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24 Days

Ein Adventskalender, ursprünglich für Tattoo, nun zugänglich für alle!
von

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01.12. Means of Communication

aus Pflanzen entschied Tattoo sich für Tulpen!
 

~*~
 

„Fragst du dich nicht manchmal, wie ich auf manche Songtexte komme?“

Daisuke lag auf dem Sofa, die Knie pyramidenförmig aufgestellt, hatte einen Notizblock auf seine Oberschenkel gelegt und schrieb nachdenklich etwas auf. Sein Kopf ruhte auf Aies Bein. Das andere hatte der Gitarrist unter Daisukes aufgestellten Beinen hindurchgeschoben, sodass der Sänger mehr oder weniger in Aies Schoß lag.

„Doch, ständig“, entgegnete Aie sofort zustimmend. Er betrachtete den Schwarzhaarigen aufmerksam und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

Daisuke bemerkte den amüsierten Unterton in der Stimme des anderen nicht (oder wollte ihn vielmehr nicht bemerken), und fuhr stattdessen fort: „Ich habe Bilder im Kopf, noch keine richtigen Worte, sondern Vorstellungen, Ideen... manchmal mehr davon, manchmal überhaupt keine, und dann, wenn die Vorstellungen konkreter werden, ich sie mit bestimmten Farben, Ausdrücken, Gefühlen verbinden kann, bekomme ich ein deutlicheres Bild von dem, was ich ausdrücken will.“

„Und dann musst du diese nur noch in Worte fassen“, ergänzte Aie mit einem Nicken, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.

„Nein. Also, ja, ich fasse sie in Worte, aber dann abstrahiere ich sie noch einmal. Ich nehme quasi meine bildhafte Vorstellung, forme sie in fassbare Worte und Bezeichnungen um und überlege mir, wie ich sie anschließend noch verschlüsseln kann, sodass meine Idee trotzdem noch übermittelt wird – ohne dass ich sie profan einfach hinklatsche wie ein Stück Schinken.“

Das ließ Aie grinsen, aber er unterbrach seinen Sänger nicht.

„Mir gefällt es nicht, wenn man sich auf die Bühne stellt und singt ‚Ich liebe dich so sehr, dass ich dir das Herz rausreißen muss’; wenn man so etwas unbedingt ausdrücken möchte, kann man das auch poetischer tun“, entrüstete dieser sich.

„Dass man jemandem das Herz rausreißen muss“, wiederholte Aie und zog die Augenbrauen nach oben.

„Beispielsweise, ja“, erwiderte Daisuke nickend. Es wurde offensichtlich, dass er es ernst meinte, und so ging Aie nicht weiter darauf ein, sondern berührte den schwarzen Haarschopf auf seinem Schoß. Daisuke schüttelte nur den Kopf, um ihn zu verscheuchen, und sprach weiter: „Vielleicht wird nicht so ganz klar, was ich meine. Nehmen wir ‚Thursday’. Ich hatte das Bild der inneren Zerrissenheit im Kopf, das Gefühl, dass sich etwas verändert, dass etwas auf der Kippe steht, dass irgendetwas vorbei geht und etwas anderes beginnt. Dass man sich in der Mitte befindet. Nachdem ich diese Ideen entwickelt hatte-“

„Hast du beschlossen, dass Donnerstag diese Gefühle am Besten vermittelt“, unterbrach Aie ihn verständnisvoll nickend und fuhr nun mit den Fingerspitzen durch Daisukes Haare, worüber der andere sich dieses Mal nicht beschwerte.

„Genau“, bestätigte er. „Donnerstag ist die Mitte der Woche, man hat schon die erste Hälfte hinter, die zweite allerdings immer noch vor sich. Am Montag, Dienstag und Mittwoch kann man sich einreden, dass die Woche gerade erst angefangen hat, und am Freitag, Samstag und Sonntag weiß man, dass die Woche ihrem Ende zugeht. Aber am Donnerstag? Was ist am Donnerstag?“

„Stimmt, eigentlich müsste man donnerstags grundsätzlich aufgeschmissen sein“, warf Aie ein und gab sich Mühe, sein Lächeln nicht wieder in ein Grinsen abdriften zu lassen, während er behutsam Daisukes Kopfhaut massierte.

„Eben. Verstehst du jetzt, was ich meine?“, entgegnete Daisuke ernst. „Und weißt du, was mir noch aufgefallen ist?“

„Leider nicht. Erzähl’s mir“, bat Aie neugierig.

„Ich vertrete die Ansicht, dass man, um wirklich kreativ sein zu können, nicht nur Inspiration aus sich selbst, sondern auch immer aus seiner Umwelt schöpfen muss.“ Hier legte Daisuke eine Kunstpause ein, die Aie nutzte, um unauffällig mit seiner freien Hand den ersten Knopf vom Hemd des anderen zu öffnen. Daraufhin hielt der Sänger seine Hand fest. „Wenn man ausschließlich auf sich selbst zurückgreifen würde, nur seine eigenen Gefühle und Empfindungen beschreiben, nur über seine eigenen Probleme sprechen, ohne äußere Einflüsse zu berücksichtigen, wäre es ziemlich langweilig für die Zuhörer, weil nichts vorhanden ist, mit dem sie sich identifizieren können. Würde man rein persönlich schreiben, wäre es kaum von Interesse.“

„Das kann ich mir vorstellen“, gab Aie zurück und wand sich beiläufig aus Daisukes Griff. „Deine Mutter würde die CDs trotzdem kaufen.“

„Und deshalb glaube ich, dass man, um richtig gute Songs zu schreiben, immer irgendwelche äußeren Einflüsse und Inspirationen braucht. Etwas, was man in den Nachrichten sieht, ein Lied, das man hört, ein Buch, das man liest, etwas, was jemand sagt oder nicht sagt, die Art, wie sich jemand verhält... all das kann, meiner Meinung nach, inspirierend sein und ist es auch oft. Wenn man nur aus sich selbst schöpfen würde, wäre irgendwann nichts mehr da, aber dass man auch nach Jahrzehnten noch geistreiche und ‚neue’ Texte schreiben kann, liegt daran, dass man von außen beeinflusst wird.“

„Ach so“, warf Aie mit einem interessierten Unterton ein und während Daisuke seinen Kopf zur Seite drehte, um zum Blumenstrauß auf dem Wohnzimmertisch zu sehen, nutzte er die Gelegenheit und machte sich daran, die nächsten Knöpfe zu öffnen.

„Nimm beispielsweise diese Tulpen hier“, begann Daisuke nachdenklich und schenkte dem anderen keinerlei Beachtung mehr. „Die Nachrichten, die sie aussenden, sind so vielfältig wie oft widersprüchlich. Das kräftige, gesunde Grün ihrer Blätter steht für Natürlichkeit, Lebendigkeit und natürlich Hoffnung. Wenn man sich allerdings die Form ihrer Blüten ansieht – sie wirkt eher verschlossen dadurch, dass sie ihre Blütenblätter zusammen zu falten scheint. Deshalb stehen Tulpen in der Blumensprache oft für die Botschaft: ‚Du bist zu keinem echten Gefühl fähig’.“

Da allerdings hielt Aie für einen Moment inne und wollte bereits etwas sagen, als Daisuke ihm jedoch das Wort abschnitt: „Genauso oft enthalten Tulpen allerdings die Nachricht ‚in meiner Liebe zu dir bin ich im siebten Himmel’, eine zwar nicht völlig gegensätzliche Mitteilung, aber sind die doch nicht unbedingt miteinander vereinbar. Tulpen können so viel aussagen, wenn man sie für sich betrachtet. Die Blüten hier speziell sind rosa, was für aufkeimende Liebe steht, und somit beide Nachrichten enthalten könnte.“

Inzwischen waren sämtliche seiner Knöpfe offen.

„Begreifst du?“ Daisuke schaute wieder zu seinem Gitarristen, der erneut sein Lächeln auf den Lippen trug. „Tulpen für sich alleine können für alles stehen, man muss sie immer in ihrem Kontext sehen. Deshalb wären sie eine hervorragende Inspiration, weil sie so viel bedeuten.“

„Wie faszinierend“, kommentierte Aie mit einer hochgezogenen Augenbraue und legte eine Hand auf Daisukes nackten Bauch.

Daraufhin verengten Daisukes Augen sich ein wenig. „Warte mal, warum hast du mir die Tulpen dann geschenkt?“

„Möchtest du nicht noch ein wenig weiterreden?“, antwortete Aie mit einer Gegenfrage.

„Ich hoffe für dich, dass das, worauf mein Kopf liegt, dein Handy in der Hosentasche ist, sonst würde das bedeuten, dass du mir keinen Deut zugehört hast“, murmelte Daisuke und runzelte missbilligend die Stirn.

Aie grinste nur.
 

~*~

02.12. Eyes that lose their vividness

als Verbrechen suchte Tattoo sich Erpressung aus!
 

~*~
 

Ryo ließ seine Augen auf seine Hände gerichtet, er hätte es nicht ertragen, jetzt aufzusehen. Er hätte seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Das hellrote Wasser im Waschbecken war gerade dabei, abzulaufen, und trotzdem drückte er noch einmal auf den Seifenspender und wusch sich die Hände zum sicherlich vierten Mal ausgiebig. Die Seife schäumte auf, strahlend weiß, keine Verbindung mehr zum roten Schaum, der sich noch vor einer Minute gebildet hatte. Und trotzdem hielt Ryo seine Hände unter den laufenden Wasserhahn und musste noch mehr Seife nehmen. Als ihm ein dunkelroter Spritzer am Rand des Waschbeckens auffiel, wischte er ihn sowohl vollkommen bewusst als auch mechanisch weg. Er spürte seine Hände kaum noch, sie waren taub geworden. Das Wasser war eiskalt.

Als der letzte Seifenrest abgewaschen war, fuhr Ryo sich mit den gefühllosen Händen übers Gesicht, und obwohl die erfrischende Sensation seinen Körper belebte, sein Geist blieb weiterhin betäubt, wie seine Hände. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis beides wieder auftaute.

Da wagte er es zum ersten Mal, sich aufzurichten und anzusehen. Seine Augen waren müde, trotz des kalten Wassers, sein Mund bildete eine schmale Linie, seine Haare waren feucht geworden und die Nässe auf seiner Haut glänzte.

Von dem Blut war nichts mehr zu sehen. Und trotzdem fühlte Ryo sich beschmutzt.
 

„Ich hab dich gesehen.“

Bei diesen Worten hätte Ryo beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Er fuhr zusammen und drehte sich sofort um, sein Herz unnatürlich heftig schlagend. Als ihm die Bedeutung der Worte bewusst wurde und als er den Sprecher erblickte, wurden seine Knie schwach und er musste sich am Waschbecken festhalten.

Derjenige, der ihn angesprochen hatte, war ein Jugendlicher aus seiner Nachbarschaft. Ryo hatte ihm, als der Junge noch kleiner gewesen war, für ein oder zwei Jahre Klavierunterricht erteilt, daher wusste Ryo, wie er hieß: Jun. Inzwischen hatte Jun allerdings leuchtend pinke Haare und befand sich offenbar noch immer in der rebellischen Phase, wenn man sich seine Kleidung ansah. Doch das war alles nicht so wichtig, viel wichtiger war die Tatsache, dass er Ryo KANNTE, dass er wusste, wer er war. Und dass er ihn gesehen hatte, selbstverständlich.

Jun stand neben der Eingangstür, und er stand so, dass er sich an einem anderen Ort sicherlich lässig an die Wand oder gegen den Türrahmen gelehnt hätte, an einer öffentlichen Toilette jedoch war es offenbar selbst ihm zu unhygienisch. Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er augenscheinlich bereits seit einiger Zeit unbeachtet hatte abbrennen lassen. Aber auch das war nicht so wichtig, viel wichtiger war das schiefe Lächeln auf seinen Lippen, mit dem er Ryo bedachte.

Ich bin geliefert, dachte Ryo und lehnte sich unwillkürlich an das Waschbecken, da er zunehmend schwächer wurde. Doch sein Geist war durch den Schock wieder klar geworden und überlegte blitzschnell, was er tun konnte. Bestechen? Betteln? Oder sogar...

„Ich verpfeif dich nicht“, fuhr der Jugendliche fort, ungerührt davon, dass er einem Mörder gegenüber stand. „Und ich verschaff dir ein Alibi.“

Ryos Verstand schlug Purzelbäume. Wenn Jun als Augenzeuge aussagte, dann war alles vorbei. Es stünde zwar Aussage gegen Aussage, aber alles würde für Jun und gegen Ryo sprechen. Kurz: Er hatte ein Problem. Nein, er würde das kleinere Übel nehmen müssen. Er hatte schließlich keine Wahl. „Unter welchen Bedingungen?“, entgegnete er und bemühte sich, seine Stimme fest und bestimmt klingen zu lassen, aber wahrscheinlich gelang es ihm nicht einmal zur Hälfte. Der Schreck über Juns plötzliches Auftauchen saß ihm noch in den Knochen. „Was willst du dafür?“

Jun schürzte die Lippen, während er überlegte. Dabei warf er achtlos seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. „Deine Karre“, antwortete er schließlich. „Du gibst mir die Schlüssel und die Papiere und rührst sie nie wieder an. Sie bleibt aber auf dich zugelassen. Einverstanden?“

Was blieb ihm anderes übrig? So langsam hatte Ryo sich wieder gefangen. Er wusste, dass es ein Fehler war, aber er konnte nicht anders. Wäre es nicht Jun, sondern irgendein Fremder gewesen, irgendjemand, den er nicht kannte, irgendjemand, der ihn nicht kannte... Aber daran wollte er nicht denken. Nein, er musste es verdrängen. Wortlos griff er in seine Hosentasche und warf dem Pinkhaarigen seinen Autoschlüssel zu. Jun fing ihn geschickt auf und belohnte Ryo mit einem Grinsen.

„Danke“, bemerkte er, zufrieden klingend. „Einigen wir uns darauf, dass ich dich gestern angerufen habe, weil ich unbedingt ein bestimmtes Stück spielen wollte und du nun mal mein Klavierlehrer warst? Komm, dann können wir die Einzelheiten besprechen, denn wenn die Polizei uns befragt, sollten wir die gleiche Geschichte zum Besten geben.“ Damit wandte Jun sich ab und verließ die öffentliche Toilette.

Ryo warf einen Blick zurück zum Waschbecken und überprüfte, ob er auch keinen Blutspritzer vergessen, alle Spuren beseitigt hatte. Ihm war nach dem Mord sofort klar gewesen, dass er ziemliche Schwierigkeiten bekommen würde, er hatte sich nur nicht ausgemalt, dass sie in dieser Art auftreten würden. Und außerdem hatte er nun kein Auto mehr.

Vorsichtshalber warf er Juns Zigarette noch in den Abfall, bevor er sich zu dem anderen nach draußen gesellte und sich gleichzeitig fragte, wie der etwa Neunzehnjährige eine Erklärung dafür finden wollte, dass sie beide sich bis ein Uhr nachts getroffen hatten.
 

~*~
 

Ryo war noch nie ein guter Schauspieler gewesen, doch an diesem Vormittag fühlte er sich, als hätte er sein Debüt als Hauptdarsteller in einem Stück, dessen Text er nicht kannte. Und er hatte das Gefühl, seine Rolle glänzend zu spielen. Genauso glänzend wie seine Augen in dem Moment, in dem der Polizeibeamte ihm mitteilte, dass seine Frau in der vergangenen Nacht in einem nahe gelegenen Park erschlagen wurde. Es lief wie am Schnürchen. Es lief beinahe zu gut.

„Fassen wir noch einmal zusammen“, begann der kleinere der beiden Beamten, der während des vorangegangenen Gesprächs mitgeschrieben hatte. „Gestern gegen 15 Uhr bekamen Sie überraschend einen Anruf von Jun, der vor etwa sieben Jahren ein Klavierschüler von Ihnen war. Er bat Sie, ihm mit einem bestimmten Klavierstück zu helfen, und begründete seinen Anruf damit, dass ihm niemand anders eingefallen sei. Obwohl gestern der Hochzeitstag von Ihrer Frau und Ihnen war, sagten Sie zu. Daraufhin entbrannte eine Diskussion zwischen Ihnen beiden und Sie gingen im Streit auseinander.“

Ryo nickte, erneut unter Tränen. Hätten die beiden Polizisten ihn nicht so mitfühlend angesehen, wäre er sich ziemlich lächerlich vorgekommen.

„Sie und dieser Jun übten bis spät in die Nacht, sodass Sie erst um drei Uhr wieder zuhause waren. Da Ihre Frau nicht da war, vermuteten Sie, sie sei zu ihrer Schwester gefahren, und gingen schlafen. Ist das korrekt?“

Wieder nickte Ryo. Die Uhrzeit seiner Rückkehr stimmte sogar – nur war er nicht nachmittags zu Jun gegangen.

„Wie erklären Sie sich, dass Ihre Frau um die Uhrzeit alleine draußen unterwegs war?“, wollte nun der andere Polizist wissen.

„Ich... wenn wir uns gestritten hatten, sind wir oft in dem Park spazieren gegangen. Wahrscheinlich wollte sie... hat sie Trost gesucht“, gab Ryo zurück und spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Zumindest hier log er nicht vollkommen. „Hätte ich gewusst, dass sie so spät noch alleine raus will, hätte ich... hätte ich...“ Seine Stimme versagte, und er vergrub das Gesicht in den Händen.

Als die beiden Polizisten nach einigen Minuten wieder gingen, fühlte Ryo sich, als fiele der Vorhang zu seinem Theaterdebüt unter tosendem Beifall über seine gelungene Darbietung des trauernden Ehemannes.
 

Am Abend, als es an seiner Tür klingelte, musste Ryo nicht lange überlegen, wer sein unerwarteter Gast war. Er öffnete und wurde augenblicklich von seinem Besuch zur Seite geschoben, als wäre ER der Eindringling.

Jun zog wortlos seine Schuhe aus, warf seine Jacke in Richtung Garderobe und schaute sich kurz um, um sich zu orientieren. Dann entschied er sich für die erste Tür, da er sich offenbar daran erinnerte, dass dort die Küche lag. „Hast du nichts zu essen?“, wollte er enttäuscht wissen. „Dann bestell Pizza. Für mich eine extra große mit Ananas und Eiern. Ach ja, und sag ihnen, du bezahlst das Doppelte, wenn sie noch Pfirsiche drauf tun.“ Dann stapfte er weiter ins Wohnzimmer, wo er sich umgehend auf das Ledersofa warf und sich die Fernbedienung schnappte.

Ryo war ihm gefolgt und betrachtete ihn nun sprachlos. Ihm waren im Laufe seines Lebens bereits viele dreiste Menschen begegnet, aber das hier war wohl der Gipfel der Unverschämtheit. „Was glaubst du, was-“

„Die Bullen sind heute noch bei mir aufgetaucht“, fiel Jun ihm ungerührt ins Wort und griff nach der Zigarettenschachtel, die auf dem Wohnzimmertisch lag. Ryo brachte diese einzelne Aussage so sehr aus dem Konzept, dass er vergaß, seinen ‚Gast’ zurechtzuweisen, dass in der Wohnung nicht geraucht wurde. „Haben mich nach gestern gefragt, erst, was ich gemacht habe und so. Bin natürlich nicht drauf reingefallen. Haben mir aber geglaubt, als ich deine Geschichte bestätigt habe, ohne dass sie mir was vorkauen mussten. Fanden es aber komisch, dass wir sieben Jahre lang nichts miteinander zu tun haben und ich dich plötzlich anrufe.“

Wäre es doch nur dabei geblieben, dass wir nichts miteinander zu tun haben, dachte Ryo und musste sich ratlos durch die Haare fahren. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, das stimmte schon – er hatte damit gerechnet, dass die Polizisten Jun kontaktieren, allerdings war er sich längst nicht sicher gewesen, was der Jugendliche ihnen erzählen würde. Nur jetzt schuldete er Jun wirklich etwas. Und er bezweifelte, dass es mit seinem Auto getan war.

„Was ist jetzt mit der Pizza?“, wollte der Jugendliche unzufrieden wissen und schaltete den Fernseher ein. „Ich hab Hunger.“

„Bekommst du zuhause nichts zu essen?“, entgegnete Ryo ungehalten und fragte sich gleichzeitig, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten sollte. War er nur allzu willig und höflich, würde Jun das sicherlich ausnutzen, aber wenn er zu viel Widerstand leistete, könnte es böse ausgehen für ihn.

„Meine Mutter kocht schon lange nichts mehr“, lautete Juns Antwort, bei der er mit den Schultern zuckte. Sein Blick richtete sich auf den flimmernden Bildschirm, während sein sonst so gleichgültiges Gesicht einen beinahe verbissenen Ausdruck bekam.

Wären sie nicht in der Situation, in der sie sich nun einmal befanden, hätte Jun Ryo beinahe leid getan. Er schien das Paradebeispiel für einen vernachlässigten Jugendlichen zu sein, seine Haarfarbe lediglich ein Wunsch nach Aufmerksamkeit, sein Kleidungsstil ein verzweifelter Versuch, Sorge zu provozieren. Und all das wurde jetzt offenbar auf Ryo abgewälzt. Schweigend wandte er sich ab, um das Telefon zu holen, und überlegte, ob er noch einen Flyer einer Pizzeria irgendwo herumliegen hatte.
 

So ging es die nächste Woche weiter.

Ryo hatte sich die Woche freigenommen und unzählige Beileidsbekundungen von seinem Vorgesetzten wie von seinen Kollegen erhalten. Verwandte und Bekannte riefen bei ihm an, und jedes Mal präsentierte er ihnen seine glaubhafteste Vorführung, spielte die Anrufer und Besucher an die Wand und merkte, wie er mit jeder Vorstellung müder wurde. Die Tat selbst schien ihm nicht so sehr zuzusetzen wie seine falsche Trauer. Sie lastete tonnenschwer auf ihm.

Und Jun kam und ging, wann er wollte. Er fragte Ryo immer mal wieder nach Geld und Zigaretten, verlangte jedoch hauptsächlich nach Essen und Unterhaltung. Oft gab er sich damit zufrieden, auf dem Sofa zu liegen und fernzusehen, solange er etwas zu essen hatte. Doch auch allein seine Anwesenheit übte einen großen psychischen Druck auf Ryo aus. Dazu kam noch, dass die Polizei einige Male vorbeischaute und Ryo nach der möglichen Existenz eines Geliebten ausfragte, ob er sich insgesamt mit seiner Frau gut verstanden hatte und so weiter.

Ryo war klar, dass es so nicht weitergehen würde. Mit der gesamten Situation nicht.
 

~*~
 

Und er behielt Recht.

Am achten Abend kam Jun gegen neun Uhr und verlangte nach Alkohol. Als Ryo meinte, er habe keinen im Haus, wurde Jun ungehalten und schickte Ryo los, noch an irgendeiner Tankstelle Bier zu kaufen. Als Ryo wiederkam, stank seine Wohnung nach Zigarettenqualm und Jun zählte das Bargeld, das er in Ryos Nachttisch gefunden hatte.

Daraufhin warf Ryo dem Eindringling das Sixpack in den Schoß. „Wie lange soll das noch so weitergehen?“, fragte er scharf und fixierte den Jugendlichen wütend. „Wie lange willst du meine Wohnung besetzen, dich von mir verköstigen lassen und-“

„Bis du dich stellst?“, entgegnete Jun, schien sich allerdings selbst nicht sicher zu sein. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und stellte das Bier auf den Boden.

„Ist es das, was du willst?“

„Nein. Ist es nicht“, widersprach Jun ruhig. „Aber ich denke, viel früher wird es nicht aufhören. Mir gefallen deine Wohnung und deine Gesellschaft. Hier kann ich machen, was ich will.“

„Bist du nur deshalb hier? Weil das hier ein Paradies für heimatlose Teenager ist?“, fragte Ryo gereizt. „Weil du alles bekommst, ohne etwas dafür zu tun?!“

Er bekam keine Antwort. Stattdessen wandte Jun sich wieder dem Fernseher zu und riss geistesabwesend das Sixpack auf, holte einen Flaschenöffner aus der Hosentasche und öffnete eine Flasche Bier.

