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24 Days

Ein Adventskalender, ursprünglich für Tattoo, nun zugänglich für alle!
von

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07.12. Loki, Scene 5: Acedia

Der fünfte und letzte Teil der Loki-Serie, gebeta'd und officially approved von meiner Beta-Göttin Tattoo! <3
 

~*~
 

Jede Nacht schaute ich wieder und wieder in diesen Abgrund, dargestellt durch einen Pistolenlauf. Jede Nacht hörte ich diese Stimme: ‚Schau mich gut an. Ich bin das Letzte, was du noch sehen wirst.’ Jede Nacht hörte ich den darauffolgenden Schuss.

Es war nicht das Letzte, was ich noch sah, glücklicherweise, und dennoch war es der Anblick, der sich unwiderruflich auf meiner Netzhaut eingebrannt hatte. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich mich dieser Fratze aus purem Hass gegenüber; es war ein Monster, das ich zwar nicht geboren, aber doch gesäugt, genährt und ihm den Rücken zugedreht hatte, darauf vertrauend, dass es mir weiterhin gehorchte.

Ich hatte die Koreaner genutzt, selbstverständlich, die Feindlichkeit ihnen gegenüber saß tief verwurzelt in Loki, und ich hatte mich vorhandenen Gegebenheiten einfach bedient, darauf hoffend, nein, ich war davon AUSGEGANGEN, dass es immer so bleiben würde: Die Bürger Lokis, deren Zustimmung ich nötig hatte, um ungestört regieren zu können, verachteten die Koreaner, und die Koreaner ließen dies mit sich machen, da sie wussten, dass sie ohnehin nichts daran ändern konnten. Ich schürte den Rassismus, da ich dadurch noch beliebter wurde. Glaubte ich zumindest.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war Ji Hoon. Ich hatte die Rechnung ohne diesen aufsässigen Dorn im Auge gemacht, und da er sich ausgeschlossen fühlte, tat er alles, um sich in mein Bewusstsein zu drängen. Mit großem Erfolg.

Kaum hatte ich mein Amt übernommen, wurde der Polizeichef ermordet. Und das war erst der Anfang einer Reihe unzähliger Anschläge, denen glücklicherweise nicht ich, sondern andere zum Opfer fielen. Minister, andere Abgeordnete, Polizisten, sonstige Mitglieder der Regierung. An mich traute man sich wohl noch nicht heran, was allerdings durchaus daran liegen konnte, dass ich mich stets mit etlichen Bodyguards umgab. Ich genoss zwar das Regieren, aber lebensmüde war ich schließlich nicht.

Und dann, als ich glaubte, der Schlange den Kopf abgeschlagen zu haben, musste ich feststellen, dass sogleich ein zweiter nachwuchs, der nicht nur beißen, sondern auch Gift verspritzen konnte. Ich war mir über die Gefährlichkeit der Ji-Hoon-Bande ohne Ji Hoon nicht im Klaren gewesen – es waren schließlich nur Jugendliche, die irgendeinem mehr oder weniger charismatischen Kerl hinterher gelaufen waren. Mehr nicht.

Mehr nicht.

‚Schau mich gut an.’

Ich wusste nicht, wie die anderen Mitglieder der Bande drauf waren, aber wenn sie auch nur annähernd die Wut dieses einen Jugendlichen besaßen, dann hatte ich sehr, sehr großes Glück gehabt, dass Odin so ‚früh’ gekommen war. Wären die Jungspunde nicht sogar aus ihren eigenen Reihen heraus sabotiert worden, könnte ich mir inzwischen die Radieschen von unten ansehen.

Ich hatte versagt. Das wusste ich inzwischen, ich hatte auf voller Linie versagt, weil ich ignoranter, arroganter Idiot den Hass derer unterschätzt hatte, die seit Jahrzehnten misshandelt, angefeindet und kaum mehr als toleriert wurden. So wie mir war es etlichen anderen Herrschern gegangen – auch, wenn man mit der Unterstützung der Mehrheit regierte, es gab immer Randgruppen, die man zumindest im Auge behalten sollte.
 

