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24 Days

Ein Adventskalender, ursprünglich für Tattoo, nun zugänglich für alle!
von

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06.12. Loki, Scene 4: Pride

Der vierte und vorletzte Teil - hier kommt der Showdown!
 

~*~
 

Die Ji-Hoon-Gruppe hatte sich am Abend der Befreiung noch ein letztes Mal zusammengefunden. Anwesend war nicht nur der harte Kern der Vereinigung, bestehend aus Rose, Hakuei, Typhoon, Attack, X-mas und Jae Wook, sondern auch andere Mitglieder, die hauptsächlich ebenfalls gesucht und deshalb in den Plan eingeweiht wurden, weil auch sie eine Rolle bei der morgigen Aktion spielen sollten. Bei diesem riskanten Unterfangen konnte Rose sämtliche Unterstützung gebrauchen, die er bekam.

Ju-ken war auch da, hielt sich jedoch eher im Hintergrund. Er hatte zwar die Pläne des Hauptgefängnisses Lokis besorgt, indem er sich etliche Male dort umgesehen hatte und einmal nachts eingebrochen war, allerdings wollte er sich aus der aktiven Befreiung eher heraushalten. Seitdem er gesehen hatte, was problemlos mit seinem engen Freund und Verbündeten Yukki angestellt werden konnte, war Ju-ken etwas vorsichtiger geworden. Nicht, dass er feige war, allerdings hatte Rose ihm auch befohlen, sich rauszuhalten, da Loki starke Anführer brauchte, wenn ‚die Krise’ überwunden war. (Mit der ‚Krise’ war selbstverständlich Wataru gemeint.) Er hatte sogar impliziert, dass Ju-ken Yukkis Position an Miyas Seite einnehmen könnte, aber dazu hatte Ju-ken sich noch nicht geäußert.

Die Mitglieder hatten sich in das kleine Wohnzimmer des Hauptquartiers gequetscht und alle standen, da man die Möbel kurzzeitig herausgeräumt hatte – sonst wäre nicht ausreichend Platz vorhanden gewesen. In der Mitte stand der hohe Küchentisch, auf dem Rose die von Ju-ken erbeuteten Karten ausgebreitet hatte.

„...und dann müssen wir nur noch hier entlang, bis wir auch schon da sind“, beendete Rose gerade seine Ausführungen, die er auf der Karte mit dem Finger nachgezeichnet hatte. „Der Weg an sich ist nicht sonderlich lang, aber es ist der einzige und es sind relativ viele Wachen auf dem Weg, das sind diese roten Punkte hier. Wir werden versuchen, sie dazu zu bringen, ihre Waffen abzulegen – die nehmen wir dann natürlich auch mit – und keinen Widerstand zu leisten, wir fesseln sie am Besten.“

„Und was ist, wenn sie sich weigern?“, wollte einer der anderen Mitglieder wissen.

Rose richtete seinen Blick auf den Sprecher und wartete einige Momente ab, in denen alle Anwesenden das Szenario in ihren Köpfen durchspielten und zu ein und demselben Schluss kamen. Anschließend sprach Rose das aus, was alle dachten: „Dann schießen wir.“

Unwillkürlich wanderte Jae Wooks Hand in seine Hosentasche, wo er zum wiederholten Mal an diesem Tag die Munition betastete, die er sich ohne das Wissen der anderen besorgt hatte. Er würde nur warten müssen, bis alle schliefen, dann würde er die Patronen austauschen. Er war sich darüber im Klaren, dass es schwerwiegende Folgen haben könnte, aber wenn sie es gleich zu Beginn der Aktion bemerkten, würden sie diese sicherlich abblasen. Natürlich, dadurch würde er nichts anderes gewinnen als Zeit, aber die hatte er bitter nötig. Wenn er sie hinhalten konnte bis nach der Wahl, hätte er sicherlich schon einiges gewonnen. (Selbstverständlich ahnte er nicht, dass er nächtens inmitten seines Vorhaben ertappt werden würde.)

„Ich bitte euch nur um zwei Dinge“, schloss Rose kurz darauf die taktische Vorgehensweise des morgigen Tages ab. „Erstens: Schießt nicht, wenn es nicht absolut notwendig ist. Zweitens: Ji Hoons Wohlergehen hat oberste Priorität. Habt ihr das verstanden?“ Er erntete allgemeine Zustimmung. Was sein zweiter Punkt zu bedeuten hatte, wussten alle Anwesenden genau: Wenn sie die Wahl hatten, sich zu retten oder mit ihrem Leben für die Sicherheit ihres Gruppenanführers zu bezahlen, wussten sie, was sie zu tun hatten.
 

Nachdem die Sitzung beendet und sämtliche Möbel wieder in ihren Ausgangszustand gerückt worden waren, setzte Rose sich zu Ju-ken. „Hast du eine Kaugummizigarette?“ Der Angesprochene schüttelte lediglich wortlos den Kopf, woraufhin Rose kurz seinen Arm berührte. „Wenn ich die Gelegenheit bekomme, dann räche ich ihn.“

Ju-ken ließ ein säuerliches Lächeln sehen. „Pass lieber auf dich selbst auf. Ich habe ein ungutes Gefühl, was die Sache angeht.“

„Morgen ist ein Feiertag“, entgegnete Rose schulterzuckend. „Die Wachen, die morgen da sein werden, haben definitiv keine Lust, sich eine große Schießerei zu liefern. Ganz bestimmt nicht – wären Watarus persönliche Bodyguards da, wäre es etwas anderes, aber so...“

„Diese verfluchte Stadt hat schon zu viele Opfer gefordert“, murmelte Ju-ken.
 

~*~
 

Spät in der Nacht, zu dem Zeitpunkt, als Jae Wook gerade beschloss, dass die anderen höchstwahrscheinlich schliefen, brannte noch immer Licht in einer der Nobelsuiten der Stadt. So frappierend die Abgründe waren, die sich in der Unterwelt Lokis auftaten – Prostitution an der Tagesordnung, ständig stolperte man über einen Drogentoten, Ehrenmorde waren längst nichts Besonderes mehr –, ebenso krass konnte der Gegensatz auftreten. Wataru war nicht einmal der Reichste der Stadt, und dennoch besaß er eine Suite, bei der Topmanager neidisch geworden wären, ein Auto, das so prunkvoll wie unnütz (da viel zu schnell für die Straßen in einer Großstadt) war, sowie etlichen weiteren luxuriösen Tand.

Man konnte durchaus feststellen, dass Wataru – materiell gesehen – das genaue Gegenteil der Ji-Hoon-Gruppe darstellte. Dennoch bedeutete das längst nicht, dass er dadurch in irgendeiner Weise glücklicher war.

