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All the Wrong Reasons

... are they the Right Decisions?
von

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Trauer und Abschied

Es brannte. Es brannte einfach nieder. Sie konnte es nicht glauben. Überall schmerzte es, dabei hatte sie das Gefühl ihr Herz zersprang in tausend Splitter. Ihr Haus stand in Flammen, unfähig etwas zutun fiel sie auf ihre Knie und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände. Der Rasen war kalt als sie darauf zusammenbrach, währenddessen wurde alles schwarz. Hoffentlich hatte es ihre Familie geschafft.
 

Sehr langsam öffneten sich ihre Augenlider. „Miss Suzuki...?“, kam es zögerlich von einer ihr unbekannten männlichen Stimme. Die Helligkeit war ungewohnt um sie herum, weshalb sie einige Male verwirrt blinzelte. Wo war sie? Das helle Licht blendete sie als sie versuchte in die Richtung zu sehen woher die Stimme stammte. Die Angesprochene kniff ihre Augen zu, zudem spürte sie furchtbare Kopfschmerzen. Was war nur passiert? Vor Schmerzen fasste sie sich an den Kopf, zeitgleich stöhnte sie auf.

„Es freut mich, dass Sie endlich wach geworden sind, Miss Suzuki“ Es klang sehr freundlich, was sie jedoch nur weiter verwirrte. „Was... wo bin ich hier?“ Ihr Kopf fühlte sich an als ob er gleich explodieren würde, besonders als sie probierte sich zu erinnern. „Sie sind im Krankenhaus.“, hörte sie knapp diesmal. Nun schlug sie noch einmal die Augen auf, allmählich bekam alles Farbe. Sie erkannte einen Mann im Kittel; er war wohl zweifellos ein Arzt. Dieser lächelte sie überaus freundlich an. Krankenhaus?

„Guten Morgen, möchte ich erst einmal zu Ihnen sagen. Sie sind hier im Merial Krankenhaus. Können Sie sich erinnern...?“, fragte er sie weiterhin freundlich. „Uh...“ Erneut versuchte sie sich zu erinnern, die Schmerzen meldeten sich. Der Arzt trat näher, dabei holte jener eine kleine Taschenlampe aus seinem Kittel heraus. Er fasste ihr unter die Augen, um sie weiter zu öffnen, und leuchtete hinein. Sie konnte sich nicht bewegen, es tat einfach alles weh. Kurze Zeit später ließ er von ihr ab. Schwach schüttelte sie ihren Kopf. Das Licht war sehr unangenehm gewesen. „Nein... ich habe keine Ahnung.“, flüsterte sie schon fast, damit diese furchtbaren Schmerzen nicht schlimmer wurden. „Was mache ich hier?“, brachte sie noch hervor. „Es tut mir Leid wenn ich es Ihnen sagen muss, aber...“ Der Arzt hörte sich sehr ernst an, auch schien er zu zögern. „Ihr Haus ist vor drei Tagen abgebrannt. Sie sind zusammengebrochen davor gefunden worden. Seitdem liegen Sie hier.“

Unverzüglich riss sie die Augen weit auf. Was?! „Geht es meinem Vater gut? Meiner Mutter? .... Meinem Bruder?“, folgten prompt die Fragen. Hellwach geworden, saß kerzengerade im Bett, dabei starrte sie den Arzt durchdringend an. Dieser senkte seinen Blick. „Ich muss Ihnen mein Bedauern aussprechen, sie sind alle im Feuer umgekommen.“ Ungläubig öffnete sich ihr Mund. Das... das konnte doch nicht wahr sein. Noch immer geschockt stierte sie den Arzt mit ihren dunkelgrünen Augen an. Nichts, gar nichts kam über ihre Lippen. Ihr Körper reagierte sofort, dieser begann stark zu zittern und schon lösten sich Tränen aus ihren Augen. Sie war alleine, ganz alleine auf dieser Welt. Niemand war mehr da, sie war jetzt eine Waise. Das war das Einzige was ihr durch den Kopf ging.
 

Die Tage vergingen, das Zeitgefühl verschwand. Die Welt war in einem Nebel verhangen. Nichts nahm sie mehr wahr. Das leere Gefühl verstärkte sich mit jedem weiteren Tag, denn immer mehr wurde ihr bewusst, dass sie niemanden mehr hatte.
 