Noch am selben traumatisierenden Tag hatte ich Besuch von Aie bekommen. Er hatte sich vor meine lediglich durch eine Gittertür geschützte Zelle gestellt, die Hände in die Hosentaschen geschoben und mich schweigend angesehen. Meine Verletzung, die Schusswunde an meiner Schulter, war versorgt worden, aber es war mir trotzdem untersagt, in ein Krankenhaus zu kommen, bevor ich nicht verhört worden war. Nicht, dass sich irgendjemand für mich zu beeilen schien.

„Sieht wohl so aus, als hätte ich denjenigen gefunden, der am Ende des Spiels noch den Schwarzen Peter in der Hand hält und dem man erst einmal erklären muss, dass er dadurch verloren hat“, bemerkte Aie. Sein Tonfall war nicht einmal allzu spöttisch, aber dennoch schmerzte jedes seiner Worte in gewisser Weise. „Ich habe meinen rechtzeitig abgegeben“, fügte er hinzu, dann wandte er sich ab und verschwand wieder.

Bedeutete das etwa, dass er freigesprochen wurde? Es sah wohl so aus – als ich den Polizeibeamten zwei Stunden später nach Aie fragte, wurde mir bestätigt, dass er freigelassen wurde, weil er alles abgestritten hatte, was man ihm vorwarf. Ihm konnte man schließlich nichts nachweisen. Ich dagegen hatte nur allzu deutliche Spuren hinterlassen, weil ich nie damit gerechnet hatte, jemals erwischt zu werden.
 

Die StarDust-Affäre erregte eine riesige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Aie kam regelmäßig vorbei und brachte mir Zeitungen mit, damit ich auch erfuhr, was über mich geschrieben wurde. ‚Schockierend!’, schrieben manche, ‚Kaum zu glauben!’ ‚Jeder Bürgermeister hatte Dreck am Stecken, aber diese Geschichte ist ohne Beispiel!’ Wäre es alles nicht so traurig gewesen, hätte ich mich darüber amüsieren können.

Ich hatte führende Wissenschaftler Lokis vor sechs Jahren, gleich nach meinem Amtsantritt, beauftragt, eine neue Droge zu entwickeln, die so zerstörerisch wie süchtig machend ist, und unterstützte die Forschungen mit dicken Subventionen, die mir öffentlich hoch angerechnet wurden – endlich mal ein Bürgermeister, der sich für Naturwissenschaften interessiert! Dass ich dafür die Gefängnisse vernachlässigte, stieß kaum auf Kritik. Hätten die Leute gewusst, wofür ihr hart verdientes und an den Staat in Form von Steuern gezahltes Geld wirklich verwendet wurde, dann wären sie sicherlich nicht so enthusiastisch gewesen.

Das Ergebnis der Forschungen war nach etwa einem halben Jahr ein Pulver, das man schmelzen und sich spritzen, sniefen, oder sich einfach auf der Zunge zergehen lassen konnte. Es schmeckte ein kleines bisschen nach Seifenlauge, aber die Besonderheit war, dass es auch nur mit ein wenig Licht glitzerte wie die Sterne am Himmel. In einem meiner wenigen (oder wenig, wie man’s nimmt) kreativen Momente taufte ich die Droge StarDust und sandte einige Kontakte aus der Unterwelt aus, mir mögliche Abnehmer zu besorgen. Viele waren zunächst skeptisch – neuer Stoff verkaufte sich nicht so gut, da die Nebenwirkungen oder auch die Wirkungen noch nicht bekannt waren.

Und dann begann die Welle. Während meines zweiten Amtsjahres begann das Geschäft mit StarDust zu boomen – ich bekam definitiv dreifach so viel Geld in meine Haushaltskasse wie ich für die Reproduktion des Stoffs benötigte, zwischendurch sogar das Fünffache. Geld klingelte in allen Kassen, ich konnte mir einiges davon in meine eigenen Taschen stecken und investierte viel vom Rest in andere Projekte.

