutlich hätte er sich dann seinen schlechten Spruch sparen können und es doch selbst machen müssen.

Nur zu gerne hätte sie ihn dafür ausgelacht, was sie gesehen hatte. Als er sich zu ihr gehockt hatte, als sie ihm so nahe gewesen war wie selten zuvor… hatte sie eine Stelle in seinem Gesicht bemerkt, an der das Puder verwischt worden war. Wodurch auch immer, im Laufe des Abends möglicherweise - sie hatte Sommersprossen gesehen, dutzende kleine Flecke und Tupfer, er war ein verdammter Rotfuchs! Ohne jeden Zweifel! Genau die Kinder, die man in ihrer Heimat damit aufzog, das gerade kein Bogen zur Hand war.

Doch weder blieb ihr die Zeit zu Worten, noch hätte sie sie auszusprechen vermocht. Das Brennen des Giftes erreichte ihren Hals, bereitete ihr grässlichste Qualen, die ihr die Tränen in Strömen aus den Augen hervor pressten, ehe es sich noch weiter herauf arbeitete. Ein atemloses Husten ließ einen kleinen Blutschleier auf ihren Arm niedergehen, während die Adern in ihren Augen platzten, bis sie fast zur Gänze rot waren. Die alte Dame sank in sich zusammen, wenige Sekunden nachdem die Klinge sie gestreift hatte.

Wie schon zuvor angewiesen, packte jeder im Raum befindliche Wächter ein oder zwei Leichen und schleifte sie aus dem Raum heraus. Für Phillipe war es der letzte Befreiungsschlag gewesen. Morlyn Klingenbrucks Mitverschwörerin war gefunden worden, eine weitere zumindest, und zugleich hatte er sich aller Blaublütigen entledigt, die noch Anspruch auf Gefälligkeiten hatten. Niemand würde je wieder wagen, ihm sagen zu wollen, wem er etwas ‚schuldete‘ oder was er noch zu tun hätte. Er war ein Gott für dieses Volk, er war der König dieses Landes - er schuldete niemandem irgendetwas!

„Wir wünschen nun unsere Ruhe, hinaus!“ verlangte seine Majestät, fuhr sich kurz erschöpft durch die goldenen Locken und wartete, bis die Wächter mit den Leichen verschwanden. „Ximasxi, du nicht“, korrigierte er sich, als auch sie bereits drauf und dran war, zu gehen. Wie von ihm gewiesen, schloss sie folgsam die Tür und trat ihm entgegen. Phillipe blickte, von wohl noch zwei Metern Distanz, zu ihr. Die Gestalt der Diebin war zweifellos alles andere als weiblich. Während andere behaupten konnten, die Rundungen dort zu haben, wo sie hingehörten, fehlten ihr diese oftmals. Und trotzdem wusste ihr Kleid das Wenige zu würdigen, dass sie besaß.

Fordernd streckte er die Hand aus.

Eine Grenze war es, die er brach. Es hatte immer Grenzen gegeben. Für ihn sowieso. Er wollte als Kind eine Süßigkeit - und sie wurde irgendwo oben auf einem Schrank aufbewahrt. Sieh doch zu, wie du das Zeug bekommst! Er hatte sich durchgesetzt. Auf die eine oder andere Art hatte er das immer geschafft. Aber es gab Grenzen, von denen er geglaubt hätte, sie ließen sich einfach nicht überwinden. Egal, was er anstellen würde - er wäre immer klein. Ein Mann hatte im Tanz zu führen. Das war etwas, was er durchaus zu bewerkstelligen fähig war. Aber er hatte ebenso die Frau zu überragen.

Hier und jetzt aber störte ihn das nicht. Die Melodie noch im Ohr, führte er ausgerechnet dieses Tieflingsweib durch den Saal… und wagte, übervorsichtig und mit allgegenwärtig drohender Scham, eben dies zu genießen. Sie waren hier und taten etwas, das er nie für möglich gehalten hatte.

Ein Abend, den er in guter Erinnerung behalten würde…
 

„Habt Geduld. Wir müssen einfach nur warten, bis wir etwas von ihr hören. Irgendetwas“, brachte Lord Osprey unter einem Seufzen hervor und verabschiedete damit seine Gäste, die nach und nach zu ihren Kutschen einkehrten.

„Ich würde mich nicht darauf verlassen“, hielt Fronica dagegen, als die Meisten bereits außer Hörreichweite waren. Schon zu lange war Apollonia von Streytlingen nicht wieder aufgetaucht. Das ließ nur Schlimmes vermuten - zumal sich die Gerüchte häuften, dass sie nicht die Einzige sei, die seit dem Ball verschwunden geblieben war. Osprey zuckte hilflos mit den Schultern. Was sollte er auch sagen oder tun? Er konnte sich nicht die Antworten nur durch Willenskraft aus dem Hut zaubern. Also ließ er sie ziehen, allesamt, bis sie mehr wissen würden als es aktuell der Fall war.

Fräulein Alvergreiffenmoor zog sich ebenfalls zu ihrer Kutsche zurück, ließ sich die Tür aufhalten und stieg mit Hilfe ihres Knechts hinein. Sie seufzte tief und atmete kontrolliert durch, als das Schloss klickend einrastete.

„Morlyn diesen Ausflug einzureden war nicht halb so schwer wie dieser Walküre den Ball aufzuschwatzen. Ich fürchte, sie könnten bereits Verdacht schöpfen. Könntet ihr nicht-“

Doch ehe sie ihren Versuch, sich aus der Schuldigkeit zu winden, so recht vorbringen konnte, lehnte sich aus der Finsternis der Kabine eine Gestalt weit hervor. Unter der schwarzen Kapuze lugte ein kaltes, eisblaues Augenpaar hervor.

„Euer Dienst endet, sobald wir es gestatten. Natürlich steht es euch frei, euch jederzeit für die Alternative zu entscheiden. Ihr erinnert euch doch noch an den Traum, oder? An all die Hände und Zungen, an all die Schmerzen, das reißende Brennen in euren Lenden? Eure Ewigkeit bietet mehr als diesen harmlosen Vorgeschmack, Frau Alvergreiffenmoor. Also hütet eure Zunge und tut, was man euch sagt. Diese Farce wird bald ihr Ende finden.“



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