Frustriert nahm Ryo sich sein Geld vom Wohnzimmertisch und machte Anstalten, den Raum zu verlassen, als er seinen Namen hörte. Er wollte Jun bereits anschnauzen, dass er ihm das Geld nicht geben würde, verstummte aber ob der Miene, der er sich gegenüber sah. Jun schaute ihn an, weder gleichgültig noch verbissen noch amüsiert oder mit sonst einem Gesichtsausdruck, der Ryo bekannt war. Es lag Neugier darin, aber Neugier für das Falsche, Sensationslust, Verlangen nach etwas, das man besser unterdrückte.

„Warum hast du sie umgebracht?“, flüsterte der Jugendliche, das Bier in seiner Hand vergessen.

Ryo war kurz davor, ihm zu sagen, dass ihn das nichts anging, dass es verdammt noch mal seine Sache war, aber in diesem Augenblick wurde ihm eins bewusst: Wenn er es jetzt nicht aussprach, würde er niemals die Gelegenheit dazu bekommen – oder zumindest hoffentlich. Er persönlich vertrat die These, dass viele Verbrecher ihre Taten vor der Polizei zugaben, nur damit sie sie endlich los waren. Damit das Feuer, das auf der Seele brannte, gelindert werden konnte.

„Sie hatte eine Affäre“, hörte er sich sagen und spürte, wie die Wut zurückkehrte, die ihn in jener Nacht durchflutet hatte. Diese unbändige Wut. „Mit meinem Bruder. Er war gleichzeitig mein erbittertster Konkurrent und ich hasse ihn. Sie wusste das. Und trotzdem hat sie sich von ihm ficken lassen. Weißt du, warum?“ Es war eine rein rhetorische Frage, Ryo sprach nicht mit Jun, sondern mit sich selbst. „Weil sie Kinder wollte. Und ich nicht. Deshalb wollte sie mir Kuckuckskinder unterjubeln, sie meinte wohl, dass es wegen der ähnlichen Gene nicht auffallen würde.“

„Würde jeder, der seinen Ehepartner betrügt, umgebracht, gäbe es kein Bevölkerungsproblem mehr“, wandte Jun ein. Seine Augen blitzten vor Interesse, trotz seines abfälligen Kommentars.

„Es war nicht das Einzige“, rechtfertigte Ryo sich, plötzlich müde geworden. „Es... kam alles zusammen. Sie hat in Wunden herumgebohrt, die sie besser in Ruhe gelassen hätte. Sie hat behauptet, mein Bruder wäre besser als ich, in vielerlei Hinsichten, sie hat sogar davon gesprochen, sich scheiden zu lassen und ihn zu heiraten. Da war es vorbei mit mir. Da habe ich die Beherrschung verloren.“

„Ich weiß“, gab Jun zurück und nickte langsam. „Den letzten Rest habe ich mitbekommen. Hast du dich gut um sie gekümmert?“

Die Erinnerung kehrte plötzlich zurück, ebenso plötzlich wie Juns Frage gewesen war, Ryo sah sich wieder, wie er einen Stein aufhob und zuschlug, und noch einmal, hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht so laut schrie, wie das Blut seine Hände besudelte...

„Für mich klang es nämlich ganz verdammt nach einer Frau, die versucht, ihren Ehemann eifersüchtig zu machen, damit er sich wieder für sie interessiert.“

Ryo glitten die Geldscheine aus der Hand, während alle Farben um ihn herum mit einem Mal noch kräftiger, leuchtender wurden. Er drehte sich um und schaffte es noch zur Toilette, bevor er sich das erste Mal übergab. Sein Magen entleerte sich vollständig, bis nur noch Galle kam, und trotzdem konnte Ryo nicht aufhören zu würgen. Er hatte seine Frau getötet, brutalst ermordet. Und bis jetzt war er damit durchgekommen. Niemand hatte etwas gemerkt. Bis auf Jun, natürlich.
 

Nach einiger Zeit fühlte er sich wieder soweit wohl, dass er ins Wohnzimmer zurückkehren konnte. Jun hielt ihm schweigend ein Bier hin, Ryo nahm es und trank, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. Sein Magen hätte sich beinahe wieder umgedreht, aber er beherrschte sich und zwang den Alkohol durch seine Speiseröhre. Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort.

„Früher hab ich dich bewundert“, meinte Jun irgendwann. „Du hast es geschafft zu arbeiten – auch noch in einem langweiligen Bürojob – und gleichzeitig Klavier zu spielen, so gut, dass viele Musiker neidisch wären. Ich fand das bewundernswert. Ich wollte unbedingt auch so sein, in die Schule gehen UND gut Klavier spielen, deshalb habe ich meine Mutter immer wieder angebettelt, dass sie dich weiterhin bezahlt. Nur irgendwann hatte sie dafür kein Geld mehr.“

„Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr gespielt“, murmelte Ryo.

Jun warf ihm einen Seitenblick zu. „Hast du den Flügel noch?“
 

Während Ryo sein drittes Bier anfing, wischte Jun die Oberfläche des Flügels behutsam und fast schon ehrfürchtig frei von Staub. Das Musikinstrument stand in einem einzelnen Raum, dafür hatte Ryo Platz gehabt, als er die Wohnung bezogen hatte. Inzwischen war das Zimmer um den Flügel herum vollgestellt, verstaubt und vergessen.

Und Jun setzte sich an das Instrument, klappte den Schutz für die Klaviatur hoch und begann zu spielen. Es war ein klassisches Stück und Jun spielte es flüssig, auch wenn er immer wieder falsche Noten anschlug. Er spielte nicht gut, bei Weitem nicht, aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens, als genüge es ihm vollständig, dass er einzelne Töne traf. Ryo bezweifelte nicht, dass es so war.

Er selbst fühlte sich leer, während er den Flügel betrachtete. Er hatte ihn zusammen mit seiner Frau gekauft und ihr oft etwas vorgespielt. Dass Jun nun darauf spielte, besaß eine gewisse Ironie für ihn, die er kaum ertrug. Er trank sein Bier aus.

Nach einiger Zeit hielten Juns Hände inne und er wandte sich zu seinem Zuschauer um. „Hast du schon mal mit einem Mann geschlafen?“

Ryo hielt seinen Blick fest und musste die Augenbrauen hochziehen, halb überrascht, halb ungläubig. „Nein, und ich hatte es auch nicht vor.“

„Hattest du vor, jemals deine Frau umzubringen?“, fragte Jun weiter und auf seinen Lippen lag erneut das schiefe Lächeln, das Ryo bereits an jenem Abend gesehen hatte. „Keine Sorge, so schlimm ist es nicht.“ Er stand auf und stellte sich vor Ryo, machte sich daran, dessen Gürtel zu öffnen.

„Ich kann das nicht“, sagte Ryo leise.

„Du solltest aber“, meinte Jun lächelnd und drückte ihre Lippen zum ersten Mal an diesem Abend aufeinander.
 

„Willst du wissen... weshalb ich keine Angst vor dir habe?“, hauchte Jun an das Ohr des anderen. Seine Hände waren in Ryos schwarzen Haaren vergraben, seine nackten Oberschenkel an Ryos Seiten gepresst. „Normalerweise... bekommt man, glaube ich, Lust aufs Töten. Du wurdest aber so sehr abgeschreckt, dass du dich so etwas nicht noch einmal traust.“

Ryo schwieg. Er hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben, auch nicht, als Juns hübscher schlanker Körper sich kurz darauf mit einem leisen Stöhnen unter ihm wand. Einige Zeit lagen sie regungslos da, dann legten Juns Lippen sich an Ryos Hals.

„Wie wär’s, wenn du mal unten liegst?“, flüsterten sie.
 

Nein, das Blut war von Ryos Händen und seinem Gesicht verschwunden. Doch etwas, was ihn an seinen schmutzigen Zustand erinnerte, war der dunkle Fleck auf seinem Hals, dort, wo diese Lippen noch vor Kurzem gewesen waren. Ryo betrachtete seine Hände, in denen er immer noch kein Gefühl hatte, so kalt war das Wasser gewesen. Das Licht in seinem Badezimmer war mindestens genauso kühl, und so wollte er eigentlich nicht länger dort bleiben.

Doch wenn er sein Badezimmer verließ, dann würde er ins Schlafzimmer müssen, und dort würden ihn zwei Augen anstarren, die ihr Glitzern verloren hatten, dann würde ihn ein Körper anklagen, dessen Blutstrom versiegt war, dann würden seine Erinnerungen ihm vor Augen führen, was er im Moment noch beiseite geschoben hatte. Seine Gedanken waren simpel: Ein Handtuch nehmen, sich die Hände abtrocknen. Die Finger, die Handrücken, die Handinnenflächen, die Handabdrücke auf Juns Hals.

Ryo hielt sich eine Hand vor den Mund, als sein Brechreiz wiederkehrte. Er überwältigte ihn beinahe, aber schließlich schaffte Ryo es, ihn niederzukämpfen. Könnte er nicht im Badezimmer schlafen? Nein, wahrscheinlich konnte er gar nicht mehr schlafen.

Er zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte.

Jetzt ist es vorbei, dachte er.
 

~*~

03.12. - Loki, Scene 1: Greed

Da dies eine zusammenhängende, 5 Kapitel umfassende FF ist, sind auch 5 Themes verbraten worden:

die mythische Figur sollte Loki sein,

als positiv dargestellte Person wurde Jae Wook Kim gewünscht,

ebenfalls positiv beschrieb ich Ju-ken sowie Ji Hoon Joo,

und als Gefühl wurde Zufriedenheit gewählt,

alles Entscheidungen der wundervollen Tattoo (welche sämtliche FFs auch noch gebeta'd hat - danke!<3)!
 

Und los geht's.
 

~*~
 

...sein Listenreichtum und seine Gerissenheit... ...ein ausgeprägter Sinn für Strategie... ...um mit Intrigen und komplexen Lügen seine Interessen durchzusetzen... ...ist somit Feind und Freund der Götter... ...ist ein Gestaltenwechsler, ein Meister der Metamorphose, er wechselt auch sein Geschlecht... ...er zeugt drei Feinde der Asen... : ...welche Thor, den Freund der Menschen, töten wird... ...Todesgöttin Hel... der den Göttervater Odin verschlingen wird...
 

„Loki ist schmuck und schön von Gestalt,

aber bös von Gemüt und sehr unbeständig.

Er übertrifft alle andern in Schlauheit und in jeder Art von Betrug.”
 

Wenn es eines gab, das man in Loki lernen musste, dann war es Folgendes: In U-Bahnen niemals geradeaus schauen.

„Hey, glotzt du mich an?“

Das war die goldene Regel, wenn man unbeschadet zu seinem Arbeitsplatz und wieder zurück kommen wollte.

„Ich hab dich was gefragt, du Pissnelke!“

Selbstverständlich musste man derlei Regeln auch erst einmal lernen.

„Glaubst wohl, wenn du mich ignorierst, werd’ ich dich schon in Ruhe lassen, hm? Ihr arrogantes Scheißgesocks geht mir dazu aber viel zu sehr auf die Nerven.“

Wenn man nämlich in die Gesichter seiner Mitreisenden blickte, ob bewusst oder unbewusst, wurde dies als Aufforderung verstanden. Aufforderung wozu – nun, das lag im Ermessen des Angesehenen. Manchmal wurde man öffentlich zu obszönen Handlungen herausgefordert, man wurde gefragt, ob man Stoff haben wollte, oder schlicht und einfach dumm angepöbelt.

„Eure Scheißfressen schlag ich euch noch ein, verlasst euch drauf!“

Nicht immer verlief es so vorhersehbar wie im Moment – einige blöde Sprüche, und dann war man erlöst. Es gab auch durchgreifendere Konsequenzen, wortwörtlich.

An der nächsten Haltestelle stand ich auf und überließ den verzweifelten jungen Geschäftsmann hämisch sich selbst – beziehungsweise ihm selbst mit seinem Pöbelobjekt. Jedes Mal, wenn es wieder einen Anzugträger traf, waren Erleichterung und Schadenfreude in der Bahn zu spüren: Erleichterung darüber, dass man seinen Blick fest auf den Boden gerichtet gelassen hatte, dass man selbst nicht der Unglückliche war, und gleichzeitig Schadenfreude darüber, dass jemand zu dumm war, diese einfache Regel zu befolgen. Jemand, der nicht einmal nach dieser Regel U-Bahn fahren konnte, der war kaum lebensfähig in dieser Stadt voller ungeschriebener Regeln.
 

Es gab wohl keine Stadt, die mit Loki vergleichbar wäre. Es war eine Stadt voller Gegensätze, und dadurch eine harmonisch dissonante Stadt, da man sich auf kaum etwas verlassen konnte; da überall, und zwar wirklich überall, Chaos herrschte. Nur hatte dieses Chaos auch einen Namen.

‚Loki ist schmuck und schön von Gestalt’, oh ja, das konnte man wirklich bestätigen. Wenn man sich die Architektur der Stadt ansah, fand man Bauten von vor über tausend Jahren, welche als Denkmäler die Zeiten überdauert hatten, und gleichzeitig einige der modernsten Gebäude, die es überhaupt gab, vollautomatisiert und kaum noch als Häuser erkennbar. Es lag eine gewisse Grazie in der Art, wie die Bewohner Lokis tagtäglich mit ihrem Umfeld kämpften, sich durchschlugen und trotzdem nicht aufgaben. Und dennoch: ‚bös von Gemüt und sehr unbeständig’. Die Seele der Stadt war schwarz, schwärzer als schwarz – es gab kaum eine angemessene Beschreibung für die Farbe von Lokis Seele, es war eine Farbe, die sämtliches Licht schluckte und etwas anderes daraus formte, sie reflektierte nichts der Schönheit, die hinein strömte oder von der sie umgeben war, stattdessen bildete sie aus ihnen Grauabstufungen, die von hellem Grau bis hin zum tiefsten Schwarz rangierten. Trotzdem: Grau blieb es immer.

Auch geschichtlich ist Lokis Hintergrund einzigartig: Es war die einzige Stadt, die im Langen wie im Großen Krieg jeweils beide Seiten tatkräftig unterstützt hat, ohne tatsächlich für eine Partei Stellung zu beziehen. Im Langen Krieg belieferte Loki beide Kontrahenten mit Proviant und Subventionen, und das nur aus einem Grund: In der Hoffnung, die Soldaten kämen nach Loki, um sich vollständig ausnehmen zu lassen. Das hatte allerdings natürlich zur Folge, dass die beiden Seiten den Krieg innerhalb Lokis fortsetzten. Im Großen Krieg dagegen war Loki schlauer und belieferte die Kriegsteilnehmer mit Waffen, Rüstung und Maschinen, da diese Lieferungen prompt und auf einmal bezahlt wurden, wodurch die Kasse wieder zu klingeln begann. Während des Großen Krieges starben Hunderttausende Menschen, noch mehr wurden verletzt, verkrüppelt und/oder traumatisiert. Und Loki war die einzige Stadt, die Profit aus diesem Elend schlug und sich auch noch über die anderen Städte lustig machte.

Die Städte, die unter dem Schutz anderer Götter standen, erlebten ein konstantes Auf und Ab, sie verfielen und erstanden wieder auf, sie durchlebten Booms wie Depressionen, und obwohl sie oft kurz vor dem Zerrütt standen, rafften sie sich doch so gut wie immer wieder auf. Loki dagegen war dauerhaft bereits so zerrüttet, wie es manche Städte vielleicht für einige Jahre waren, in seinen schlechten Zeiten kratzte Loki am Rande seiner Existenz. Loki befand sich insgesamt auf einem derart niedrigen Niveau, dass man kaum von Hochs und Tiefs, sondern lediglich von Tiefs und Sehr Tiefs sprach. Die Kriminalitätsrate war beachtlich, der Altersdurchschnitt erschreckend, die Sterberate dermaßen hoch, dass Loki eigentlich hätte aussterben müssen. Und weshalb gab es Loki noch?

Weil es verführerisch war.

Es übte eine intensive Faszination auf diejenigen aus, denen die Gesetze des Landes missfielen – es war allgemein bekannt, dass besagte Gesetze in Loki eher sporadisch benutzt wurden und dass die Toleranz Verbrechen gegenüber deutlich höher war als in anderen Städten. Und deshalb bekam Loki ständig Zuwachs, Interessenten kamen von überall her – die meisten, wage ich zu behaupten, sogar aus Odin oder Thor. Doch selbst wenn diese Gestalten für einen kurzen Trip ins Sünderparadies gelangten, reichte es aus, um die Stadt dauerhaft zu erhalten?

Es reichte. Und zwar weil man, in dem Moment, da man einen Schritt in die Stadt tat, nie wieder herauskam. Loki verschlang einen mit Haut und Haar, verführte einen mit List und verlockenden Sünden, überzeugte einen mit schlagkräftigen Argumenten.

Betrat man sie, verkaufte man dieser Stadt seine Seele. Unumgänglich. Unwiderruflich.

Loki.
 

~*~
 

„Hier ist die Post von heute, ich habe sie nach Wichtigkeit sortiert und würde mich freuen, wenn du zumindest die oberen fünf liest“, begrüßte ich meinen Boss mit einem freundlichen Lächeln. „Der Rest ist nicht so dringend, Boss. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch, bevor du in einer halben Stunde die Ehrung des Polizeioffiziers leitest.“

Mein Gegenüber betrachtete mich, als sei das alles nicht mein Ernst. „Wann schläfst du eigentlich, Aie?“

„Sein Name ist Kirito und er hat sich über die Jahre hinweg sehr im Kampf gegen die Knoblauchfresser hervorgetan, sogar einige Drahtzieher verhaftet. Vergiss nicht, ihn dafür auch zu loben, sonst wird er beleidigt sein“, fuhr ich geschäftsmäßig fort. „Was deinen Presseauftritt angeht, habe ich dir bereits ein Skript geschrieben, du findest es direkt vor dir auf deinem Schreibtisch. Falls dir irgendetwas nicht gefällt, werde ich es natürlich umgehend ändern.“

Mein Boss ließ ein leises Seufzen hören und schloss für einen Moment die Augen. Man sah ihm seine Erschöpfung deutlich an, was ich nicht von ihm gewohnt war – aber wahrscheinlich konnte er vor Triumph kaum schlafen. „Wann bist du gestern ins Bett gegangen?“

„Nicht viel später als du, gegen drei Uhr etwa.“

„Und um sechs aufgestanden.“

„Natürlich.“ Ich kam nicht umhin, erneut zu lächeln. „Ich kann doch nicht riskieren, dass ich nicht vollständig für dich da bin, wenn du mich brauchst.“

Daraufhin ließ mein Boss ebenfalls ein dankbares Lächeln sehen. „Eine halbe Stunde, hast du gesagt? Da schaff ich sogar sechs Briefe.“
 

Meine eigene Erfolgsgeschichte fing etwa vor achtzehn Jahren an, als ich im Alter von sechs zum allerersten Mal dem amtierenden Bürgermeister begegnete. Ich war mit meinem Vater unterwegs, als plötzlich dieser hochgewachsene, schlanke, elegant gekleidete Mann vor uns stand und uns beide begrüßte, mir ein breites Lächeln schenkte, kurz durch meine Haare wuschelte und dann weiter schritt. Er ging nicht, er schritt. Ich fragte meinen Vater, wer das war und bekam als Antwort: Der Bürgermeister – derjenige, der für alles in Loki verantwortlich ist. In meinem damaligen Geisteszustand bedeutete dies, dass der Bürgermeister für alle Klettergerüste, die spannende Grundschule, sämtliche meiner Freunde, meinen Vater, unsere Wohnung, das Wasser aus unserem Wasserhahn und so weiter verantwortlich war. Kurzum: Der sagenumwobene und beinahe geisterhafte ‚Bürgermeister’ wurde die Verkörperung meines Idols. Ich beschloss, dass ich später unbedingt mit dem Bürgermeister zu tun haben wollte.

Erst später lernte ich, dass der Bürgermeister auch für die systematische Unterdrückung der Knoblauchfresser verantwortlich war, die es wagten, offiziell eine Arbeit zu bekleiden. Diejenigen, die sich wehrten, wurden eingesperrt und durften ausdrücklich von der Polizei misshandelt werden – in welcher Form auch immer. Doch zu dieser Zeit war der Bürgermeister längst von einem Knoblauchfresser-Assassinen erschossen worden. Der Nachfolger hielt es bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr im Amt aus, dann trat er zurück, da er in eine große Korruptionsgeschichte verwickelt war – nicht, dass das ein Grund wäre, zurückzutreten, nur konnte er geliehenes Geld nicht mehr zurückzahlen und musste fliehen. Das war der Zeitpunkt, an dem Wataru an die Macht gelangte.

(Ein kurzer Einschub: In unseren Städten war der Bürgermeister in etwa das, was in anderen Ländern der König war – er besaß die meiste Macht, konnte Gesetze erlassen und abschaffen, hatte sämtliche Gewalt über die staatlichen Organe der Stadt, wie etwa Polizei und Justiz, und war, wie mein Vater es formuliert hatte, für alles verantwortlich.)

Ich konnte damals kaum verstehen, wie jemand wie Wataru demokratisch gewählt werden konnte, aber andererseits war es in meinen Augen ohnehin völlig unmöglich, dass jemand in Loki demokratisch gewählt wurde. Doch wenn ich inzwischen darüber nachdachte, konnte ich die Gründe durchaus nachvollziehen: Der Bürgermeister in meiner Kindheit war ein langjähriger Beamter gewesen und hatte sich durch Disziplin hervorgetan, der nachfolgende war ein alter Hase mit genügend Erfahrung in Politik. Beide hatten die Bevölkerung enttäuscht. Und nun kam Wataru, ein junger Heißsporn, der versprach, das Koreanerproblem in den Griff zu bekommen, Loki wieder zu einer reichen Stadt zu machen, indem er die Wirtschaft ankurbelte, und die Bürger nicht zu enttäuschen. Er besaß nicht wenig Charisma und Überzeugungskraft, und so wurde er mit großer Mehrheit zum neuen Bürgermeister gewählt.

In der Zwischenzeit hatte ich mich mit überragender Geschwindigkeit so weit nach oben ‚gearbeitet’, wie es mir möglich gewesen war. Ich hatte nicht studiert, sondern war nach der Schule dazu übergegangen, Kontakte zu knüpfen, Hände zu schütteln, Ringe zu küssen, Stiefel zu lecken und in Ärsche zu kriechen. Ich präsentierte mich als vielversprechender Jungspund, der die richtigen Voraussetzungen hatte, um etwas frischen Wind in die Regierung Lokis zu bringen, um innovative und kreative Ideen zu versprühen und vor allem mit verantwortungsvollen Aufgaben betreut zu werden. Und so kam es, dass ich zum Zeitpunkt von Watarus Amtsannahme ein ziemlich hoher Angestellter des Rathauses geworden war.

Der Weg dahin war alles andere als erwähnenswert, ich wollte nur bemerken, dass ich, um diesen Posten zu erreichen, alles aufbot, was ich besaß: Meine rhetorischen Fähigkeiten, mein Geld, meine Ausstrahlung, meine Jugendlichkeit, meine Überzeugungen, mein Engagement, meine Zeit, meine Nerven, meine Jugend und schließlich auch oft genug meinen Körper. Ich war ehrgeizig und bestrebt, mein Ziel zu erreichen: Wenn ich schon nicht das Volk davon überzeugen konnte, dass ich gut genug war, als Bürgermeister zu arbeiten, würde ich die Regierung Lokis davon überzeugen, dass ich gut genug war, um an der Seite des Bürgermeisters zu arbeiten.