Beispielsweise YouFap, das vor fünf Jahren noch als eine der großen und innovativen Errungenschaften Lokis galt. Ich hatte den ersten kostenlosen öffentlich zugänglichen Pornosender erschaffen, der sicherlich viele Kinder aufgeklärt, viele Paare inspiriert und viele Alleinstehende getröstet hatte. Viele andere Städte hatten mich dafür gerügt, doch Odin ließ es mir noch einmal durchgehen. Außerdem bekam ich das Gefühl, dass viele andere auch nur neidisch waren. Zudem verschaffte ich vielen angehenden Schauspielern die Möglichkeit, durch YouFap berühmt zu werden. Im Internet bildeten sich unzählige Foren, wo die einzelnen Darsteller und Darstellerinnen bewertet wurden. Als allerdings Stimmen laut würden, ich sei homophob, weil ich gleichgeschlechtliche Pornos nicht zeigen würde, ging ich auf diese Kritik ein und ließ zwischendurch immer mal wieder abwechselnd Lesben- und Schwulenpornos ausstrahlen. Was ergaben Umfragen anschließend? Die meisten Frauen schauten sich die Schwulenpornos am liebsten an und umgekehrt.

In was für einer kranken Stadt lebte ich überhaupt?

StarDust hielt sich bis heute, und es wird sich sicherlich noch weiterhin verbreiten, da war ich mir sicher. Einige Wissenschaftler hatten die Zusammensetzung der Droge sicherlich schon weiterverkauft, darauf konnte ich wetten. Ich fragte mich nur, wie die zukünftige Regierung Lokis sich finanzieren wollte – Steuern gab es dank Steuerhinterziehern und nicht registrierten Einwohnern definitiv zu wenig. Sie waren sich wahrscheinlich nicht darüber im Klaren, dass beinahe alles, was in Loki die letzten Jahre gebaut worden war, mit Drogengeld finanziert wurde.
 

Mein Prozess verlief vergleichsweise ereignislos. Die Presse wühlte in meinem Privatleben herum, was das Zeug hielt, fand heraus, dass ich ‚heimlich’ (also nicht offiziell) verlobt gewesen war, dass meine Eltern mich mit sechzehn Jahren rausgeworfen hatten, dass ich schon früher Koreaner verprügelt hatte und so weiter. Als jedoch sämtlicher Dreck hervorgeholt, einmal in der Runde bestaunt und anschließend wieder verstaut worden war, wurde ich uninteressant. Der neue Star hieß Ji Hoon. Er schrieb ein Buch, über sein Leben sollte ein Film gedreht werden, jeder seiner Prozesstage wurde begeistert von der Öffentlichkeit mitverfolgt, und die Leute nahmen zum allerersten Mal Anteil am Schicksal der Koreaner in Loki.

Ich musste zugeben, dass Ji Hoon mit seinen Verbrechen anders als andere Straftäter umging. Er rechtfertigte sie nicht, sondern erklärte sie, er distanzierte sich nicht, sondern beschrieb die Umstände, die dazu geführt hatten und wie er sich dabei gefühlt hatte. Er stellte sich weder als bemitleidenswertes Opfer der harten Realität Lokis dar noch als Freiheitskämpfer ohnegleichen. Nein, er berichtete einfach und schlicht und führte den Bürgern Lokis dadurch ihren Rassismus, ihre Intoleranz und ihre Ignoranz noch deutlicher vor Augen als es jemals auf andere Weise hätte geschehen können. Es war, als wachte Loki langsam aus einem Schlaf auf.

Trotzdem würde Ji Hoon für mich bis ans Ende meines Lebens ein Knoblauchfresser bleiben.

Mein Strafmaß – fünfundzwanzig Jahre – überraschte niemanden, und so war die Verkündung desselbigen auch nichts, was mich in den Medien wieder sonderlich präsent gemacht hätte. Nein, ich wurde langsam vergessen, während ich in dem Gefängnis, in dem der Rachefeldzug der Koreaner begonnen und beendet worden war, langsam vor mich hin siechte. Ich bekam kaum Besuch, abgesehen von Aie, den ich kaum noch bewusst wahr nahm. Er saß immer vor meiner Gittertür und brachte mir Zeitungen, erzählte mir von Beschlüssen der Regierung, wie Miya und Ju-ken sich machten und von allem anderen, was ich verpasste, während ich vergessen wurde und vergaß.