„Ich frage dich jetzt ein letztes Mal, und wenn du die Frage mit ‚nein’ beantwortest, verstehe ich nicht, wie du so ruhig hier herumsitzen kannst... Hast du noch irgendeinen Trumpf im Ärmel, den du innerhalb der nächsten Tage mühelos herausschütteln kannst oder nicht?!“ Aie lief aufgebracht auf Watarus weichem, geräuscheschluckendem Flokati-Teppich umher, in einer Hand eine Zigarette, mit der er wild gestikulierte, in der anderen eine Zeitung, die von für Wataru negativ ausgefallenen Umfragen kündete.

„Was würdest du denn unter ‚Trumpf’ verstehen?“, wollte Wataru wissen. Er lag lang ausgestreckt auf seinem sündhaft teuren Ledersofa und klammerte sich an ein Glas Brandy.

„Irgendetwas, das dir hilft, die Wahl doch noch zu gewinnen!“ Der Rothaarige stellte sich genau vor seinen Chef und funkelte ihn von oben an. „Und jetzt behaupte nicht, sie wäre noch nicht verloren! Du weißt genauso gut wie ich, dass du am Ende bist. Am Ende, Boss.“

„Am Ende?“, wiederholte der andere langsam, als ließe er sich die Wörter auf der Zunge zergehen, und schaute zu seinem Sekretär hoch. „Dich interessiert das doch nur, weil du sonst auch deine Position verlieren würdest. Könntest du ohne mich regieren, wäre es dir vollkommen egal. Aber du brauchst mich.“ Er schaute nun zur Seite und stellte fest, dass er sich auf einer praktischen Höhe befand. Beinahe beiläufig streckte er eine Hand aus und begann, Aies Gürtel zu öffnen.

Aie schlug seine Hand weg und trat ein paar Schritte rückwärts, seine sonst so beherrschte Miene zeigte seine Wut nur allzu offen. Die Gleichgültigkeit, mit der sein Boss die Situation anging, missfiel ihm zutiefst. „Beantworte mir meine Frage, Boss. Hast du noch irgendetwas in der Hinterhand, oder resultiert deine Teilnahmslosigkeit aus fatalistischen Motiven?“

„Miya arbeitet mit der Ji-Hoon-Bande zusammen“, entgegnete Wataru ruhig und trank einen Schluck der goldgelben Flüssigkeit in seinem Glas.

„Das ist nicht dein Ernst“, meinte Aie kopfschüttelnd und drückte seine Zigarette in dem wagenradgroßen marmornen Aschenbecher auf dem Glastisch aus, der eigentlich nicht beschmutzt werden durfte.

„Ich habe Beweise.“ Wataru musste grinsen ob Aies vollständiger Fassungslosigkeit. „Nicht gerade auf legalem Wege beschaffte zwar, aber ich habe welche. Ein Mitschnitt eines Telefongesprächs, aus dem man zwar interpretieren muss, aber es lässt sich durchaus so sehen. Und einige Briefwechsel, die aus Miyas Wohnung gestohlen wurden. Es sieht so aus, als wäre zwischen Miya und den Knoblauchfressern ein Vermittler tätig gewesen. Sein Name ist Ju-ken.“

„Ich kenne nur einen Ju-ken, und das ist der Ju-ken, der vor etwa zehn Jahren für die ganzen Demonstrationen gegen Rassismus verantwortlich war“, gab Aie tonlos zurück. „Jede Woche gab es mindestens eine. Er wurde auch etliche Male eingesperrt.“

„Genau der, wie es aussieht“, stimmte Wataru ihm amüsiert zu. „Er wurde vor etwa vier Jahren wieder auf freien Fuß gesetzt und hat anschließend offenbar direkt die Ji-Hoon-Bande kontaktiert. Er hat wohl auch Miya und Yukki dazu bewogen, überhaupt bei dieser Wahl anzutreten.“

„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Aie warf die Zeitung, die er sinnlos festhielt, auf den Tisch, und musste sich auf einen Sessel setzen. „Wenn du Beweise dafür hast, bist du wirklich nicht erledigt. Scheiße, warum sagst du das nicht gleich?“

„Weil es mir Spaß macht, dich zappeln zu lassen“, murmelte Wataru, ehe er sich aufrichtete, sein Glas ebenfalls auf den Tisch stellte und zu Aie hinüberging. „Weißt du, was ich an dir nie verstanden habe? Du willst mich, seitdem ich an der Macht bin... und die ganzen sechs Jahre hast du nichts getan. Gar nichts. Auch, wenn du die Möglichkeit gehabt hattest – und das hattest du oft –, hast du dich damit begnügt, lediglich an meiner Seite zu sein.“ Er hielt mit zwei Fingern Aies Kinn fest, als dieser seinen Kopf zur Seite drehte. „Selbst jetzt weichst du mir aus.“

„In dem Moment, da man seinen Leidenschaften nachgibt, hat man verloren“, flüsterte Aie und ließ seinen starren, ablehnenden Blick auf seinen Boss gerichtet ohne zu blinzeln.

Wataru wusste genau, was sein Gegenüber meinte: Wenn Aie nachgab und sich auf Wataru einließ, war er von diesem abhängig – dann hätte Wataru Macht über ihn. Sie beide wussten, wie sehr Sex mit Macht zusammenhing, daher gingen sie damit äußerst vorsichtig um. Keinem der beiden war es in den Sinn gekommen, dass man in dem Moment, da man sich einem anderen hingab, durchaus stärker werden konnte statt schwächer. Sie wandelten auf einem schmalen Grat, und keiner von ihnen wollte weder ausdrücklich erlauben noch ausdrücklich verbieten.

Und so, wie sie waren, ihre Gesichter nur einige Zentimeter voneinander entfernt, ihre Lippen erwartungsvoll geöffnet, ihre Blicke kalt, wurden sie unterbrochen. Mit einem Mal begann das Faxgerät zu surren.

Wataru seufzte leise, ließ Aies Kinn los und schaute sich anschließend das Fax an. Hatten sich seine Wangen durch den Brandy leicht gerötet, so verloren sie augenblicklich ihre Farbe, als ihr Besitzer begriff, wovon das Fax handelte. „Sie haben Wind gekriegt“, murmelte er fassungslos. „Sie schicken einige Inspektoren her.“

„Wer?“, wollte Aie alarmiert wissen. „Und wovon?“

„Odin!“, stieß Wataru zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Loki hat doch schon eine Verwarnung gekriegt, und offenbar meinen sie, dass ich mir meinen politischen Widersacher aus dem Weg geschafft hätte, was bedeuten würde, dass Loki zwangsregiert wird.“

„Wenn’s ihnen nur darum geht – du meintest doch, dass wahrscheinlich irgendeiner deiner fanatischen Anhänger durchgeknallt sei und Yukki umgebracht hätte“, entgegnete Aie schulterzuckend.