Es war beinahe ein Wunder, dass Wataru mich trotz allem als seinen Sekretär akzeptierte. Wir waren etwa im gleichen Alter, besaßen ähnliche (machtorientierte) Persönlichkeiten und wurden beide von der restlichen Regierung der Stadt (die allerdings kaum etwas zu sagen hatte) als gleich unfähig angesehen. Wir waren uns zu ähnlich, als dass wir den anderen neben uns toleriert hätten – und dennoch arbeiteten wir inzwischen Seite an Seite. Wie war das möglich?

Nun, ich brauchte Wataru, wollte ich die zweitmächtigste Position Lokis voll auskosten und auch weiterhin genießen. Und Wataru brauchte mich als Sekretär, dafür hatte ich bereits gesorgt. Wenn jemand all das für dich erledigte, was du selbst nicht hättest besser machen können, wurdest du irgendwann faul. Das lag in der Natur des Menschen.

Aber abgesehen davon, dass ich Wataru rein arbeitstechnisch von mir abhängig gemacht hatte, ließ ich ihn in dem Glauben, dass er eine gewisse Macht über mich besaß. Nur so duldete er mich neben sich, daher wollte ich seine Illusion nicht zerstören.
 

~*~
 

Was charakterisierte die Menschen, die in Loki wohnten, außer ihrer allgemein hohen Bereitschaft zur Kriminalität? Nun, abgesehen von starken Stimmungsschwankungen und der daraus resultierenden Unberechenbarkeit, der Lethargie sowie einem blinden Auge (das normalerweise für die Moral zuständig war), war ein Aspekt essentiell: Jeder besaß irgendeine Art von Sucht. Nicht so etwas Profanes wie Koffein, Nikotin oder Heroin. Drogen gab es auch haufenweise, aber wenn man von weißem Pulver süchtig war, dann war es zweifellos StarDust, eine Designerdroge, die etwa vor sechs Jahren auf den (Schwarz)Markt gekommen war. StarDust ließ nicht nur den körperlichen Verfall voranschreiten, sondern verlieh einem zusätzlich noch eine bleiche Gesichtsfarbe, die jedoch weniger als ungesund als vielmehr ‚westlich-schön’ empfunden wurde – sicherlich ein Grund, überhaupt mit StarDust anzufangen.

Nein, was ich meinte, waren richtige Süchte: Die Sucht nach Schmerz, nach Anerkennung, nach Selbstverwirklichung in jeglicher Form, nach Perfektion, nach Unordnung. In meinem Falle war es die Macht, die mich in ihren Klauen hielt, ich war süchtig nach diesem Gefühl, alles in meinen eigenen Händen zu halten.

Bei Wataru waren es die Koreaner. Oder vielmehr ihre Ausrottung.

Von allen Seuchen, die Loki im Laufe der Jahre befallen hatten, waren die Koreaner, auch Knoblauchfresser genannt, Wataru der größte Dorn im Auge. Die anderen Krankheiten, wie etwa die Kriminalität (nicht auslöschbar), die Drogen (ich hatte die Vermutung, dass Wataru StarDust sogar befürwortete), die Korruption (ohne die wären wir beide nicht in unserem jetzigen Amt), und so weiter und so fort interessierten Wataru kaum. Aber die Koreaner waren noch immer ein Reizthema, da er in seinem Wahlkampf versprochen hatte, eine Lösung für das Problem zu finden. Seine Lösung war gewesen, dass er sämtliche Aufständler und Anführer der koreanischen Bewegung verhaften wollte. Das einzige Problem war Folgendes: Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden.

Doch nun war glücklicherweise einer der Rädelsführer des koreanischen Widerstandes gefasst worden: Kein anderer als Ji Hoon Joo, der eine Gruppe von radikalen Knoblauchfressern aufgestellt haben sollte. Dieser erste große Erfolg wurde bereits seit dem gestrigen Abend in sämtlichen Radios und auf allen Kanälen ausgestrahlt, sodass ganz Loki von Watarus Triumph erfuhr. Allerdings steckte noch eine andere Absicht dahinter: Wir wollten Ji Hoons Anhänger zu einem Befreiungsversuch hinreißen. Dann müssten wir ihn nicht einmal foltern oder ausquetschen, wo sich ihr Lager befand.
 

„Am liebsten würde ich hingehen und ihm seine dumme Visage einfach einschlagen“, murmelte Wataru, während wir auf dem Rückweg von der Ehrungszeremonie waren. „Er hat es sich erlaubt, eine Truppe zu rekrutieren, um mich umzubringen. Wahrscheinlich ist er auch irgendwie am Anschlag auf den vorvorletzten Bürgermeister verantwortlich.“ Er hielt mir seine Hand hin und ich legte ihm ohne zu zögern eine Zigarette hinein und kaum dass er diese zwischen seine Lippen geschoben hatte, zündete ich sie bereits an. Für so etwas bedankte er sich längst nicht mehr, es war zu seinem Alltag geworden. Gut so.

Ich überlegte, ob es sinnvoll war, ihn darauf hinzuweisen, dass Ji Hoon zu der Zeit des vorvorletzten Bürgermeisters selbst erst neun gewesen war, beließ es aber dabei. Sollte er sich ruhig auf seinen Hass gegen die Koreaner fixieren – dann hatte ich mehr Zeit. Gerade, als ich ihm mitteilen wollte, dass er jetzt in seine wohlverdiente Mittagspause gehen konnte, drang eine Stimme an mein Ohr, die ich innerhalb des letzten Monats definitiv viel zu oft gehört hatte. Ich blieb stehen und wandte mich dem Fernseher zu, der in dem Büro eines anderen Angestellten stand. Auf dem Bildschirm konnte man zwei Gestalten sehen, die ich auch kaum noch ertrug, genauso wenig wie die Erwähnung ihrer Namen: Miya und Yukki.

„Wir stehen für ein starkes parlamentarisches System im Kontrast zu den zur Zeit herrschenden, beinahe monarchistisch anmutenden Zuständen – der Bürgermeister besitzt die volle Macht über das Parlament sowie die Gewaltorgane des Systems. Dies ist kaum vergleichbar mit einer Demokratie, wie wir behaupten, sie zu pflegen“, schwafelte Miya gerade aus dem Bildschirm. Ich warf einen kurzen Blick zur Seite und musste feststellen, dass Wataru ebenfalls zuhörte. „Wir treten zusammen als Bürgermeisterkandidaten an, da wir bereits während der Wahl für Gewaltenteilung plädieren. Werden wir gewählt, so werden wir das System derart ummodeln, dass dem Bürgermeister nur noch administrative Aufgaben zukommen, während statt der ungeschriebenen Gesetze Lokis nur noch diejenigen gelten, die das Land uns vorschreibt.“

„Das ist Verrat“, flüsterte Wataru. Seine Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. „Man sollte sie öffentlich lynchen lassen.“

„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig“, entgegnete ich ebenfalls leise und sah ihn eindringlich an. „Du weißt, Odin hat uns gewarnt – falls Lokis Regierung sich noch einen Fauxpas erlaubt, wie etwa die Hinrichtung politischer Gegner, wird Loki unter Vormundschaft gestellt und von Odin aus zwangsregiert. Und ich glaube, du kannst dir vorstellen, was das bedeutet: Diese Stadt wird auseinander bröckeln.“

„So weit lasse ich es nicht kommen. Ich lasse aber auch nicht zu, dass Loki von Luschen wie den beiden Saftsäcken da regiert wird! Nein, sie können sich auf etwas gefasst machen, das schwöre ich dir...“
 

~*~
 

to be continued~

04.12. Loki, Scene 2: Wrath

Der zweite Teil der Loki-Serie, inspiriert durch und gebeta'd von Tattoo!
 

~*~
 

Oberste ungeschriebene Regel, wenn man als Koreaner nachts unterwegs war: Immer ein Messer dabeihaben.

Besonders in letzter Zeit war die Feindseligkeit meinen Gleichartigen gegenüber spürbar geworden, ich hatte einen Bekannten, dessen Haus geplündert und größtenteils zerstört worden war – und das nur, weil er sich mit dem falschen Kerl angelegt hatte. Er hatte zwar die Polizei gerufen, doch die hatte nur mit den Schultern gezuckt und ihm mitgeteilt, dass sie die Übeltäter wohl kaum finden würden. Einer der Polizeibeamten hatte wohl sogar deutlich gemacht, dass er außerhalb seiner Dienstzeit mitgemacht hätte.

Wir Koreaner waren vor etwa achtzig Jahren nach Loki gekommen, teils aus Neugier, teils mit der Hoffnung, dort am Rande des Gesetzes ein mehr oder minder friedvolles Leben führen zu können. Koreaner waren überall im Königreich der Götter nicht sonderlich anerkannt oder geachtet, doch in den anderen Städten galten die herrschenden Gesetze gegen offene Diskrimination und Rassismus wenigstens. Das war unseren Vorvätern nicht klar gewesen, sie empfanden das kalte, distanzierte Verhalten der japanischen Bürger in den anderen Städten als unerträglich. Sie waren dort nicht direkt ausgegrenzt, aber doch deutlich nur toleriert und nicht akzeptiert worden. Also hofften diejenigen, die nach Loki gewandert waren, auf ein toleranteres, aufgeschlosseneres Verhalten hier, in der Stadt der Sünden, in der Stadt mit dem verlockenden Antlitz und den allgegenwärtigen Intrigen.

Zuerst interessierten sich die Bewohner lediglich milde für die neue ‚Rasse’, die Loki bevölkerte, schenkte ihnen jedoch kaum Beachtung. Da viele Koreaner die Wiederholung der Gleichgültigkeit wie in den anderen Städten fürchteten, entwickelten sie den Wunsch, respektiert zu werden. Sie erhofften sich diese Anerkennung dadurch, dass sie der Unterwelt der Stadt bewiesen, dass auch sie hart zuschlagen, kompromisslos verhandeln, effizient dealen, unerkannt schmuggeln sowie unentdeckt morden konnten. Das war jedoch der völlig falsche Weg, denn obwohl Verbrechen in Loki alltäglich waren, so wurden sie dennoch längst nicht von der großen Mehrheit befürwortet – das hatten unsere Vorväter falsch eingeschätzt. Und so wurden sie selbstverständlich als Unruhestifter, als Halunken, als Ratten gebrandmarkt, man begann, sie zu verachten.

Und in dem Moment, in dem wir Koreaner als ‚Knoblauchfresser’, Störenfriede, Abschaum abgestempelt wurden, hatten wir keine Chance mehr.

Ich, der bereits zur dritten Generation gehört, hatte allerdings mit den Taten meiner Vorfahren kaum etwas zu tun, was die Öffentlichkeit jedoch nicht interessierte. Die Vorurteile der Bürger waren derart ausgeprägt, eingebrannt und tief verankert, dass es sicherlich weitere achtzig Jahre dauern würde, um Loki davon zu überzeugen, dass nicht alle Koreaner Gauner und Betrüger waren. Das Problem dabei war folgendes: Die Bewohner Lokis brauchten uns als Sündenböcke. Das Leben lebte sich beschwingter, hatte man einen Prügelknaben im Schrank, den man nach Belieben herausholen und schlagen konnte.

Der amtierende Bürgermeister, ein gänzlich unsympathischer und wirklich grässlicher Kerl namens Wataru, hatte es sich in den Kopf gesetzt, sämtliche Koreaner Lokis auszurotten. Dass er das legal überhaupt nicht hätte ausführen KÖNNEN, interessierte ihn einen feuchten Dreck, ich kannte etliche, die durch einige seiner Razzien Freunde oder sogar Verwandte verloren hatten.

Und obwohl ich viel Rassismus, Tragödien und Gewalt mitbekam – ob nun am eigenen Leib oder als Geschichte erzählt –, ich hatte einen Grundsatz entwickelt: Ich würde das Gegenbeispiel des Vorurteils des hinterhältigen Koreaners werden. Nun, mit zweiundzwanzig Jahren, hatte ich nicht eine Straftat begangen (weder eine registrierte noch eine, von der nur ich selbst wusste), hielt mich für einen freundlichen jungen Mann und war inzwischen sogar so weit, dass ich meine Nachbarschaft davon überzeugt hatte, dass ich alles andere darstellte als einen gerissenen Intrigant.

Trotz allem trug ich nachts immer ein Messer bei mir.
 

In dieser Nacht jedoch schien ich es nicht zu brauchen. Es war kurz nach drei, und es war kaum jemand auf den Straßen. Ich wohnte in einem der ruhigeren Stadtviertel (was bedeutete, dass die Kriminalitätsrate lediglich bei Einbrüchen sehr hoch war, sich ansonsten aber deutlich positiv von anderen Stadtteilen abhob), und so war ich nur selten angepöbelt worden. In der U-Bahn kam es häufiger vor, das schon, deshalb ging ich auch zu Fuß.

Sich zu Fuß durch mein Viertel zu begeben war ohnehin viel interessanter, weil ich so auf die ganzen Wahlplakate aufmerksam wurde. In Loki wurde der Bürgermeister alle drei Jahre wiedergewählt – oder zumindest war dies zuvor der Fall gewesen. Ein Bürgermeister verlor nur dann sein Amt, wenn er selbst zurücktrat (was so gut wie nie vorkam), umgebracht wurde oder starb, von Odins Regierung abgesetzt wurde (bis jetzt erst ein einziges Mal nach dem legendären Massengenozid vor zweihundert Jahren passiert) oder derart große Scheiße baute, dass er aus der Stadt fliehen musste. Und für einen aufstrebenden, charismatischen (würg) jungen Kerl wie Wataru hätte es ein Leichtes sein müssen, sein Amt zu behalten.

Doch hatte Wataru und auch die ganze Stadt mit einem nicht gerechnet: Dass sich Konkurrenten trauen würden, an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gab dieses dynamische Duo, wie es oft spöttisch genannt wurde, bestehend aus Miya und Yukki. Die beiden wollten durchsetzen, dass in Loki die gleichen Gesetze herrschten wie in den anderen Städten. Man könnte meinen, dass solch weltfremde Ansichten nur von Leuten stammen konnten, die außerhalb Lokis aufgewachsen waren, aber nein, sie waren eingefleischte Bürger dieser verdammten Stadt. Und trotzdem versprachen sie, das Unmögliche möglich machen zu wollen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sie das durchsetzen wollten, aber bitte. Es hieß, ihre Chancen, Sympathisanten unter der Bevölkerung zu finden, die das alte Machtregime abschaffen wollten, stünden äußerst hoch.

Ich befürwortete ihre Ideale selbstverständlich ebenfalls, allerdings fürchtete ich, dass Wataru sie niederschmettern wollte. Und welche Methoden er dafür fand, wollte ich mir nicht einmal im Traum ausmalen.
 

Ich wollte gerade in die Straße einbiegen, in der ich wohnte, als ich jemanden vor dem Geldautomaten stehen sah. Er befand sich im Halbdunkel, da das Licht der Straßenlaterne nicht vollständig bis zu ihm erreichte, und so war er in einen diffusen Schein getaucht. Wäre es ein normal gebauter Japaner oder ein typischer Gangster gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich einfach abgewandt und eventuell noch die Polizei gerufen – wobei es mir durchaus passiert war, dass ich einige Verbrechen gemeldet hatte, als ich jedoch meinen Namen angeben musste, einfach aufgelegt wurde. Seitdem benutzte ich einen japanischen Decknamen, wann immer ich mit einer Behörde in Kontakt trat.

Aber nein, die Gestalt, die ganz offensichtlich den Geldautomaten knackte, schien ein schlanker, hochgewachsener Jugendlicher zu sein, der vollständig in Schwarz gekleidet war. Von einem Gleichaltrigen musste ich wohl keine Angst haben, und so ging ich zu ihm hin und tippte ihm auf die Schulter. Er fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte mich einen Moment mit großen, ertappten Augen an, bis er diese jedoch kurz verengte und sich etwas aus dem Licht lehnte, um mein Gesicht besser erkennen zu können.

„Erschreck mich doch nicht so!“, murmelte er dann erleichtert und schüttelte missbilligend den Kopf, bevor er sich wieder an seine Arbeit machte. Er hatte den Automaten bereits geknackt und war gerade dabei, das erbeutete Geld in eine braune Papiertasche zu stopfen.

„Ehm“, machte ich und wusste nicht so recht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Ich hatte mit vielem gerechnet, dass er auf mich los ging oder die Flucht ergriff, aber nicht damit, dass er mich offenbar mit einem Komplizen verwechselte oder so etwas. „Ich bin- ich meine...“

Der Jugendliche wandte sich mir wieder zu, und erst in dem Augenblick begriff ich: Er war ebenfalls Koreaner und hielt mich offenbar für einen Befürworter sämtlicher koreanischer Verbrechen. Er wollte bereits etwas sagen, wurde jedoch von einem lauten Rufen unterbrochen: „Hey! Was machen Sie da?! Hände hoch und stehen bleiben!!“

Erneut trat in das junge Gesicht meines Gegenübers Gehetztheit, dieses Mal jedoch von einer wilderen statt einer ertappten Art. „Komm“, zischte er noch zu mir und begann in die entgegengesetzte Richtung der Stimmen zu rennen. Ich stand wie gelähmt da, kaum fähig, die Geschehnisse zu begreifen, und sah zwei Nachtpolizisten auf mich zustürmen. Ich hatte nichts getan, daher hatte ich nichts zu befürchten. Oder?

„Die glauben dir eh nicht!“, rief der Dieb mir mit einem beinahe verzweifelten Tonfall zu, „Jetzt komm!“

In dem Augenblick, in dem ich die Schlagstöcke in den Händen der Polizisten bemerkte, sickerte die Erkenntnis in mir durch: Der Koreaner hatte Recht. Sie würden mir nicht glauben, das stand fest, da konnte ich sagen, was ich wollte. Ein Koreaner blieb ein Koreaner. Ich wirbelte herum und wollte ebenfalls losrennen, doch da hatten sie mich schon erreicht. Ein unbändiger, scharfer Schmerz durchfuhr meinen gesamten Körper, als ich den ersten Schlag auf meine Schulter kassierte. Er brannte wie Feuer, das nur noch vom zweiten Schlag auf mein Rückgrat verdrängt wurde.

In meinem halb benommenen, halb mit Adrenalin durchfluteten Bewusstsein stolperte ich los, erst unsicher, dann wurde mir erneut die Gefährlichkeit der Situation bewusst, und so rannte ich los. Ich rannte so schnell ich konnte, nahm die erste Abbiegung in eine kleine Seitenstraße und bog bei der nächsten Ecke erneut ab, bestrebt, meine Verfolger so schnell wie möglich abzuhängen. Ich musste nur dafür sorgen, dass ich außerhalb ihrer Sichtweite geriet, und mich dann verstecken.

„Hier lang!“, hörte ich da eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Der Jugendliche, der eigentlich gejagt wurde, winkte mich in eine Seitengasse. Als ich bei ihm ankam, packte er meinen Ärmel und zerrte mich mit sich, da mein Bewusstsein sich langsam verklärte. Die Schläge pochten unangenehm, und mit jedem Herzschlag erschienen schwarze Punkte in meinem Blickfeld. Lange würde ich nicht mehr durchhalten. „Nicht mehr weit“, teilte mein Retter mir mit und schenkte mir ein zuversichtliches Lächeln. Wir rannten noch durch einige andere Straßen, bis er plötzlich stehen blieb, an eine kleine Seitentür schlug und sich ungeduldig umsah. Als die Tür geöffnet wurde, schubste er mich hinein und folgte mir nach, schloss die Tür hinter uns. Im Stockdunklen führte er mich sicher hinter sich her, bis endlich ein Lichtschein in den engen Flur fiel.

Kurz darauf befand ich mich in einer der seltsamsten Gesellschaften, die mir je begegnet waren: Es waren noch zwei junge Koreaner anwesend, von denen der eine aussah, als könnte er in einer Popgruppe Frontsänger sein, der andere besaß jedoch lange voluminöse Dreadlocks und trug eine Sonnenbrille. Der Dritte im Bunde war ein Japaner, der über und über tätowierte Arme, zerzauste teilweise blond gefärbte Haare sowie einen beachtlichen Bart hatte. Er war sicherlich schon Mitte Dreißig und passte nicht so recht zu den anderen Jugendlichen.

Mein Retter schließlich, der außer seinen vollständig schwarzen Klamotten keine Besonderheit an sich hatte, stellte sich selbst als Rose vor und benannte die anderen (in der Reihenfolge) als Attack, X-mas und Ju-ken (offenbar der einzige ohne Decknamen). „Es muss Schicksal sein, das uns zusammengeführt hat“, fügte der Schwarzhaarige hinzu, warf seine Papiertüte in eine Ecke des nicht besonders großen Raumes und nahm seinen offenbar angestammten Platz auf dem Sofa des spärlich möblierten Wohnzimmers ein, neben dem Japaner, den er als Ju-ken bezeichnet hatte. Beinahe mechanisch griff er nach dessen Zigarettenschachtel und nahm sich eine davon heraus, schob sie sich zwischen die Lippen.

Augenblicklich lehnte einer der anderen beiden Koreaner sich vor und nahm ihm seine neue Errungenschaft wieder ab. „Keine Kippen, Rose, das hat der Boss verboten.“

„Ist Kaugummi, Mann!“, beschwerte Rose sich daraufhin, schnappte sich die Kaugummizigarette und packte sie aus.

„Bin grad dabei, es mir abzugewöhnen“, erklärte Ju-ken schulterzuckend. „Immer, wenn ich Lust kriege zu rauchen, nehme ich mir eine davon. Hilft echt.“

Rose schien aufzufallen, dass ich mich doch sehr fehl am Platze fühlte, da meine Schmerzen kaum verklungen waren und ich nichts von dem begriff, was um mich herum geschah. Schicksal sollte uns zusammengeführt haben? Er winkte mich zu sich und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen; anschließend wies er den Dreadlock-Typ an, mir Kühlakkus zu holen, ehe er mein Shirt wie selbstverständlich nach oben schob. „Ich glaube, das werden Blutergüsse“, stellte er leise fest und strich vorsichtig über die beiden schmerzenden Stellen. „Er hier wurde gerade erwischt. Und ratet mal, warum?“

„Weil er ein Koreaner ist“, bemerkte der andere Jugendliche, der meines Wissens nach Attack hieß, trocken.

„Weil er sich angeguckt hat, wie ich den Geldautomat ausgeraubt habe.“ Rose tippte sich an die Stirn. „Du kannst es dir nicht mal mehr erlauben, einen Polizisten länger als eine Sekunde anzusehen, weil er sich dann schon provoziert fühlt. Die spinnen doch.“ Er nahm dem gerade wieder erschienenen X-mas die Kühlakkus ab und drückte sie behutsam auf die entsprechenden Stellen auf meinem Rücken, was mich leise aufkeuchen ließ. Ich fragte mich, in was für einer Gesellschaft ich mich hier befand. Als hätte Rose meine Gedanken gelesen, begann er in dem Moment zu erklären: „Weißt du, wir gehören zur Ji-Hoon-Gruppe.“

Das nahm mich erneut für einige Herzschläge den Atem. Ich hatte von dieser radikalen Gruppe gehört, die hauptsächlich aus Jugendlichen bestand und von einem Drahtzieher namens Ji Hoon Joo rekrutiert wurde. Sie wuchs den Gerüchten nach ständig und schien sich auf einen Guerillakrieg vorzubereiten. Derjenige, der den vorletzten Bürgermeister erschossen hatte, soll Ji Hoons Onkel gewesen sein, und überhaupt hatte er wohl in fast allen Regierungsmorden seine Finger im Spiel. Er sollte für die Ermordung des letzten Polizeichefs verantwortlich sein, zusätzlich noch etliche Anschläge auf das Rathaus vorgenommen und nun auch Wataru im Visier haben. Durch seinen Krieg im Verborgenen bezweckte er angeblich, die Situation der Koreaner zu verbessern.