Nach etwa anderthalb Monaten wurde ich nachts durch ein metallenes Geräusch geweckt. Ich schlug die Augen auf und erkannte die beiden Gestalten, die vor meiner vergitterten Tür standen, auf der Stelle. Selbst nachts war es im Gefängnis nicht richtig dunkel, sondern immer noch so hell, dass man problemlos Gesichter erkennen konnte. Vor meiner Tür standen einmal der Jugendliche, der mich wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens traumatisiert hatte, und jemand, von dem ich niemals gedacht hätte, dass ich Probleme mit ihm bekommen würde: Rose und Hakuei. Sie sahen etwas anders aus als ich sie in Erinnerung hatte, Roses Haare waren weißblond und Hakueis, wie es aussah, pink.

„Ich dreh schon bei einem Monat fast durch“, flüsterte Rose mir zu und winkte fröhlich durch das Gitter. „Ich will mir nicht vorstellen, wie es bei fünfundzwanzig Jahren aussieht. Dann bist du über fünfzig. Sind ja echt... rosige Aussichten.“ Das brachte ihn selbst zum Kichern. „Ich würde dir eigentlich gerne noch etwas Gemeines zum Abschied sagen, aber ich hoffe einfach, dass ich dir in deinen Träumen noch länger erhalten bleibe. Schau dir mein Gesicht noch einmal gut an, das wird das Schönste sein, was du in den nächsten fünfundzwanzig Jahren zu sehen bekommst.“ Er winkte erneut und dann waren sie beide verschwunden. Ich konnte nur ahnen, wohin sie gingen.

Und Hakuei hatte nicht einmal ein einziges Wort für mich übrig gehabt – er war einer meiner treuesten Dealer gewesen, hatte teilweise über fünf Kilo StarDust in einer Woche vertreiben können. Er war mit dem Herzen und der Seele dabei gewesen. Rose musste irgendwie in sein Gehirn gekrochen sein und ihn manipuliert haben, anders konnte ich mir seinen Sinneswandel nicht erklären.
 

Ich hatte immer geglaubt, ich wäre stark, aber das Gefängnis lehrte mich genau das Gegenteil. Ich hatte Menschenleben mit einem Satz auslöschen können, hatte Loki mit einer Droge verseucht, hatte aus Pornografie Profit geschlagen. Aber ich überstand keine zwei Monate in einem normalen Gefängnis unbeschadet.

Meine Alpträume wurden immer häufiger. Besonders nach diesem nächtlichen Besuch träumte ich immer häufiger von Rose, von diesem Pistolenlauf, und die Details wurden immer genauer. Ich sah wieder die beiden Leichen meiner Bodyguards weiter entfernt im Gang liegen, die Rose ohne zu zögern niedergeschossen hatte. Beim nächsten Mal kam Hakuei dazu, wie er unglücklich das Geschehen betrachtete, allerdings keine Anstalten machte, einzugreifen. Ich erinnerte mich an die Schmerzen in meiner Schulter, an Roses eigene Schusswunde, an die anderen Zuschauer, an Aie... An Aie?

Da erst fiel mir auf, dass Aie während der gesamten Zeit, die ich bereits absaß, vielleicht jeden zweiten Tag vorbei gekommen war. Mittlerweile unterhielt er sich nur noch mit mir, wenn es etwas Besonderes zu erzählen gab, und brachte mir ansonsten lediglich die Zeitung vorbei, aber er war ständig da. Sollte er nicht froh sein, dass er mich endlich los war? Ich hatte mit ihm gespielt, ich hatte ihn ausgenutzt, hatte seine Sucht nach Macht und auch seine Sucht nach mir ausgenutzt. Natürlich, ich hatte ihm sehr viel Macht gewährt, hatte mich von ihm in bestimmte Bahnen lenken lassen, aber ich war doch definitiv derjenige gewesen, der von unserer Beziehung am meisten Profit herausschlug. Sonst hätte ich ihn überhaupt nicht bei mir behalten.

