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Perlentaucher Weihnachtsmärchen 2009

~ Jeden Tag ein OneShot über Twilight zum Fest der Sinne ~
von

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Prinzessin der Winterwunderwelt

Heute wird es märchenhaft. Genau das Richtige, um sich bei Schmuddelwetter in winterliche Stimmung zu bringen ;)

Ich empfehle dazu ein gemütliches Sofa, eine Kuscheldecke und heißen Kakao...
 

Titel: Prinzessin der Winterwunderwelt
 

Autor: Lyrah
 

Hinweis: Dieser OS lässt sich nicht mit Logik erklären oder ins Buch einordnen.
 

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An diesem Morgen quälte ich mich nur mühsam aus dem Schlaf. Vielleicht lag es daran, dass es draußen stockfinster war, vielleicht war es aber auch meine Schuld. Ich wollte zurück in meine selbstgebaute Traumlandschaft, zu meinen selbsterfundenen Traumfiguren. Es war weich und kuschelwarm unter meiner Decke und ich hatte nicht das allerkleinste Bisschen Lust zum Aufstehen. Nichts Schönes erwartete mich in der Welt der Wachen. Nur ein paar fade Cornflakes, Kälte, draußen matschiger Schnee, eisige Straßen… deswegen natürlich Verspätung, ein peinlicher Auftritt mitten in der Schulstunde, bekichert werden… und später in den Schulgängen Tyler und Lauren beim Knutschen zusehen… Kurz gesagt, ein weiterer trister Tag mit meiner einsamen, gleichförmigen Routine

Allein der Gedanke an all die langweiligen und traurigen Dinge meines Alltags reichte aus, um meine Laune völlig zu zerstören. Gerade war ich noch an einem wunderschönen Ort gewesen, die Erinnerung daran verblasste zwar bereits, aber ich wusste noch, dass die Sonne geschienen hatte und jemand bei mir gewesen war, eine tröstliche Präsenz. Jemand, der mich so kannte, wie ich wirklich war, der alle meine Macken und Fehler akzeptierte und mich trotzdem in seinen Armen hielt. Ich seufzte und vergrub meinen Kopf tiefer im Kissen. Träum weiter, Bella Swan.

Mein Wecker piepste aufdringlich und machte nicht einmal das mehr möglich.
 

Ich setzte mich widerwillig auf, stellte den Wecker ab… und vergrub mich sofort erneut unter der Decke. Wer würde mich schon aus dem Bett zerren? Niemand. Charlie war längst auf der Polizeistation. Und warum überhaupt aufstehen? Sicher nicht wegen der Prüfung in Wirtschaft und Recht! Die konnte mir gestohlen bleiben, mein Notenschnitt war da sowieso längst ein Kandidat für das Bestattungsamt. Vermissen würden sie mich in der Schule nicht, es waren sowieso andauernd Schüler erkältet oder mit Grippe im Bett. Vielleicht würde gar niemand merken, dass ich nicht da war.

Ich glitt zurück in den Halbschlaf, aber diesmal fand ich nicht wieder in meine schöne, selbstgebaute Traumwelt. Der Gedanke, dass es niemandem auch nur auffallen würde, wenn ich nicht da war, folgte mir unbemerkt.
 

Von einem Augenblick auf den nächsten war ich hellwach. Mein Herz raste schmerzhaft schnell und es rauschte in meinen Ohren. Ich war verzweifelt, alles war falsch gekommen und ich fühlte mich schuldig… irgendetwas hatte ich falsch gemacht, alle waren gegen mich und ich hatte keine Ahnung, wie das jemals wieder in Ordnung kommen sollte, es war so furchtbar! Ich atmete viel zu schnell und ein Stich ging durch meine Brust. Es dauerte einige Sekunden, bis ich langsam meine Orientierung wiederfand. Tageslicht drang durch mein Fenster und erhellte die vertrauten Umrisse meines Zimmers. Es war nur ein Alptraum gewesen.