Sein Boss schaute ihn wortlos an.

Aie runzelte leicht die Stirn.

Sein Boss senkte den Blick.

„Sag mal, tickst du noch ganz richtig?!“, schrie Aie ohne Vorwarnung los und sprang auf. „Hast du etwa geglaubt, du würdest damit durchkommen??“ Er schubste Wataru rückwärts, nun wirklich fuchsteufelswild. „Ich habe dich ja schon für einen dämlichen Idioten gehalten, aber dass du SO bescheuert bist...!! Du schaufelst dir noch dein eigenes Grab! Wie kannst du überhaupt nachts schlafen?!“ Als Aie Wataru ein zweites Mal schubste, stolperte dieser über die Brandyflasche, die er unachtsam auf den Boden gestellt hatte, und riss Aie dabei mit sich.

Und während der Brandy langsam in den weißen Flokati einsickerte, richtete der Rothaarige, der auf seinem Boss saß, sich auf, packte Watarus Kragen und schüttelte ihn. „Eigentlich hast du jemanden wie mich überhaupt nicht verdient, weißt du das?! Wir müssen Yukkis Leiche verbrennen lassen und den Ärzten noch ein bisschen mehr zahlen, damit sie auch bestätigen, dass sie StarDust in Yukkis Blut gefunden haben. Und du kümmerst dich zusätzlich darum, dass Ji Hoon deine Version der Geschichte bestätigt, er soll sagen, dass Yukki drogenabhängig war, und dass es sein Wunsch war, nach seinem Tod verbrannt zu werden. Wenn Ji Hoon nicht kooperiert, lass ihn foltern, seine Fußnägel rausreißen, was weiß ich, aber er darf dir nicht widersprechen! Sonst ist es wirklich aus. Verstanden?!“

Wataru nickte langsam und müde. „Dann werde ich unserem Gefangenen wohl morgen einen Besuch abstatten müssen.“
 

~*~
 

Ju-ken saß zusammen mit Miya in dessen Wohnung und rauchte. Sie rauchten beide und sagten kein Wort, dazu waren sie zu angespannt. Sie wussten, dass ihre Verbündeten im Moment im Begriff waren, das Gefängnis zu stürmen, und am liebsten wären sie dabei gewesen. Zumindest Ju-ken.

In sämtlichen anderen Städten des Königreichs wäre allein der Gedanke völlig unmöglich, einen Strafgefangenen aus einem Gefängnis zu befreien, dort waren die Sicherheitsmaßnahmen derart modern, dass nicht einmal eine Fliege unbemerkt hinein gelangen könnte. Doch seitdem Wataru an der Macht war, hatten die Gefängnisse gelitten – im Haushalt gab es kein Geld für etwas Profanes wie Strafvollzugsanstalten. Daher war es durchaus wahrscheinlich, dass die Ji-Hoon-Gruppe Erfolg haben würde.

Beide zuckten zusammen, als das Telefon klingelte. Miya warf seine Zigarette in den Aschenbecher und beantwortete den Anruf. Eine Weile lang sagte er nichts, obwohl derjenige auf der anderen Seite der Leitung sich sehr aufgeregt anhörte. Dann legte er wortlos auf.

„Was ist?“, wollte Ju-ken wissen.

„Wataru will Ji Hoon heute besuchen“, gab Miya sehr leise zurück. „Er ist schon auf dem Weg.“

„Oh fuck.“ Die beiden sahen sich schweigend an, während sie versuchten, den ersten Impuls niederzukämpfen. Keiner von ihnen hatte Erfolg.

„Wir müssen hin. Und zwar so schnell wie möglich.“
 

„Den ersten hätten wir schon mal“, flüsterte Rose zu seinen Begleitern.

Eine Gruppe von ihnen hatte sich vor dem Haupteingang positioniert, um notfalls neu anrückende Verstärkung der Wachen aufzuhalten und den Befreiern anschließend Rückendeckung zu geben (die sogenannte ‚Gruppe vorne’ – Rose hatte angesichts des Ernstes der Situation nichts für lächerliche Namen übrig gehabt). Eine andere Gruppe befand sich vor dem Hinterausgang, aus dem gleichen Grund (‚Gruppe hinten’). Diejenigen, die tatsächlich direkt Ji Hoon befreien würden, waren lediglich Rose, Hakuei, Jae Wook, Typhoon, Attack und X-mas – die übliche Konstellation.

Sie waren bereits unbemerkt in das Gebäude eingedrungen und hatten es geschafft, den Pförtner zu überwältigen, ohne dass dieser Alarm geschlagen oder auch nur Widerstand geleistet hatte. Daraufhin setzte Typhoon sich eine Perücke auf, damit man ihn nicht erkannte, und zog die Uniform des Pförtners an – falls doch jemand hereinkam, sollte kein Verdacht geschöpft werden.

„Weiter“, befahl Rose. Hakuei, Jae Wook, Attack und X-mas folgten ihm. Sie huschten um die nächste Ecke, dann um noch eine und noch eine, bevor sie auf die ersten beiden patrouillierenden Wärter trafen. Diese ließen sich ebenfalls problemlos fesseln und knebeln, wurden auch anschließend in die nächste kleine Kammer gesperrt, damit niemand auf sie aufmerksam wurde. Gerade, als sie weitergehen wollten, begann Typhoon in Roses Headset zu sprechen: „Wir kriegen Besuch. Oh Shit.“

„Könnt ihr sie nicht aufhalten?“, wollte Rose leise wissen und warf seinen Begleitern einen besorgten Blick zu.

„Oh fuck. Es sind zu viele, Rose, das ist Wataru, Wataru kommt hierher und hat seine ganzen-“, Typhoon brach ab und sagte nun deutlich lauter: „Guten Morgen.“ Er sprach offensichtlich mit dem soeben eingetroffenen Wataru.

„Was ist los?“, fragte Jae Wook nervös.

„Wataru ist hier“, antwortete Rose leise. „Offenbar nicht alleine. Er will wohl zu Ji Hoon, aber das können wir nicht zulassen. Er darf nicht bis hierhin kommen, denn ab hier gibt’s nur noch einen Weg. Wir müssen ihn weiter vorne aufhalten und gleichzeitig Ji Hoon hier rausschaffen. So schnell wie möglich. Das heißt, wir müssen uns aufteilen.“ Er sah gehetzt in die Runde.

„Ich bleibe bei dir“, warf Hakuei ein.

„Ich auch“, schaltete Jae Wook sich augenblicklich ein.