Oh ja, wenn Aie auch machtsüchtig war, ich war doch befallen von einer viel schlimmeren Form: Ich war süchtig nach mehr. Ich hatte mein gesamtes Leben lang schon immer mehr gewollt. Hielt mir jemand einen Finger hin, nahm ich die gesamte Hand, kümmerte sich jemand um mich, ließ ich mich durchfüttern, und wenn ich satt war, beraubte ich ihn sämtlicher Dinge, die er besaß, bot mir jemand seine Hilfe an, nahm ich sie dankend an, ohne ihn einen Tag später auch nur zu begrüßen oder ihm überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich war schon immer skrupellos, egoistisch und besessen von Materiellem gewesen. Besaß ich das eine Auto, begehrte ich das etwas Bessere, wohnte ich in einer Suite, erschienen mir die anderen immer luxuriöser, war ich Bürgermeister, wollte ich die gesamte Stadt BESITZEN und beherrschen. Ich war jemand, der immer nach vorne lief, ohne zurückzusehen, ohne stehen zu bleiben und festzustellen, wie weit ich gekommen war. Wahrscheinlich rannte ich die gesamte Zeit auf der Stelle und fühlte mich, als käme ich mit Riesenschritten voran – weil ich mich nicht traute, nachzuprüfen, wie weit ich von meinem Ausgangsort entfernt war.

In der nächsten Nacht träumte ich davon, wie Aie versuchte, Rose aufzuhalten.
 

„Guten Morgen“, begrüßte der Rothaarige mich, ließ die Zeitung in meine Zelle fallen und wollte sich bereits abwenden. In letzter Zeit war er sehr einsilbig geworden, sodass ich überlegt hatte, ob er zu Beginn nur deshalb gekommen war, um sich über mich lustig zu machen und mir hämisch zu zeigen, dass er ein Leben in Freiheit genießen konnte, und inzwischen mehr oder weniger das Interesse an mir verloren hatte. Aber warum kam er trotzdem?

„Aie“, sprach ich seinen Namen seit Wochen zum ersten Mal wieder aus. Eine Möglichkeit dafür, dass er sich kaum noch mit mir unterhielt, könnte sein, weil ich ihm kaum antwortete, musste ich mir in dem Moment eingestehen. Es funktionierte zumindest: Er blieb stehen und sah mich halb erwartungsvoll, halb überrascht an. Wie hatte ich ihn behandelt, wenn es ihn erstaunte, dass ich ihn ansprach? „Ich... träume immer von Rose“, begann ich und runzelte innerlich die Stirn. Das wollte ich eigentlich nicht aussagen. Ein paar Wochen ohne viel menschliche Kontakte, und ich verlernte sämtliche Regeln einer normalen Kommunikation. „Ich meine, ich träume von dir.“

Er schien nicht so recht zu begreifen, worauf ich hinaus wollte, was ich ihm nicht verübelte. „Das ist nicht ganz das Gleiche“, bemerkte er zögerlich.

Ich seufzte leise. Gott, war das schwer. „Was ich wissen wollte... warum hast du an dem einen Tag versucht, Rose aufzuhalten? Du wärst fast dazwischen gegangen. Hättest du nicht froh darüber gewesen sein sollen, wenn ich...“

Daraufhin lehnte Aie sich an das Gitter und musterte mich, nun wieder mit ernstem Gesichtsausdruck. „Natürlich wäre ich froh gewesen“, antwortete er leichthin. „Aber du warst nun einmal mein Boss. Ich habe nur das getan, was von einem Angestellten erwarten werden kann. Nicht mehr.“ Dann ließ er noch ein ironisches Lächeln sehen, bevor er wieder ging.

Das, was von einem Angestellten erwartet werden konnte? Dass er sein Leben einsetzte, um seinen Boss zu retten? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Vor allem war es abwegig für mich, dass Aie versuchen sollte, mich zu retten, wenn er froh darüber gewesen wäre, würde ich nicht mehr am Leben sein.
 