Die Erleichterung war mindestens so heftig wie die Panik zuvor. Alles war gut, sagte ich mir. Die Erinnerung an den Traum schwand wie Wasser, das durch die Finger rieselte, und nach ein paar Sekunden blieb nur noch ein heftiges Gefühl der Zurückweisung. Es wollte nicht verschwinden und schien sich wie ein dumpfes Gewicht auf meinen Brustkorb zu legen. Aber es war nur ein Traum gewesen… alles war gut. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker und korrigierte mich: Fast alles war gut. Ich würde mitten in die erste Stunde spazieren.
 

Als ich ins Bad schlurfte, waren meine Füße schwer wie Blei. Die Bella, die beschlossen hatte, die Schule zu schwänzen und in ihre Traumwelt zurückzukehren, war weg. Gestorben war sie. Der Alptraum hatte alles kaputt gemacht und jetzt war mir nur noch kalt und ich hatte Angst. Vor was genau konnte ich nicht einmal sagen. Vor dem Moment, wenn ich ins Schulzimmer platzte, aber irgendwie auch vor dem ganzen Tag. Warum hatte ich nicht den Mut, einfach blau zu machen und mich mit einem Tee und einem guten Buch bequem einzurichten? Aber so war es schon immer gewesen. Die Erwartungen der anderen waren mir zu wichtig und machten mir Angst. Besonders die meiner Mitschüler. Ich starrte in den Spiegel und ein mutloses Mädchen ohne Rückgrat schaute zurück.

Mein Blick fiel auf den Kalender und ich stöhnte auf. Es war Dezember, sogar schon der dritte. Weihnachten war das Letzte, was ich im Augenblick wollte. Ich war so beschäftigt mit meinen Ängsten und meinem Widerwillen, dass ich ins Schlafzimmer zurückschlurfte ohne zu bemerken, dass ich nicht länger alleine war.
 

Um nicht zu stolpern hatte ich den Blick auf meine Füße gerichtet und hielt den Kopf gesenkt, bis mich ohne Vorwarnung kalte Luft ins Gesicht traf. Erschrocken starrte ich nach vorne und vergaß vor Schreck zu Atmen. Mein Fenster war sperrangelweit offen und da saß jemand … da saß jemand auf meinem Fensterbrett! Schneeflocken wirbelten ins Zimmer und die Gestalt grinste mich an, wobei sie weiße Zähne entblößte. Dunkle Haare umrahmten ein Gesicht, das ich nicht erkennen konnte, weil es im Schatten lag. Der Fremde war groß, es musste ein Mann sein. War er etwa an der Hauswand hochgeklettert?

Ich begann zu zittern und meine Beine fühlten sich sehr schwach an. Mein Kopf war wie leergefegt, kein Gedanke kam, keine Erklärung.
 

„Endlich bist du fertig!“, erklang eine muntere Stimme. „Hier, Bella. Fang!“
 

Ich sah eine Bewegung und dann kam etwas Kleines auf mich zugeflogen. Aus einem Reflex heraus hob ich die Arme und fing das Ding, bevor es mir ins Gesicht klatschen konnte. Es war weich und flauschig und… es war eine Nikolausmütze. Eine schöne, rote Nikolausmütze aus Samt mit einem weißen Bommel.
 

„Zieh sie an, bevor du hier erfrierst!“, tönte es erneut. Die Stimme des Fremden war tief, aber er klang nicht bedrohlich, sondern freundlich und sehr gut gelaunt. Und er hatte Recht, ich fror in der Tat erbärmlich. Meine Finger waren eiskalt und fühlten sich ganz klamm an. Die Temperatur in meinem Zimmer glich der eines Iglus und es waren noch mehr Schneeflocken ins Zimmer gewirbelt. Teilweise bedeckten sie schon den Boden und machten keine Anstalten zu schmelzen. Wie seltsam…

Eigentlich hätte ich schon längst weglaufen müssen, raus aus dem Haus… oder ans Telefon und die Schnellwahl für Charlies Revier wählen. Aber alle logischen Gedanken waren verschwunden. Und der Mann klang nett. Nein, nicht nur nett… er klang liebevoll. Ja, das war das richtige Wort.
 