„Und ich werde diesem Wichser Wataru seine Eier wegballern“, murmelte Rose und richtete den Blick auf Attack und X-mas. „Traut ihr es euch zu, mit der Verstärkung am Hinterausgang Ji Hoon sicher hier rauszubringen? Ich schick euch die anderen nach, wartet hier, bis sie da sind, ja?“ Die beiden nickten entschlossen. „Seine Sicherheit geht vor, das wisst ihr. Und wir halten euch Watarus Gorillas vom Hals, so lange wir können. Ihr kriegt das Headset von denen am Hinterausgang. Alles klar?“

„Du kannst dich auf uns verlassen“, beruhigte Attack seinen Anführer.

„Schön“, gab Rose zurück und wandte sich nun an Hakuei und Jae Wook. „Ihr habt jeder zwei Waffen, scheut euch nicht, davon Gebrauch zu machen. Ich bezweifle nicht, dass sie auf uns schießen werden wie bescheuert, also seid bloß vorsichtig. Ich werde der Gruppe am Vorderausgang Bescheid geben, dass sie dem Flachwichser in den Rücken fallen sollen, damit rechnet er wahrscheinlich nicht.“

„Rose?“, fragte Hakuei zögerlich. „Bitte keine persönlichen Racheakte, wenn du dich dadurch selbst in Gefahr bringst.“

„Ich bin kein kleines Kind mehr!“, fauchte Rose ungehalten in seine Richtung und schaute ein letztes Mal in die Runde. „Zu viel Zeit verloren. Los geht’s.“ Und während er entsprechende Befehle in sein Headset murmelte, lief er, gefolgt von Hakuei und Jae Wook, durch die Gänge.

Attack und X-mas blieben zurück und schauten sich beunruhigt an.
 

Rose war gerade damit fertig, seine Befehle durchzugeben, als er praktisch in Wataru hinein lief. Rose war sogar an der Ecke stehen geblieben und hatte in den Gang geschaut und sichergestellt, dass niemand sich dort befand, doch während er seinen zwei Begleitern zunickte, dass sie loslaufen konnten, musste Wataru gerade um die Ecke gebogen sein, sodass die beiden Kontrahenten sich mit einem Mal Auge in Auge gegenüber standen. Zwischen ihnen lag zwar eine Entfernung von etlichen Metern, und doch blieben beide wie angewurzelt stehen, als hätten sie sich angerempelt.

„Fuck“, stieß Rose hervor, und gleichzeitig rief Wataru: „Schießt!“

Rose besaß genügend Geistesgegenwart, um die nächstbeste Tür aufzureißen und sich mit einem Hechtsprung in das dahinter liegende Büro zu retten, Jae Wook machte einen Satz nach hinten und brachte sich zusammen mit Hakuei wieder hinter der Ecke in Sicherheit. Von ihrer Position aus konnten sie beide Rose sehen, der verbissen seine Munition überprüfte und anschließend seine Pistole entsicherte.

„Keinen Ausfall, Rose“, murmelte Hakuei beschwörend, obwohl der andere ihn aufgrund des Kugelhagels, der knapp an ihnen vorbeizischte, sowieso nicht hören konnte. „Keinen Ausfall, bitte, wenn wir hier bleiben, gewinnen die anderen auch Zeit, wir sollen sie nur aufhalten.“

„Ich rede mit ihm“, beschloss Jae Wook kurzerhand und zog seine Waffe, betrachtete sie jedoch, als verabscheute er es bereits, sie überhaupt in der Hand zu halten. Hakuei ging es ähnlich. „Gib mir Deckung.“

„Das kannst du nicht-“, begann Hakuei, doch da hetzte Jae Wook bereits los. Augenblicklich entsicherte Hakuei seine eigenen Pistolen und schoss wie wild in die Richtung ihrer Gegner. Dadurch waren diese erst einmal abgelenkt, sodass sie nicht auf Jae Wook schießen konnten, was ihm wohl durchaus das Leben rettete.

„Bist du bekloppt?“, fuhr Rose ihn an, kaum dass er zu ihm ins leerstehende Büro gesprungen war. „Du hättest sterben können!“

„Wir können hier nicht bleiben“, entgegnete Jae Wook eindringlich. „Sie werden drauf kommen, dass sie auch noch auf einem anderen Weg zu Ji Hoon können, und dann werden SIE uns erst einmal in den Rücken fallen und zweitens die anderen erwischen. Wir müssen wieder dahin zurück, wo wir uns von Attack und X-mas getrennt haben, nur da können wir sie wirklich aufhalten.“

„Stimmt“, räumte Rose ein und warf einen Blick zurück zu Hakuei, der kaum von ihnen Notiz nahm, sondern immer noch damit beschäftigt war, die Angreifer abzulenken. „Gruppe hinten, wie sieht’s aus? Seid ihr schon bei Ji Hoon?“, fragte er in sein Headset und wartete eine Weile. „Keine Antwort. Scheiße. Hoffentlich ist nichts passiert. Gruppe vorne, wie sieht’s aus?“

Jae Wook beobachtete Roses Miene und spürte, wie eine kalte Hand sein Herz umklammerte, als Roses Gesichtszüge entgleisten. Einige Momente rührte Rose sich nicht, dann wandte er sich an seinen Begleiter: „Wir müssen weg hier. Sie haben gesagt, dass schon ein paar in andere Gänge geflüchtet sind, wenn wir nicht wollen, dass sie die Gruppe hinten bei Ji Hoon erwischen, müssen wir wirklich weiter rein. Auf drei, ja? Eins... zwei... DREI!“

Beide Koreaner sprangen aus der Deckung und hechteten wieder in Richtung Hakuei, der sich alle Mühe gab, an ihnen vorbei zu schießen, während die beiden anderen ebenfalls nach hinten schossen. Als sie wieder hinter der Ecke bei Hakuei angekommen waren, scheuchte Rose sie gleich weiter: „Los jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Sein Gesichtsausdruck war noch verbissener als sonst, daher dauerte es wahrscheinlich auch ein paar Schritte, bis er sich erlaubte, einzuknicken.

„Rose?!“, rief Hakuei entgeistert und fing den Schwarzhaarigen auf. Da erst bemerkte er das Blut an Roses Bein, das schon bis auf den Boden gelaufen war und eine Spur hinterließ. „Was... wurdest du getroffen??“

„Ist egal“, zischte Rose und biss die Zähne zusammen. „Weiter. Wir müssen weiter.“

„So sollte das nicht laufen“, murmelte Jae Wook, während er Roses eine Seite stützte. Zusammen mit Hakuei schafften sie es, Rose bis zu der besagten Weggabelung zu schaffen, und setzten ihn dort in einem weiteren leeren Büro ab. „So sollte das ganz und gar nicht laufen. Geht es, Rose?“

Hakuei hockte sich vor den anderen, in dessen Augen sich langsam Tränen bildeten. „Kannst du’s aushalten?“ Hakuei strich Rose behutsam über die Wange, während Jae Wook mit einer Schere, die er auf dem Schreibtisch gefunden hatte, sein Hemd aufschnitt und anschließend Streifen davon um Roses Bein wickelte.