Zu dieser Zeit klingelte an einem anderen Ort ein Mobiltelefon. Ein älterer Herr nahm den Anruf entgegen und schon kurz darauf weiteten sich dessen Augen ein Stück. Eine schockierende Nachricht hatte er soeben erhalten. Sofort wurde jemand im Raum aufmerksam, beobachtete still was vor sich ging, während er sich an seinem Lutscher erfreute. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Diese Annahme bestätigte sich schnell, als der alte Herr auflegte und für einen kurzen Moment inne hielt. Dieser wandte sich nun an den jungen Mann, welcher zu seiner Seite im Sessel saß – oder für die meisten Menschen, eher hockte.

„Ich muss mit Ihnen etwas Wichtiges besprechen.“, begann der Grauhaarige und räusperte sich. Der Angesprochene blickte starr zu seinem Vertrauen auf, nahm den Lutscher von seiner Unterlippe. „Was gibt es?“, folgte es nach einer kleinen Pause. Offensichtlich war es eine ernste Angelegenheit, das konnte man dem alten Mann ansehen. Auch die Tonwahl ließ keinen Zweifel zu.

Was alles daraufhin von seinem Vertrauten folgte, überraschte ihn. Wenn das tatsächlich der Wahrheit entsprach gab es keine Wahl – und doch musste seine Zustimmung dazu erfolgen. Es war ein gefährliches Unterfangen, doch war er dazu bereit das Risiko auf sich zu nehmen. Denn, deutlich konnte der Schwarzhaarige erkennen, dass der alte Herr ein großes Interesse daran besaß. Außerdem war es vielleicht eine nützliche Erfahrung. So war die Entscheidung gefallen.
 

Zusammengekauert saß sie in einer Ecke, ihr Blick war ausdruckslos auf die Wand gegenüber gerichtet. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien, dabei fielen ihre schwarzen Haare über ihre Beine. Tränen hatte sie keine mehr und es war auch sinnlos weiter zu weinen. Sie fühlte keine Schmerzen mehr, es ließ sie alles kalt. Gedankenverloren stand sie auf, währenddessen schwankte sie bedächtig. Ihr Körper war sehr dünn geworden, denn aß sie seit Tagen nichts mehr. Sonst aß sie gerne, doch dieses Ereignis ließ ihren Appetit völlig verschwinden. Nichts brachte sie jetzt dazu etwas zu essen. Besonders da Morgen die Beerdigung ihrer Familie stattfinden sollte. Direkt musste sie sich auf ihr Bett setzen, ihr war schwindlig geworden. Wie schon oft sah sie sich um. Ein kleines Zimmer mit einem Bett. Der Ort an dem sie sich befand war ein Waisenhaus, jedoch würde sie nur kurzfristig in dieser Einrichtung wohnen, denn sie sollte abgeholt werden. Von einem Verwandten, von dem sie erst seit Gestern wusste, dass er existierte.

Es machte sie wütend, einem Mann von dem sie nicht einmal wusste wie er hieß. Und die Tatsache, dass sie ab nun bei ihm Leben musste, verärgerte sie noch mehr. Da sie erst 16 Jahre alt war, musste es einen Vormund geben der auf sie aufpasste, bis sie wenigstens Volljährig war. Wo würde sie wohnen? Und würde sie sich mit ihm verstehen? Fragen über Fragen waren in ihrem Kopf. Die letzten Tage hatten sie sehr verändert. Doch war es zu erwarten gewesen. Wer blieb schon wie er war, wenn ihm alles genommen wurde?

Sie wurde aus ihrer Gedankenwelt gerissen als es an ihrer Tür klopfte. Eine ältere Frau kam zum Vorschein, nachdem sich die Tür öffnete. „Shaelyn, möchtest du nicht mit zum Essen kommen?“, fragte diese sehr freundlich. Es war eine der Angestellten die in diesem Waisenhaus arbeiteten. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon Mittagszeit war. Die Schwarzhaarige seufzte. Sie wusste, die alte Dame würde nicht eher Ruhe geben, bis sie mitkam. Shaelyn hatte weder die Lust, noch die Kraft dazu, sich auf eine Diskussion mit ihr einzulassen. Sie stand vom Bett auf und ging mit der alten Frau auf den Flur. Diese lächelte sie nett an, wohl zufrieden Erfolg gehabt zu haben.