„Anziehen! Na los.“ Der Fremde war nicht sehr geduldig, denn kaum hatte er die Worte gesprochen, machte er einen Satz und stand nun ganz in meinem Zimmer. Ich zuckte zusammen und verkrampfte meine Finger in der Mütze. Jetzt war sein Gesicht im Licht und ich konnte ihn endlich richtig erkennen. Im selben Augenblick wusste ich, dass er kein Mensch war. Er konnte nichts sein, was sich mit Logik oder Biologie erklären ließ. Das hier war Fantasie. Ein Traum. Ja, ganz genau – es musste ein Traum sein.

Der Fremde war ein Mann, aber sein Gesicht war das eines Engels.
 

Ich war vollkommen sprachlos. Als erstes fiel mir auf, wie ungewöhnlich ebenmäßig seine Züge waren. Es sah aus, als wären die Linien gezeichnet worden, sein Kinn, seine Nase, die geschwungenen Augenbrauen. Vermutlich war es diese Schönheit, dieses Maß an Perfektion, das ihn nicht menschlich wirken ließ.

Als zweites fiel mir auf, wie viel Tiefe dieses Gesicht besaß. Seine Augen blickten mich sanft und freundlich an, ohne Scheu und mit entwaffnender Aufrichtigkeit. Er war echt, das alles hier war echt. So etwas konnte meine beschränkte Fantasie sich nicht selbst ausdenken. Er musste einfach echt sein…

Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, das ihn vollkommen unschuldig machte. Zugleich war es ein einladendes Lächeln. Es war jene Sorte Lächeln, die dem Betrachter das Gefühl vermittelte, erwünscht und willkommen zu sein. Es vermittelte genau das richtige Maß an Sicherheit und Geborgenheit, um meine Ängste aufzulösen und meinen Beinen den festen Stand zurückzugeben.
 

Ich holte Luft und setzte zum Sprechen an, doch sein Lachen unterbrach mich.

„Lass das lieber bleiben“, sagte er, „Von mir bekommst du keine Antworten.“ Er zwinkerte mir zu und ich schloss schnell den Mund. Irgendwie war er einschüchternd, trotz dieser sanften Augen.

„Du erfrierst hier wirklich bald“, meinte er mit hochgezogener Augenbraue.

„D-du hast d-das Fenster aufg-gemacht!“, brachte ich bibbernd und wenig geistreich hervor.

„Aber ich hab dir auch etwas mitgebracht, das dich wärmt“, gab er zur Antwort.

Ich starrte auf die Mütze in meinen Händen und zweifelte an meinem Verstand. „Das Ding soll…?“

„Die Kälte vertreiben.“ Er trat einen Schritt auf mich zu.

Ich drehte die Nikolausmütze in den Händen. Das kleine Stückchen Stoff sollte etwas bewirken? Dazu müsste es schon magische Kräfte haben. Aber wenn ich diese engelhafte Gestalt vor mir betrachtete, erschien mir auch Magie plötzlich gar nicht mehr so unrealistisch.
 

Meine Hände schmerzten vor Kälte, als ich den Griff lockerte, die Mütze noch einmal eingehend musterte und sie dann aufsetzte und über die Ohren zog. Einige Sekunden vergingen… und noch ein paar weitere. Es geschah gar nichts.

„Ich friere immer noch“, stellte ich trocken fest.