Meine Alpträume blieben noch etwa einen Monat, bis ich zum ersten Mal davon träumte, dass Aie es tatsächlich schaffte, Rose aufzuhalten. Wie es weiterging, wusste ich nicht mehr, was ich nur noch wusste, war, dass ich plötzlich eine Hand auf meinem Gesicht hatte. Ich schreckte aus dem Traum auf und saß mit einem Ruck aufrecht, als ich registrierte, dass jemand neben meinem Bett kniete.

„Wieder ein Alptraum?“, wollte Aie wissen und betrachtete mich interessiert.

„Was um alles in der Welt machst du hier?!“, fauchte ich leise. „Wie kommst du hier rein?“

„Seit wann hast du angefangen, dich hier so heimisch zu fühlen, Wataru? Du klingst, als wäre ich unberechtigterweise in deine Wohnung eingedrungen.“

Als ich mir eingestand, dass Aie durchaus Recht hatte, sank ich wieder zurück auf mein Kissen und atmete einmal tief durch. Mein Herz schlug noch wie wild von dem Traum und ich war ohnehin etwas desorientiert, wenn man mich plötzlich aus dem Schlaf riss. „Nein, heimisch fühle ich mich ganz und gar nicht. Es ist die Hölle. Aber was machst du hier?“

„Ich dachte mir, ich komme dich mal mitten in der Nacht besuchen“, entgegnete er schulterzuckend und mit einem leichten Lächeln im Gesicht, das ich in den letzten Tagen oft bei ihm vermisst hatte.

Ungläubig starrte ich ihn an. Das erklärte immer noch nicht, wie er in die Zelle gekommen war, was allerdings nebensächlich war. Ich begriff nämlich soeben, weshalb Aie seit knapp drei Monaten jeden zweiten Tag bei mir aufkreuzte, weshalb er mich retten wollte, weshalb er jetzt gerade hier kniete und mich anlächelte. Mir fiel nur das Wort Hingabe ein, da das andere Wort noch niemals in meinem gesamten Leben Platz gehabt hatte und auch niemals haben würde, da ich einfach nicht daran glaubte. Aber Hingabe, damit konnte ich mich anfreunden, Hingabe lag in allen Blicken, in allen Taten seinerseits. Er hatte sich mir die ganze Zeit hingegeben, und ich hatte es einfach nicht bemerkt.

Mit einer Hand strich ich über seine Wange, durch seine Haare, während er mich einfach nur regungslos ansah, und dann zog ich ihn etwas zu mir, um ihn zu küssen. Zuerst war es ein vorsichtiger, testender Kuss, beinahe unschuldig, aber als Aie ein leises, fast schon verlangendes Geräusch von sich gab, konnte ich mich nicht mehr halten. Ich klammerte mich an ihn und küsste ihn wie ein Verdurstender, wie jemand, der seit drei Monaten im Gefängnis saß und nicht einmal eine vernünftige Unterhaltung geführt hatte, geschweige denn zwischenmenschliche Beziehungen hatte pflegen können. Es tat unheimlich gut, nur zu spüren, dass ich doch nicht vergessen war, dass jemand die ganze Zeit an mich gedacht hatte. Ich brauchte mehr davon.

Als wir auseinander brachen, beide nach Atem ringend, bedeutete ich ihm beinahe gereizt, aufzustehen, und zog ihn sofort zu mir auf das Bett, schlang beide Arme um ihn und presste ihn so eng wie nur möglich an meinen eigenen Körper. War einmal das Verlangen in mir erweckt, bekam ich es nur schwer unter Kontrolle, und ich dürstete nach seinen Berührungen, als bräuchte ich sie zum Leben. Aie konnte sich ebenfalls kaum beherrschen, trat ungeduldig die störende Bettdecke zwischen uns ans Fußende und fuhr gleich mit beiden Händen unter mein Schlafanzugoberteil. Seine warmen Hände auf meiner Haut setzten mich in Brand, und ich fragte mich, wie ich die letzten drei Monate ausgehalten hatte, geschweige denn die letzten sechs Jahre.