Ich persönlich sympathisierte mit den Idealen, die Ji Hoon vertrat – Gleichberechtigung von Japanern und Koreanern, Abschaffung des Polizeistaates –, nur missfielen mir seine Taten zutiefst. Man konnte doch keine Anerkennung der Koreaner durch Blut von Regierungs- und Polizeibeamten erzwingen. Um das zu erreichen, musste man das Volk umstimmen, musste man an die Öffentlichkeit gehen und durfte sich nicht verstecken. Dennoch gefielen mir die ungeschriebenen Regeln der Gruppe: Es durften keine Zivilisten zu Schaden kommen, und man durfte ausschließlich nur gegen diejenigen kämpfen, von deren Schuld man überzeugt war. Sowohl der Polizeichef als auch einige andere ermordete Polizisten waren direkt oder indirekt für etliche Tode unter den Koreanern verantwortlich. Trotz allem hielt ich den Weg, den Ji Hoon eingeschlagen hatte, für den falschen.

Offenbar hatte man mich auf Roses Eröffnung hin näher beobachtet, denn nun stellte er die Frage: „Und? Wie sieht’s aus, schließt du dich uns an?“

Was passierte, wenn ich das Angebot ausschlug? Die Jugendlichen sahen zwar nicht gefährlich aus, aber sie hatten radikale Überzeugungen und waren sicherlich keine unbeschriebenen Blätter, das glaubte ich einfach nicht. Und trotzdem musste ich meinen Überzeugungen treu bleiben. Ich schüttelte den Kopf, woraufhin sowohl Attack als auch X-mas die Augenbrauen hoben. „Ich kann nicht“, erklärte ich zögerlich. „Ich finde eure Ansätze durchaus nachvollziehbar, aber ich kann mich mit dem, was ihr tut, nicht identifizieren. Tut mir leid.“

„Jetzt tu doch nicht so, als würdest du gelyncht, wenn du nein sagst“, warf Rose von schräg hinter mir ein und drehte die Kühlakkus um, sodass wieder die eiskalte Seite auf meinen Prellungen lag. Es linderte tatsächlich die Schmerzen, auch wenn es die Haut betäubte. „Ich möchte dich dann nur bitten, niemandem von uns zu erzählen, es sei denn, er will unbedingt Kontakt mit uns aufnehmen. Du weißt ja jetzt, wo man uns findet. Also, wenn du’s dir anders überlegst, wir sind hier.“ Er wuschelte freundschaftlich durch meine Haare.

Ich war derart perplex, dass ich mich zu ihm umdrehen musste. „Ihr lasst mich einfach gehen?“, wollte ich irritiert wissen.

„Klar.“ Rose zuckte mit den Schultern. „Wir sind ja keine Sekte oder so, die jeden umbringt, der sich ihnen nicht anschließt. Also bitte. Du bist ein Koreaner wie wir, und wer weiß, was du schon alles durchmachen musstest, ich kann verstehen, dass viele keine Kraft mehr haben zu kämpfen. Oder überhaupt keine Motivation. Wenn du dir Miya und Yukki mal anguckst – was machen die denn schon? Das ist doch nur hohles Gelaber, sie wollen dies machen, wollen das machen, aber im Endeffekt kriegen sie nix hin. Typisch.“

„Pass du mal schön auf, dass du deine Verbündeten nicht beleidigst“, mischte Ju-ken sich mit einem leichten Grinsen wieder ein.

Rose wandte sich ihm zu, sein Gesicht seine Aufgebrachtheit deutlich widerspiegelnd. „Sie mögen unsere Verbündete sein, und wenn sie gewählt werden, haben wir schon echt viel erreicht, aber ihr dummes Gerede von Demokratie hier und Gerechtigkeit da geht mir tierisch auf den Keks.“

„Ihr seid verbündet?“, wagte ich es, eine unwissende Zwischenfrage zu stellen.

„Noch bevor die beiden ihren Wahlkampf begonnen haben, haben sie uns kontaktiert“, nickte Rose. „Sie haben uns versprochen, dass sie alles tun werden, was in ihrer Macht steht, um die Situation von uns Koreanern zu ändern, und hoffen, dass wir bis dahin unsere Aktionen einschränken, um das Ganze nicht noch schlimmer zu machen. Also bitte, als ob wir irgendetwas verschlimmern, wenn wir ein paar dieser hirnverbrannten Arschkriecher da hinrichten.“

Also so langsam wurde es selbst mir etwas zu heftig. Ich war ja sozusagen in die Hochburg der Ji-Hoon-Gruppe geraten, abgesehen davon, dass er selbst nicht anwesend zu sein schien. Aber Rose war ein klarer Verfechter von dessen Ideologie.

„Ach ja, wie heißt du eigentlich?“, wechselte dieser gerade das Thema und wirkte mit einem Mal nicht mehr wie ein fanatischer Guerilla, sondern wie der charismatische junge Koreaner, der er sicherlich eigentlich war. Oder hätte sein können.

Das war eine Frage, auf die ich willig antworte, nur um zu einem anderen Thema zu kommen. „Jae Wook Kim.”

„Freut mich“, entgegnete Rose mit einem aufrichtigen Lächeln.
 

~*~
 

So froh ich gewesen war, den Klauen dieser radikalen Bande entkommen zu sein, desto überraschter war ich am nächsten Morgen, als ich von Ji Hoons Verhaftung erfuhr. Rückwirkend fiel mir auf, dass alle Anwesenden in der vorigen Nacht deutlich angespannt gewirkt hatten, wahrscheinlich hatten sie etwas Derartiges bereits befürchtet. Meine Gefühle über diese Verhaftung waren geteilt; einerseits war ich erleichtert, dass dieser Terrorist endlich gefasst worden war, auf der anderen Seite fragte ich mich, was aus Rose und den anderen werden sollte.

Die Antwort kam direkt darauf in den Nachrichten. Es wurde verkündet, dass Fahndungsfotos aller Mitgliedern des engen Kreises der Ji-Hoon-Anhänger herausgegeben wurden und sogar eine Belohnung auf sämtliche Mitglieder ausstand. Außerdem wurde es als strafbar erklärt, Mitglieder Asyl zu gewähren, sie zu verstecken oder sie in irgendeiner anderen Art zu unterstützen, sei es mit Geld, Verpflegung oder Papieren.

Das interessierte mich dann doch, und so informierte ich mich über die Liste der Mitglieder. Insgesamt umfasste sie achtundzwanzig ‚Straftäter’ und ‚Mörder’, wie sie genannt wurden. Rose war dabei, allerdings unter seinem echten Namen Min Woo No, Attack und X-mas ebenfalls, dazu noch etliche Gesichter, die mir sämtlich unbekannt waren. Ju-kens war nicht dabei. Und dann, als ich ganz unten bei der Liste angekommen war, stockte ich. Ich konnte es kaum fassen.

Mein eigenes Gesicht schaute mich an, und darunter stand mein Name.
 

„Also wenn sie es vorher nicht waren, dann sind sie JETZT vollkommen durchgeknallt!“, rief Rose stinksauer und lief ungeduldig im Raum auf und ab. „Weil sie keine Ahnung haben, wer noch zu uns gehört, BEHAUPTEN sie einfach, dass Leute wie du es tun!“ Er schaute mich aufgebracht an. „Fuck. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ich frag mir nur, wie sie an deinen Namen gekommen sind, wahrscheinlich hat einer deiner Nachbarn dich verpfiffen.“

Darüber hatte ich ebenfalls nachgedacht, und es hatte mir einen Stich ins Herz versetzt. Ich hatte mich akzeptiert gefühlt, nicht nur toleriert. Ich hatte das Gefühl gehabt, meinem Umfeld vertrauen zu können. Ich war bitterlich enttäuscht worden. Wo hätte ich anders hingehen können als zu Rose? „Was... soll ich jetzt machen? Erklären kann ich die Situation ja schlecht...“

„Quatsch, das ist das Schlechteste, was du machen kannst“, winkte auch Rose ab. „Als ob sie dir irgendwelche Beachtung schenken würden. Nein, auch wenn es dir nicht gefällt, du wirst wohl bei uns bleiben. Ich verspreche dir auch, dass du an keiner Aktion teilhaben musst, wenn du nicht willst. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, mein Gesicht kennen sie auch. Fuck. Und sie haben Ji Hoon.“ Er vergrub das Gesicht in den Händen und ließ sich auf das Sofa fallen. „Fuck, fuck, fuck“, flüsterte er leise.

„Wir holen ihn da raus“, warf Attack ein.

„So schlecht, wie Wataru die Gefängnisse bewachen lässt“, fügte Typhoon, ein weiteres Mitglied des engen Kreises, hinzu.

„Als ob sie einen so großen Fang einfach so riskieren würden“, entgegnete Rose ironisch. „Wataru masturbiert bestimmt darüber, dass er ihn endlich geschnappt hat, das sag ich euch, da können WIR überhaupt nichts ausrichten. Nicht mit den Möglichkeiten, die wir haben.“

Es klopfte an der Tür, und einen Moment später betrat Ju-ken die ‚Hauptzentrale’ der Ji-Hoon-Gruppe ohne Ji Hoon. „Neuigkeiten“, verkündete er und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf seine Kaugummizigaretten.

„Was denn?“, wollte Rose niedergeschlagen wissen und nahm sich eine, begann jedoch damit, auf ihr herumzukauen, bevor er das Papier entfernt hatte. Es schien ihn nicht zu stören.

„Yukki ist an Videos von Ji Hoons Verhaftung gekommen“, antwortete Ju-ken mit einem beinahe triumphalen Unterton. „Scheint ziemlich heftig zu sein, aber er ist wohl nicht so schwer verletzt. Trotzdem können sie diese Brutalität für ihren Wahlkampf nutzen.“

„Und was bringt uns das?!“, rief Rose, nun wieder am Rande der Hysterie.

„Hör zu“, wurde er von Ju-ken beruhigt, der das Bindeglied zwischen der Gruppe und Miya und Yukki zu sein schien. „Wenn sie Wataru als einen gefühlskalten, arroganten, brutalen Bastard hinstellen können, wird er in Loki ganz bestimmt nicht wiedergewählt. Die Bürger mögen lethargisch und schicksalsergeben sein, aber sie sind nicht dumm. Wenn sie die Wahl haben zwischen einem rassistischen rücksichtslosen Arschloch, das sämtliche Gesetze missachtet, und einem demokratischen dynamischen Duo, das dem ein Ende setzen will, was glaubst du, werden sie tun? Sich selbst die Klinge in den Rücken rammen oder einen Neuanfang versuchen?“

Darüber dachte Rose eine Weile nach, ehe er erwiderte: „Dein Wort in Lokis Ohr.“

„Das ist es bestimmt“, nickte Ju-ken.

„Das beantwortet nur immer noch nicht meine Frage, was wir davon haben – ob Ji Hoon nun unter Watarus oder unter Miyas und Yukkis Herrschaft exekutiert wird, ist gleich“, warf Rose skeptisch ein.

„Du vergisst, dass die beiden tendenziell auf eurer Seite sind. Sie werden dafür sorgen, dass er ein gemindertes Strafmaß auferlegt bekommt – ihn freilassen können sie nicht, das würde als Verrat gesehen. Aber so viel können sie erreichen. Es dauert noch drei Wochen bis zur Wahl. Wenn sie in der entscheidenden letzten Phase überzeugen können, haben wir auch schon so gut wie gewonnen.“

Das klang selbst in meinen Ohren vernünftig – ich hoffte wirklich, dass Miya und Yukki die Wahl gewinnen würden.

„Ich bin gespannt“, räumte Rose ein und fuhr sich nachdenklich durch die Haare. „Hoffen wir nur darauf, dass Wataru nicht noch einen Trumpf im Ärmel hat. Wann will Yukki die Videos an die Öffentlichkeit bringen?“

Das entlockte Ju-ken ein Lächeln. „Sie sind bereits auf dem Weg zum Hauptnachrichtensender. Wenn das Ganze vielleicht Odin erreicht, wächst der Druck auf Wataru sogar noch mehr und er wird eventuell zum Rücktritt gezwungen.“
 

~*~
 

Genau eine Woche später saß ich neben Typhoon, Rose, Attack und X-mas vor ihrem kleinen geklauten Fernseher und starrte ebenso ungläubig wie sie auf den Bildschirm.

Eine Woche, so lange hatte Wataru offenbar gebraucht, um herauszufinden, von wem die kompromittierenden Videos stammten.

So lange hatte es gedauert, dass er seinen Plan pflanzte, reifen und wachsen ließ und ihn letztendlich erntete.

So lange hatte es gedauert, bis Yukki tot war.
 

„-heute morgen. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden und starb offenbar durch eine Überdosis der neumodischen Droge StarDust. Dies wirft ein anderes Licht auf das Duo, das zuvor durch Denunziation des amtierenden Bürgermeisters Wataru Aufsehen erregte. Nun muss die Bevölkerung sich fragen, ob das ‚dynamische Duo’, wie Miya und Yukki auch genannt wurden, überhaupt fähig gewesen wäre, Loki zu regieren. Zudem kamen Gerüchte auf, dass Miya seinen eigenen Kollegen aus persönlichen Gründen beiseite schaffen-“

„HALT DIE FRESSE DU DUMME SCHLAMPE!“, schrie Rose neben mir, so laut, dass ich meine Augen etwas zukneifen musste.

„Pscht“, machte X-mas.

Rose sprang auf und wirkte, als hätte er den Fernseher am liebsten eingetreten. „Yukki war nicht drogenabhängig! Und als ob Miya ihn umbringen würde! Was erzählen sie für eine gequirlte Scheiße?! Ich könnte... ich könnte...“

„Beruhig dich, was willst du schon machen?“, fragte ich ihn leise und berührte sanft sein Bein neben mir.

„Ich? Was ich machen will??“, wiederholte er. Er hielt kurz inne und atmete einmal tief durch. „Am liebsten würde ich diesem Sack, diesem Flachwichser Wataru den Hals umdrehen. Ich bin hundertprozentig sicher, dass er für Yukkis Tod verantwortlich ist, er konnte es einfach nicht auf sich sitzen lassen, durch seinen größten Triumph auch eine Niederlage einstecken zu müssen. Ich sag euch was, Leute. Wir müssen Ji Hoon befreien.“

Rose schaute kurz in die Runde. „Und dazu müssen wir uns bewaffnen.“

Eine Stille folgte.

„Wer ist dabei?“

X-mas hob die Hand als erster, danach Typhoon. Attack ebenfalls. Und zum Schluss ich. Als ich meinen Arm hob, schenkte Rose mir ein Lächeln, das von grimmiger Zufriedenheit sprach.

Ich hätte fast ein schlechtes Gewissen bekommen.

Ich war kein Kameradenschwein, aber wenn ich so tun musste, als würde ich ihn unterstützen, um ihn vor sich selbst zu retten, nahm ich Lügen in Kauf.
 

~*~
 

to be continued~

(A/N: Rose ist mutiert und hat sich im Laufe der Geschichte immer weiter in den Vordergrund gedrängt. Eigentlich sollte er gar nicht vorkommen |D)

05.12. Loki, Scene 3: Lechery

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

06.12. Loki, Scene 4: Pride

Der vierte und vorletzte Teil - hier kommt der Showdown!
 

~*~
 

Die Ji-Hoon-Gruppe hatte sich am Abend der Befreiung noch ein letztes Mal zusammengefunden. Anwesend war nicht nur der harte Kern der Vereinigung, bestehend aus Rose, Hakuei, Typhoon, Attack, X-mas und Jae Wook, sondern auch andere Mitglieder, die hauptsächlich ebenfalls gesucht und deshalb in den Plan eingeweiht wurden, weil auch sie eine Rolle bei der morgigen Aktion spielen sollten. Bei diesem riskanten Unterfangen konnte Rose sämtliche Unterstützung gebrauchen, die er bekam.

Ju-ken war auch da, hielt sich jedoch eher im Hintergrund. Er hatte zwar die Pläne des Hauptgefängnisses Lokis besorgt, indem er sich etliche Male dort umgesehen hatte und einmal nachts eingebrochen war, allerdings wollte er sich aus der aktiven Befreiung eher heraushalten. Seitdem er gesehen hatte, was problemlos mit seinem engen Freund und Verbündeten Yukki angestellt werden konnte, war Ju-ken etwas vorsichtiger geworden. Nicht, dass er feige war, allerdings hatte Rose ihm auch befohlen, sich rauszuhalten, da Loki starke Anführer brauchte, wenn ‚die Krise’ überwunden war. (Mit der ‚Krise’ war selbstverständlich Wataru gemeint.) Er hatte sogar impliziert, dass Ju-ken Yukkis Position an Miyas Seite einnehmen könnte, aber dazu hatte Ju-ken sich noch nicht geäußert.

Die Mitglieder hatten sich in das kleine Wohnzimmer des Hauptquartiers gequetscht und alle standen, da man die Möbel kurzzeitig herausgeräumt hatte – sonst wäre nicht ausreichend Platz vorhanden gewesen. In der Mitte stand der hohe Küchentisch, auf dem Rose die von Ju-ken erbeuteten Karten ausgebreitet hatte.

„...und dann müssen wir nur noch hier entlang, bis wir auch schon da sind“, beendete Rose gerade seine Ausführungen, die er auf der Karte mit dem Finger nachgezeichnet hatte. „Der Weg an sich ist nicht sonderlich lang, aber es ist der einzige und es sind relativ viele Wachen auf dem Weg, das sind diese roten Punkte hier. Wir werden versuchen, sie dazu zu bringen, ihre Waffen abzulegen – die nehmen wir dann natürlich auch mit – und keinen Widerstand zu leisten, wir fesseln sie am Besten.“

„Und was ist, wenn sie sich weigern?“, wollte einer der anderen Mitglieder wissen.

Rose richtete seinen Blick auf den Sprecher und wartete einige Momente ab, in denen alle Anwesenden das Szenario in ihren Köpfen durchspielten und zu ein und demselben Schluss kamen. Anschließend sprach Rose das aus, was alle dachten: „Dann schießen wir.“

Unwillkürlich wanderte Jae Wooks Hand in seine Hosentasche, wo er zum wiederholten Mal an diesem Tag die Munition betastete, die er sich ohne das Wissen der anderen besorgt hatte. Er würde nur warten müssen, bis alle schliefen, dann würde er die Patronen austauschen. Er war sich darüber im Klaren, dass es schwerwiegende Folgen haben könnte, aber wenn sie es gleich zu Beginn der Aktion bemerkten, würden sie diese sicherlich abblasen. Natürlich, dadurch würde er nichts anderes gewinnen als Zeit, aber die hatte er bitter nötig. Wenn er sie hinhalten konnte bis nach der Wahl, hätte er sicherlich schon einiges gewonnen. (Selbstverständlich ahnte er nicht, dass er nächtens inmitten seines Vorhaben ertappt werden würde.)

„Ich bitte euch nur um zwei Dinge“, schloss Rose kurz darauf die taktische Vorgehensweise des morgigen Tages ab. „Erstens: Schießt nicht, wenn es nicht absolut notwendig ist. Zweitens: Ji Hoons Wohlergehen hat oberste Priorität. Habt ihr das verstanden?“ Er erntete allgemeine Zustimmung. Was sein zweiter Punkt zu bedeuten hatte, wussten alle Anwesenden genau: Wenn sie die Wahl hatten, sich zu retten oder mit ihrem Leben für die Sicherheit ihres Gruppenanführers zu bezahlen, wussten sie, was sie zu tun hatten.
 

Nachdem die Sitzung beendet und sämtliche Möbel wieder in ihren Ausgangszustand gerückt worden waren, setzte Rose sich zu Ju-ken. „Hast du eine Kaugummizigarette?“ Der Angesprochene schüttelte lediglich wortlos den Kopf, woraufhin Rose kurz seinen Arm berührte. „Wenn ich die Gelegenheit bekomme, dann räche ich ihn.“

Ju-ken ließ ein säuerliches Lächeln sehen. „Pass lieber auf dich selbst auf. Ich habe ein ungutes Gefühl, was die Sache angeht.“

„Morgen ist ein Feiertag“, entgegnete Rose schulterzuckend. „Die Wachen, die morgen da sein werden, haben definitiv keine Lust, sich eine große Schießerei zu liefern. Ganz bestimmt nicht – wären Watarus persönliche Bodyguards da, wäre es etwas anderes, aber so...“

„Diese verfluchte Stadt hat schon zu viele Opfer gefordert“, murmelte Ju-ken.
 

~*~
 

Spät in der Nacht, zu dem Zeitpunkt, als Jae Wook gerade beschloss, dass die anderen höchstwahrscheinlich schliefen, brannte noch immer Licht in einer der Nobelsuiten der Stadt. So frappierend die Abgründe waren, die sich in der Unterwelt Lokis auftaten – Prostitution an der Tagesordnung, ständig stolperte man über einen Drogentoten, Ehrenmorde waren längst nichts Besonderes mehr –, ebenso krass konnte der Gegensatz auftreten. Wataru war nicht einmal der Reichste der Stadt, und dennoch besaß er eine Suite, bei der Topmanager neidisch geworden wären, ein Auto, das so prunkvoll wie unnütz (da viel zu schnell für die Straßen in einer Großstadt) war, sowie etlichen weiteren luxuriösen Tand.

Man konnte durchaus feststellen, dass Wataru – materiell gesehen – das genaue Gegenteil der Ji-Hoon-Gruppe darstellte. Dennoch bedeutete das längst nicht, dass er dadurch in irgendeiner Weise glücklicher war.

„Ich frage dich jetzt ein letztes Mal, und wenn du die Frage mit ‚nein’ beantwortest, verstehe ich nicht, wie du so ruhig hier herumsitzen kannst... Hast du noch irgendeinen Trumpf im Ärmel, den du innerhalb der nächsten Tage mühelos herausschütteln kannst oder nicht?!“ Aie lief aufgebracht auf Watarus weichem, geräuscheschluckendem Flokati-Teppich umher, in einer Hand eine Zigarette, mit der er wild gestikulierte, in der anderen eine Zeitung, die von für Wataru negativ ausgefallenen Umfragen kündete.

„Was würdest du denn unter ‚Trumpf’ verstehen?“, wollte Wataru wissen. Er lag lang ausgestreckt auf seinem sündhaft teuren Ledersofa und klammerte sich an ein Glas Brandy.

„Irgendetwas, das dir hilft, die Wahl doch noch zu gewinnen!“ Der Rothaarige stellte sich genau vor seinen Chef und funkelte ihn von oben an. „Und jetzt behaupte nicht, sie wäre noch nicht verloren! Du weißt genauso gut wie ich, dass du am Ende bist. Am Ende, Boss.“

„Am Ende?“, wiederholte der andere langsam, als ließe er sich die Wörter auf der Zunge zergehen, und schaute zu seinem Sekretär hoch. „Dich interessiert das doch nur, weil du sonst auch deine Position verlieren würdest. Könntest du ohne mich regieren, wäre es dir vollkommen egal. Aber du brauchst mich.“ Er schaute nun zur Seite und stellte fest, dass er sich auf einer praktischen Höhe befand. Beinahe beiläufig streckte er eine Hand aus und begann, Aies Gürtel zu öffnen.

Aie schlug seine Hand weg und trat ein paar Schritte rückwärts, seine sonst so beherrschte Miene zeigte seine Wut nur allzu offen. Die Gleichgültigkeit, mit der sein Boss die Situation anging, missfiel ihm zutiefst. „Beantworte mir meine Frage, Boss. Hast du noch irgendetwas in der Hinterhand, oder resultiert deine Teilnahmslosigkeit aus fatalistischen Motiven?“

„Miya arbeitet mit der Ji-Hoon-Bande zusammen“, entgegnete Wataru ruhig und trank einen Schluck der goldgelben Flüssigkeit in seinem Glas.

„Das ist nicht dein Ernst“, meinte Aie kopfschüttelnd und drückte seine Zigarette in dem wagenradgroßen marmornen Aschenbecher auf dem Glastisch aus, der eigentlich nicht beschmutzt werden durfte.