Der Engel, wie ich ihn inzwischen getauft hatte, musterte mich aus unergründlichen Augen. „Vielleicht dauert es eine Weile, bis du auftaust.“
 

Ich war mir fast sicher, dass er enttäuscht wirkte, doch dann lächelte er plötzlich wieder und alles schien gut. Schneeflocken tanzten in der Luft zwischen uns und mir fiel auf, dass inzwischen eine Menge Schnee in meinem Zimmer lag. Der Boden war fast vollständig weiss, das Bett war von Raureif bedeckt und auf all meinen Bildern und Fensterscheiben prangten Eisblumen.

„Was… was ist hier los?“ Entsetzt starrte ich auf die großen Schneewehen vor dem offenen Fenster. Immer mehr Flocken wirbelten herein, eine stetige Invasion.

„Komm mit“, sagte der Engel. „Hier drinnen ist es zu kalt für dich.“ Ich hatte den Verdacht, dass damit mehr gemeint war als nur der Schnee. Mein Blick glitt über den zugefrorenen Bildschirm meines Computers, den schneebedeckten Kleiderstuhl und schließlich über meine Schultasche, die kalt und steif am Kleiderschrank lehnte und bis oben hin mit Schnee gefüllt war. Ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter.
 

„Los, wir müssen gehen.“ Plötzlich erklang die sanfte Stimme direkt vor mir und dann fühlte ich zwei kühle Hände, die sich um meine legten. Ich keuchte auf vor Schreck und mein Atem kam als weiße Wolke hervor. Der Engel legte einen Arm um meine Taille und hob mich mühelos hoch, als wäre ich so leicht wie ein Kind. Mit einem Satz kauerte er im Fensterrahmen. Vor uns ging es gute drei Meter in die Tiefe.

„Nein!“, schrie ich und er sprang.
 

Ich kniff die Augen zu und machte mich auf einen schmerzhaften Aufprall gefasst, aber nichts geschah. Ein leises Lachen in der Nähe meines Ohrs brachte mich dazu, vorsichtig zu blinzeln. Wir waren am Boden – das hieß, er war am Boden und ich in seinen Armen – aber vollkommen unverletzt. Ich hatte nicht einmal gespürt, dass wir gelandet waren.

„Wer bist du… kannst du fliegen?“ Ich wendete den Kopf und plötzlich war sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter vor meinem entfernt. Unbewusst hielt ich den Atem an.

„Nein, ich kann nicht fliegen.“ Er schmunzelte. „Ich bin einfach nur sehr sportlich.“

Ich war nicht in der Lage zu antworten, denn ich schnappte gerade nach Luft. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem, flüssigem Honig und aus unbestimmten Gründen konnte ich den Blick nicht davon abwenden. Er war so schön und so traurig, aber er lächelte mich trotzdem die ganze Zeit an.
 

Der Engel drehte sich mit mir in den Armen um und ich erhaschte über seine Schulter einen Blick auf unser Haus. Mein Fenster war immer noch offen, aber es schneite nicht mehr. Ich blickte mich um und stellte fest, dass der Himmel klar war. Es dämmerte noch, aber keine Wolke war zu sehen, die auch nur das kleinste bisschen Schnee hätte hervorbringen können.

„Wie kann es sein, dass- “ Der Engel lief ohne Vorwarnung los und ich verschluckte mich vor Schreck. „Wohin bringst du mich?“, brachte ich hustend hervor.

„Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er, verlangsamte aber seinen Schritt. Wir waren schon am Waldrand angelangt. „Soll ich dich auf den Rücken nehmen?“

Ich fühlte mich tatsächlich ziemlich unwohl, wenn er mich so trug, also nickte ich. Augenblicklich hielt er an und stellte mich sanft auf die Füße. Einen Moment später war ich auch schon auf seinem Rücken und hielt mich krampfhaft fest, denn er lief mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. In ihm schien eine unbändige Kraft zu schlummern und trotzdem verletzte er mich nicht.
 

