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24 Days

Ein Adventskalender, ursprünglich für Tattoo, nun zugänglich für alle!
von

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04.12. Loki, Scene 2: Wrath

Der zweite Teil der Loki-Serie, inspiriert durch und gebeta'd von Tattoo!
 

~*~
 

Oberste ungeschriebene Regel, wenn man als Koreaner nachts unterwegs war: Immer ein Messer dabeihaben.

Besonders in letzter Zeit war die Feindseligkeit meinen Gleichartigen gegenüber spürbar geworden, ich hatte einen Bekannten, dessen Haus geplündert und größtenteils zerstört worden war – und das nur, weil er sich mit dem falschen Kerl angelegt hatte. Er hatte zwar die Polizei gerufen, doch die hatte nur mit den Schultern gezuckt und ihm mitgeteilt, dass sie die Übeltäter wohl kaum finden würden. Einer der Polizeibeamten hatte wohl sogar deutlich gemacht, dass er außerhalb seiner Dienstzeit mitgemacht hätte.

Wir Koreaner waren vor etwa achtzig Jahren nach Loki gekommen, teils aus Neugier, teils mit der Hoffnung, dort am Rande des Gesetzes ein mehr oder minder friedvolles Leben führen zu können. Koreaner waren überall im Königreich der Götter nicht sonderlich anerkannt oder geachtet, doch in den anderen Städten galten die herrschenden Gesetze gegen offene Diskrimination und Rassismus wenigstens. Das war unseren Vorvätern nicht klar gewesen, sie empfanden das kalte, distanzierte Verhalten der japanischen Bürger in den anderen Städten als unerträglich. Sie waren dort nicht direkt ausgegrenzt, aber doch deutlich nur toleriert und nicht akzeptiert worden. Also hofften diejenigen, die nach Loki gewandert waren, auf ein toleranteres, aufgeschlosseneres Verhalten hier, in der Stadt der Sünden, in der Stadt mit dem verlockenden Antlitz und den allgegenwärtigen Intrigen.

Zuerst interessierten sich die Bewohner lediglich milde für die neue ‚Rasse’, die Loki bevölkerte, schenkte ihnen jedoch kaum Beachtung. Da viele Koreaner die Wiederholung der Gleichgültigkeit wie in den anderen Städten fürchteten, entwickelten sie den Wunsch, respektiert zu werden. Sie erhofften sich diese Anerkennung dadurch, dass sie der Unterwelt der Stadt bewiesen, dass auch sie hart zuschlagen, kompromisslos verhandeln, effizient dealen, unerkannt schmuggeln sowie unentdeckt morden konnten. Das war jedoch der völlig falsche Weg, denn obwohl Verbrechen in Loki alltäglich waren, so wurden sie dennoch längst nicht von der großen Mehrheit befürwortet – das hatten unsere Vorväter falsch eingeschätzt. Und so wurden sie selbstverständlich als Unruhestifter, als Halunken, als Ratten gebrandmarkt, man begann, sie zu verachten.

Und in dem Moment, in dem wir Koreaner als ‚Knoblauchfresser’, Störenfriede, Abschaum abgestempelt wurden, hatten wir keine Chance mehr.

Ich, der bereits zur dritten Generation gehört, hatte allerdings mit den Taten meiner Vorfahren kaum etwas zu tun, was die Öffentlichkeit jedoch nicht interessierte. Die Vorurteile der Bürger waren derart ausgeprägt, eingebrannt und tief verankert, dass es sicherlich weitere achtzig Jahre dauern würde, um Loki davon zu überzeugen, dass nicht alle Koreaner Gauner und Betrüger waren. Das Problem dabei war folgendes: Die Bewohner Lokis brauchten uns als Sündenböcke. Das Leben lebte sich beschwingter, hatte man einen Prügelknaben im Schrank, den man nach Belieben herausholen und schlagen konnte.