„Ich habe Beweise.“ Wataru musste grinsen ob Aies vollständiger Fassungslosigkeit. „Nicht gerade auf legalem Wege beschaffte zwar, aber ich habe welche. Ein Mitschnitt eines Telefongesprächs, aus dem man zwar interpretieren muss, aber es lässt sich durchaus so sehen. Und einige Briefwechsel, die aus Miyas Wohnung gestohlen wurden. Es sieht so aus, als wäre zwischen Miya und den Knoblauchfressern ein Vermittler tätig gewesen. Sein Name ist Ju-ken.“

„Ich kenne nur einen Ju-ken, und das ist der Ju-ken, der vor etwa zehn Jahren für die ganzen Demonstrationen gegen Rassismus verantwortlich war“, gab Aie tonlos zurück. „Jede Woche gab es mindestens eine. Er wurde auch etliche Male eingesperrt.“

„Genau der, wie es aussieht“, stimmte Wataru ihm amüsiert zu. „Er wurde vor etwa vier Jahren wieder auf freien Fuß gesetzt und hat anschließend offenbar direkt die Ji-Hoon-Bande kontaktiert. Er hat wohl auch Miya und Yukki dazu bewogen, überhaupt bei dieser Wahl anzutreten.“

„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Aie warf die Zeitung, die er sinnlos festhielt, auf den Tisch, und musste sich auf einen Sessel setzen. „Wenn du Beweise dafür hast, bist du wirklich nicht erledigt. Scheiße, warum sagst du das nicht gleich?“

„Weil es mir Spaß macht, dich zappeln zu lassen“, murmelte Wataru, ehe er sich aufrichtete, sein Glas ebenfalls auf den Tisch stellte und zu Aie hinüberging. „Weißt du, was ich an dir nie verstanden habe? Du willst mich, seitdem ich an der Macht bin... und die ganzen sechs Jahre hast du nichts getan. Gar nichts. Auch, wenn du die Möglichkeit gehabt hattest – und das hattest du oft –, hast du dich damit begnügt, lediglich an meiner Seite zu sein.“ Er hielt mit zwei Fingern Aies Kinn fest, als dieser seinen Kopf zur Seite drehte. „Selbst jetzt weichst du mir aus.“

„In dem Moment, da man seinen Leidenschaften nachgibt, hat man verloren“, flüsterte Aie und ließ seinen starren, ablehnenden Blick auf seinen Boss gerichtet ohne zu blinzeln.

Wataru wusste genau, was sein Gegenüber meinte: Wenn Aie nachgab und sich auf Wataru einließ, war er von diesem abhängig – dann hätte Wataru Macht über ihn. Sie beide wussten, wie sehr Sex mit Macht zusammenhing, daher gingen sie damit äußerst vorsichtig um. Keinem der beiden war es in den Sinn gekommen, dass man in dem Moment, da man sich einem anderen hingab, durchaus stärker werden konnte statt schwächer. Sie wandelten auf einem schmalen Grat, und keiner von ihnen wollte weder ausdrücklich erlauben noch ausdrücklich verbieten.

Und so, wie sie waren, ihre Gesichter nur einige Zentimeter voneinander entfernt, ihre Lippen erwartungsvoll geöffnet, ihre Blicke kalt, wurden sie unterbrochen. Mit einem Mal begann das Faxgerät zu surren.

Wataru seufzte leise, ließ Aies Kinn los und schaute sich anschließend das Fax an. Hatten sich seine Wangen durch den Brandy leicht gerötet, so verloren sie augenblicklich ihre Farbe, als ihr Besitzer begriff, wovon das Fax handelte. „Sie haben Wind gekriegt“, murmelte er fassungslos. „Sie schicken einige Inspektoren her.“

„Wer?“, wollte Aie alarmiert wissen. „Und wovon?“

„Odin!“, stieß Wataru zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Loki hat doch schon eine Verwarnung gekriegt, und offenbar meinen sie, dass ich mir meinen politischen Widersacher aus dem Weg geschafft hätte, was bedeuten würde, dass Loki zwangsregiert wird.“

„Wenn’s ihnen nur darum geht – du meintest doch, dass wahrscheinlich irgendeiner deiner fanatischen Anhänger durchgeknallt sei und Yukki umgebracht hätte“, entgegnete Aie schulterzuckend.

Sein Boss schaute ihn wortlos an.

Aie runzelte leicht die Stirn.

Sein Boss senkte den Blick.

„Sag mal, tickst du noch ganz richtig?!“, schrie Aie ohne Vorwarnung los und sprang auf. „Hast du etwa geglaubt, du würdest damit durchkommen??“ Er schubste Wataru rückwärts, nun wirklich fuchsteufelswild. „Ich habe dich ja schon für einen dämlichen Idioten gehalten, aber dass du SO bescheuert bist...!! Du schaufelst dir noch dein eigenes Grab! Wie kannst du überhaupt nachts schlafen?!“ Als Aie Wataru ein zweites Mal schubste, stolperte dieser über die Brandyflasche, die er unachtsam auf den Boden gestellt hatte, und riss Aie dabei mit sich.

Und während der Brandy langsam in den weißen Flokati einsickerte, richtete der Rothaarige, der auf seinem Boss saß, sich auf, packte Watarus Kragen und schüttelte ihn. „Eigentlich hast du jemanden wie mich überhaupt nicht verdient, weißt du das?! Wir müssen Yukkis Leiche verbrennen lassen und den Ärzten noch ein bisschen mehr zahlen, damit sie auch bestätigen, dass sie StarDust in Yukkis Blut gefunden haben. Und du kümmerst dich zusätzlich darum, dass Ji Hoon deine Version der Geschichte bestätigt, er soll sagen, dass Yukki drogenabhängig war, und dass es sein Wunsch war, nach seinem Tod verbrannt zu werden. Wenn Ji Hoon nicht kooperiert, lass ihn foltern, seine Fußnägel rausreißen, was weiß ich, aber er darf dir nicht widersprechen! Sonst ist es wirklich aus. Verstanden?!“

Wataru nickte langsam und müde. „Dann werde ich unserem Gefangenen wohl morgen einen Besuch abstatten müssen.“
 

~*~
 

Ju-ken saß zusammen mit Miya in dessen Wohnung und rauchte. Sie rauchten beide und sagten kein Wort, dazu waren sie zu angespannt. Sie wussten, dass ihre Verbündeten im Moment im Begriff waren, das Gefängnis zu stürmen, und am liebsten wären sie dabei gewesen. Zumindest Ju-ken.

In sämtlichen anderen Städten des Königreichs wäre allein der Gedanke völlig unmöglich, einen Strafgefangenen aus einem Gefängnis zu befreien, dort waren die Sicherheitsmaßnahmen derart modern, dass nicht einmal eine Fliege unbemerkt hinein gelangen könnte. Doch seitdem Wataru an der Macht war, hatten die Gefängnisse gelitten – im Haushalt gab es kein Geld für etwas Profanes wie Strafvollzugsanstalten. Daher war es durchaus wahrscheinlich, dass die Ji-Hoon-Gruppe Erfolg haben würde.

Beide zuckten zusammen, als das Telefon klingelte. Miya warf seine Zigarette in den Aschenbecher und beantwortete den Anruf. Eine Weile lang sagte er nichts, obwohl derjenige auf der anderen Seite der Leitung sich sehr aufgeregt anhörte. Dann legte er wortlos auf.

„Was ist?“, wollte Ju-ken wissen.

„Wataru will Ji Hoon heute besuchen“, gab Miya sehr leise zurück. „Er ist schon auf dem Weg.“

„Oh fuck.“ Die beiden sahen sich schweigend an, während sie versuchten, den ersten Impuls niederzukämpfen. Keiner von ihnen hatte Erfolg.

„Wir müssen hin. Und zwar so schnell wie möglich.“
 

„Den ersten hätten wir schon mal“, flüsterte Rose zu seinen Begleitern.

Eine Gruppe von ihnen hatte sich vor dem Haupteingang positioniert, um notfalls neu anrückende Verstärkung der Wachen aufzuhalten und den Befreiern anschließend Rückendeckung zu geben (die sogenannte ‚Gruppe vorne’ – Rose hatte angesichts des Ernstes der Situation nichts für lächerliche Namen übrig gehabt). Eine andere Gruppe befand sich vor dem Hinterausgang, aus dem gleichen Grund (‚Gruppe hinten’). Diejenigen, die tatsächlich direkt Ji Hoon befreien würden, waren lediglich Rose, Hakuei, Jae Wook, Typhoon, Attack und X-mas – die übliche Konstellation.

Sie waren bereits unbemerkt in das Gebäude eingedrungen und hatten es geschafft, den Pförtner zu überwältigen, ohne dass dieser Alarm geschlagen oder auch nur Widerstand geleistet hatte. Daraufhin setzte Typhoon sich eine Perücke auf, damit man ihn nicht erkannte, und zog die Uniform des Pförtners an – falls doch jemand hereinkam, sollte kein Verdacht geschöpft werden.

„Weiter“, befahl Rose. Hakuei, Jae Wook, Attack und X-mas folgten ihm. Sie huschten um die nächste Ecke, dann um noch eine und noch eine, bevor sie auf die ersten beiden patrouillierenden Wärter trafen. Diese ließen sich ebenfalls problemlos fesseln und knebeln, wurden auch anschließend in die nächste kleine Kammer gesperrt, damit niemand auf sie aufmerksam wurde. Gerade, als sie weitergehen wollten, begann Typhoon in Roses Headset zu sprechen: „Wir kriegen Besuch. Oh Shit.“

„Könnt ihr sie nicht aufhalten?“, wollte Rose leise wissen und warf seinen Begleitern einen besorgten Blick zu.

„Oh fuck. Es sind zu viele, Rose, das ist Wataru, Wataru kommt hierher und hat seine ganzen-“, Typhoon brach ab und sagte nun deutlich lauter: „Guten Morgen.“ Er sprach offensichtlich mit dem soeben eingetroffenen Wataru.

„Was ist los?“, fragte Jae Wook nervös.

„Wataru ist hier“, antwortete Rose leise. „Offenbar nicht alleine. Er will wohl zu Ji Hoon, aber das können wir nicht zulassen. Er darf nicht bis hierhin kommen, denn ab hier gibt’s nur noch einen Weg. Wir müssen ihn weiter vorne aufhalten und gleichzeitig Ji Hoon hier rausschaffen. So schnell wie möglich. Das heißt, wir müssen uns aufteilen.“ Er sah gehetzt in die Runde.

„Ich bleibe bei dir“, warf Hakuei ein.

„Ich auch“, schaltete Jae Wook sich augenblicklich ein.

„Und ich werde diesem Wichser Wataru seine Eier wegballern“, murmelte Rose und richtete den Blick auf Attack und X-mas. „Traut ihr es euch zu, mit der Verstärkung am Hinterausgang Ji Hoon sicher hier rauszubringen? Ich schick euch die anderen nach, wartet hier, bis sie da sind, ja?“ Die beiden nickten entschlossen. „Seine Sicherheit geht vor, das wisst ihr. Und wir halten euch Watarus Gorillas vom Hals, so lange wir können. Ihr kriegt das Headset von denen am Hinterausgang. Alles klar?“

„Du kannst dich auf uns verlassen“, beruhigte Attack seinen Anführer.

„Schön“, gab Rose zurück und wandte sich nun an Hakuei und Jae Wook. „Ihr habt jeder zwei Waffen, scheut euch nicht, davon Gebrauch zu machen. Ich bezweifle nicht, dass sie auf uns schießen werden wie bescheuert, also seid bloß vorsichtig. Ich werde der Gruppe am Vorderausgang Bescheid geben, dass sie dem Flachwichser in den Rücken fallen sollen, damit rechnet er wahrscheinlich nicht.“

„Rose?“, fragte Hakuei zögerlich. „Bitte keine persönlichen Racheakte, wenn du dich dadurch selbst in Gefahr bringst.“

„Ich bin kein kleines Kind mehr!“, fauchte Rose ungehalten in seine Richtung und schaute ein letztes Mal in die Runde. „Zu viel Zeit verloren. Los geht’s.“ Und während er entsprechende Befehle in sein Headset murmelte, lief er, gefolgt von Hakuei und Jae Wook, durch die Gänge.

Attack und X-mas blieben zurück und schauten sich beunruhigt an.
 

Rose war gerade damit fertig, seine Befehle durchzugeben, als er praktisch in Wataru hinein lief. Rose war sogar an der Ecke stehen geblieben und hatte in den Gang geschaut und sichergestellt, dass niemand sich dort befand, doch während er seinen zwei Begleitern zunickte, dass sie loslaufen konnten, musste Wataru gerade um die Ecke gebogen sein, sodass die beiden Kontrahenten sich mit einem Mal Auge in Auge gegenüber standen. Zwischen ihnen lag zwar eine Entfernung von etlichen Metern, und doch blieben beide wie angewurzelt stehen, als hätten sie sich angerempelt.

„Fuck“, stieß Rose hervor, und gleichzeitig rief Wataru: „Schießt!“

Rose besaß genügend Geistesgegenwart, um die nächstbeste Tür aufzureißen und sich mit einem Hechtsprung in das dahinter liegende Büro zu retten, Jae Wook machte einen Satz nach hinten und brachte sich zusammen mit Hakuei wieder hinter der Ecke in Sicherheit. Von ihrer Position aus konnten sie beide Rose sehen, der verbissen seine Munition überprüfte und anschließend seine Pistole entsicherte.

„Keinen Ausfall, Rose“, murmelte Hakuei beschwörend, obwohl der andere ihn aufgrund des Kugelhagels, der knapp an ihnen vorbeizischte, sowieso nicht hören konnte. „Keinen Ausfall, bitte, wenn wir hier bleiben, gewinnen die anderen auch Zeit, wir sollen sie nur aufhalten.“

„Ich rede mit ihm“, beschloss Jae Wook kurzerhand und zog seine Waffe, betrachtete sie jedoch, als verabscheute er es bereits, sie überhaupt in der Hand zu halten. Hakuei ging es ähnlich. „Gib mir Deckung.“

„Das kannst du nicht-“, begann Hakuei, doch da hetzte Jae Wook bereits los. Augenblicklich entsicherte Hakuei seine eigenen Pistolen und schoss wie wild in die Richtung ihrer Gegner. Dadurch waren diese erst einmal abgelenkt, sodass sie nicht auf Jae Wook schießen konnten, was ihm wohl durchaus das Leben rettete.

„Bist du bekloppt?“, fuhr Rose ihn an, kaum dass er zu ihm ins leerstehende Büro gesprungen war. „Du hättest sterben können!“

„Wir können hier nicht bleiben“, entgegnete Jae Wook eindringlich. „Sie werden drauf kommen, dass sie auch noch auf einem anderen Weg zu Ji Hoon können, und dann werden SIE uns erst einmal in den Rücken fallen und zweitens die anderen erwischen. Wir müssen wieder dahin zurück, wo wir uns von Attack und X-mas getrennt haben, nur da können wir sie wirklich aufhalten.“

„Stimmt“, räumte Rose ein und warf einen Blick zurück zu Hakuei, der kaum von ihnen Notiz nahm, sondern immer noch damit beschäftigt war, die Angreifer abzulenken. „Gruppe hinten, wie sieht’s aus? Seid ihr schon bei Ji Hoon?“, fragte er in sein Headset und wartete eine Weile. „Keine Antwort. Scheiße. Hoffentlich ist nichts passiert. Gruppe vorne, wie sieht’s aus?“

Jae Wook beobachtete Roses Miene und spürte, wie eine kalte Hand sein Herz umklammerte, als Roses Gesichtszüge entgleisten. Einige Momente rührte Rose sich nicht, dann wandte er sich an seinen Begleiter: „Wir müssen weg hier. Sie haben gesagt, dass schon ein paar in andere Gänge geflüchtet sind, wenn wir nicht wollen, dass sie die Gruppe hinten bei Ji Hoon erwischen, müssen wir wirklich weiter rein. Auf drei, ja? Eins... zwei... DREI!“

Beide Koreaner sprangen aus der Deckung und hechteten wieder in Richtung Hakuei, der sich alle Mühe gab, an ihnen vorbei zu schießen, während die beiden anderen ebenfalls nach hinten schossen. Als sie wieder hinter der Ecke bei Hakuei angekommen waren, scheuchte Rose sie gleich weiter: „Los jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Sein Gesichtsausdruck war noch verbissener als sonst, daher dauerte es wahrscheinlich auch ein paar Schritte, bis er sich erlaubte, einzuknicken.

„Rose?!“, rief Hakuei entgeistert und fing den Schwarzhaarigen auf. Da erst bemerkte er das Blut an Roses Bein, das schon bis auf den Boden gelaufen war und eine Spur hinterließ. „Was... wurdest du getroffen??“

„Ist egal“, zischte Rose und biss die Zähne zusammen. „Weiter. Wir müssen weiter.“

„So sollte das nicht laufen“, murmelte Jae Wook, während er Roses eine Seite stützte. Zusammen mit Hakuei schafften sie es, Rose bis zu der besagten Weggabelung zu schaffen, und setzten ihn dort in einem weiteren leeren Büro ab. „So sollte das ganz und gar nicht laufen. Geht es, Rose?“

Hakuei hockte sich vor den anderen, in dessen Augen sich langsam Tränen bildeten. „Kannst du’s aushalten?“ Hakuei strich Rose behutsam über die Wange, während Jae Wook mit einer Schere, die er auf dem Schreibtisch gefunden hatte, sein Hemd aufschnitt und anschließend Streifen davon um Roses Bein wickelte.

„Das ist es nicht!“, gab Rose trotzig zurück. Seine Unterlippe zitterte. „Es tut nicht weh. Es ist... Typhoon ist tot.“

„Was?!“, machte Jae Wook entgeistert.

„Ich höre Schritte“, bemerkte Hakuei und stand auf, wagte einen Blick aus dem schützenden Büro. Einige Sekunden später stand Attack vor ihm, sogar mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Das Headset ist kaputt gegangen“, erklärte er den fehlenden Funkkontakt hastig. „Die anderen sind rechtzeitig gekommen, X-mas ist im Moment mit dreien von ihnen bei Ji Hoon, wir hatten keine Probleme, die anderen wollten euch helfen und sind wahrscheinlich schon weiter vorne. Bist du getroffen, Rose?“

„Typhoon ist tot“, entgegnete Hakuei, woraufhin Attacks Lächeln mit einem Mal verschwand und einer schmerzhaften Fassungslosigkeit wich. Als eine Kugel knapp an Attack vorbei pfiff, schubste Hakuei ihn ebenfalls in das Büro und antwortete dem Warnschuss mit ein paar eigenen.

„Wer ist das? Wie viele?“, wollte Rose wissen, der noch immer mit den Tränen kämpfte. Jae Wook hatte sein Bein abgebunden, sodass die Blutung aufgehört hatte, dennoch würde er wahrscheinlich nicht gerade stehen können.

„Ein paar von Watarus Gorillas“, gab Hakuei verbissen zurück. „Halt, warte, da ist jemand bei ihnen... da ist Wataru. Ich glaube, sie wollen ihn gerade rausschaffen.“

„Wataru!“, rief Rose und rappelte sich mit Mühe und Not hoch, sich an der Schreibtischkante abstützend. „Gruppe vorne, wie sieht’s aus? Die anderen haben Ji Hoon befreien können, wie’s aussieht, ihr müsst sie nicht mehr lange aufhalten.“ Er lauschte einen Moment und nickte anschließend. „Sie haben die anderen Gorillas unter Kontrolle. Hakuei, hilf mir raus.“ Er stützte sich auf den Angesprochenen und humpelte aus dem Raum.

„Was willst du-“, fragte Jae Wook und wusste die Antwort bereits, bevor Rose losstürmte – beziehungsweise eher losstürzte, da er bei jedem Schritt mit seinem verletzten Bein beinahe einknickte und wieder hinfiel.

„Rose!“, riefen Jae Wook und Attack gleichzeitig.

Hakuei lief Rose als erster hinterher.
 

Miya legte auf dem Parkplatz des Gefängnisses eine sehr beeindruckende Vollbremsung hin, bei der er beinahe in ein anderes Auto hineingefahren wäre. Er blieb einfach mitten auf dem Weg stehen, zog nur den Schlüssel ab und sprang zusammen mit Ju-ken aus seinem Auto. Sie hatten bereits auf dem Weg im Radio gehört, dass es wohl eine Schießerei im städtischen Hauptgefängnis gab, und sie befürchteten das Schlimmste. Sie bekamen gerade noch mit, wie Aie, Watarus rechte Hand, ins Gebäude stürmte. Ju-ken wollte ihm hinterher rufen, beschloss dann aber, dass Aie an der Gesamtsituation nicht viel ändern würde.

Von draußen waren die Schüsse nicht zu hören, doch als die beiden das Gebäude betraten, rochen sie sofort das Schießpulver und den Angstschweiß, der im Raum hing. Sie tauschten einen Blick aus. Ju-ken war der einzige, der ebenfalls eine Waffe besaß, und nun zog und entsicherte er sie. Miya hatte gehofft, dass er als eine Art schlichtende Instanz wirken könnte, um den Konflikt zu beruhigen, aber nun begriff er, dass er rein gar nichts würde ausrichten können. Nichts.

Sie wollten bereits weiter ins Innere des Gefängnisses vordringen, allerdings bemerkte Miya Typhoons Leiche, kaum dass er den ersten Schritt getan hatte. Typhoon trug eine sehr lädierte Uniform und hatte einen Ausdruck des puren Grauens auf dem leblosen Gesicht, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten an die kalte weiße Decke. Mitten auf seiner Stirn befand sich das Einschussloch, unter seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.

„Großer Gott“, brachte Miya entgeistert hervor.

„Ich glaube, das meiste ist schon vorbei“, flüsterte Ju-ken. „Ich will mir gar nicht ausmalen, mit welchem Ergebnis.“
 

Nicht nur Betrunkene, sondern auch vor Hass Blinde schienen einen ganz eigenen Schutzengel zu besitzen, sonst hätte Rose es niemals lebend geschafft, Wataru zu stellen.

Er war mit seinem verletzten Bein nicht weit gekommen, bevor Hakuei ihn eingeholt hatte. Aber als dieser versuchte, ihn aufzuhalten, wurde Rose vollends hysterisch. „Ich habe mein gesamtes Leben auf diesen einen Moment gewartet!“, schrie der Jugendliche. „Und ich werde nicht zulassen, dass ausgerechnet DU mich daran hinderst, ihn auszukosten!“ Und gerade, als Hakuei Gewalt anwenden wollte, um den anderen fortzuschaffen, tauchten die Bodyguards Watarus im Gang auf. Es musste pures Glück gewesen sein, dass die ersten Schüsse meilenweit daneben gingen, sodass Rose ausreichend Zeit hatte, seine beiden Pistolen zu ziehen und erst den ersten, dann den zweiten Gorilla niederzustrecken.

Rose jedoch war geistesgegenwärtig genug, um davon auszugehen, dass dies noch nicht das Ende war, und konnte deshalb, als Wataru auch nur zur Hälfte sichtbar wurde, unmittelbar ein weiteres Mal schießen. Wataru schrie auf, als seine Schulter getroffen wurde, presste seine Handfläche auf die Wunde und wollte bereits wieder hinter die Ecke flüchten, doch als er einen Blick in die entsprechende Richtung warf, verließ ihn sämtlicher Kampfgeist. Mit einer Miene der Verzweiflung sank er an der Wand zu Boden und hinterließ eine leuchtend rote Blutspur.

Als Rose und Hakuei bei Wataru angekommen waren, begriffen sie, was ihn hatte den Mut verlieren lassen: Jae Wook und Attack hatten offenbar einen anderen Weg genommen, um Wataru diesen abzuschneiden, und waren dabei auf Aie getroffen. Und so war Wataru nun eingekesselt: Vor ihm Rose und Hakuei, neben ihm Jae Wook und Attack, der Aie seine Pistole an den Kopf hielt.