Der ganze Wald war schneebedeckt und still. Nur der Wind rauschte in meinen Ohren, weil mein Engel so schnell lief, aber Fußschritte waren keine zu hören. Vollkommen lautlos bewegte er sich durch den Wald, lief im Slalom um die Bäume und setzte in gewagten Sprüngen über gefrorene Bäche, unter deren Eisdecke das Wasser gluckerte. Die Tannen bogen sich unter der Schneelast, die ihre Äste zu Boden drückte und die kleinen, blattlosen Sträucher sahen aus, als wären sie von oben bis unten mit Puderzucker eingestaubt worden. Die ersten Sonnenstrahlen fielen schräg zwischen den Baumkronen ein und malten ein goldenes Fleckenmuster auf die weißen Flächen. Wo das spärliche Licht hinfiel, glitzerte der Schnee plötzlich strahlend hell.

Ich hatte meinen Klammergriff inzwischen gelockert und hielt mit einer Hand die Mütze fest. Mein Entführer wurde langsamer und wich spielerisch den Sonnenstrahlen aus. Nun konnte ich die winterliche Pracht um mich herum erst richtig bestaunen. Alles glitzerte und funkelte und große Eiszapfen hingen an den Felsen in den Bächen. Irgendwo sangen ein paar Vögel und einmal hörte ich raschen Flügelschlag über uns, dicht gefolgt von einer Schneekaskade, die aus einer Tanne stob und zu Boden rieselte. Auf einmal fiel mir auf, dass ich gar nicht mehr fror.
 

Der Engel lief nun langsamer und manchmal duckte er sich unter einem der einfallenden Sonnenstrahlen hindurch. Es schien ein Spiel zu sein und erinnerte mich an frühere Zeiten, als ich noch klein gewesen war. Meine Finger gruben sich fest in den flauschigen Stoff meiner Nikolausmütze.

Die Zeit hörte auf zu existieren und der Wald schien unerschöpflich an neuen Wundern. Es ging immer weiter und weiter und ich nahm den Schnee und das Eis und das Glitzern und die ganze Pracht in mir auf, bis ich mich satt fühlte.
 

„Es ist wunderschön“, murmelte ich ganz leise, um die feierliche Stille nicht zu stören. Der Engel hob eine Hand und legte sie auf meinen Arm.

„Jetzt hast du es warm“, stellte er mit zufriedener Stimme fest und ging weiter.
 

Eine ganze Weile ging der Marsch noch weiter und ich fühlte, wie ich mich zusehends entspannte. Es war warm und behaglich, obwohl ich nur leichte Kleidung trug und nicht einmal meine Jacke anhatte. Ich bildete mir ein, dass die Wärme hauptsächlich von der Nikolausmütze stammte, aber vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich mich so glücklich fühlte, so frei. Niemand starrte mich an, niemand stellte Ansprüche an mich, niemand kicherte hier hinter vorgehaltener Hand über mich. Wald und Winter hießen mich willkommen in ihrem Reich. Wenn dies ein Märchen war, dann war ich die Prinzessin. Diese Rolle hätte mir unter normalen Umständen gar nicht gefallen, aber hier fühlte ich mich ganz wohl damit. Ein Prinz hatte mich entführt und nun war ich die Eisprinzessin in meiner Winterwunderwelt.
 

Kurz darauf hielt der Engel inne und wandte den Kopf halb zu mir um. „Hier vorne musst du ohne mich weitergehen.“

„Warum? Gibt’s da eine magische Grenze?“ Das Märchenspiel war mir wohl zu Kopf gestiegen.

„Das könnte man sagen“, meinte der Engel und ich sah, dass sein Mundwinkel zuckte. Er klang allerdings nicht so, als würde er lächeln. Nach ein paar weiteren Schritten hielt er schließlich ganz an und ich glitt von seinem Rücken. Mit einem Plumps landete ich im Schnee und sank gleich bis zu den Knien ein. Ich ruderte mit den Armen, aber bevor ich fallen konnte, hielt er mich fest.