Ich öffnete seine Hose, und dieses Mal ließ er mich gewähren, dann sein Hemd und warf alle Kleidungsstücke von ihm und von mir achtlos auf den Boden, sie sollten nur weg. Unsere Küsse wurden immer fahriger, immer leidenschaftlicher und immer inniger, während ich ihn auf den Rücken drehte und mich gleich an seinem Hinterteil zu schaffen machte. Als ich kurz darauf in ihn drang, wurde mir fast schwarz vor Augen, so dermaßen eng war er und so heiß. Vollständig in ihm, hielt ich inne und schnappte nach Luft, ehe ich den Atem anhielt und es wagte, in sein Gesicht zu sehen. Im Halbdunkel der Zelle konnte ich Aies geöffnete, schimmernden Augen erkennen, die direkt auf meinen lagen, seine erwartungsvoll geöffneten Lippen, seine genussvolle Miene. Und während er beide Hände auf meinen eigenen Hintern legte, verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen.

In dem Moment verlor ich den Kampf gegen meinen ersten Orgasmus. Ich musste die Augen schließen, während eine Gänsehaut meinen gesamten Körper überzog. Als sich meine Augen wieder öffneten, hatte Aie eine Augenbraue hochgezogen.

„Ich hätte mehr von dir erwartet“, bemerkte er, musste dann jedoch wieder grinsen.

„Warte einen Moment und sei ruhig“, murmelte ich.

„Ich habe alle Zeit der Welt...“ Aie zog mich wieder zu sich herunter und leckte über meine Lippen, spielte mit meiner Zunge, bis ich zum ersten Mal richtig in ihn stieß, was er mit einem leisen Stöhnen beantwortete. Warum hatte ich nur so lange gewartet?
 

Aie saß zwischen meinen Beinen und zündete eine seiner mitgebrachten Zigaretten an, ehe er sich wieder an meine nackte Brust lehnte und ich beide Arme um ihn schlang. „Was meinst du, warum ich ausgerechnet heute Nacht hergekommen bin?“, wollte er wissen.

„Weil du so unbedingt mit mir ins Bett wolltest“, schnurrte ich und knabberte an seinem Ohr, woraufhin er seinen Kopf von mir weg lehnte, mir aber über die Schulter ein Lächeln zuwarf.

„Abgesehen davon.“

„Du hast mir die Frage immer noch nicht beantwortet, wie du hier reingekommen bist“, fiel mir ein.

„Der Pförtner kennt mich“, begann Aie langsam. „Ich habe aber heute, als ich hergekommen bin, gehustet, einen Mundschutz getragen und ihm knapp erklärt, dass ich mich wohl erkältet habe. Dann habe ich ihm klargemacht, dass ich um diese Uhrzeit herkomme und wahrscheinlich etwas länger bleibe, weil ich noch etwas mit dir ‚abzurechnen’ habe. Er hatte Verständnis dafür und hat mir den Schlüssel zu deiner Zelle gegeben. Dann habe ich den Wachen das Gleiche erklärt und sie gebeten, dass sie die ganze Nacht nicht hier patrouillieren. Sie meinten, dass sie dir auch gerne mal eine reinhauen würden, aber Angst hätten, dass es auffliegt.“

Aie beeindruckte mich immer wieder. Wahrscheinlich hatte er die letzten drei Monate genutzt, sich mit dem Pförtner und allen Wärtern bekannt zu machen, um sicher zu gehen, dass alles glatt verlief. Aber er konnte doch nicht nur dafür, ein einziges Mal...?

„Ich habe dir eine Perücke mitgebracht, du musst nur noch den Schlüssel beim Pförtner wieder abgeben und kannst vorne rausspazieren“, beendete Aie seine Ausführungen und schob mir seine Zigarette zwischen die Lippen.

Ich war derart überrascht, dass ich instinktiv einatmete, jedoch sofort anfing zu husten. „Was... was?“, stieß ich mühsam hervor. „Aber... was machst du?“

Aie zog nun selbst an seiner Zigarette, die Ruhe selbst. „Ich“, fing er bedeutsam an, „ziehe deinen Schlafanzug an und leg mich erst mal hin, weil ich ziemlich müde bin. Und wenn die Wärter dich morgen früh wecken wollen, müssen sie leider feststellen, dass du rote Haare und ein frecheres Grinsen bekommen hast.“

Dann würde nur Aie tatsächlich verhaftet werden – wenn er mir zur Flucht verhalf, würde er sicherlich auch einige Jahre sitzen müssen. „Ich hol dich hier raus“, sagte ich leise.