„Du kleiner verbrauchter Schleimbeutel“, zischte Rose leise, als er direkt vor Wataru angekommen war. Sämtliche Nervosität, sämtliche Gehetztheit war aus Roses Gesicht verschwunden, stattdessen loderte purer Hass darin, Hass und Abscheu. „Du stinkende Publizitätshure. Weißt du, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe?“

Außer dem Schmerz mischten sich nun noch Erkenntnis und Ungläubigkeit in Watarus Miene. Er warf einen entsetzten Blick Richtung Aie, der ihn mindestens genauso fassungslos anschaute. Attack trat ihm in die Kniekehlen, sodass er ebenfalls auf den Boden sank, auf denselben Level wie sein Boss.

„Rose“, murmelte Jae Wook. „Bitte tu das nicht. Bitte. Rose. Ich bitte dich.“

Doch Rose war für nichts mehr zugänglich, er hatte nur noch Augen für den verletzten Blonden vor sich und die Pistole in seiner Hand. Seine Augen blitzten vor Genugtuung und Verlangen, endlich Rache zu üben. Attack schien nichts Falsches an diesem Anblick zu finden, und Hakuei wagte es nicht, sich zwischen Rose und seine Rache zu stellen. Nur Jae Wook wirkte hin- und hergerissen, ob er eingreifen sollte.

„Du Arschloch bekommst sogar ein ganz neues Magazin“, fuhr Rose hämisch fort, griff in seine Hosentasche und holte eine Handvoll Patronen hervor. Es schien ihm völlig egal zu sein, dass einige zu Boden fielen, er füllte fahrig das Magazin seiner Pistole auf und kniete sich vor Wataru, der ihn mit purem Horror anstarrte. Nichts von seiner vorherigen Arroganz war mehr zu sehen, nichts mehr von seiner überlegenen Ruhe, nichts mehr von dem Vertrauen, dass er am Ende doch noch gewann.

„Nein!“, schrie Aie in einem letzten verzweifelten Versuch, die Hinrichtung zu stoppen, aber als er sich nach vorne warf, traf ihn ein schwerer Stiefel an der Schläfe, sodass der Rothaarige bewusstlos zu Boden sank. Hakuei hatte beinahe instinktiv reagiert, und das vielleicht auch nur, weil Attack Aie sonst sicherlich erschossen hätte.

„Schau mich gut an“, befahl Rose seinem Gegenüber leise. „Ich bin das Letzte, was du noch sehen wirst.“ Er richtete den Lauf seiner Waffe genau zwischen Watarus Augen, die sich sofort schlossen, und drückte ab. Ein Schuss ertönte. Rose zog den Abzug erneut, und ein weiterer Schuss erklang. Allerdings auch nicht mehr.

Der Gesichtsausdruck, mit dem Rose sich zu Jae Wook umdrehte, war beängstigend. „Platzpatronen?!“, schrie er und rappelte sich wieder auf die Füße, langsam auf Jae Wook zugehend. „Platzpatronen??“, wiederholte Rose leise. „Das ist dein Werk, oder? Du hast welche gekauft, ich dachte, du wolltest damit üben, auch wirklich zu schießen, wenn’s drauf ankommt. Aber stattdessen wolltest du uns sabotieren. Sabotieren, das wolltest du, und weißt du, wie man Leute nennt, die sabotieren? VER-RÄ-TER!!“ Mit jeder Silbe drückte Rose einmal ab, seine Waffe auf Jae Wooks Brust gerichtet. „Du bist ein dreckiger Verräter.“

„Rose“, warnte Hakuei ihn leise.

Der Angesprochene nahm sich seine zweite Pistole und schoss einmal in die Decke. „Du solltest froh sein, dass es nur Platzpatronen waren. Aber hier, in dieser, sind es keine“, flüsterte Rose und drückte mit einer Hand so fest er konnte auf Jae Wooks Wangen, bis er seine Zähne voneinander lösen musste. Den Moment nutzte Rose und rammte ihm den Lauf der Pistole zwischen den Zähnen hindurch in den Mund. „Verräter“, fauchte er noch, dann entsicherte er die Waffe.

Hakuei und Attack standen wie gelähmt, und Rose hätte zweifellos abgedrückt, hätte ihm nicht jemand in genau dem Moment einen Kinnhaken verpasst. Rose ließ die Pistole zu Boden fallen und taumelte einige Schritte nach hinten, bevor er auch noch einen Tritt vor seine Schusswunde kassierte. Mit einem leisen Aufschrei klappte er in sich zusammen und fiel auf den Boden.

„Kannst du mir erklären, was das hier soll?!“, fuhr Ji Hoon Joo seinen Schützling fuchsteufelswild an. „Was für eine Diktatur propagierst du, wenn du deine eigenen Verbündeten erschießt?!? Hast du überhaupt darüber nachgedacht, was du hier tust??“

Hakuei, Attack und auch Jae Wook waren noch immer so betäubt von Roses Handlungen, dass sie die Szene nur mit großen Augen verfolgen konnten. Es war für sie drei völlig unfassbar, dass Rose derartig durchdrehen würde, sollte sich jemand zwischen ihn und Wataru stellen.

Wataru hingegen roch eine Chance, doch noch mehr oder weniger unbeschadet davon zu kommen, und so kämpfte er sich langsam und unauffällig hoch, bevor er sich auf Hakuei stürzte, um ihm die Pistole abzunehmen. Da hatte er sich jedoch den Falschen ausgesucht. Hakuei rammte ihm kurzerhand sein Knie in den Magen und verpasste ihm noch einen Schlag ins Gesicht, sodass Wataru wieder auf dem Boden landete. Da allerdings schien er zu begreifen, wen er hier vor sich hatte. „Hakuei...?“, fragte er leise.

Hakuei allerdings hatte nicht viel mehr als einen abfälligen Blick für ihn übrig.

Durch diese Szene kurz abgelenkt gewesen, wandte Ji Hoon sich wieder Rose zu, der ihn anstarrte, als wäre er eine Erscheinung. „Erinnerst du dich, was ich dir immer gepredigt habe?“, fuhr der Gruppenanführer etwas ruhiger fort. „Wenn jemand geschnappt wird und es ein großes Risiko darstellt, ihn zu befreien und man gut ohne ihn auskommt, überlässt man ihn seinem Schicksal. Erinnerst du dich?“

„Aber... wir kommen nicht ohne dich aus“, wisperte Rose tonlos und hielt sich das Gesicht, dort, wo der andere ihn geschlagen hatte.

„Doch, wärt ihr“, widersprach Ji Hoon ihm vehement. „Ich hatte dich eigentlich für einen fähigen Anführer gehalten, aber diese Aktion hier zeigt mir, dass du noch weit davon entfernt bist. Du hast nicht nur dein eigenes, sondern auch das Leben aller anderen aufs Spiel gesetzt, und das nur, um einen alten Mann zu befreien, den du überhaupt nicht nötig hast. Du bist verantwortlich für Typhoons Tod und für sämtliche Verletzungen, welche die anderen erlitten haben. Und nicht nur das, du hättest beinahe einen deiner Freunde getötet. Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was du angerichtet hast?“

Während Ji Hoon redete, wich der zuvor wütende und hasserfüllte Ausdruck in Roses Gesicht einem nur noch verzweifelten, hilflosen. Die Erkenntnis, dass alles, worauf er die letzten zwei Wochen hingearbeitet hatte, unnütz, gefährlich und einfach SINNLOS gewesen war, sank langsam bei ihm ein. Er sah längst nicht mehr gefährlich aus, sondern eher wie ein eingeschüchtertes Kind.

Und so verharrten sie einige Momente. Attack traute sich nicht, einen der anderen anzusehen. Jae Wook schaute zwischen Ji Hoon und Rose hin und her, noch immer erschüttert darüber, wie knapp er seinem Tod entronnen war. Wataru traute nicht, sich zu bewegen, da er sich nun sogar seinem absoluten Erzfeind Ji Hoon gegenüber sah. Hakuei konnte verstehen, was es für Rose bedeutete, derartige Vorwürfe von seinem großen Idol ertragen zu müssen, und hätte sich ihm gerne angenommen, wusste allerdings, dass Rose davon nichts wissen wollen würde. Und Rose selbst kämpfte zum zweiten Mal an diesem Morgen mit den Tränen, dieses Mal, weil er begriff, dass Typhoon umsonst gestorben war.

Ji Hoon trat einen Schritt zurück und wandte sich nun auch an die anderen: „Es ist sowieso vorbei.“

Genau in dem Augenblick tauchte eine Flut von Polizeibeamten auf, hinter ihm und auch am Ende des zweiten Ganges. „Hände hoch!“, riefen einige von ihnen. „Waffen weg!“

„Das sind Polizisten aus Odin“, erklärte Ji Hoon müde, während er wie selbstverständlich seine Arme hob. „Loki wird wohl nicht mehr autonom regiert werden.“

Da schluchzte Rose das erste Mal leise.
 

~*~
 

Man hatte sie in verschiedenen Sammelzellen untergebracht. Die Polizisten hatten keinen Unterschied zwischen unschuldigen Wachen, Watarus Gorillas oder den Koreanern gemacht, sie hatten einfach sämtliche Anwesenden verhaftet, um sie der Reihe nach zu verhören. Sie wollten sich dadurch ein erstes Bild verschaffen und anschließend entscheiden, wer im Gefängnis blieb und wer gehen konnte.

Wataru allerdings war bereits in einer Einzelzelle untergebracht und würde so schnell nicht wieder herauskommen. Er stand unter Verdacht von Korruption, Drogenhandel und –produktion und Mord an Yukki. Aie dagegen hatte ausgesagt, nichts von Watarus Machenschaften zu wissen und war sogar damit davon gekommen – was ihn selbst wahrscheinlich am meisten überrascht hatte. Aber ihm konnte schließlich nichts nachgewiesen werden.

In den anderen Sammelzellen plapperten die Insassen munter drauflos, zu unrealistisch erschienen ihnen alles, was passiert war, zu drängend war das Mitteilungsbedürfnis, zu groß die Erleichterung, dass Wataru nun endgültig von der Bildfläche verschwinden würde, zu erdrückend die Unsicherheit, was die Zukunft bringen würde.

Nur in einer Zelle schwiegen sämtliche Häftlinge.

Rose saß auf dem Boden, hatte die Knie an die Brust gezogen und biss sich wiederholt auf die Lippe, bis es blutete. Hakuei saß auf der Pritsche und schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte, da Rose ihn nicht an sich heran ließ. Jae Wook stand am Fenster und rührte sich nicht. Er wünschte sich, er hätte die ganze Aktion irgendwie komplett verhindern können.

Die drückende Stille wurde dadurch unterbrochen, dass die Zellentür aufgeschlossen wurde. Ji Hoon wurde von einem Polizeibeamten hereinbegleitet, der anschließend auf Jae Wook deutete und diesen mit sich nahm.

Derjenige, welcher der Ji-Hoon-Gruppe den Namen gegeben und nun den Sinn genommen hatte, hockte sich vor seinen inoffiziellen Nachfolger und wartete, bis Rose ihn ansah, halb unwillig, halb hilflos. „Weißt du, was mir im Gefängnis klar geworden ist?“, begann Ji Hoon langsam zu erklären. „Dass es nichts ändert, ob wir nun führende Regierungsmitglieder töten oder nicht. Wenn wir etwas am Denken der Menschen hier in Loki ändern wollen – denn das ist die Hauptquelle aller Vorurteile uns gegenüber –, dann ist es egal, ob wir den Bürgermeister umbringen oder nicht. Das bestätigt die Vorurteile nur noch. Das habe ich auch nicht einsehen wollen, und ich erwarte nicht von dir, dass du es tust, ich möchte dir nur eine mögliche Erklärung bieten.“

Rose schlug kurz die Augen nieder. „Wenn nicht wir, wer soll dann etwas unternehmen?“, wollte er leise wissen.

„Miya, beispielsweise“, antwortete Ji Hoon sanft. „Er und Yukki hätten zweifellos etwas geändert. Das habe ich auch zu spät eingesehen. Ich dachte, dass sie nur herumreden würden und nichts unternehmen – aber da habe ich sie wohl unterschätzt. Jetzt weiß ich, dass-“

„Aber Yukki ist tot!“, stieß Rose verächtlich hervor.

„Ju-ken nicht“, widersprach Ji Hoon ihm ruhig.

Rose war eine Weile still und schaute dann zu Hakuei, der ihm beruhigend zulächelte. Daraufhin nickte Rose leicht und sah seinem Gegenüber wieder in die Augen. „Ich kann nur immer noch nicht glauben, dass unser Kampf umsonst gewesen sein soll.“

„War er nicht. Wataru ist nicht mehr Bürgermeister und die Zukunft Lokis ist zwar ungewiss, aber sicherlich besser als die Gegenwart.“

Einige Minuten später wurde die Zellentür erneut aufgeschlossen und Jae Wook betrat zögerlich die Zelle, als er jedoch merkte, dass Rose nicht mehr reglos dasaß, entspannte er sich etwas. „Ich... werde freigelassen“, meinte er. „Sie meinten, ich sei mehr oder weniger hineingerutscht und hätte niemanden ernsthaft verletzt. Ich... kann gehen.“ Er erwartete beinahe, von Rose Spott und Häme zu ernten, stattdessen stand der Schwarzhaarige auf und schloss Jae Wook fest in seine Arme.

„Es tut mir leid“, murmelte Rose aufrichtig und tauschte ein kurzes Lächeln mit dem anderen aus. „Unterstütz Miya und Ju-ken, ja?“

Jae Wook nickte. „Und versprich mir eines, Rose: Riskier bitte nicht wieder so leichtfertig dein Leben.“

Er wollte bereits gehen, da sprach Ji Hoon ihn noch einmal an: „Wie heißt du noch mal? Jae Wook Kim?“ Der Angesprochene nickte. „Ich werde wohl noch eine Weile hier bleiben, komm mich doch mal besuchen und halt mich über das Geschehen da draußen auf dem Laufenden.“ Jae Wook nickte erneut und schenkte Ji Hoon ein letztes Lächeln, dann verschwand er.

Für den Jugendlichen betraten zwei andere Personen den Raum und ließen die Tür hinter sich schließen. Miya und Ju-ken wirkten abgespannt und innerlich aufgewühlt, waren aber zumindest nicht verletzt.

„Wie es aussieht, lassen die aus Odin Loki doch noch mal in Ruhe“, begann Ju-ken. „Sie wollen uns wohl wirklich regieren lassen, weil sie gemerkt haben, dass wir es tatsächlich ernst meinen.“

„Jetzt doch?“, wollte Rose wissen. „Ich dachte, du hast dich dagegen gesträubt, Yukkis Platz einzunehmen.“ Er stand langsam und mühevoll auf und ließ sich gleich wieder neben Hakuei auf der Pritsche nieder, woraufhin der andere ihm einen Arm um die Taille legte und ihn dicht an sich zog. Der Kontakt schien beiden gut zu tun.

„Wenn ich will, dass Yukki nicht umsonst gestorben ist, werde ich für das kämpfen, was er erreichen wollte“, bestätigte Ju-ken mit einem grimmigen Lächeln. „Die Leute aus Odin bleiben so lange hier, bis die Situation sich beruhigt hat. Ihr wollt nicht wissen, was im Moment in der Öffentlichkeit los ist. Es ist ein Spektakel sondergleichen.“

„Ich habe veranlasst, dass sowohl Yukki als auch Typhoon respektvoll begraben werden“, fuhr Miya ruhig fort. „Wataru wollte wohl Yukkis Leiche verbrennen lassen, um zu vertuschen, dass er überhaupt nicht drogenabhängig war, aber wir sind noch rechtzeitig gekommen.“

„Warum seid ihr eigentlich nicht verhaftet worden?“, wollte Ji Hoon neugierig wissen. „Ansonsten wurden ja alle, die sich hier aufgehalten haben, eingesperrt.“

Miya zog einen Mundwinkel zur Seite. „Wir waren diejenigen, die Odin Bescheid gegeben haben. Sie wollten wohl ohnehin einige Inspektoren hierher schicken, aber als wir sie angerufen haben, sind sie gleich mit ihrer ganzen Armee hier angerückt. Glücklicherweise, muss man dazu sagen, sonst wärt ihr sicherlich noch von Watarus Leuten erschossen worden.“

„Danke“, sagte Rose leise, woraufhin Ju-ken ihm seine Zigarettenschachtel hinhielt. Als der Schwarzhaarige begriff, dass nur Kaugummizigaretten darin waren, nahm er sich eine und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Was allerdings eure Verhaftung angeht...“, begann Miya zögerlich. „Wir können euch nicht ohne Weiteres freilassen. Rose, du beispielsweise hast zwei Menschen getötet und etliche verletzt, du hättest auch beinahe Wataru erschossen. Wir wollen unsere Regierungszeit nicht mit einer himmelschreienden Ungerechtigkeit beginnen, daher können wir nichts daran ändern, dass ihr verurteilt werdet, so gern wir auch würden.“

Die Anwesenden nickten ernst.

„Fast alle von den anderen allerdings können wir freisprechen, da sie höchstens jemanden verletzt haben. Wie durch ein Wunder ist außer Typhoon und den beiden Bodyguards niemand aus euren oder den anderen Reihen gestorben, trotz der umfassenden Schießerei – das lag wohl hauptsächlich daran, dass die meiste eurer Munition Platzpatronen waren, was die Situation für euch deutlich erleichtert“, fügte Miya hinzu, woraufhin die anderen wieder nickten, etwas beruhigter. „Das bedeutet, wir könnten jeden laufen lassen bis auf euch drei. Wir müssen für die anderen viele Augen zudrücken, da die Aktion heute nicht eure erste war, aber dafür nehmen wir es in Kauf, dass wir auch bei den anderen, bei Watarus Leuten, etliche freisprechen, die wir sonst eingesperrt hätten. Habt ihr Einwände?“

Rose öffnete den Mund, dachte jedoch noch einmal nach, bevor er etwas erwiderte, und schüttelte dann den Kopf.

„Wenn es euch die Freilassungen erleichtert, schiebt es auf mich“, meldete Ji Hoon sich zu Wort. „Behauptet, ich hätte manche Mitglieder erpresst, damit sie mitmachen, oder so etwas. Ich werde alles bestätigen – ich fühle mich für alles, was passiert ist, verantwortlich, und ob ich jetzt zehn Jahre hier drin sitze oder zwanzig...“ Er zuckte mit den Schultern.

„Das kannst du nicht machen“, widersprach Rose leise. Ji Hoon lächelte nur.

„Wir werden darauf zurückkommen“, mischte Ju-ken sich wieder ein. „Das wären also nur noch zwei. Rose, Hakuei, wollt ihr unbedingt euer ganzes Leben in Loki zu verbringen?“ Verwirrt schüttelten die beiden ihre Köpfe.

„Schön“, nickte Miya. „Ihr wisst ja, dass seit Wataru die Sicherheitsvorkehrungen in den Gefängnissen bei Weitem nicht so sind, wie sie sein sollten, und da kann es durchaus passieren, dass manche Gefangene durch einen unglücklichen Zufall leider die Freiheit erlangen...“

Als die Erkenntnis dessen einsank, was Miya gerade eben gesagt hatte, mussten sowohl Rose als auch Hakuei grinsen. „Das könnt ihr eigentlich nicht bringen“, bemerkte Hakuei.

„Liegt ja an Wataru“, meinte Ju-ken schulterzuckend. „Wenn ihr draußen seid, ruft mich an, ich habe euch bis dahin neue Papiere besorgt. Geht nach Thor oder so, ich habe gehört, da sollen Koreaner nicht die geringsten Probleme haben.“

„Und wir versuchen in der Zwischenzeit, Loki menschenfreundlich herzurichten“, fügte Miya hinzu.

Die anderen drei versuchten sich an einem Lächeln.
 

~*~

07.12. Loki, Scene 5: Acedia

Der fünfte und letzte Teil der Loki-Serie, gebeta'd und officially approved von meiner Beta-Göttin Tattoo! <3
 

~*~
 

Jede Nacht schaute ich wieder und wieder in diesen Abgrund, dargestellt durch einen Pistolenlauf. Jede Nacht hörte ich diese Stimme: ‚Schau mich gut an. Ich bin das Letzte, was du noch sehen wirst.’ Jede Nacht hörte ich den darauffolgenden Schuss.

Es war nicht das Letzte, was ich noch sah, glücklicherweise, und dennoch war es der Anblick, der sich unwiderruflich auf meiner Netzhaut eingebrannt hatte. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich mich dieser Fratze aus purem Hass gegenüber; es war ein Monster, das ich zwar nicht geboren, aber doch gesäugt, genährt und ihm den Rücken zugedreht hatte, darauf vertrauend, dass es mir weiterhin gehorchte.

Ich hatte die Koreaner genutzt, selbstverständlich, die Feindlichkeit ihnen gegenüber saß tief verwurzelt in Loki, und ich hatte mich vorhandenen Gegebenheiten einfach bedient, darauf hoffend, nein, ich war davon AUSGEGANGEN, dass es immer so bleiben würde: Die Bürger Lokis, deren Zustimmung ich nötig hatte, um ungestört regieren zu können, verachteten die Koreaner, und die Koreaner ließen dies mit sich machen, da sie wussten, dass sie ohnehin nichts daran ändern konnten. Ich schürte den Rassismus, da ich dadurch noch beliebter wurde. Glaubte ich zumindest.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war Ji Hoon. Ich hatte die Rechnung ohne diesen aufsässigen Dorn im Auge gemacht, und da er sich ausgeschlossen fühlte, tat er alles, um sich in mein Bewusstsein zu drängen. Mit großem Erfolg.

Kaum hatte ich mein Amt übernommen, wurde der Polizeichef ermordet. Und das war erst der Anfang einer Reihe unzähliger Anschläge, denen glücklicherweise nicht ich, sondern andere zum Opfer fielen. Minister, andere Abgeordnete, Polizisten, sonstige Mitglieder der Regierung. An mich traute man sich wohl noch nicht heran, was allerdings durchaus daran liegen konnte, dass ich mich stets mit etlichen Bodyguards umgab. Ich genoss zwar das Regieren, aber lebensmüde war ich schließlich nicht.

Und dann, als ich glaubte, der Schlange den Kopf abgeschlagen zu haben, musste ich feststellen, dass sogleich ein zweiter nachwuchs, der nicht nur beißen, sondern auch Gift verspritzen konnte. Ich war mir über die Gefährlichkeit der Ji-Hoon-Bande ohne Ji Hoon nicht im Klaren gewesen – es waren schließlich nur Jugendliche, die irgendeinem mehr oder weniger charismatischen Kerl hinterher gelaufen waren. Mehr nicht.

Mehr nicht.

‚Schau mich gut an.’

Ich wusste nicht, wie die anderen Mitglieder der Bande drauf waren, aber wenn sie auch nur annähernd die Wut dieses einen Jugendlichen besaßen, dann hatte ich sehr, sehr großes Glück gehabt, dass Odin so ‚früh’ gekommen war. Wären die Jungspunde nicht sogar aus ihren eigenen Reihen heraus sabotiert worden, könnte ich mir inzwischen die Radieschen von unten ansehen.

Ich hatte versagt. Das wusste ich inzwischen, ich hatte auf voller Linie versagt, weil ich ignoranter, arroganter Idiot den Hass derer unterschätzt hatte, die seit Jahrzehnten misshandelt, angefeindet und kaum mehr als toleriert wurden. So wie mir war es etlichen anderen Herrschern gegangen – auch, wenn man mit der Unterstützung der Mehrheit regierte, es gab immer Randgruppen, die man zumindest im Auge behalten sollte.
 

Noch am selben traumatisierenden Tag hatte ich Besuch von Aie bekommen. Er hatte sich vor meine lediglich durch eine Gittertür geschützte Zelle gestellt, die Hände in die Hosentaschen geschoben und mich schweigend angesehen. Meine Verletzung, die Schusswunde an meiner Schulter, war versorgt worden, aber es war mir trotzdem untersagt, in ein Krankenhaus zu kommen, bevor ich nicht verhört worden war. Nicht, dass sich irgendjemand für mich zu beeilen schien.