Der amtierende Bürgermeister, ein gänzlich unsympathischer und wirklich grässlicher Kerl namens Wataru, hatte es sich in den Kopf gesetzt, sämtliche Koreaner Lokis auszurotten. Dass er das legal überhaupt nicht hätte ausführen KÖNNEN, interessierte ihn einen feuchten Dreck, ich kannte etliche, die durch einige seiner Razzien Freunde oder sogar Verwandte verloren hatten.

Und obwohl ich viel Rassismus, Tragödien und Gewalt mitbekam – ob nun am eigenen Leib oder als Geschichte erzählt –, ich hatte einen Grundsatz entwickelt: Ich würde das Gegenbeispiel des Vorurteils des hinterhältigen Koreaners werden. Nun, mit zweiundzwanzig Jahren, hatte ich nicht eine Straftat begangen (weder eine registrierte noch eine, von der nur ich selbst wusste), hielt mich für einen freundlichen jungen Mann und war inzwischen sogar so weit, dass ich meine Nachbarschaft davon überzeugt hatte, dass ich alles andere darstellte als einen gerissenen Intrigant.

Trotz allem trug ich nachts immer ein Messer bei mir.
 

In dieser Nacht jedoch schien ich es nicht zu brauchen. Es war kurz nach drei, und es war kaum jemand auf den Straßen. Ich wohnte in einem der ruhigeren Stadtviertel (was bedeutete, dass die Kriminalitätsrate lediglich bei Einbrüchen sehr hoch war, sich ansonsten aber deutlich positiv von anderen Stadtteilen abhob), und so war ich nur selten angepöbelt worden. In der U-Bahn kam es häufiger vor, das schon, deshalb ging ich auch zu Fuß.

Sich zu Fuß durch mein Viertel zu begeben war ohnehin viel interessanter, weil ich so auf die ganzen Wahlplakate aufmerksam wurde. In Loki wurde der Bürgermeister alle drei Jahre wiedergewählt – oder zumindest war dies zuvor der Fall gewesen. Ein Bürgermeister verlor nur dann sein Amt, wenn er selbst zurücktrat (was so gut wie nie vorkam), umgebracht wurde oder starb, von Odins Regierung abgesetzt wurde (bis jetzt erst ein einziges Mal nach dem legendären Massengenozid vor zweihundert Jahren passiert) oder derart große Scheiße baute, dass er aus der Stadt fliehen musste. Und für einen aufstrebenden, charismatischen (würg) jungen Kerl wie Wataru hätte es ein Leichtes sein müssen, sein Amt zu behalten.

Doch hatte Wataru und auch die ganze Stadt mit einem nicht gerechnet: Dass sich Konkurrenten trauen würden, an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gab dieses dynamische Duo, wie es oft spöttisch genannt wurde, bestehend aus Miya und Yukki. Die beiden wollten durchsetzen, dass in Loki die gleichen Gesetze herrschten wie in den anderen Städten. Man könnte meinen, dass solch weltfremde Ansichten nur von Leuten stammen konnten, die außerhalb Lokis aufgewachsen waren, aber nein, sie waren eingefleischte Bürger dieser verdammten Stadt. Und trotzdem versprachen sie, das Unmögliche möglich machen zu wollen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sie das durchsetzen wollten, aber bitte. Es hieß, ihre Chancen, Sympathisanten unter der Bevölkerung zu finden, die das alte Machtregime abschaffen wollten, stünden äußerst hoch.

Ich befürwortete ihre Ideale selbstverständlich ebenfalls, allerdings fürchtete ich, dass Wataru sie niederschmettern wollte. Und welche Methoden er dafür fand, wollte ich mir nicht einmal im Traum ausmalen.
 

Ich wollte gerade in die Straße einbiegen, in der ich wohnte, als ich jemanden vor dem Geldautomaten stehen sah. Er befand sich im Halbdunkel, da das Licht der Straßenlaterne nicht vollständig bis zu ihm erreichte, und so war er in einen diffusen Schein getaucht. Wäre es ein normal gebauter Japaner oder ein typischer Gangster gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich einfach abgewandt und eventuell noch die Polizei gerufen – wobei es mir durchaus passiert war, dass ich einige Verbrechen gemeldet hatte, als ich jedoch meinen Namen angeben musste, einfach aufgelegt wurde. Seitdem benutzte ich einen japanischen Decknamen, wann immer ich mit einer Behörde in Kontakt trat.

