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Was wäre, wenn ...

(Ein zweites von zwei Enden.)
von

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"Giaco ...", die Fensterscheibe beschlug von innen, als er liebevoll den Namen flüsterte, den er seit auf den Tag vierzig Jahren vermieden hatte auch nur zu denken, geschweige denn, wie gerade geschehen, auszusprechen. Er war wie gelähmt, hätte er versucht, sich umzudrehen, vom Fenster weg, an dem jetzt dicht an dicht die weißen Flocken vorbeiwirbelten, hätte er es doch getan, hätten wohl die Knie unter ihm nachgegeben. Nun, er war nicht mehr der jüngste, sein vormalig hellbraunes Haar war im Laufe der Jahre eisgrau geworden ... oder hatte es damals schon begonnnen, damals, an - warum musste er auch ausgerechnet jetzt wieder an ihn denken, jetzt. Nach all den Jahren, in denen er sich sicher gefühlt hatte vor ihm - war es das, was die Leute sagten: je näher man dem Tod kommt, desto lauter hört man die Toten nach sich rufen?
 

Unruhe machte sich in ihm breit, als er das unangenehme Verlangen verspürte, pathetisch zu werden.

Natürlich war er nicht mehr der jüngste. Nach eigenem Empfinden nie gewesen. Aber trotzdem ... das es mit einer solchen Heftigkeit zurückkommen würde - von einem Tag vor Jahren auf den anderen, und es war ja nicht einmal übberaschend gekommen, es hatte sich angeschlichen und ihn dann angesprochen und -

Jetzt verstand er die dunkle Ahnung, die er gehabt hatte, bevor er heute Morgen aufgewacht war und ihm das Atmen schwer fiel - sie war eigentlich viel zu schwach gewesen, wie ein kleiner dummer Vogel, der wieder und wieder flatternd gegen eine unnachgiebige Glasscheibe flog und sich dabei nach und nach die dünen Knöchelchen brach - an einem trüben New Yorker Morgen, der Wind zwischen den Hochhäusern schneidend und eisig und der Himmel eine Liebeserklärung an die bleierne weiße Schwere, die ihm tief in den Knochen steckte.

Es hätte ein Novembertag wie jeder andere werden können, wenn nicht -
 

Verdammte Sehnsucht.

Du fehlst mir, weißt du das, du italienischer Mistkerl?

Wahnsinnig. Selbst jetzt noch.
 

Und ich dachte, es wäre ein für alle Mal zu Ende gewesen, nachdem sie dich begraben haben, nachdem sie dich unter einem Haufen Erde verschüttet haben, zwischen all den weißen Grabsteinen traditionell-amerikanischer Marmorsucht. Ich habe gedacht, ich könnte alles andere mit begraben, meine Schuld, meine Reue, meinen Verstand.

Aber sie haben nur deine verdammte Leiche begraben und ich habe mich weitergeschleppt, einer von uns musste doch überleben, weißt du noch?

Aber ich hab' doch selbst die Erde zwischen meinen Fingern, unter meinen Fingernnägeln gespürt und dann das Gras, das schnell gewachsen ist, dachte Simon verzweifelt, und dann der warme, helle Sonnenschein im Sommer, der alles in dieses unwirkliche Licht von besonders teuren, bedeutungsschwangeren Hollywood-Filmen mit ernsten moralisch tiefgründigen Dialogen getaucht hatte, wenn er sich manchmal verstohlen dem Grab genähert hatte, in der steifen Art von Männern, die die Gräber ihrer gefallenen Kameraden besuchen und dann ab und an ungelenk davor auf die Knie sinken, nein, in dieser Hinsicht hatte er selbst nie eine Ausnahme gemacht.

Und immer einmal im Jahr an ... dem Tag, an dem alles geendet hatte.
 