„Das ist es nicht!“, gab Rose trotzig zurück. Seine Unterlippe zitterte. „Es tut nicht weh. Es ist... Typhoon ist tot.“

„Was?!“, machte Jae Wook entgeistert.

„Ich höre Schritte“, bemerkte Hakuei und stand auf, wagte einen Blick aus dem schützenden Büro. Einige Sekunden später stand Attack vor ihm, sogar mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Das Headset ist kaputt gegangen“, erklärte er den fehlenden Funkkontakt hastig. „Die anderen sind rechtzeitig gekommen, X-mas ist im Moment mit dreien von ihnen bei Ji Hoon, wir hatten keine Probleme, die anderen wollten euch helfen und sind wahrscheinlich schon weiter vorne. Bist du getroffen, Rose?“

„Typhoon ist tot“, entgegnete Hakuei, woraufhin Attacks Lächeln mit einem Mal verschwand und einer schmerzhaften Fassungslosigkeit wich. Als eine Kugel knapp an Attack vorbei pfiff, schubste Hakuei ihn ebenfalls in das Büro und antwortete dem Warnschuss mit ein paar eigenen.

„Wer ist das? Wie viele?“, wollte Rose wissen, der noch immer mit den Tränen kämpfte. Jae Wook hatte sein Bein abgebunden, sodass die Blutung aufgehört hatte, dennoch würde er wahrscheinlich nicht gerade stehen können.

„Ein paar von Watarus Gorillas“, gab Hakuei verbissen zurück. „Halt, warte, da ist jemand bei ihnen... da ist Wataru. Ich glaube, sie wollen ihn gerade rausschaffen.“

„Wataru!“, rief Rose und rappelte sich mit Mühe und Not hoch, sich an der Schreibtischkante abstützend. „Gruppe vorne, wie sieht’s aus? Die anderen haben Ji Hoon befreien können, wie’s aussieht, ihr müsst sie nicht mehr lange aufhalten.“ Er lauschte einen Moment und nickte anschließend. „Sie haben die anderen Gorillas unter Kontrolle. Hakuei, hilf mir raus.“ Er stützte sich auf den Angesprochenen und humpelte aus dem Raum.

„Was willst du-“, fragte Jae Wook und wusste die Antwort bereits, bevor Rose losstürmte – beziehungsweise eher losstürzte, da er bei jedem Schritt mit seinem verletzten Bein beinahe einknickte und wieder hinfiel.

„Rose!“, riefen Jae Wook und Attack gleichzeitig.

Hakuei lief Rose als erster hinterher.
 

Miya legte auf dem Parkplatz des Gefängnisses eine sehr beeindruckende Vollbremsung hin, bei der er beinahe in ein anderes Auto hineingefahren wäre. Er blieb einfach mitten auf dem Weg stehen, zog nur den Schlüssel ab und sprang zusammen mit Ju-ken aus seinem Auto. Sie hatten bereits auf dem Weg im Radio gehört, dass es wohl eine Schießerei im städtischen Hauptgefängnis gab, und sie befürchteten das Schlimmste. Sie bekamen gerade noch mit, wie Aie, Watarus rechte Hand, ins Gebäude stürmte. Ju-ken wollte ihm hinterher rufen, beschloss dann aber, dass Aie an der Gesamtsituation nicht viel ändern würde.

Von draußen waren die Schüsse nicht zu hören, doch als die beiden das Gebäude betraten, rochen sie sofort das Schießpulver und den Angstschweiß, der im Raum hing. Sie tauschten einen Blick aus. Ju-ken war der einzige, der ebenfalls eine Waffe besaß, und nun zog und entsicherte er sie. Miya hatte gehofft, dass er als eine Art schlichtende Instanz wirken könnte, um den Konflikt zu beruhigen, aber nun begriff er, dass er rein gar nichts würde ausrichten können. Nichts.

Sie wollten bereits weiter ins Innere des Gefängnisses vordringen, allerdings bemerkte Miya Typhoons Leiche, kaum dass er den ersten Schritt getan hatte. Typhoon trug eine sehr lädierte Uniform und hatte einen Ausdruck des puren Grauens auf dem leblosen Gesicht, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten an die kalte weiße Decke. Mitten auf seiner Stirn befand sich das Einschussloch, unter seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.

„Großer Gott“, brachte Miya entgeistert hervor.

„Ich glaube, das meiste ist schon vorbei“, flüsterte Ju-ken. „Ich will mir gar nicht ausmalen, mit welchem Ergebnis.“
 

Nicht nur Betrunkene, sondern auch vor Hass Blinde schienen einen ganz eigenen Schutzengel zu besitzen, sonst hätte Rose es niemals lebend geschafft, Wataru zu stellen.

Er war mit seinem verletzten Bein nicht weit gekommen, bevor Hakuei ihn eingeholt hatte. Aber als dieser versuchte, ihn aufzuhalten, wurde Rose vollends hysterisch. „Ich habe mein gesamtes Leben auf diesen einen Moment gewartet!“, schrie der Jugendliche. „Und ich werde nicht zulassen, dass ausgerechnet DU mich daran hinderst, ihn auszukosten!“ Und gerade, als Hakuei Gewalt anwenden wollte, um den anderen fortzuschaffen, tauchten die Bodyguards Watarus im Gang auf. Es musste pures Glück gewesen sein, dass die ersten Schüsse meilenweit daneben gingen, sodass Rose ausreichend Zeit hatte, seine beiden Pistolen zu ziehen und erst den ersten, dann den zweiten Gorilla niederzustrecken.

Rose jedoch war geistesgegenwärtig genug, um davon auszugehen, dass dies noch nicht das Ende war, und konnte deshalb, als Wataru auch nur zur Hälfte sichtbar wurde, unmittelbar ein weiteres Mal schießen. Wataru schrie auf, als seine Schulter getroffen wurde, presste seine Handfläche auf die Wunde und wollte bereits wieder hinter die Ecke flüchten, doch als er einen Blick in die entsprechende Richtung warf, verließ ihn sämtlicher Kampfgeist. Mit einer Miene der Verzweiflung sank er an der Wand zu Boden und hinterließ eine leuchtend rote Blutspur.

Als Rose und Hakuei bei Wataru angekommen waren, begriffen sie, was ihn hatte den Mut verlieren lassen: Jae Wook und Attack hatten offenbar einen anderen Weg genommen, um Wataru diesen abzuschneiden, und waren dabei auf Aie getroffen. Und so war Wataru nun eingekesselt: Vor ihm Rose und Hakuei, neben ihm Jae Wook und Attack, der Aie seine Pistole an den Kopf hielt.