„Geh dort weiter, Bella“, sagte der Engel und zeigte auf eine Lücke in den Bäumen, direkt vor uns. Licht schien zwischen den Ästen hindurch.

„Warum kommst du nicht mit?“ Ich fühlte einen Stich in der Brust. Das Märchen hatte schneller geendet, als mir lieb war. Und es war nicht die Version, in der Prinz und Prinzessin für immer vereint waren.

„Mein Weg endet, wo die Schatten enden“, erwiderte er mit seinen unergründlichen, sanften Augen.

Ich wusste keine Antwort auf diese kryptische Aussage, also schwieg ich.
 

Plötzlich lächelte der Engel wieder und die Ernsthaftigkeit schien von ihm abzufallen. „Geh weiter, Bella. Es wird dir gefallen. Es ist richtig… richtig cool.“

„Cool?“, wiederholte ich perplex.

„Ich dachte, so sagt man das heutzutage“, meinte er mit einem entschuldigenden Schulterzucken.

„Äh… ja.“ Ich war verwirrt. Der ganze Traum wirkte mit einem Mal wieder sehr echt und realistisch.
 

„Ich muss jetzt gehen“, sagte der Engel und nickte mir aufmunternd zu. Seine Augen waren wieder traurig und die Honigfarbe hatte einen dunkleren Ton angenommen.

„Sag mir wenigstens deinen Namen!“, bat ich und fühlte mich ganz elend. Er ging und ich würde ihn niemals wiedersehen.

„Ich darf keinen Namen haben“, sagte er, „aber früher wurde ich oft Edward genannt. Behalte mich so in Erinnerung.“

„Sehen wir uns wieder?“, fragte ich leise, wohl wissend, dass dem nicht so war.

„Aber natürlich!“, kam die überraschende Antwort. Der Engel, nein… Edward schenkte mir ein letztes Lächeln, das ein wenig schief geriet, und drehte sich dann um und verschwand zwischen den Bäumen im Schatten. Ich seufzte tief, wendete mich um und ging vorsichtig auf die Lücke zwischen den Bäumen zu. Das Licht wirkte inzwischen stärker.
 

Ich war geblendet, als ich zwischen den Bäumen hindurch trat. Vor mir war nur gleißendes Weiß. Ich hielt mir eine Hand vor die zusammengekniffenen Augen und berührte dabei meine Nikolausmütze – die Mütze! Ich hatte völlig vergessen, dass ich sie noch trug! Unwillkürlich musste ich lächeln. Immerhin war mir von Edward eine Mütze geblieben… und die anhaltende Wärme in meinen Gliedern.

Mit einem Blinzeln nahm ich meine Umgebung in Augenschein und mir blieb förmlich die Luft weg. Ich hatte mich geirrt. Das Märchen war noch nicht vorbei – die Eisprinzessin hatte ihren Palast erreicht. Ich stand auf einer kreisrunden Lichtung, auf der eine dicke, makellose Schneedecke lag. Es sah aus wie Watte, oder wie dicker, weißer Zuckerguss auf einer Torte. Auch die Bäume rundherum waren schneebedeckt, es gab kein grün oder braun mehr, alles war weiß.

Die Sonne goss ihr Licht wie flüssiges Gold darüber und jeder einzelne Schneekristall funkelte und strahlte wie ein kleiner Diamant. Zusammen war es die Pracht von tausenden von Diamanten. Mein Märchenpalast.

Auch ich war im Licht gebadet und konnte den Blick lange Zeit nicht von der gleißenden Verheißung abwenden.
 

Irgendwann, als ich mit den Augen schon die ganze Lichtung erforscht hatte, fiel mir ein Strauch auf, der direkt vor mir aus dem Schnee ragte. Ich hatte bisher noch keinen einzigen Schritt getan, denn die funkelnde Schneedecke sah so kostbar aus, dass ich sie nicht zerstören wollte. Der kleine Strauch vor mir hatte dieselben weiß gepuderten Zweige wie alle anderen Sträucher in der Winterwunderwelt, aber hier mussten die Schneeflocken ein paar mal in der Sonne geschmolzen und anschließend wieder gefroren sein, denn Kugeln aus Eis hingen wie kleine Perlen daran. Ich lächelte und pflückte ein paar davon, und sie schmolzen nicht in meiner Hand. Da fiel mir wieder ein, dass das hier ja ein Traum war.
 