"Und weißt du was? Ich habe es geschafft, damit zu leben -"
 

All die Jahre, mit der selben Sturheit von damals. Manchmal hatte er ihn noch gesehen, in dem gleichen affigen, teuren, durchnässten Anzug von damals abgerissen durch die vom Regen gepeitschten Straßen von New York marschieren, manchmal mit einem Koffer, manchmal ohne, aber jedes Mal, wenn er ihm ins Gesicht gesehen hatte - oder abends in den Bars, wenn ihn irgenein Fremder um Feuer gefragt hatte, die Ruhe vor dem Sturm - manchmal war er sogar bei ihm im Taxi gesessen, wer wusste, wie viele Anzugträger der Familie er schon durch die Gegegend gekarrt hatte - immer war es ein anderer gewesen und keiner hatte es so eilig wie sie damals.

All die Jahre. Sag, ist das nicht grauenhaft?
 

"- hab ich das?", ein raues, karges Lachen, das eher ein Husten oder das Bellen eines Hundes, der in den letzten Zügen lag, hätte sein können, entrang sich seiner Kehle, "Natürlich hab' ich das nicht, du Mistkerl - dich habe ich nie anlügen können, das weißt du doch." Bitter. Heute richtete er seine Worte an einen, der nicht mehr war, einen Veblichenen, beinahe Vergessenen. Beinahe, denn einen gab es ja immer noch, der sich erinnerte, der bereute, der -

Und damals? Hätte er so etwas nie gesagt, damals hätte er geschwiegen, damals, da hätte er, da wäre er -
 

Die Schultern des alten Mannes bebten. Eine seiner vom Alter bereits gezeichneten Hände krallte sich ins tapezierte Mauerwerk, so als könne er sich aufrecht halten, als er innerlich zu wanken begann, als ob ihm die Welt irgendeinen Halt hätte geben können - das hatte sie doch auch damals nicht, als ob sie ihm wenigstens ein wenig Schmerz schenken konnte, der ihn herausriss aus diesem Albtraum - er konnte ihn sehen, da drüben, auf der anderen Straßenseite stand er und hatte Schnee im dunklen Haar, das rote, das an seiner Schläfe herabrann, war das Blut? - als es schließlich aus ihm herausbrach in einem Anfall von leiser Resignation:
 

"Aber was hätte ich denn tun sollen - vierzig Jahre lang, Giacomo, vierzig verfluchte Jahre lang -"
 

Hatte er sich gefragt, was gewesen wäre, wenn -
 

"Wie ich es bereut habe -"
 

Er kam kaum noch zu Atem. Schritte im Treppenhaus, seine Hand umklammerte das Mauerwerk fester, bis die Knöchel weiß hervortraten, ich habe dich nie verraten, aber ich musste leben, ich - und du? Hast du es nicht auch geahnt, in diesem Augenblick, in dem wir nahe genug am Abgrund standen, dass ein Schritt gereicht hätte, schrie Simon in Gedanken, hinter ihm ging die Tür auf, aber in der Reflektion der Fensterscheibe war die Wohnung unverändert, sprich mit mir.

Sollte er sich doch nur auf seinen Tod vorbereitet haben, all die Jahre?
 

"- oh, und wie ich es bereut habe, mein Freund."
 

Wie alt du geworden bist, wie dünn deine Stimme und grau ist dein Haar. - Compagno, es geht zu Ende mit dir.
 

Simons Stirn sank gegen das kalte Glas.

Er war jetzt ganz nah und Simon war sicher, er würde ihn hinter sich stehen sehen, wenn er sich nur umrehte.

Und es schneite unaufhörlich. Kein gutes Wetter für alle Taxifahrer.

Keines gutes Wetter für jegliche Art von Sentimentalität, für Vergangenheit, die nie eine Zukunft gehabt hatte.

Aber es ging nicht. Nicht anders.

Hör auf, hör auf mich zu quälen, nimm deine Hand von meiner Schulter, lass mich in Ruhe -
 

"- LASS MICH ENDLICH LOS!"
 