Aber nein, die Gestalt, die ganz offensichtlich den Geldautomaten knackte, schien ein schlanker, hochgewachsener Jugendlicher zu sein, der vollständig in Schwarz gekleidet war. Von einem Gleichaltrigen musste ich wohl keine Angst haben, und so ging ich zu ihm hin und tippte ihm auf die Schulter. Er fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte mich einen Moment mit großen, ertappten Augen an, bis er diese jedoch kurz verengte und sich etwas aus dem Licht lehnte, um mein Gesicht besser erkennen zu können.

„Erschreck mich doch nicht so!“, murmelte er dann erleichtert und schüttelte missbilligend den Kopf, bevor er sich wieder an seine Arbeit machte. Er hatte den Automaten bereits geknackt und war gerade dabei, das erbeutete Geld in eine braune Papiertasche zu stopfen.

„Ehm“, machte ich und wusste nicht so recht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Ich hatte mit vielem gerechnet, dass er auf mich los ging oder die Flucht ergriff, aber nicht damit, dass er mich offenbar mit einem Komplizen verwechselte oder so etwas. „Ich bin- ich meine...“

Der Jugendliche wandte sich mir wieder zu, und erst in dem Augenblick begriff ich: Er war ebenfalls Koreaner und hielt mich offenbar für einen Befürworter sämtlicher koreanischer Verbrechen. Er wollte bereits etwas sagen, wurde jedoch von einem lauten Rufen unterbrochen: „Hey! Was machen Sie da?! Hände hoch und stehen bleiben!!“

Erneut trat in das junge Gesicht meines Gegenübers Gehetztheit, dieses Mal jedoch von einer wilderen statt einer ertappten Art. „Komm“, zischte er noch zu mir und begann in die entgegengesetzte Richtung der Stimmen zu rennen. Ich stand wie gelähmt da, kaum fähig, die Geschehnisse zu begreifen, und sah zwei Nachtpolizisten auf mich zustürmen. Ich hatte nichts getan, daher hatte ich nichts zu befürchten. Oder?

„Die glauben dir eh nicht!“, rief der Dieb mir mit einem beinahe verzweifelten Tonfall zu, „Jetzt komm!“

In dem Augenblick, in dem ich die Schlagstöcke in den Händen der Polizisten bemerkte, sickerte die Erkenntnis in mir durch: Der Koreaner hatte Recht. Sie würden mir nicht glauben, das stand fest, da konnte ich sagen, was ich wollte. Ein Koreaner blieb ein Koreaner. Ich wirbelte herum und wollte ebenfalls losrennen, doch da hatten sie mich schon erreicht. Ein unbändiger, scharfer Schmerz durchfuhr meinen gesamten Körper, als ich den ersten Schlag auf meine Schulter kassierte. Er brannte wie Feuer, das nur noch vom zweiten Schlag auf mein Rückgrat verdrängt wurde.

In meinem halb benommenen, halb mit Adrenalin durchfluteten Bewusstsein stolperte ich los, erst unsicher, dann wurde mir erneut die Gefährlichkeit der Situation bewusst, und so rannte ich los. Ich rannte so schnell ich konnte, nahm die erste Abbiegung in eine kleine Seitenstraße und bog bei der nächsten Ecke erneut ab, bestrebt, meine Verfolger so schnell wie möglich abzuhängen. Ich musste nur dafür sorgen, dass ich außerhalb ihrer Sichtweite geriet, und mich dann verstecken.

„Hier lang!“, hörte ich da eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Der Jugendliche, der eigentlich gejagt wurde, winkte mich in eine Seitengasse. Als ich bei ihm ankam, packte er meinen Ärmel und zerrte mich mit sich, da mein Bewusstsein sich langsam verklärte. Die Schläge pochten unangenehm, und mit jedem Herzschlag erschienen schwarze Punkte in meinem Blickfeld. Lange würde ich nicht mehr durchhalten. „Nicht mehr weit“, teilte mein Retter mir mit und schenkte mir ein zuversichtliches Lächeln. Wir rannten noch durch einige andere Straßen, bis er plötzlich stehen blieb, an eine kleine Seitentür schlug und sich ungeduldig umsah. Als die Tür geöffnet wurde, schubste er mich hinein und folgte mir nach, schloss die Tür hinter uns. Im Stockdunklen führte er mich sicher hinter sich her, bis endlich ein Lichtschein in den engen Flur fiel.