„Du kleiner verbrauchter Schleimbeutel“, zischte Rose leise, als er direkt vor Wataru angekommen war. Sämtliche Nervosität, sämtliche Gehetztheit war aus Roses Gesicht verschwunden, stattdessen loderte purer Hass darin, Hass und Abscheu. „Du stinkende Publizitätshure. Weißt du, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe?“

Außer dem Schmerz mischten sich nun noch Erkenntnis und Ungläubigkeit in Watarus Miene. Er warf einen entsetzten Blick Richtung Aie, der ihn mindestens genauso fassungslos anschaute. Attack trat ihm in die Kniekehlen, sodass er ebenfalls auf den Boden sank, auf denselben Level wie sein Boss.

„Rose“, murmelte Jae Wook. „Bitte tu das nicht. Bitte. Rose. Ich bitte dich.“

Doch Rose war für nichts mehr zugänglich, er hatte nur noch Augen für den verletzten Blonden vor sich und die Pistole in seiner Hand. Seine Augen blitzten vor Genugtuung und Verlangen, endlich Rache zu üben. Attack schien nichts Falsches an diesem Anblick zu finden, und Hakuei wagte es nicht, sich zwischen Rose und seine Rache zu stellen. Nur Jae Wook wirkte hin- und hergerissen, ob er eingreifen sollte.

„Du Arschloch bekommst sogar ein ganz neues Magazin“, fuhr Rose hämisch fort, griff in seine Hosentasche und holte eine Handvoll Patronen hervor. Es schien ihm völlig egal zu sein, dass einige zu Boden fielen, er füllte fahrig das Magazin seiner Pistole auf und kniete sich vor Wataru, der ihn mit purem Horror anstarrte. Nichts von seiner vorherigen Arroganz war mehr zu sehen, nichts mehr von seiner überlegenen Ruhe, nichts mehr von dem Vertrauen, dass er am Ende doch noch gewann.

„Nein!“, schrie Aie in einem letzten verzweifelten Versuch, die Hinrichtung zu stoppen, aber als er sich nach vorne warf, traf ihn ein schwerer Stiefel an der Schläfe, sodass der Rothaarige bewusstlos zu Boden sank. Hakuei hatte beinahe instinktiv reagiert, und das vielleicht auch nur, weil Attack Aie sonst sicherlich erschossen hätte.

„Schau mich gut an“, befahl Rose seinem Gegenüber leise. „Ich bin das Letzte, was du noch sehen wirst.“ Er richtete den Lauf seiner Waffe genau zwischen Watarus Augen, die sich sofort schlossen, und drückte ab. Ein Schuss ertönte. Rose zog den Abzug erneut, und ein weiterer Schuss erklang. Allerdings auch nicht mehr.

Der Gesichtsausdruck, mit dem Rose sich zu Jae Wook umdrehte, war beängstigend. „Platzpatronen?!“, schrie er und rappelte sich wieder auf die Füße, langsam auf Jae Wook zugehend. „Platzpatronen??“, wiederholte Rose leise. „Das ist dein Werk, oder? Du hast welche gekauft, ich dachte, du wolltest damit üben, auch wirklich zu schießen, wenn’s drauf ankommt. Aber stattdessen wolltest du uns sabotieren. Sabotieren, das wolltest du, und weißt du, wie man Leute nennt, die sabotieren? VER-RÄ-TER!!“ Mit jeder Silbe drückte Rose einmal ab, seine Waffe auf Jae Wooks Brust gerichtet. „Du bist ein dreckiger Verräter.“

„Rose“, warnte Hakuei ihn leise.

Der Angesprochene nahm sich seine zweite Pistole und schoss einmal in die Decke. „Du solltest froh sein, dass es nur Platzpatronen waren. Aber hier, in dieser, sind es keine“, flüsterte Rose und drückte mit einer Hand so fest er konnte auf Jae Wooks Wangen, bis er seine Zähne voneinander lösen musste. Den Moment nutzte Rose und rammte ihm den Lauf der Pistole zwischen den Zähnen hindurch in den Mund. „Verräter“, fauchte er noch, dann entsicherte er die Waffe.

Hakuei und Attack standen wie gelähmt, und Rose hätte zweifellos abgedrückt, hätte ihm nicht jemand in genau dem Moment einen Kinnhaken verpasst. Rose ließ die Pistole zu Boden fallen und taumelte einige Schritte nach hinten, bevor er auch noch einen Tritt vor seine Schusswunde kassierte. Mit einem leisen Aufschrei klappte er in sich zusammen und fiel auf den Boden.

„Kannst du mir erklären, was das hier soll?!“, fuhr Ji Hoon Joo seinen Schützling fuchsteufelswild an. „Was für eine Diktatur propagierst du, wenn du deine eigenen Verbündeten erschießt?!? Hast du überhaupt darüber nachgedacht, was du hier tust??“

Hakuei, Attack und auch Jae Wook waren noch immer so betäubt von Roses Handlungen, dass sie die Szene nur mit großen Augen verfolgen konnten. Es war für sie drei völlig unfassbar, dass Rose derartig durchdrehen würde, sollte sich jemand zwischen ihn und Wataru stellen.

Wataru hingegen roch eine Chance, doch noch mehr oder weniger unbeschadet davon zu kommen, und so kämpfte er sich langsam und unauffällig hoch, bevor er sich auf Hakuei stürzte, um ihm die Pistole abzunehmen. Da hatte er sich jedoch den Falschen ausgesucht. Hakuei rammte ihm kurzerhand sein Knie in den Magen und verpasste ihm noch einen Schlag ins Gesicht, sodass Wataru wieder auf dem Boden landete. Da allerdings schien er zu begreifen, wen er hier vor sich hatte. „Hakuei...?“, fragte er leise.

Hakuei allerdings hatte nicht viel mehr als einen abfälligen Blick für ihn übrig.

Durch diese Szene kurz abgelenkt gewesen, wandte Ji Hoon sich wieder Rose zu, der ihn anstarrte, als wäre er eine Erscheinung. „Erinnerst du dich, was ich dir immer gepredigt habe?“, fuhr der Gruppenanführer etwas ruhiger fort. „Wenn jemand geschnappt wird und es ein großes Risiko darstellt, ihn zu befreien und man gut ohne ihn auskommt, überlässt man ihn seinem Schicksal. Erinnerst du dich?“

„Aber... wir kommen nicht ohne dich aus“, wisperte Rose tonlos und hielt sich das Gesicht, dort, wo der andere ihn geschlagen hatte.