Seine Lungen brannten, irgend etwas stimmte nicht und der Druck auf seinen Schultern verstärkte sich, seine Beine zitterten.

Verdammt.
 

Und dann ...
 

Ein Riss in seiner Brust.

Als ob sich gerade etwas gelöst hatte, was seit Jahren darin war.

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als der Schmerz, den er erwartete, nicht eintrat.
 

Mit einem Mal spürte er nichts mehr von der Last, die auf ihm gelegen hatte, da war - niemand mehr, der ihn hier hielt, die Hand auf seiner Schulter, jetzt beugte er sich über ihn, du Mistkerl, ich wusste die ganze Zeit, dass du da bist, du italienisches Killer-Plagiat.

Warum hast du dir so viel Zeit gelassen?
 

Und dann gaben seine Beine plötzlich doch unter ihm nach und er sank unbeholfen zu Boden, mit einer Hand versuchte er sich am Heizkörper festzuhalten, aber er entglitt seinen mit einem Mal kraftlos gewordenen Fingern -
 

Ich weiß ja noch, wie alles angefangen hat.

Feuer.

Ich hätte es wissen müssen.

Der letzte klägliche, wimmernde Versuch eines rauhen Lachens.

Ach. Ich hätte es doch wissen müssen.
 

Dein Windhundgesicht ist auch keinen Tag älter geworden.
 

Er spürte nicht mehr, wie er auf dem Boden aufschlug.
 

"Giacomo ..."
 

...

...
 


 

Zeitpunkt des Todes:    11/31/2051 03:37 pm

Todesursache:           Herzstillstand.
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2010-01-16T09:13:29+00:00 16.01.2010 10:13
GN!! Ich muss mich derbst zusammenreißen, mich jetzt nicht in Ausrufezeichen, Lautentäußerungen in Form von Vokalketten, Quietschesmileys und Herumgehüpfe zu äußern. Auch wenn mir verdammt danach ist - stell dir einfach mal kunterbunte Riesenfreude vor. *______________________*

Obwohl es ja eher sowas von zum Heulen ist - also ich kann dir deine Blumen für meine Version haarklein zurückgeben, das bricht hier gleich den Damm, Mensch ist das hart. Und dabei setzt in mir für gewöhnlich beim ersten Anflug von Kitsch eine kritisch-abblockende Betrachtungsweise ein, was hier gar nicht der Fall ist - ich leide da tatsächlich total mit. Du trickst den Leser dahingehend nämlich GENIAL aus, um kritische Gedanken zu vermeiden. Indem du als Autorin einen sehr geschickten (und leider Gottes enorm wirkungsvollen *LEID*) Kniff eingebaut hast: du hast bewusst durch den Erzähler auf das Pathetische/potentiell Kitschige angespielt, das ja nicht an dir liegt, sondern nun mal unweigerlich in der Natur eines solchen Jahre-Später-Alle-Tot-Plots und sich demnach NIE hätte vermeiden lassen. Du hast es also hingenommen, ABER von Simon einfach mal in Gedanken sarkastisch aufs Korn nehmen lassen, an verschiedenen Stellen, vom "unangenehmen Verlangen, pathetisch zu werden", das er bewusst spürt, über das spöttelnde Bild mit dem Hollywood-Filmlicht auf ernsten Dialogen bis zu dem "Kein gutes Wetter für jegliche Art von Sentimentalität". So bleibt das hier eine Geschichte über einen bodenständigen Kerl wie Simon, den nicht die Sentimentalität kitschig erweicht, bis der Leser die Augen rollt, sondern der sich über diese Dinge bewusst ist, genau wie der Lesende, sie wohl genauso verspottet wie er ABER (und hier der Kniff) trotz besseren Wissens und Widerwillens DENNOCH so leidet. Was das ganze so echt und überzeugend macht. Simon denkt, was ein kritischer Leser auch denken würde, und kriegt trotzdem die Krise, genauso muss der kritische Leser ebenfalls unweigerlich mitleiden. XD Kann ich mich verständlich machen? ^^' Darum ist deine Geschichte weniger kitschig als meine, bzw ist der kitsch hier gekonnt enschärft, weil ich da bei meiner wesentlich undifferenzierter war und den Kitsch zumindest am Ende gar nicht mehr kritisch beleuchtet, sondern nur hingestellt habe.
(Und das hier passt auch, nebenbei, total zu Simons Wesen, er ist noch immer der brummelige, verschlossene Kerl, wird aber dennoch in einem Ausmaß, das nicht von seinem noch immmer (!) kritischem Verstand kleinzureden ist, überwältigt. Man nimmt es ihm ab, obwohl man sieht, dass er noch der alte ist. Genial.)