Kurz darauf befand ich mich in einer der seltsamsten Gesellschaften, die mir je begegnet waren: Es waren noch zwei junge Koreaner anwesend, von denen der eine aussah, als könnte er in einer Popgruppe Frontsänger sein, der andere besaß jedoch lange voluminöse Dreadlocks und trug eine Sonnenbrille. Der Dritte im Bunde war ein Japaner, der über und über tätowierte Arme, zerzauste teilweise blond gefärbte Haare sowie einen beachtlichen Bart hatte. Er war sicherlich schon Mitte Dreißig und passte nicht so recht zu den anderen Jugendlichen.

Mein Retter schließlich, der außer seinen vollständig schwarzen Klamotten keine Besonderheit an sich hatte, stellte sich selbst als Rose vor und benannte die anderen (in der Reihenfolge) als Attack, X-mas und Ju-ken (offenbar der einzige ohne Decknamen). „Es muss Schicksal sein, das uns zusammengeführt hat“, fügte der Schwarzhaarige hinzu, warf seine Papiertüte in eine Ecke des nicht besonders großen Raumes und nahm seinen offenbar angestammten Platz auf dem Sofa des spärlich möblierten Wohnzimmers ein, neben dem Japaner, den er als Ju-ken bezeichnet hatte. Beinahe mechanisch griff er nach dessen Zigarettenschachtel und nahm sich eine davon heraus, schob sie sich zwischen die Lippen.

Augenblicklich lehnte einer der anderen beiden Koreaner sich vor und nahm ihm seine neue Errungenschaft wieder ab. „Keine Kippen, Rose, das hat der Boss verboten.“

„Ist Kaugummi, Mann!“, beschwerte Rose sich daraufhin, schnappte sich die Kaugummizigarette und packte sie aus.

„Bin grad dabei, es mir abzugewöhnen“, erklärte Ju-ken schulterzuckend. „Immer, wenn ich Lust kriege zu rauchen, nehme ich mir eine davon. Hilft echt.“

Rose schien aufzufallen, dass ich mich doch sehr fehl am Platze fühlte, da meine Schmerzen kaum verklungen waren und ich nichts von dem begriff, was um mich herum geschah. Schicksal sollte uns zusammengeführt haben? Er winkte mich zu sich und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen; anschließend wies er den Dreadlock-Typ an, mir Kühlakkus zu holen, ehe er mein Shirt wie selbstverständlich nach oben schob. „Ich glaube, das werden Blutergüsse“, stellte er leise fest und strich vorsichtig über die beiden schmerzenden Stellen. „Er hier wurde gerade erwischt. Und ratet mal, warum?“

„Weil er ein Koreaner ist“, bemerkte der andere Jugendliche, der meines Wissens nach Attack hieß, trocken.

„Weil er sich angeguckt hat, wie ich den Geldautomat ausgeraubt habe.“ Rose tippte sich an die Stirn. „Du kannst es dir nicht mal mehr erlauben, einen Polizisten länger als eine Sekunde anzusehen, weil er sich dann schon provoziert fühlt. Die spinnen doch.“ Er nahm dem gerade wieder erschienenen X-mas die Kühlakkus ab und drückte sie behutsam auf die entsprechenden Stellen auf meinem Rücken, was mich leise aufkeuchen ließ. Ich fragte mich, in was für einer Gesellschaft ich mich hier befand. Als hätte Rose meine Gedanken gelesen, begann er in dem Moment zu erklären: „Weißt du, wir gehören zur Ji-Hoon-Gruppe.“