„Sieht wohl so aus, als hätte ich denjenigen gefunden, der am Ende des Spiels noch den Schwarzen Peter in der Hand hält und dem man erst einmal erklären muss, dass er dadurch verloren hat“, bemerkte Aie. Sein Tonfall war nicht einmal allzu spöttisch, aber dennoch schmerzte jedes seiner Worte in gewisser Weise. „Ich habe meinen rechtzeitig abgegeben“, fügte er hinzu, dann wandte er sich ab und verschwand wieder.

Bedeutete das etwa, dass er freigesprochen wurde? Es sah wohl so aus – als ich den Polizeibeamten zwei Stunden später nach Aie fragte, wurde mir bestätigt, dass er freigelassen wurde, weil er alles abgestritten hatte, was man ihm vorwarf. Ihm konnte man schließlich nichts nachweisen. Ich dagegen hatte nur allzu deutliche Spuren hinterlassen, weil ich nie damit gerechnet hatte, jemals erwischt zu werden.
 

Die StarDust-Affäre erregte eine riesige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Aie kam regelmäßig vorbei und brachte mir Zeitungen mit, damit ich auch erfuhr, was über mich geschrieben wurde. ‚Schockierend!’, schrieben manche, ‚Kaum zu glauben!’ ‚Jeder Bürgermeister hatte Dreck am Stecken, aber diese Geschichte ist ohne Beispiel!’ Wäre es alles nicht so traurig gewesen, hätte ich mich darüber amüsieren können.

Ich hatte führende Wissenschaftler Lokis vor sechs Jahren, gleich nach meinem Amtsantritt, beauftragt, eine neue Droge zu entwickeln, die so zerstörerisch wie süchtig machend ist, und unterstützte die Forschungen mit dicken Subventionen, die mir öffentlich hoch angerechnet wurden – endlich mal ein Bürgermeister, der sich für Naturwissenschaften interessiert! Dass ich dafür die Gefängnisse vernachlässigte, stieß kaum auf Kritik. Hätten die Leute gewusst, wofür ihr hart verdientes und an den Staat in Form von Steuern gezahltes Geld wirklich verwendet wurde, dann wären sie sicherlich nicht so enthusiastisch gewesen.

Das Ergebnis der Forschungen war nach etwa einem halben Jahr ein Pulver, das man schmelzen und sich spritzen, sniefen, oder sich einfach auf der Zunge zergehen lassen konnte. Es schmeckte ein kleines bisschen nach Seifenlauge, aber die Besonderheit war, dass es auch nur mit ein wenig Licht glitzerte wie die Sterne am Himmel. In einem meiner wenigen (oder wenig, wie man’s nimmt) kreativen Momente taufte ich die Droge StarDust und sandte einige Kontakte aus der Unterwelt aus, mir mögliche Abnehmer zu besorgen. Viele waren zunächst skeptisch – neuer Stoff verkaufte sich nicht so gut, da die Nebenwirkungen oder auch die Wirkungen noch nicht bekannt waren.

Und dann begann die Welle. Während meines zweiten Amtsjahres begann das Geschäft mit StarDust zu boomen – ich bekam definitiv dreifach so viel Geld in meine Haushaltskasse wie ich für die Reproduktion des Stoffs benötigte, zwischendurch sogar das Fünffache. Geld klingelte in allen Kassen, ich konnte mir einiges davon in meine eigenen Taschen stecken und investierte viel vom Rest in andere Projekte.

Beispielsweise YouFap, das vor fünf Jahren noch als eine der großen und innovativen Errungenschaften Lokis galt. Ich hatte den ersten kostenlosen öffentlich zugänglichen Pornosender erschaffen, der sicherlich viele Kinder aufgeklärt, viele Paare inspiriert und viele Alleinstehende getröstet hatte. Viele andere Städte hatten mich dafür gerügt, doch Odin ließ es mir noch einmal durchgehen. Außerdem bekam ich das Gefühl, dass viele andere auch nur neidisch waren. Zudem verschaffte ich vielen angehenden Schauspielern die Möglichkeit, durch YouFap berühmt zu werden. Im Internet bildeten sich unzählige Foren, wo die einzelnen Darsteller und Darstellerinnen bewertet wurden. Als allerdings Stimmen laut würden, ich sei homophob, weil ich gleichgeschlechtliche Pornos nicht zeigen würde, ging ich auf diese Kritik ein und ließ zwischendurch immer mal wieder abwechselnd Lesben- und Schwulenpornos ausstrahlen. Was ergaben Umfragen anschließend? Die meisten Frauen schauten sich die Schwulenpornos am liebsten an und umgekehrt.

In was für einer kranken Stadt lebte ich überhaupt?

StarDust hielt sich bis heute, und es wird sich sicherlich noch weiterhin verbreiten, da war ich mir sicher. Einige Wissenschaftler hatten die Zusammensetzung der Droge sicherlich schon weiterverkauft, darauf konnte ich wetten. Ich fragte mich nur, wie die zukünftige Regierung Lokis sich finanzieren wollte – Steuern gab es dank Steuerhinterziehern und nicht registrierten Einwohnern definitiv zu wenig. Sie waren sich wahrscheinlich nicht darüber im Klaren, dass beinahe alles, was in Loki die letzten Jahre gebaut worden war, mit Drogengeld finanziert wurde.
 

Mein Prozess verlief vergleichsweise ereignislos. Die Presse wühlte in meinem Privatleben herum, was das Zeug hielt, fand heraus, dass ich ‚heimlich’ (also nicht offiziell) verlobt gewesen war, dass meine Eltern mich mit sechzehn Jahren rausgeworfen hatten, dass ich schon früher Koreaner verprügelt hatte und so weiter. Als jedoch sämtlicher Dreck hervorgeholt, einmal in der Runde bestaunt und anschließend wieder verstaut worden war, wurde ich uninteressant. Der neue Star hieß Ji Hoon. Er schrieb ein Buch, über sein Leben sollte ein Film gedreht werden, jeder seiner Prozesstage wurde begeistert von der Öffentlichkeit mitverfolgt, und die Leute nahmen zum allerersten Mal Anteil am Schicksal der Koreaner in Loki.

Ich musste zugeben, dass Ji Hoon mit seinen Verbrechen anders als andere Straftäter umging. Er rechtfertigte sie nicht, sondern erklärte sie, er distanzierte sich nicht, sondern beschrieb die Umstände, die dazu geführt hatten und wie er sich dabei gefühlt hatte. Er stellte sich weder als bemitleidenswertes Opfer der harten Realität Lokis dar noch als Freiheitskämpfer ohnegleichen. Nein, er berichtete einfach und schlicht und führte den Bürgern Lokis dadurch ihren Rassismus, ihre Intoleranz und ihre Ignoranz noch deutlicher vor Augen als es jemals auf andere Weise hätte geschehen können. Es war, als wachte Loki langsam aus einem Schlaf auf.

Trotzdem würde Ji Hoon für mich bis ans Ende meines Lebens ein Knoblauchfresser bleiben.

Mein Strafmaß – fünfundzwanzig Jahre – überraschte niemanden, und so war die Verkündung desselbigen auch nichts, was mich in den Medien wieder sonderlich präsent gemacht hätte. Nein, ich wurde langsam vergessen, während ich in dem Gefängnis, in dem der Rachefeldzug der Koreaner begonnen und beendet worden war, langsam vor mich hin siechte. Ich bekam kaum Besuch, abgesehen von Aie, den ich kaum noch bewusst wahr nahm. Er saß immer vor meiner Gittertür und brachte mir Zeitungen, erzählte mir von Beschlüssen der Regierung, wie Miya und Ju-ken sich machten und von allem anderen, was ich verpasste, während ich vergessen wurde und vergaß.

Nach etwa anderthalb Monaten wurde ich nachts durch ein metallenes Geräusch geweckt. Ich schlug die Augen auf und erkannte die beiden Gestalten, die vor meiner vergitterten Tür standen, auf der Stelle. Selbst nachts war es im Gefängnis nicht richtig dunkel, sondern immer noch so hell, dass man problemlos Gesichter erkennen konnte. Vor meiner Tür standen einmal der Jugendliche, der mich wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens traumatisiert hatte, und jemand, von dem ich niemals gedacht hätte, dass ich Probleme mit ihm bekommen würde: Rose und Hakuei. Sie sahen etwas anders aus als ich sie in Erinnerung hatte, Roses Haare waren weißblond und Hakueis, wie es aussah, pink.

„Ich dreh schon bei einem Monat fast durch“, flüsterte Rose mir zu und winkte fröhlich durch das Gitter. „Ich will mir nicht vorstellen, wie es bei fünfundzwanzig Jahren aussieht. Dann bist du über fünfzig. Sind ja echt... rosige Aussichten.“ Das brachte ihn selbst zum Kichern. „Ich würde dir eigentlich gerne noch etwas Gemeines zum Abschied sagen, aber ich hoffe einfach, dass ich dir in deinen Träumen noch länger erhalten bleibe. Schau dir mein Gesicht noch einmal gut an, das wird das Schönste sein, was du in den nächsten fünfundzwanzig Jahren zu sehen bekommst.“ Er winkte erneut und dann waren sie beide verschwunden. Ich konnte nur ahnen, wohin sie gingen.

Und Hakuei hatte nicht einmal ein einziges Wort für mich übrig gehabt – er war einer meiner treuesten Dealer gewesen, hatte teilweise über fünf Kilo StarDust in einer Woche vertreiben können. Er war mit dem Herzen und der Seele dabei gewesen. Rose musste irgendwie in sein Gehirn gekrochen sein und ihn manipuliert haben, anders konnte ich mir seinen Sinneswandel nicht erklären.
 

Ich hatte immer geglaubt, ich wäre stark, aber das Gefängnis lehrte mich genau das Gegenteil. Ich hatte Menschenleben mit einem Satz auslöschen können, hatte Loki mit einer Droge verseucht, hatte aus Pornografie Profit geschlagen. Aber ich überstand keine zwei Monate in einem normalen Gefängnis unbeschadet.

Meine Alpträume wurden immer häufiger. Besonders nach diesem nächtlichen Besuch träumte ich immer häufiger von Rose, von diesem Pistolenlauf, und die Details wurden immer genauer. Ich sah wieder die beiden Leichen meiner Bodyguards weiter entfernt im Gang liegen, die Rose ohne zu zögern niedergeschossen hatte. Beim nächsten Mal kam Hakuei dazu, wie er unglücklich das Geschehen betrachtete, allerdings keine Anstalten machte, einzugreifen. Ich erinnerte mich an die Schmerzen in meiner Schulter, an Roses eigene Schusswunde, an die anderen Zuschauer, an Aie... An Aie?

Da erst fiel mir auf, dass Aie während der gesamten Zeit, die ich bereits absaß, vielleicht jeden zweiten Tag vorbei gekommen war. Mittlerweile unterhielt er sich nur noch mit mir, wenn es etwas Besonderes zu erzählen gab, und brachte mir ansonsten lediglich die Zeitung vorbei, aber er war ständig da. Sollte er nicht froh sein, dass er mich endlich los war? Ich hatte mit ihm gespielt, ich hatte ihn ausgenutzt, hatte seine Sucht nach Macht und auch seine Sucht nach mir ausgenutzt. Natürlich, ich hatte ihm sehr viel Macht gewährt, hatte mich von ihm in bestimmte Bahnen lenken lassen, aber ich war doch definitiv derjenige gewesen, der von unserer Beziehung am meisten Profit herausschlug. Sonst hätte ich ihn überhaupt nicht bei mir behalten.

Oh ja, wenn Aie auch machtsüchtig war, ich war doch befallen von einer viel schlimmeren Form: Ich war süchtig nach mehr. Ich hatte mein gesamtes Leben lang schon immer mehr gewollt. Hielt mir jemand einen Finger hin, nahm ich die gesamte Hand, kümmerte sich jemand um mich, ließ ich mich durchfüttern, und wenn ich satt war, beraubte ich ihn sämtlicher Dinge, die er besaß, bot mir jemand seine Hilfe an, nahm ich sie dankend an, ohne ihn einen Tag später auch nur zu begrüßen oder ihm überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich war schon immer skrupellos, egoistisch und besessen von Materiellem gewesen. Besaß ich das eine Auto, begehrte ich das etwas Bessere, wohnte ich in einer Suite, erschienen mir die anderen immer luxuriöser, war ich Bürgermeister, wollte ich die gesamte Stadt BESITZEN und beherrschen. Ich war jemand, der immer nach vorne lief, ohne zurückzusehen, ohne stehen zu bleiben und festzustellen, wie weit ich gekommen war. Wahrscheinlich rannte ich die gesamte Zeit auf der Stelle und fühlte mich, als käme ich mit Riesenschritten voran – weil ich mich nicht traute, nachzuprüfen, wie weit ich von meinem Ausgangsort entfernt war.

In der nächsten Nacht träumte ich davon, wie Aie versuchte, Rose aufzuhalten.
 

„Guten Morgen“, begrüßte der Rothaarige mich, ließ die Zeitung in meine Zelle fallen und wollte sich bereits abwenden. In letzter Zeit war er sehr einsilbig geworden, sodass ich überlegt hatte, ob er zu Beginn nur deshalb gekommen war, um sich über mich lustig zu machen und mir hämisch zu zeigen, dass er ein Leben in Freiheit genießen konnte, und inzwischen mehr oder weniger das Interesse an mir verloren hatte. Aber warum kam er trotzdem?

„Aie“, sprach ich seinen Namen seit Wochen zum ersten Mal wieder aus. Eine Möglichkeit dafür, dass er sich kaum noch mit mir unterhielt, könnte sein, weil ich ihm kaum antwortete, musste ich mir in dem Moment eingestehen. Es funktionierte zumindest: Er blieb stehen und sah mich halb erwartungsvoll, halb überrascht an. Wie hatte ich ihn behandelt, wenn es ihn erstaunte, dass ich ihn ansprach? „Ich... träume immer von Rose“, begann ich und runzelte innerlich die Stirn. Das wollte ich eigentlich nicht aussagen. Ein paar Wochen ohne viel menschliche Kontakte, und ich verlernte sämtliche Regeln einer normalen Kommunikation. „Ich meine, ich träume von dir.“

Er schien nicht so recht zu begreifen, worauf ich hinaus wollte, was ich ihm nicht verübelte. „Das ist nicht ganz das Gleiche“, bemerkte er zögerlich.

Ich seufzte leise. Gott, war das schwer. „Was ich wissen wollte... warum hast du an dem einen Tag versucht, Rose aufzuhalten? Du wärst fast dazwischen gegangen. Hättest du nicht froh darüber gewesen sein sollen, wenn ich...“

Daraufhin lehnte Aie sich an das Gitter und musterte mich, nun wieder mit ernstem Gesichtsausdruck. „Natürlich wäre ich froh gewesen“, antwortete er leichthin. „Aber du warst nun einmal mein Boss. Ich habe nur das getan, was von einem Angestellten erwarten werden kann. Nicht mehr.“ Dann ließ er noch ein ironisches Lächeln sehen, bevor er wieder ging.

Das, was von einem Angestellten erwartet werden konnte? Dass er sein Leben einsetzte, um seinen Boss zu retten? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Vor allem war es abwegig für mich, dass Aie versuchen sollte, mich zu retten, wenn er froh darüber gewesen wäre, würde ich nicht mehr am Leben sein.
 

Meine Alpträume blieben noch etwa einen Monat, bis ich zum ersten Mal davon träumte, dass Aie es tatsächlich schaffte, Rose aufzuhalten. Wie es weiterging, wusste ich nicht mehr, was ich nur noch wusste, war, dass ich plötzlich eine Hand auf meinem Gesicht hatte. Ich schreckte aus dem Traum auf und saß mit einem Ruck aufrecht, als ich registrierte, dass jemand neben meinem Bett kniete.

„Wieder ein Alptraum?“, wollte Aie wissen und betrachtete mich interessiert.

„Was um alles in der Welt machst du hier?!“, fauchte ich leise. „Wie kommst du hier rein?“

„Seit wann hast du angefangen, dich hier so heimisch zu fühlen, Wataru? Du klingst, als wäre ich unberechtigterweise in deine Wohnung eingedrungen.“

Als ich mir eingestand, dass Aie durchaus Recht hatte, sank ich wieder zurück auf mein Kissen und atmete einmal tief durch. Mein Herz schlug noch wie wild von dem Traum und ich war ohnehin etwas desorientiert, wenn man mich plötzlich aus dem Schlaf riss. „Nein, heimisch fühle ich mich ganz und gar nicht. Es ist die Hölle. Aber was machst du hier?“

„Ich dachte mir, ich komme dich mal mitten in der Nacht besuchen“, entgegnete er schulterzuckend und mit einem leichten Lächeln im Gesicht, das ich in den letzten Tagen oft bei ihm vermisst hatte.

Ungläubig starrte ich ihn an. Das erklärte immer noch nicht, wie er in die Zelle gekommen war, was allerdings nebensächlich war. Ich begriff nämlich soeben, weshalb Aie seit knapp drei Monaten jeden zweiten Tag bei mir aufkreuzte, weshalb er mich retten wollte, weshalb er jetzt gerade hier kniete und mich anlächelte. Mir fiel nur das Wort Hingabe ein, da das andere Wort noch niemals in meinem gesamten Leben Platz gehabt hatte und auch niemals haben würde, da ich einfach nicht daran glaubte. Aber Hingabe, damit konnte ich mich anfreunden, Hingabe lag in allen Blicken, in allen Taten seinerseits. Er hatte sich mir die ganze Zeit hingegeben, und ich hatte es einfach nicht bemerkt.

Mit einer Hand strich ich über seine Wange, durch seine Haare, während er mich einfach nur regungslos ansah, und dann zog ich ihn etwas zu mir, um ihn zu küssen. Zuerst war es ein vorsichtiger, testender Kuss, beinahe unschuldig, aber als Aie ein leises, fast schon verlangendes Geräusch von sich gab, konnte ich mich nicht mehr halten. Ich klammerte mich an ihn und küsste ihn wie ein Verdurstender, wie jemand, der seit drei Monaten im Gefängnis saß und nicht einmal eine vernünftige Unterhaltung geführt hatte, geschweige denn zwischenmenschliche Beziehungen hatte pflegen können. Es tat unheimlich gut, nur zu spüren, dass ich doch nicht vergessen war, dass jemand die ganze Zeit an mich gedacht hatte. Ich brauchte mehr davon.

Als wir auseinander brachen, beide nach Atem ringend, bedeutete ich ihm beinahe gereizt, aufzustehen, und zog ihn sofort zu mir auf das Bett, schlang beide Arme um ihn und presste ihn so eng wie nur möglich an meinen eigenen Körper. War einmal das Verlangen in mir erweckt, bekam ich es nur schwer unter Kontrolle, und ich dürstete nach seinen Berührungen, als bräuchte ich sie zum Leben. Aie konnte sich ebenfalls kaum beherrschen, trat ungeduldig die störende Bettdecke zwischen uns ans Fußende und fuhr gleich mit beiden Händen unter mein Schlafanzugoberteil. Seine warmen Hände auf meiner Haut setzten mich in Brand, und ich fragte mich, wie ich die letzten drei Monate ausgehalten hatte, geschweige denn die letzten sechs Jahre.

Ich öffnete seine Hose, und dieses Mal ließ er mich gewähren, dann sein Hemd und warf alle Kleidungsstücke von ihm und von mir achtlos auf den Boden, sie sollten nur weg. Unsere Küsse wurden immer fahriger, immer leidenschaftlicher und immer inniger, während ich ihn auf den Rücken drehte und mich gleich an seinem Hinterteil zu schaffen machte. Als ich kurz darauf in ihn drang, wurde mir fast schwarz vor Augen, so dermaßen eng war er und so heiß. Vollständig in ihm, hielt ich inne und schnappte nach Luft, ehe ich den Atem anhielt und es wagte, in sein Gesicht zu sehen. Im Halbdunkel der Zelle konnte ich Aies geöffnete, schimmernden Augen erkennen, die direkt auf meinen lagen, seine erwartungsvoll geöffneten Lippen, seine genussvolle Miene. Und während er beide Hände auf meinen eigenen Hintern legte, verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen.

In dem Moment verlor ich den Kampf gegen meinen ersten Orgasmus. Ich musste die Augen schließen, während eine Gänsehaut meinen gesamten Körper überzog. Als sich meine Augen wieder öffneten, hatte Aie eine Augenbraue hochgezogen.

„Ich hätte mehr von dir erwartet“, bemerkte er, musste dann jedoch wieder grinsen.

„Warte einen Moment und sei ruhig“, murmelte ich.

„Ich habe alle Zeit der Welt...“ Aie zog mich wieder zu sich herunter und leckte über meine Lippen, spielte mit meiner Zunge, bis ich zum ersten Mal richtig in ihn stieß, was er mit einem leisen Stöhnen beantwortete. Warum hatte ich nur so lange gewartet?
 

Aie saß zwischen meinen Beinen und zündete eine seiner mitgebrachten Zigaretten an, ehe er sich wieder an meine nackte Brust lehnte und ich beide Arme um ihn schlang. „Was meinst du, warum ich ausgerechnet heute Nacht hergekommen bin?“, wollte er wissen.

„Weil du so unbedingt mit mir ins Bett wolltest“, schnurrte ich und knabberte an seinem Ohr, woraufhin er seinen Kopf von mir weg lehnte, mir aber über die Schulter ein Lächeln zuwarf.

„Abgesehen davon.“

„Du hast mir die Frage immer noch nicht beantwortet, wie du hier reingekommen bist“, fiel mir ein.

„Der Pförtner kennt mich“, begann Aie langsam. „Ich habe aber heute, als ich hergekommen bin, gehustet, einen Mundschutz getragen und ihm knapp erklärt, dass ich mich wohl erkältet habe. Dann habe ich ihm klargemacht, dass ich um diese Uhrzeit herkomme und wahrscheinlich etwas länger bleibe, weil ich noch etwas mit dir ‚abzurechnen’ habe. Er hatte Verständnis dafür und hat mir den Schlüssel zu deiner Zelle gegeben. Dann habe ich den Wachen das Gleiche erklärt und sie gebeten, dass sie die ganze Nacht nicht hier patrouillieren. Sie meinten, dass sie dir auch gerne mal eine reinhauen würden, aber Angst hätten, dass es auffliegt.“

Aie beeindruckte mich immer wieder. Wahrscheinlich hatte er die letzten drei Monate genutzt, sich mit dem Pförtner und allen Wärtern bekannt zu machen, um sicher zu gehen, dass alles glatt verlief. Aber er konnte doch nicht nur dafür, ein einziges Mal...?

„Ich habe dir eine Perücke mitgebracht, du musst nur noch den Schlüssel beim Pförtner wieder abgeben und kannst vorne rausspazieren“, beendete Aie seine Ausführungen und schob mir seine Zigarette zwischen die Lippen.

Ich war derart überrascht, dass ich instinktiv einatmete, jedoch sofort anfing zu husten. „Was... was?“, stieß ich mühsam hervor. „Aber... was machst du?“

Aie zog nun selbst an seiner Zigarette, die Ruhe selbst. „Ich“, fing er bedeutsam an, „ziehe deinen Schlafanzug an und leg mich erst mal hin, weil ich ziemlich müde bin. Und wenn die Wärter dich morgen früh wecken wollen, müssen sie leider feststellen, dass du rote Haare und ein frecheres Grinsen bekommen hast.“

Dann würde nur Aie tatsächlich verhaftet werden – wenn er mir zur Flucht verhalf, würde er sicherlich auch einige Jahre sitzen müssen. „Ich hol dich hier raus“, sagte ich leise.

Er sah mich über seine Schulter hinweg an. „Ich weiß“, antwortete er beinahe schnippisch.