...Zweitens muss mein Mitleiden wohl auch daran liegen, dass das unsere Figuren sind, für die man ja doch so ein bisschen mütterliche Gefühle hegt ^___^, und sie so sterben und dramatisch leiden zu sehen, so phänomenal, so untröstlich, so nicht wieder gut zu machen, einfach lebenslang... gnrrr, das ist einerseits der wunderbare Stoff, aus dem die bewegenden Geschichten sind und was mein sadistisches kleines Herz begehrt, wenn ich mir vorstelle, wie die zwei sich später in den rasenden Wahnsinn treiben werden oder auch nur wenn ich Giacomo zum hundertsten Mal seine Zähne an Simons Cab ausschlagen lasse. Aber andererseits, wenn ich das jetzt so lese - maaaaaaaaarg, dann bleib selbst ich nicht mehr rein sadistisch amüsiert, da wird mir ja bittersüß. *heul* Gahaha, wie wundervoll, so bitterböse, diese Reue, und die Todesart, Herzstillstand, und gnaaaaaah, das letzte Wort ist sein Name. *flachlieg und schluchz* Verdammt, du hast mich so gut ausgetrickst, dass mich selbst das mitnimmt, obwohl das ja wohl der Gipfel des Pathos ist! Du bist ein Phänomen.

Wenn ich deine Oneshotsammlung schon kommentiert hätte, wüsstest du auch, was ich von Bildern wie diesem hier halte: "und der Himmel eine Liebeserklärung an die bleierne weiße Schwere, die ihm tief in den Knochen steckte." Oder von dem mit dem Hollywoodlicht für ernste Dialoge. Die sind einfach grandios und machen deinen Stil aus, wegen solch intelligenter, passender Assoziationsspielereien sind deine Texte glaub ich so atmosphärisch und plastisch, so hmpf... bildlich vorstellbar - und was mich jedes Mal wundert, du schaffst es, damit trotzdem wohldosiert umzugehen, so, dass man nicht das Gefühl hat, da jagt ein Bild das andere. Da sind zwar typischerweise immer verdammt viele Bilder, aber sie passen einfach klasse, keins wirkt als wärs zuviel, sie machen den Text aus und schaffen einen tollen Gesamteindruck, sind eine wahre Stärke, keine Schwäche, wie bei vielen anderen Autoren. So mit bildreicher Sprache umgehen, dass nichts überflüssig scheint und der Leser nicht übersättigt wird, das kann nämlich bei weitem nicht jeder, das scheint ein typisches Talent von dir zu sein. Ich persönlich genieße das richtig, das ist super.

Ich könnte ja nun noch stundenlang darüber reden, wie toll du dich immer an Vorlagen und bereits vorhandene Handlung hältst und aufmerksam auf Dingen aufbaust, die schon da sind, was ja auch 'ne klasse RPG-Spielerin ausmacht - aber, ich denke, dass es so ist, reicht an dieser Stelle zu sagen. Du bist eben einfach gut. XD Nebst Simon hast du hier nämlich selbst den abwesenden Giacomo (in indirekten Beschreibungen) so portraitiert, dass es passt wie die Faust aufs Auge.


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