Das nahm mich erneut für einige Herzschläge den Atem. Ich hatte von dieser radikalen Gruppe gehört, die hauptsächlich aus Jugendlichen bestand und von einem Drahtzieher namens Ji Hoon Joo rekrutiert wurde. Sie wuchs den Gerüchten nach ständig und schien sich auf einen Guerillakrieg vorzubereiten. Derjenige, der den vorletzten Bürgermeister erschossen hatte, soll Ji Hoons Onkel gewesen sein, und überhaupt hatte er wohl in fast allen Regierungsmorden seine Finger im Spiel. Er sollte für die Ermordung des letzten Polizeichefs verantwortlich sein, zusätzlich noch etliche Anschläge auf das Rathaus vorgenommen und nun auch Wataru im Visier haben. Durch seinen Krieg im Verborgenen bezweckte er angeblich, die Situation der Koreaner zu verbessern.

Ich persönlich sympathisierte mit den Idealen, die Ji Hoon vertrat – Gleichberechtigung von Japanern und Koreanern, Abschaffung des Polizeistaates –, nur missfielen mir seine Taten zutiefst. Man konnte doch keine Anerkennung der Koreaner durch Blut von Regierungs- und Polizeibeamten erzwingen. Um das zu erreichen, musste man das Volk umstimmen, musste man an die Öffentlichkeit gehen und durfte sich nicht verstecken. Dennoch gefielen mir die ungeschriebenen Regeln der Gruppe: Es durften keine Zivilisten zu Schaden kommen, und man durfte ausschließlich nur gegen diejenigen kämpfen, von deren Schuld man überzeugt war. Sowohl der Polizeichef als auch einige andere ermordete Polizisten waren direkt oder indirekt für etliche Tode unter den Koreanern verantwortlich. Trotz allem hielt ich den Weg, den Ji Hoon eingeschlagen hatte, für den falschen.

Offenbar hatte man mich auf Roses Eröffnung hin näher beobachtet, denn nun stellte er die Frage: „Und? Wie sieht’s aus, schließt du dich uns an?“

Was passierte, wenn ich das Angebot ausschlug? Die Jugendlichen sahen zwar nicht gefährlich aus, aber sie hatten radikale Überzeugungen und waren sicherlich keine unbeschriebenen Blätter, das glaubte ich einfach nicht. Und trotzdem musste ich meinen Überzeugungen treu bleiben. Ich schüttelte den Kopf, woraufhin sowohl Attack als auch X-mas die Augenbrauen hoben. „Ich kann nicht“, erklärte ich zögerlich. „Ich finde eure Ansätze durchaus nachvollziehbar, aber ich kann mich mit dem, was ihr tut, nicht identifizieren. Tut mir leid.“

„Jetzt tu doch nicht so, als würdest du gelyncht, wenn du nein sagst“, warf Rose von schräg hinter mir ein und drehte die Kühlakkus um, sodass wieder die eiskalte Seite auf meinen Prellungen lag. Es linderte tatsächlich die Schmerzen, auch wenn es die Haut betäubte. „Ich möchte dich dann nur bitten, niemandem von uns zu erzählen, es sei denn, er will unbedingt Kontakt mit uns aufnehmen. Du weißt ja jetzt, wo man uns findet. Also, wenn du’s dir anders überlegst, wir sind hier.“ Er wuschelte freundschaftlich durch meine Haare.

Ich war derart perplex, dass ich mich zu ihm umdrehen musste. „Ihr lasst mich einfach gehen?“, wollte ich irritiert wissen.

„Klar.“ Rose zuckte mit den Schultern. „Wir sind ja keine Sekte oder so, die jeden umbringt, der sich ihnen nicht anschließt. Also bitte. Du bist ein Koreaner wie wir, und wer weiß, was du schon alles durchmachen musstest, ich kann verstehen, dass viele keine Kraft mehr haben zu kämpfen. Oder überhaupt keine Motivation. Wenn du dir Miya und Yukki mal anguckst – was machen die denn schon? Das ist doch nur hohles Gelaber, sie wollen dies machen, wollen das machen, aber im Endeffekt kriegen sie nix hin. Typisch.“

„Pass du mal schön auf, dass du deine Verbündeten nicht beleidigst“, mischte Ju-ken sich mit einem leichten Grinsen wieder ein.