„Doch, wärt ihr“, widersprach Ji Hoon ihm vehement. „Ich hatte dich eigentlich für einen fähigen Anführer gehalten, aber diese Aktion hier zeigt mir, dass du noch weit davon entfernt bist. Du hast nicht nur dein eigenes, sondern auch das Leben aller anderen aufs Spiel gesetzt, und das nur, um einen alten Mann zu befreien, den du überhaupt nicht nötig hast. Du bist verantwortlich für Typhoons Tod und für sämtliche Verletzungen, welche die anderen erlitten haben. Und nicht nur das, du hättest beinahe einen deiner Freunde getötet. Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was du angerichtet hast?“

Während Ji Hoon redete, wich der zuvor wütende und hasserfüllte Ausdruck in Roses Gesicht einem nur noch verzweifelten, hilflosen. Die Erkenntnis, dass alles, worauf er die letzten zwei Wochen hingearbeitet hatte, unnütz, gefährlich und einfach SINNLOS gewesen war, sank langsam bei ihm ein. Er sah längst nicht mehr gefährlich aus, sondern eher wie ein eingeschüchtertes Kind.

Und so verharrten sie einige Momente. Attack traute sich nicht, einen der anderen anzusehen. Jae Wook schaute zwischen Ji Hoon und Rose hin und her, noch immer erschüttert darüber, wie knapp er seinem Tod entronnen war. Wataru traute nicht, sich zu bewegen, da er sich nun sogar seinem absoluten Erzfeind Ji Hoon gegenüber sah. Hakuei konnte verstehen, was es für Rose bedeutete, derartige Vorwürfe von seinem großen Idol ertragen zu müssen, und hätte sich ihm gerne angenommen, wusste allerdings, dass Rose davon nichts wissen wollen würde. Und Rose selbst kämpfte zum zweiten Mal an diesem Morgen mit den Tränen, dieses Mal, weil er begriff, dass Typhoon umsonst gestorben war.

Ji Hoon trat einen Schritt zurück und wandte sich nun auch an die anderen: „Es ist sowieso vorbei.“

Genau in dem Augenblick tauchte eine Flut von Polizeibeamten auf, hinter ihm und auch am Ende des zweiten Ganges. „Hände hoch!“, riefen einige von ihnen. „Waffen weg!“

„Das sind Polizisten aus Odin“, erklärte Ji Hoon müde, während er wie selbstverständlich seine Arme hob. „Loki wird wohl nicht mehr autonom regiert werden.“

Da schluchzte Rose das erste Mal leise.
 

~*~
 

Man hatte sie in verschiedenen Sammelzellen untergebracht. Die Polizisten hatten keinen Unterschied zwischen unschuldigen Wachen, Watarus Gorillas oder den Koreanern gemacht, sie hatten einfach sämtliche Anwesenden verhaftet, um sie der Reihe nach zu verhören. Sie wollten sich dadurch ein erstes Bild verschaffen und anschließend entscheiden, wer im Gefängnis blieb und wer gehen konnte.

Wataru allerdings war bereits in einer Einzelzelle untergebracht und würde so schnell nicht wieder herauskommen. Er stand unter Verdacht von Korruption, Drogenhandel und –produktion und Mord an Yukki. Aie dagegen hatte ausgesagt, nichts von Watarus Machenschaften zu wissen und war sogar damit davon gekommen – was ihn selbst wahrscheinlich am meisten überrascht hatte. Aber ihm konnte schließlich nichts nachgewiesen werden.

In den anderen Sammelzellen plapperten die Insassen munter drauflos, zu unrealistisch erschienen ihnen alles, was passiert war, zu drängend war das Mitteilungsbedürfnis, zu groß die Erleichterung, dass Wataru nun endgültig von der Bildfläche verschwinden würde, zu erdrückend die Unsicherheit, was die Zukunft bringen würde.

Nur in einer Zelle schwiegen sämtliche Häftlinge.

Rose saß auf dem Boden, hatte die Knie an die Brust gezogen und biss sich wiederholt auf die Lippe, bis es blutete. Hakuei saß auf der Pritsche und schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte, da Rose ihn nicht an sich heran ließ. Jae Wook stand am Fenster und rührte sich nicht. Er wünschte sich, er hätte die ganze Aktion irgendwie komplett verhindern können.

Die drückende Stille wurde dadurch unterbrochen, dass die Zellentür aufgeschlossen wurde. Ji Hoon wurde von einem Polizeibeamten hereinbegleitet, der anschließend auf Jae Wook deutete und diesen mit sich nahm.

Derjenige, welcher der Ji-Hoon-Gruppe den Namen gegeben und nun den Sinn genommen hatte, hockte sich vor seinen inoffiziellen Nachfolger und wartete, bis Rose ihn ansah, halb unwillig, halb hilflos. „Weißt du, was mir im Gefängnis klar geworden ist?“, begann Ji Hoon langsam zu erklären. „Dass es nichts ändert, ob wir nun führende Regierungsmitglieder töten oder nicht. Wenn wir etwas am Denken der Menschen hier in Loki ändern wollen – denn das ist die Hauptquelle aller Vorurteile uns gegenüber –, dann ist es egal, ob wir den Bürgermeister umbringen oder nicht. Das bestätigt die Vorurteile nur noch. Das habe ich auch nicht einsehen wollen, und ich erwarte nicht von dir, dass du es tust, ich möchte dir nur eine mögliche Erklärung bieten.“

Rose schlug kurz die Augen nieder. „Wenn nicht wir, wer soll dann etwas unternehmen?“, wollte er leise wissen.

„Miya, beispielsweise“, antwortete Ji Hoon sanft. „Er und Yukki hätten zweifellos etwas geändert. Das habe ich auch zu spät eingesehen. Ich dachte, dass sie nur herumreden würden und nichts unternehmen – aber da habe ich sie wohl unterschätzt. Jetzt weiß ich, dass-“

„Aber Yukki ist tot!“, stieß Rose verächtlich hervor.

„Ju-ken nicht“, widersprach Ji Hoon ihm ruhig.

Rose war eine Weile still und schaute dann zu Hakuei, der ihm beruhigend zulächelte. Daraufhin nickte Rose leicht und sah seinem Gegenüber wieder in die Augen. „Ich kann nur immer noch nicht glauben, dass unser Kampf umsonst gewesen sein soll.“

„War er nicht. Wataru ist nicht mehr Bürgermeister und die Zukunft Lokis ist zwar ungewiss, aber sicherlich besser als die Gegenwart.“

Einige Minuten später wurde die Zellentür erneut aufgeschlossen und Jae Wook betrat zögerlich die Zelle, als er jedoch merkte, dass Rose nicht mehr reglos dasaß, entspannte er sich etwas. „Ich... werde freigelassen“, meinte er. „Sie meinten, ich sei mehr oder weniger hineingerutscht und hätte niemanden ernsthaft verletzt. Ich... kann gehen.“ Er erwartete beinahe, von Rose Spott und Häme zu ernten, stattdessen stand der Schwarzhaarige auf und schloss Jae Wook fest in seine Arme.