Er sah mich über seine Schulter hinweg an. „Ich weiß“, antwortete er beinahe schnippisch.

Unter anderen Umständen hätte ich mich nicht darum gekümmert, meinetwegen hätte Aie im Gefängnis versauern können. Aber unter anderen Umständen hätten wir auch nicht miteinander geschlafen, und ganz bestimmt nicht SO. Also stand ich auf und klaubte Aies Kleidung zusammen, zog mich Stück für Stück an, bis ich mich schließlich fühlte wie er. Es war ein angenehmes Gefühl, und seine Kleidung roch nach ihm. „Aie, ich...“ Ich fand keine passenden Worte, um ihm zu danken, und er winkte lediglich ab.

„Ich habe nur das getan, was von einem guten Angestellten erwartet werden kann“, stellte er schulterzuckend fest.
 

Als ich eine Viertelstunde später auf dem Parkplatz des Gefängnisses stand und die Nachtluft einatmete, als wäre es das Leckerste, was ich je in meinem Leben geschmeckt hatte, fiel mir auf, weshalb ich mich so seltsam fühlte: Ich war zufrieden.

Zum allerersten Mal in meinem Leben war ich mit dem zufrieden, was ich besaß, zum ersten Mal wollte ich nicht MEHR.

Ich hatte meine Freiheit wieder, ich hatte die Versicherung, dass es zumindest eine Person gab, die an mich dachte, und ich hatte dieser Person das Versprechen gegeben, sie im Gegenzug zu meiner Rettung ebenfalls zu retten. Das war zwar ein nicht allzu leichtes Ziel, aber es war ein ZIEL, etwas, auf das ich hinarbeitete und bei dem ich glücklich war, wenn ich es erreicht hatte. Es war kein unstillbares Verlangen, das immer weitere Kreise ziehen würde. Ich hatte endlich Aie. Wenn ich ihn erst wiederhatte, könnte ich all mein Verlangen auf ihn lenken, ich war mir sicher, dass er sich darüber nicht beschweren würde.

Doch daran dachte ich noch nicht, ich fühlte nur in mein Herz hinein und erspürte bittere Zufriedenheit. Zufriedenheit über meinen jetzigen Zustand; bitter war sie deshalb, weil ich dabei noch an meine Vergangenheit denken musste. Ich hatte viel Mist gebaut, das war mir auch vorher klar gewesen, aber niemals hatte ich dieses Bewusstsein über meine Fehler einfach zugelassen.

Und dennoch war es, als hätte ich meinen inneren Frieden gefunden. Ich dachte unwillkürlich an Ji Hoon und verspürte keinen Hass mehr, keine Ablehnung. Ich erinnerte mich daran, was er den Zeitungen erzählt hatte: Dass er gelernt hatte zu bereuen. Jetzt konnte ich verstehen, was er meinte.

Ich wusste, dass ich diese Nacht keinen Alptraum mehr haben würde.
 

~*~
 

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Vielleicht arbeite ich das Ganze noch etwas mehr aus, da ich das hier sehr unter Zeitdruck (jeweils 1 Tag vorher |D) hingekritzelt habe ^^



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Mado-chan
2011-10-17T19:06:23+00:00 17.10.2011 21:06
Oh man, warum sind hier eigentlich keine Kommentare und warum finde ich diese FF erst JETZT?
Fragen über Fragen.
Ich liebe ja deine FF´s und ich glaub du bist auch die Einzige die Haku x Rose FF´s schreiben kann,will und darf, weil es sonst niemand so gut hinbekommt.
DIESE FF also die Loki-Reihe war...Fantastisch! Mehr kann ich nicht sagen.
So jetzt hab ich aber genug gelobt und muss ncoh lernen XD
LG
Mado
PS: Ich mag Aie *-* XD er hat nen tollen Charakter


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