Rose wandte sich ihm zu, sein Gesicht seine Aufgebrachtheit deutlich widerspiegelnd. „Sie mögen unsere Verbündete sein, und wenn sie gewählt werden, haben wir schon echt viel erreicht, aber ihr dummes Gerede von Demokratie hier und Gerechtigkeit da geht mir tierisch auf den Keks.“

„Ihr seid verbündet?“, wagte ich es, eine unwissende Zwischenfrage zu stellen.

„Noch bevor die beiden ihren Wahlkampf begonnen haben, haben sie uns kontaktiert“, nickte Rose. „Sie haben uns versprochen, dass sie alles tun werden, was in ihrer Macht steht, um die Situation von uns Koreanern zu ändern, und hoffen, dass wir bis dahin unsere Aktionen einschränken, um das Ganze nicht noch schlimmer zu machen. Also bitte, als ob wir irgendetwas verschlimmern, wenn wir ein paar dieser hirnverbrannten Arschkriecher da hinrichten.“

Also so langsam wurde es selbst mir etwas zu heftig. Ich war ja sozusagen in die Hochburg der Ji-Hoon-Gruppe geraten, abgesehen davon, dass er selbst nicht anwesend zu sein schien. Aber Rose war ein klarer Verfechter von dessen Ideologie.

„Ach ja, wie heißt du eigentlich?“, wechselte dieser gerade das Thema und wirkte mit einem Mal nicht mehr wie ein fanatischer Guerilla, sondern wie der charismatische junge Koreaner, der er sicherlich eigentlich war. Oder hätte sein können.

Das war eine Frage, auf die ich willig antworte, nur um zu einem anderen Thema zu kommen. „Jae Wook Kim.”

„Freut mich“, entgegnete Rose mit einem aufrichtigen Lächeln.
 

~*~
 

So froh ich gewesen war, den Klauen dieser radikalen Bande entkommen zu sein, desto überraschter war ich am nächsten Morgen, als ich von Ji Hoons Verhaftung erfuhr. Rückwirkend fiel mir auf, dass alle Anwesenden in der vorigen Nacht deutlich angespannt gewirkt hatten, wahrscheinlich hatten sie etwas Derartiges bereits befürchtet. Meine Gefühle über diese Verhaftung waren geteilt; einerseits war ich erleichtert, dass dieser Terrorist endlich gefasst worden war, auf der anderen Seite fragte ich mich, was aus Rose und den anderen werden sollte.

Die Antwort kam direkt darauf in den Nachrichten. Es wurde verkündet, dass Fahndungsfotos aller Mitgliedern des engen Kreises der Ji-Hoon-Anhänger herausgegeben wurden und sogar eine Belohnung auf sämtliche Mitglieder ausstand. Außerdem wurde es als strafbar erklärt, Mitglieder Asyl zu gewähren, sie zu verstecken oder sie in irgendeiner anderen Art zu unterstützen, sei es mit Geld, Verpflegung oder Papieren.

Das interessierte mich dann doch, und so informierte ich mich über die Liste der Mitglieder. Insgesamt umfasste sie achtundzwanzig ‚Straftäter’ und ‚Mörder’, wie sie genannt wurden. Rose war dabei, allerdings unter seinem echten Namen Min Woo No, Attack und X-mas ebenfalls, dazu noch etliche Gesichter, die mir sämtlich unbekannt waren. Ju-kens war nicht dabei. Und dann, als ich ganz unten bei der Liste angekommen war, stockte ich. Ich konnte es kaum fassen.

Mein eigenes Gesicht schaute mich an, und darunter stand mein Name.
 