Nach einer Weile fühlte ich, wie ich langsam müde wurde vom Schauen. Und die Schneedecke sah so weich und kuschelig aus, dass ich immer mehr Lust bekam, mich einfach hineinzulegen. Ich hielt also meine Nikolausmütze fest, drehte mich zur Seite und ließ mich langsam nach hinten fallen, bis die weiße Masse mich auffing und in eine kühle Umarmung schloss. Das Sonnenlicht blendete mich nun fast ein wenig, also zog ich den Rand der Mütze über die Augen. Die Prinzessin hatte ihr Himmelbett gefunden.
 

„Danke, Edward“, murmelte ich schläfrig. Träge spielte ich mit den Eisperlen in meiner Hand, bis sie mir Stück für Stück entglitten und in den Schnee plumpsten. Ich stellte mir vor, wie sie tiefer und tiefer sanken, sich durch kalte Träume gruben und ihr Leuchten bis an den Grund trugen. Meine Finger strichen durch den feinen, puderigen Schnee und schaufelten Häufchen davon hin und her. Dann hatte ich das Gefühl, dass auch ich in den Schnee hinunter sank und den Eisperlen folgte. Dunkelheit war rundherum und ich schlief ein.
 


 

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder auftauchte. Die Wärme umhüllte mich wie eine Decke und erinnerte mich an mein gemütliches Bett, in dem ich mich vor der Welt versteckt und geträumt hatte. Als ich mir den Schlaf aus den Augen rieb und mich aufsetzte, begriff ich, dass ich genau dort war: In meinem Bett. Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass ich erst in einer halben Stunde aufstehen musste. Ich war zu früh dran… und draußen war es noch dunkel. Oder aber es war wieder dunkel.

„Die Zeit zurückdrehen kann er also auch“, murmelte ich zu mir selbst. Anstatt der Klamotten trug ich wieder meinen Pyjama und wollene Bettsocken. Ich fühlte mich nicht wirklich ausgeschlafen und hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Langsam kehrte ich in die triste Realität zurück. Mich erwarteten eklige Cornflakes, ein mürrischer Charlie, Schule, Kälte… aber halt. Ich war immer noch die Eisprinzessin. Ich hatte die Wunder des Winters gesehen, ich hatte im Schneebett meines Palastes geschlafen. Ich war von einem Engel geleitet worden. Die Kälte konnte mir nichts mehr anhaben.
 

Mit einem Ruck schwang ich mich aus dem Bett und verzog sofort schaudernd das Gesicht. Eine Gänsehaut kroch über meine Beine und mir war… kalt. Saukalt sogar. Ich sprang auf, schnappte mir ein Handtuch und lief ins Bad. Eine warme Dusche war jetzt genau das Richtige.
 

Im Verlauf des Tages aß ich eklige Cornflakes, rutschte mehrfach auf den eisigen Wegen aus, kam beinahe zu spät in die Schule – weil ich natürlich zu lange geduscht hatte –, baute um ein Haar einen Unfall mit meinem alten Truck, sah Tyler und Lauren in der Pause knutschen, hatte einen unangekündigten Mathetest und wurde beim Sport als Letzte in die Mannschaft gewählt. Und als die Schule zu Ende war, schneite es draußen in dicken, matschigen Flocken, die grau wurden bevor sie den Boden berührten.

Aber das alles machte nichts, denn ich war stärker als die Kälte. In meiner Schultasche hatte ich eine rote Nikolausmütze mit weißem Bommel gefunden.



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