„Es tut mir leid“, murmelte Rose aufrichtig und tauschte ein kurzes Lächeln mit dem anderen aus. „Unterstütz Miya und Ju-ken, ja?“

Jae Wook nickte. „Und versprich mir eines, Rose: Riskier bitte nicht wieder so leichtfertig dein Leben.“

Er wollte bereits gehen, da sprach Ji Hoon ihn noch einmal an: „Wie heißt du noch mal? Jae Wook Kim?“ Der Angesprochene nickte. „Ich werde wohl noch eine Weile hier bleiben, komm mich doch mal besuchen und halt mich über das Geschehen da draußen auf dem Laufenden.“ Jae Wook nickte erneut und schenkte Ji Hoon ein letztes Lächeln, dann verschwand er.

Für den Jugendlichen betraten zwei andere Personen den Raum und ließen die Tür hinter sich schließen. Miya und Ju-ken wirkten abgespannt und innerlich aufgewühlt, waren aber zumindest nicht verletzt.

„Wie es aussieht, lassen die aus Odin Loki doch noch mal in Ruhe“, begann Ju-ken. „Sie wollen uns wohl wirklich regieren lassen, weil sie gemerkt haben, dass wir es tatsächlich ernst meinen.“

„Jetzt doch?“, wollte Rose wissen. „Ich dachte, du hast dich dagegen gesträubt, Yukkis Platz einzunehmen.“ Er stand langsam und mühevoll auf und ließ sich gleich wieder neben Hakuei auf der Pritsche nieder, woraufhin der andere ihm einen Arm um die Taille legte und ihn dicht an sich zog. Der Kontakt schien beiden gut zu tun.

„Wenn ich will, dass Yukki nicht umsonst gestorben ist, werde ich für das kämpfen, was er erreichen wollte“, bestätigte Ju-ken mit einem grimmigen Lächeln. „Die Leute aus Odin bleiben so lange hier, bis die Situation sich beruhigt hat. Ihr wollt nicht wissen, was im Moment in der Öffentlichkeit los ist. Es ist ein Spektakel sondergleichen.“

„Ich habe veranlasst, dass sowohl Yukki als auch Typhoon respektvoll begraben werden“, fuhr Miya ruhig fort. „Wataru wollte wohl Yukkis Leiche verbrennen lassen, um zu vertuschen, dass er überhaupt nicht drogenabhängig war, aber wir sind noch rechtzeitig gekommen.“

„Warum seid ihr eigentlich nicht verhaftet worden?“, wollte Ji Hoon neugierig wissen. „Ansonsten wurden ja alle, die sich hier aufgehalten haben, eingesperrt.“

Miya zog einen Mundwinkel zur Seite. „Wir waren diejenigen, die Odin Bescheid gegeben haben. Sie wollten wohl ohnehin einige Inspektoren hierher schicken, aber als wir sie angerufen haben, sind sie gleich mit ihrer ganzen Armee hier angerückt. Glücklicherweise, muss man dazu sagen, sonst wärt ihr sicherlich noch von Watarus Leuten erschossen worden.“

„Danke“, sagte Rose leise, woraufhin Ju-ken ihm seine Zigarettenschachtel hinhielt. Als der Schwarzhaarige begriff, dass nur Kaugummizigaretten darin waren, nahm er sich eine und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Was allerdings eure Verhaftung angeht...“, begann Miya zögerlich. „Wir können euch nicht ohne Weiteres freilassen. Rose, du beispielsweise hast zwei Menschen getötet und etliche verletzt, du hättest auch beinahe Wataru erschossen. Wir wollen unsere Regierungszeit nicht mit einer himmelschreienden Ungerechtigkeit beginnen, daher können wir nichts daran ändern, dass ihr verurteilt werdet, so gern wir auch würden.“

Die Anwesenden nickten ernst.

„Fast alle von den anderen allerdings können wir freisprechen, da sie höchstens jemanden verletzt haben. Wie durch ein Wunder ist außer Typhoon und den beiden Bodyguards niemand aus euren oder den anderen Reihen gestorben, trotz der umfassenden Schießerei – das lag wohl hauptsächlich daran, dass die meiste eurer Munition Platzpatronen waren, was die Situation für euch deutlich erleichtert“, fügte Miya hinzu, woraufhin die anderen wieder nickten, etwas beruhigter. „Das bedeutet, wir könnten jeden laufen lassen bis auf euch drei. Wir müssen für die anderen viele Augen zudrücken, da die Aktion heute nicht eure erste war, aber dafür nehmen wir es in Kauf, dass wir auch bei den anderen, bei Watarus Leuten, etliche freisprechen, die wir sonst eingesperrt hätten. Habt ihr Einwände?“

Rose öffnete den Mund, dachte jedoch noch einmal nach, bevor er etwas erwiderte, und schüttelte dann den Kopf.

„Wenn es euch die Freilassungen erleichtert, schiebt es auf mich“, meldete Ji Hoon sich zu Wort. „Behauptet, ich hätte manche Mitglieder erpresst, damit sie mitmachen, oder so etwas. Ich werde alles bestätigen – ich fühle mich für alles, was passiert ist, verantwortlich, und ob ich jetzt zehn Jahre hier drin sitze oder zwanzig...“ Er zuckte mit den Schultern.

„Das kannst du nicht machen“, widersprach Rose leise. Ji Hoon lächelte nur.

„Wir werden darauf zurückkommen“, mischte Ju-ken sich wieder ein. „Das wären also nur noch zwei. Rose, Hakuei, wollt ihr unbedingt euer ganzes Leben in Loki zu verbringen?“ Verwirrt schüttelten die beiden ihre Köpfe.

„Schön“, nickte Miya. „Ihr wisst ja, dass seit Wataru die Sicherheitsvorkehrungen in den Gefängnissen bei Weitem nicht so sind, wie sie sein sollten, und da kann es durchaus passieren, dass manche Gefangene durch einen unglücklichen Zufall leider die Freiheit erlangen...“

Als die Erkenntnis dessen einsank, was Miya gerade eben gesagt hatte, mussten sowohl Rose als auch Hakuei grinsen. „Das könnt ihr eigentlich nicht bringen“, bemerkte Hakuei.

„Liegt ja an Wataru“, meinte Ju-ken schulterzuckend. „Wenn ihr draußen seid, ruft mich an, ich habe euch bis dahin neue Papiere besorgt. Geht nach Thor oder so, ich habe gehört, da sollen Koreaner nicht die geringsten Probleme haben.“

„Und wir versuchen in der Zwischenzeit, Loki menschenfreundlich herzurichten“, fügte Miya hinzu.

Die anderen drei versuchten sich an einem Lächeln.
 

~*~



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