„Also wenn sie es vorher nicht waren, dann sind sie JETZT vollkommen durchgeknallt!“, rief Rose stinksauer und lief ungeduldig im Raum auf und ab. „Weil sie keine Ahnung haben, wer noch zu uns gehört, BEHAUPTEN sie einfach, dass Leute wie du es tun!“ Er schaute mich aufgebracht an. „Fuck. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ich frag mir nur, wie sie an deinen Namen gekommen sind, wahrscheinlich hat einer deiner Nachbarn dich verpfiffen.“

Darüber hatte ich ebenfalls nachgedacht, und es hatte mir einen Stich ins Herz versetzt. Ich hatte mich akzeptiert gefühlt, nicht nur toleriert. Ich hatte das Gefühl gehabt, meinem Umfeld vertrauen zu können. Ich war bitterlich enttäuscht worden. Wo hätte ich anders hingehen können als zu Rose? „Was... soll ich jetzt machen? Erklären kann ich die Situation ja schlecht...“

„Quatsch, das ist das Schlechteste, was du machen kannst“, winkte auch Rose ab. „Als ob sie dir irgendwelche Beachtung schenken würden. Nein, auch wenn es dir nicht gefällt, du wirst wohl bei uns bleiben. Ich verspreche dir auch, dass du an keiner Aktion teilhaben musst, wenn du nicht willst. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, mein Gesicht kennen sie auch. Fuck. Und sie haben Ji Hoon.“ Er vergrub das Gesicht in den Händen und ließ sich auf das Sofa fallen. „Fuck, fuck, fuck“, flüsterte er leise.

„Wir holen ihn da raus“, warf Attack ein.

„So schlecht, wie Wataru die Gefängnisse bewachen lässt“, fügte Typhoon, ein weiteres Mitglied des engen Kreises, hinzu.

„Als ob sie einen so großen Fang einfach so riskieren würden“, entgegnete Rose ironisch. „Wataru masturbiert bestimmt darüber, dass er ihn endlich geschnappt hat, das sag ich euch, da können WIR überhaupt nichts ausrichten. Nicht mit den Möglichkeiten, die wir haben.“

Es klopfte an der Tür, und einen Moment später betrat Ju-ken die ‚Hauptzentrale’ der Ji-Hoon-Gruppe ohne Ji Hoon. „Neuigkeiten“, verkündete er und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf seine Kaugummizigaretten.

„Was denn?“, wollte Rose niedergeschlagen wissen und nahm sich eine, begann jedoch damit, auf ihr herumzukauen, bevor er das Papier entfernt hatte. Es schien ihn nicht zu stören.

„Yukki ist an Videos von Ji Hoons Verhaftung gekommen“, antwortete Ju-ken mit einem beinahe triumphalen Unterton. „Scheint ziemlich heftig zu sein, aber er ist wohl nicht so schwer verletzt. Trotzdem können sie diese Brutalität für ihren Wahlkampf nutzen.“

„Und was bringt uns das?!“, rief Rose, nun wieder am Rande der Hysterie.

„Hör zu“, wurde er von Ju-ken beruhigt, der das Bindeglied zwischen der Gruppe und Miya und Yukki zu sein schien. „Wenn sie Wataru als einen gefühlskalten, arroganten, brutalen Bastard hinstellen können, wird er in Loki ganz bestimmt nicht wiedergewählt. Die Bürger mögen lethargisch und schicksalsergeben sein, aber sie sind nicht dumm. Wenn sie die Wahl haben zwischen einem rassistischen rücksichtslosen Arschloch, das sämtliche Gesetze missachtet, und einem demokratischen dynamischen Duo, das dem ein Ende setzen will, was glaubst du, werden sie tun? Sich selbst die Klinge in den Rücken rammen oder einen Neuanfang versuchen?“

Darüber dachte Rose eine Weile nach, ehe er erwiderte: „Dein Wort in Lokis Ohr.“

„Das ist es bestimmt“, nickte Ju-ken.

„Das beantwortet nur immer noch nicht meine Frage, was wir davon haben – ob Ji Hoon nun unter Watarus oder unter Miyas und Yukkis Herrschaft exekutiert wird, ist gleich“, warf Rose skeptisch ein.