Unter anderen Umständen hätte ich mich nicht darum gekümmert, meinetwegen hätte Aie im Gefängnis versauern können. Aber unter anderen Umständen hätten wir auch nicht miteinander geschlafen, und ganz bestimmt nicht SO. Also stand ich auf und klaubte Aies Kleidung zusammen, zog mich Stück für Stück an, bis ich mich schließlich fühlte wie er. Es war ein angenehmes Gefühl, und seine Kleidung roch nach ihm. „Aie, ich...“ Ich fand keine passenden Worte, um ihm zu danken, und er winkte lediglich ab.

„Ich habe nur das getan, was von einem guten Angestellten erwartet werden kann“, stellte er schulterzuckend fest.
 

Als ich eine Viertelstunde später auf dem Parkplatz des Gefängnisses stand und die Nachtluft einatmete, als wäre es das Leckerste, was ich je in meinem Leben geschmeckt hatte, fiel mir auf, weshalb ich mich so seltsam fühlte: Ich war zufrieden.

Zum allerersten Mal in meinem Leben war ich mit dem zufrieden, was ich besaß, zum ersten Mal wollte ich nicht MEHR.

Ich hatte meine Freiheit wieder, ich hatte die Versicherung, dass es zumindest eine Person gab, die an mich dachte, und ich hatte dieser Person das Versprechen gegeben, sie im Gegenzug zu meiner Rettung ebenfalls zu retten. Das war zwar ein nicht allzu leichtes Ziel, aber es war ein ZIEL, etwas, auf das ich hinarbeitete und bei dem ich glücklich war, wenn ich es erreicht hatte. Es war kein unstillbares Verlangen, das immer weitere Kreise ziehen würde. Ich hatte endlich Aie. Wenn ich ihn erst wiederhatte, könnte ich all mein Verlangen auf ihn lenken, ich war mir sicher, dass er sich darüber nicht beschweren würde.

Doch daran dachte ich noch nicht, ich fühlte nur in mein Herz hinein und erspürte bittere Zufriedenheit. Zufriedenheit über meinen jetzigen Zustand; bitter war sie deshalb, weil ich dabei noch an meine Vergangenheit denken musste. Ich hatte viel Mist gebaut, das war mir auch vorher klar gewesen, aber niemals hatte ich dieses Bewusstsein über meine Fehler einfach zugelassen.

Und dennoch war es, als hätte ich meinen inneren Frieden gefunden. Ich dachte unwillkürlich an Ji Hoon und verspürte keinen Hass mehr, keine Ablehnung. Ich erinnerte mich daran, was er den Zeitungen erzählt hatte: Dass er gelernt hatte zu bereuen. Jetzt konnte ich verstehen, was er meinte.

Ich wusste, dass ich diese Nacht keinen Alptraum mehr haben würde.
 

~*~
 

Wie hat's euch gefallen?

Vielleicht arbeite ich das Ganze noch etwas mehr aus, da ich das hier sehr unter Zeitdruck (jeweils 1 Tag vorher |D) hingekritzelt habe ^^

08.12. Matchmaker

hier war die Kategorie Tiere, und da Tattoo selbst eine hat, konnte es nur eine Katze sein!
 

~*~
 

Und wieder mal stand ein langweiliges Wochenende in Aussicht. Nicht, dass Gara das nicht bereits gewöhnt wäre, doch so langsam schlug es auf seine Laune, dass an den meisten Wochenende seine Freunde anderweitig beschäftigt waren – entweder trafen sie sich mit ihren Freundinnen, fuhren nach Hause zu ihren Eltern, mussten für das Studium lernen, wollten Zeit für sich haben und so weiter und so fort. Und wie es aussah, würde an diesem Wochenende nicht viel mehr los sein.

Gara lag mit dem Kopf und den Schultern auf seinem brandneuen Schreibtischstuhl, während er seine Beine auf seinem alten, kaputten Drehstuhl ruhen ließ. Er traute sich nicht, einen Blick in seine Wohnung zu werfen, da noch überall Umzugskartons herumstanden und es generell furchtbar aussah. Er war zwar bereits vor einem Monat in dieses Mehrfamilienhaus gezogen, hatte allerdings noch keine Motivation gefunden, alle seine Sachen auszupacken. Das Wichtigste hatte er natürlich ausgeräumt: Seine persönlichen Dinge, alles, was er für die Küche brauchte und seine Kleidung. Mehr hatte er allerdings erst einmal nicht nötig, und er hatte auch noch keine Ahnung, wohin er den ganzen Krempel räumen sollte.

Lustlos blies er seine Wangen auf und ließ die Luft langsam entweichen, während er sich langsam mit den Beinen etwas zur Seite rollen ließ. Seine Hand, die von der Kante des schwarzen Schreibtischstuhles herunter hing, stieß an einen Karton, und, sich mutig fühlend, griff er kurzerhand hinein und zog das erste hervor, was ihm in die Finger geriet. Es war ausgerechnet eins der Videos (also eins der ‚Videos’), die Nero ihm vor einiger Zeit besorgt hatte. Gara hatte in einige kurz hineingeschaut, hatte sich aber weder weiterhin dafür interessiert noch sie in irgendeiner Weise ansprechend gefunden. Die meisten der Kerle waren ihm sowieso viel zu hässlich.

Er ließ das Video wieder in die Kiste fallen und begann, hospitalistisch mit seiner oberen Hälfte hin und her zu rollen, während er versuchte, seine Beine möglichst nicht zu bewegen. Diese Herausforderung beschäftigte ihn ein wenig, und als er sie meisterte, klingelte plötzlich sein Handy. Genervt warf Gara einen Blick zum Schreibtisch, wo entsprechendes Kommunikationsmittel lag, und robbte sich mehr oder weniger mithilfe beider Drehstühle in Richtung Schreibtisch. Als er endlich dort angekommen war, hatte es aufgehört zu klingeln. Gara besah sich das Display, und gerade, als er Yuus Nummer erkannte, klingelte es erneut. Stirnrunzelnd beantwortete er den Anruf: „Ja?“

„Was ich dich noch fragen wollte – kannst du dich um die Feuerzeuge und den Dosenöffner kümmern? Ich glaube, wir haben nämlich keinen. Ansonsten haben wir soweit alles zusammengekriegt, du musst nichts mehr mitbringen.“

Also entweder hatte Yuu eine neue Geheimsprache, oder er besaß einen völlig anderen Ausgangspunkt als Gara, denn dieser verstand kein einziges Wort. „Feuerzeuge und Dosenöffner?“, gab er zurück. „Klar, kein Problem.“

„Super“, freute sich Yuu. „Also, bis glei-“

„Wovon zur Hölle sprichst du?!“ Gara hatte alle Mühe, gleichzeitig zu rufen und nicht von den Stühlen zu fallen.

„Wir fahren doch zu Kenichis Onkel ins Ferienhaus!“, gab Yuu zurück und klang immer verzweifelter. „Hast du das vergessen? Du sollst innerhalb von zwei Stunden bei Tetsu sein, sonst fahren wir ohne dich. Außerdem- ... was war das?“

Gara setzte sich auf und hielt sich den Kopf. „Nichts“, entgegnete er knapp und warf den Drehstühlen, die ihn hinterhältig verraten hatten, einen bösen Blick zu, ehe er vom Boden aufstand und sich nun vernünftig auf seinen neuen Stuhl sinken ließ. Dann begriff er, was Yuu ihm gerade eben erzählt hatte. „WAS?! Kenichis Onkel? Warum weiß ich nichts davon?“

Yuu seufzte. „Wir haben noch am Montag darüber geredet, wahrscheinlich hast du es unter ‚interessant’ abgestempelt und dann vergessen. Wir fahren alle zusammen in das Ferienhaus, weil es dieses Wochenende frei steht und wir schon länger nichts mehr miteinander unternommen haben. Erinnerst du dich?“

Ja, da war vage etwas in Garas Gedächtnis... Stimmt, sie HATTEN darüber geredet, und er HATTE es als ‚interessant’ abgestempelt und dann vergessen. „Jetzt schon“, antwortete er. „Okay. Alles klar. Das heißt, in anderthalb Stunden muss ich los... schaff ich. Keine Sorge, ich bin rechtzeitig da. Feuerzeuge und Dosenöffner? Das krieg ich hin. Mach dir keine Gedanken, Yuu!“

„.....Okay.“ Yuu klang mehr als skeptisch. „Ich zähl auf dich. Wir sehen uns dann später, bis dann!“

„Bis gleich“, verabschiedete Gara sich von ihm und legte sein Handy anschließend wieder auf den Schreibtisch. Einige Momente starrte er lediglich auf die glatte Holzfläche und genoss die letzten Sekunden Ruhe.

Dann sprang er wie von der Tarantel gestochen auf und begann, hektisch durch die Wohnung zu rennen. „Was braucht man für zwei Tage?“, murmelte er vor sich hin und riss die Türen seines Kleiderschranks auf. „Unterwäsche, Strümpfe, T-Shirts, keine Hose, ich hab ja eine an, irgendwas zum Schlafen, eine Jacke.“ Er warf alles, was er benannte, auf einen großen Haufen, von dem er anschließend die Hälfte wieder aussortierte und danach ein Viertel wieder dazu legte. Mit diesem Haufen an Kleidung stapfte er zurück ins Wohnzimmer, wo er jedoch über einen Karton stolperte und sich beinahe der Länge nach hinlegte, hätte er sich nicht gerade noch am Türrahmen vor sich abstützen können.

So – mehr oder weniger in der Luft hängend – hörte er zum ersten Mal die Geräusche an der Tür. Jemand schien am Türgriff zu rütteln und danach an die Tür zu klopfen, allerdings ganz leise und fast vorsichtig. „Ach, verdammt“, seufzte Gara, ließ sämtliche Kleidungsstücke auf den Boden fallen, richtete sich wieder gerade auf, stieg über die ganze Bagage hinweg und öffnete die Wohnungstür.

Er hatte kaum Zeit zu reagieren, da schoss ein brauner Blitz mit Lichtgeschwindigkeit durch seine Beine und schnurstracks in die Küche. Gara brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was gerade eben passiert war, da hörte er bereits ein Klirren. „Nein!“, rief er verzweifelt und raste in Richtung des Geräusches.

Die Katze, die sich gerade eben unerlaubten Zutritt in seine Wohnung verschafft hatte, saß auf seinem Küchentisch und hatte soeben ein leeres Glas von demselben hinuntergeworfen, sodass der Boden voller Scherben lag. Das Tier selbst war hellbraun mit dunkelbraunen Streifen sowie klaren grauen Augen, die Gara beinahe herausfordernd anschauten. Die Katze saß auf dem Tisch, als gehörte sie dorthin und habe bereits seit Stunden dort gesessen.

„Was soll das?!“, fuhr Gara die Katze aufgebracht an. „Wer bist du überhaupt? Was willst du hier? Verschwinde!“ Vorsichtig trat er auf das Tier zu und wollte es im Nacken packen, allerdings war die Katze schneller und grub seine Klauen kurz in Garas Unterarm, woraufhin dieser schmerzerfüllt nach Luft schnappte und unwillkürlich einen Schritt zurück trat. Genau in eine Glasscherbe hinein. Sein Aufschrei ließ die Katze zusammenzucken, bevor sie die Flucht ergriff und elegant ins Wohnzimmer hopste.

Garas Priorität lag nun darin, erst einmal aus der Küche zu gelangen, und so humpelte er in Richtung Badezimmer, da er sicherlich sein Verbandszeug... noch in den Umzugskartons hatte. Na geil. Seufzend machte er wieder kehrt und ließ sich im Wohnzimmer auf seinen Drehstuhl fallen, bevor er sich die Bescherung an seinem Fuß ansah. Er war in eine relativ große Scherbe getreten, die sich durch seinen Socken in seine Ferse gegraben hatte und verdammt weh tat. Zögerlich berührte er sie, zuckte allerdings sofort zusammen. Er konnte sie sich nicht einfach so herausziehen. Das konnte er doch nicht einfach so machen.

Gara kniff die Augen zusammen, griff nach der Scherbe und zog sie mit einem Ruck aus seinem Fuß. Sein zweiter Aufschrei innerhalb kürzester Zeit war deutlich lauter als der erste. Vor allem, da er aufgrund des Schmerzes beide Hände zu einer Faust geballt hatte – und in einer hielt er nun mal die Glasscherbe. Nun blutete er seinen Boden nicht nur mit seinem Fuß, sondern auch seiner an verschiedenen Stellen geschnittenen und tief geritzten Hand voll. Wann sollte er das wieder sauber machen?

Da fiel es ihm wieder siedend heiß ein: Er musste ja los! Zumindest in knapp anderthalb Stunden. Und bis dahin musste er seine Sachen gepackt haben. Wie sollte er das denn schaffen, bitte? UND zusätzlich musste er die Katze aus seiner Wohnung schmeißen. Wo war sie überhaupt?

Suchend schaute Gara sich um und fand den Störenfried glücklich zusammengerollt auf dem Haufen Kleidung, den Gara eigentlich hatte mitnehmen wollen. Nicht nur das, er hatte sogar selbst auf seine Kleidung geblutet. „Tetsu ist allergisch gegen Viecher wie dich“, knurrte Gara ungehalten. „Das heißt, das kann ich alles direkt in die Wäsche schmeißen und mir neue Sachen suchen. Ganz toll, wirklich ganz toll.“

Er überlegte – was sollte er zuerst tun: Sich verarzten, sich neue Kleidung zusammensuchen oder die Katze rauswerfen? Die Katze hatte definitiv Vorrang, packen konnte er später noch. Nur zuallererst sollte er etwas unternehmen, damit er nicht sein Blut überall in der Wohnung verteilte. Umständlich humpelnd begab er sich in Richtung Badezimmer. Dazu musste er allerdings über die Katze und den Klamottenhaufen steigen. Kaum dass er etwas näher kam, hob die Katze den Kopf und betrachtete ihn mit einer Ruhe, die zweifellos bedrohlich war: Du willst also wirklich hier durch? Hast du dir das auch gut überlegt? Schau doch mal, es wäre für uns beide das Beste, wenn du einfach wieder weggehen würdest.

„Ich muss hier lang“, betonte Gara leise. „Und du wirst mich durchlassen, verstanden? Bleib einfach da liegen, ja?“ Und während er den Blick der Katze erwiderte, stützte er sich am Türrahmen ab, um über das Tier zu klettern. Mit einem Fauchen sanken die Klauen von vier samtweichen Pfoten in die Wade des Fußes, der ohnehin bereits verletzt war. Gara gab sich alle Mühe, nicht hinzufliegen, aber da machte sein Bein nicht mit. Er knickte ein und fiel zu Boden, was die Katze jedoch nicht im Mindesten beeindruckte, also trat er mit seinem (noch) unverletzten Fuß nach ihr. Daraufhin biss sie ihn in einen Zeh.

„Lass mich doch einfach in Ruhe!“, rief Gara entnervt und schüttelte seinen nun nicht mehr unverletzten Fuß, woraufhin die Katze dankenswerterweise von ihm abließ und an ihm vorbei in Richtung Badezimmer sauste. Da wollte er sie nun überhaupt nicht haben, und so warf er sich in einem letzten Versuch, Kontrolle über die Situation zu erlangen, nach vorne und griff nach einem Bein der Katze. Diese wirbelte erneut fauchend herum und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. Mit Krallen, selbstverständlich.
 

Etwa fünf Minuten später hatte Gara sich provisorisch mit Toilettenpapier verbunden; hatte es um seinen Fuß und seine Hand gewickelt und presste sich noch mehr auf seine noch immer blutende Wange. Die Wohnungstür, die er nach der Invasion überhaupt gar nicht erst geschlossen hatte, hatte er nun vollständig geöffnet in der naiven Hoffnung, die Katze würde einfach wieder auf dem Wege verschwinden, auf dem sie aufgetaucht war. Die Katze hatte sich in dem Berg Kleidung zusammengerollt und hineingekuschelt und schien sich keinen Deut für Garas laute Schimpftirade zu interessieren.

„Wenn ich nur wegen dir heute nicht mehr hier wegkann, dann kannst du aber was erleben!“, rief Gara wütend. „Verschwinde doch einfach wieder, hau ab, du bist hier nicht erwünscht, ich dachte, Katzen würden so was merken! Liegt es sich bequem?! Das glaub ich dir, ist schließlich meine Kleidung! Wie kannst du überhaupt so ruhig da liegen, während ich hier rumblute wie ein Schwein! Hast du überhaupt kein Mitleid?? Ich hab noch so viel zu tun, ich hab keine Zeit für-“

Gara brach ab, als es plötzlich an der offenen Wohnungstür klopfte. Etwas außer Atem wandte er sich um und wäre am liebsten im Boden versunken. Einer seiner Nachbarn – wahrscheinlich sogar sein direkter Nachbar – stand im Türrahmen und betrachtete die Szene halb amüsiert, halb besorgt. „Wir haben uns noch nicht allzu oft gesehen, aber kann ich dir trotzdem meine Hilfe anbieten – was auch immer du gerade tust? Du wirkst nämlich, als könntest du Unterstützung gebrauchen.“

„Diese verdammte Katze kommt hier einfach rein, schmeißt ein Glas um, bringt mich dazu, in eine Scherbe zu latschen, zerkratzt mich am gesamten Körper und will einfach nicht wieder weggehen!“, rief Gara und fühlte sich derart verzweifelt, dass er sich kaum mehr Gedanken darüber machte, was der andere wohl von ihm denken mochte. „Hast du irgendeine Ahnung von Katzen? Schaff mir nur dieses Viech hier raus!“

Sein Nachbar, von dem Gara glaubte, dass er Yukki hieß, kam zu ihm herüber und kniete sich vor der Katze hin, die ihn mit wachen Augen betrachtete.

„Ich würde vorsichtig sein“, riet Gara dem anderen hilfsbereit.

Aber Yukki streckte lediglich seine Hand aus und hielt diese der Katze unter die Nase. Das Tier rührte sich erst nicht, dann schnupperte es an Yukkis Hand und maunzte leise, bevor es seinen Kopf an der dargebotenen Hand rieb.

„Opportunistin“, murmelte Gara beleidigt und versuchte, sich so hinzustellen, dass ihm nichts weh tat. Er hatte keinen Erfolg.

„Ich glaube, sie hat nur Hunger“, entgegnete Yukki, während er die Katze behutsam hinter den Ohren kraulte, und schaute dabei zu Gara auf. Da erst schien ihm bewusst zu werden, in was für einem Zustand der andere sich befand, und so langsam bemerkte Yukki auch alle anderen Details: Dass die Katze auf einem blutigen, vollgehaarten Kleidungshaufen lag, dass überall Blut auf dem Boden verteilt war, dass Gara Kratzer im Gesicht und auf dem Arm sowie eine verbundene Hand sowie einen ebenfalls verbundenen Fuß hatte und überhaupt sehr elend aussah. „Ich habe zwar Katzenfutter in meiner Wohnung, aber ich verarzte dich zuerst einmal.“

Gara konnte kaum glauben, dass er der Katze einfach etwas zu fressen hätte geben können, und schüttelte irritiert den Kopf. „Ich würde dir ja jetzt mein Verbandszeug geben, nur habe ich leider nicht die geringste Ahnung, wo es ist“, entgegnete er mit einem Seufzen.

„Ehm... dann gehen wir am Besten direkt zu mir“, beschloss Yukki nickend, stand auf und schlang Gara ohne Vorwarnung einen Arm um die Taille, um ihn zu stützen. Da Gara sowohl physische als auch psychische Unterstützung gerade sehr gut gebrauchen konnte, legte er seinerseits einen Arm um Yukkis Schultern, die überraschend breit waren. Gemeinsam humpelten sie zur Wohnungstür, wo Yukki einmal kurz pfiff. Als hätte sie ihr Leben lang auf nichts anderes gehört, stand die Katze auf und folgte ihnen mit beschwingtem Schritt. „Dann erzähl mir doch erst einmal, wie es zu diesem Chaos in der Wohnung gekommen ist“, bat Yukki, als er Garas Wohnungstür schloss.

Und Gara dachte nur: Ich hab keinen Schlüssel mit! Dann: Jetzt ist auch alles egal. Und dann: Hm, er riecht gut.
 

~~~
 

„Wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten hier ist-“, beschwerte Tetsu sich und lief ungeduldig auf und ab, während die anderen darüber scherzten, was den Fünften im Bunde wohl dieses Mal wieder aufgehalten haben könnte.

Als allerdings Yuus Handy klingelte, wurden bedeutungsvolle Blicke ausgetauscht. „Gara?“

„Ja, ja, hallo. Wie geht’s?“, meldete der andere sich, zerstreut klingend.

Yuu runzelte die Stirn. „Ehm, gut. Was ist, kommst du jetzt oder nicht?“

„Errr, nicht jetzt, nein. Vielleicht später, vielleicht komm ich nach.“

„Nachkommen?“, wiederholte Yuu ungläubig. „Wie willst du das denn machen, du hast überhaupt kein Auto!“

„Na ja, ich habe jemanden, der mich vielleicht fährt. Also, ganz sicher fährt, aber ich will ihn hinterher nicht wieder zurückschicken, weißt du, und ich weiß nicht, ob ihr alle damit, also, ob das kein Problem ist und so.“

Yuu musste sich an die Stirn fassen. „Gara, ist alles okay mit dir?“

„Mir geht’s super. Ich meine, ich kann nicht mehr laufen, was nicht nur mit der Scherbe zusammen hängt, die vor anderthalb Stunden noch in meinem Fuß steckte, aber ansonsten geht’s mir blendend. Blendend, Yuu.“

„Ist er betrunken?“, flüsterte Kenichi, der sich zu Yuu gelehnt und einen Teil des Gesprächs mitgehört hatte.

„Ach ja, und so leid es mir tut, Tetsu wird wohl nicht mehr in meine Wohnung kommen können, ich habe nämlich ab heute ein Haustier. Eine Katze. Ich glaube, ich nenne sie Yuki. Ihr könnt übrigens schon ohne mich fahren, vielleicht komme ich später nach.“

Yuu und Kenichi schauten sich verständnislos an.
 

~*~



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Mado-chan
2011-10-17T19:06:23+00:00 17.10.2011 21:06
Oh man, warum sind hier eigentlich keine Kommentare und warum finde ich diese FF erst JETZT?
Fragen über Fragen.
Ich liebe ja deine FF´s und ich glaub du bist auch die Einzige die Haku x Rose FF´s schreiben kann,will und darf, weil es sonst niemand so gut hinbekommt.
DIESE FF also die Loki-Reihe war...Fantastisch! Mehr kann ich nicht sagen.
So jetzt hab ich aber genug gelobt und muss ncoh lernen XD
LG
Mado
PS: Ich mag Aie *-* XD er hat nen tollen Charakter
Von:  AndySixx
2010-09-12T13:36:38+00:00 12.09.2010 15:36
Unglaublich~
ich muss echt gestehen das es zwar ein wenig schwierig war der geschichte zu folgen und dann noch den Zusammenhang zwischen den Kapiteln zu finden. Aber deine Art zu schreiben beeindruckt mich wirklich. Nur..
ein frage hab ich. Zu >ende< scheint die Ff ja nicht wirklich zu sein oder?
Und wieso kommt Aie zweimal vor? oder bilde ich mir das nur ein?
Wäre nett wenn ich meine Fragen beantwortet bekommen würde.^^

Im großen und ganzen mag ich deine Ff echt gerne. Obwohl du mich ein wenig mit Odin und Loki verwirrt hast. xD
Von:  Tattoo
2009-12-07T05:16:49+00:00 07.12.2009 06:16
knuffiiiig~~ ^^ daisuke hörte aber selbst kaum hin und hat eher ein selbstgespräch geführt, also kann er sich eigentlich nicht beschweren – der titel passt wirklich gut ;D
die vertrautheit der beiden fand ich am schönsten, und wie ernst daisuke über inspiration etc gesprochen hat~
hoffe es stört dich nicht allzu sehr, wenn ich wie letztes jahr einfach wieder meine doc-kommentare hier reinposte, anstatt neue aus meinem leeren schädel zu kratzen~ ^^'
bis zum nächsten türchen! <3


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