„Du vergisst, dass die beiden tendenziell auf eurer Seite sind. Sie werden dafür sorgen, dass er ein gemindertes Strafmaß auferlegt bekommt – ihn freilassen können sie nicht, das würde als Verrat gesehen. Aber so viel können sie erreichen. Es dauert noch drei Wochen bis zur Wahl. Wenn sie in der entscheidenden letzten Phase überzeugen können, haben wir auch schon so gut wie gewonnen.“

Das klang selbst in meinen Ohren vernünftig – ich hoffte wirklich, dass Miya und Yukki die Wahl gewinnen würden.

„Ich bin gespannt“, räumte Rose ein und fuhr sich nachdenklich durch die Haare. „Hoffen wir nur darauf, dass Wataru nicht noch einen Trumpf im Ärmel hat. Wann will Yukki die Videos an die Öffentlichkeit bringen?“

Das entlockte Ju-ken ein Lächeln. „Sie sind bereits auf dem Weg zum Hauptnachrichtensender. Wenn das Ganze vielleicht Odin erreicht, wächst der Druck auf Wataru sogar noch mehr und er wird eventuell zum Rücktritt gezwungen.“
 

~*~
 

Genau eine Woche später saß ich neben Typhoon, Rose, Attack und X-mas vor ihrem kleinen geklauten Fernseher und starrte ebenso ungläubig wie sie auf den Bildschirm.

Eine Woche, so lange hatte Wataru offenbar gebraucht, um herauszufinden, von wem die kompromittierenden Videos stammten.

So lange hatte es gedauert, dass er seinen Plan pflanzte, reifen und wachsen ließ und ihn letztendlich erntete.

So lange hatte es gedauert, bis Yukki tot war.
 

„-heute morgen. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden und starb offenbar durch eine Überdosis der neumodischen Droge StarDust. Dies wirft ein anderes Licht auf das Duo, das zuvor durch Denunziation des amtierenden Bürgermeisters Wataru Aufsehen erregte. Nun muss die Bevölkerung sich fragen, ob das ‚dynamische Duo’, wie Miya und Yukki auch genannt wurden, überhaupt fähig gewesen wäre, Loki zu regieren. Zudem kamen Gerüchte auf, dass Miya seinen eigenen Kollegen aus persönlichen Gründen beiseite schaffen-“

„HALT DIE FRESSE DU DUMME SCHLAMPE!“, schrie Rose neben mir, so laut, dass ich meine Augen etwas zukneifen musste.

„Pscht“, machte X-mas.

Rose sprang auf und wirkte, als hätte er den Fernseher am liebsten eingetreten. „Yukki war nicht drogenabhängig! Und als ob Miya ihn umbringen würde! Was erzählen sie für eine gequirlte Scheiße?! Ich könnte... ich könnte...“

„Beruhig dich, was willst du schon machen?“, fragte ich ihn leise und berührte sanft sein Bein neben mir.

„Ich? Was ich machen will??“, wiederholte er. Er hielt kurz inne und atmete einmal tief durch. „Am liebsten würde ich diesem Sack, diesem Flachwichser Wataru den Hals umdrehen. Ich bin hundertprozentig sicher, dass er für Yukkis Tod verantwortlich ist, er konnte es einfach nicht auf sich sitzen lassen, durch seinen größten Triumph auch eine Niederlage einstecken zu müssen. Ich sag euch was, Leute. Wir müssen Ji Hoon befreien.“

Rose schaute kurz in die Runde. „Und dazu müssen wir uns bewaffnen.“

Eine Stille folgte.

„Wer ist dabei?“

X-mas hob die Hand als erster, danach Typhoon. Attack ebenfalls. Und zum Schluss ich. Als ich meinen Arm hob, schenkte Rose mir ein Lächeln, das von grimmiger Zufriedenheit sprach.

Ich hätte fast ein schlechtes Gewissen bekommen.

Ich war kein Kameradenschwein, aber wenn ich so tun musste, als würde ich ihn unterstützen, um ihn vor sich selbst zu retten, nahm ich Lügen in Kauf.
 

~*~
 

to be continued~

(A/N: Rose ist mutiert und hat sich im Laufe der Geschichte immer weiter in den Vordergrund gedrängt. Eigentlich sollte er gar nicht vorkommen |D)



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