Die Sonne blendete Shaelyn als sie auf den Flur getreten war, denn war sie die Dunkelheit sehr gewöhnt gewesen. Sie musste aussehen wie ein Nachtgespenst; bleiche Haut, lange schwarze Haare, spindeldürr und Augenränder, die von Schlaflosigkeit zeugten.
 

Während sie neben der Frau herlief warf sie einen Blick in die Zimmer, deren Türen offen standen. Die Meisten waren leer, doch in einem bemerkte Shaelyn einen kleinen ungewöhnlichen Jungen. Er saß auf dem Boden und spielte mit Figuren, nichts Ungewöhnliches für sein Alter. Sie schätze ihn auf knappe zehn Jahre. Das Ungewöhnliche war seine Haarfarbe und wie er dort saß. Schnneeweiße Haare und er hatte ein Bein angewinkelt. Shaelyn schüttelte ihren Kopf, direkt danach richtete sie ihren Blick wieder nach vorn. Es wunderte sie, denn generell waren seltsame Kinder und Jugendliche in diesem Wohnheim. Zu denen sie jedoch keinen Bezug aufbauen wollte. Lange würde sie hier nicht bleiben.

Endlich kamen sie am Essensaal an und sie nahm im großen Raum an einen rundlichen Tisch platz. Auf dem Stuhl neben ihr saß ein kleinerer Junge mit orangefarbenem Haar, der sich ordentlich mit Süßes vollstopfte. Shaelyn fragte sich ob er das denn überhaupt durfte, dabei fiel ihr auf, dass es nur irgendwas mit Schokolade war. Irritiert schüttelte sie erneut ihren Kopf. Wie konnte man so viel davon essen? Wurde ihm nicht schlecht? Sie sollte sich wirklich nicht mehr wundern.

Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Gesicht in ihre Hand. Zu viele gemischte Gefühle machten sich in ihr breit. Das verunsicherte sie stark. Mal war es unendliche Trauer, dann wieder die Wut, oder die Gleichgültigkeit. Sie wusste nichts mehr mit sich anzufangen. Ihr Leben fühlte sich geistlos an, ganz ohne Sinn. Wie oft hatte sie gelacht vor dem Unfall? Sie wusste es nicht mehr. Gab es überhaupt so eine Zeit, an dem sie soviel Spaß gehabt hatte? Sicherlich hatte sie diese gehabt. Ihr fielen all die Streitigkeiten mit ihren Eltern und ihrem Bruder ein, die nun so lächerlich waren. Warum hatte sie sich damals so aufgeregt?

Tiefe Trauer erfüllte sie. Soviel Unsinn hatte sie mit ihrem, ein Jahr älterem, Bruder getrieben, oder sie spielten zusammen irgendetwas an der Konsole. Ihre Eltern hatten es häufig nicht einfach mit ihnen. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Ja es war schön gewesen. Manchmal wünschte sie sich auch in dem Haus gewesen zu sein, dann wäre sie jetzt nicht alleine. Ruhe, es wäre die unendliche Stille gewesen. Sie begann unbewusst an ihrem Anhänger zu spielen. Diese Kette war ein Geschenk ihrer Mutter. Es war nichts so Besonderes, so wie es aussah. Es hatte aber große Bedeutung, denn sei es eine Kette von ihrer Großmutter gewesen. Ein Text war auf der Rückseite des silbernen Anhängers eingraviert.
 

Ein langer Seufzer war zu hören. Jetzt war ohnehin alles gleich. An nichts anderes konnte sie denken, als an ihre Familie und immer wieder diese schreckliche Nacht. Das Feuer, nie wird sie vergessen wie es alles in ihrem Leben zerstört hatte. Doch würde Shaelyn so gerne all das vergessen. Es sei ein Unfall gewesen. Eine Gasleitung sei undicht gewesen, so wurde es von der Polizei in die Akten eingetragen. Es sei ein großes Glück gewesen, dass sie nicht anwesend war. Aber war es das wirklich?

Das Essen ging wie jeden anderen Tag an ihr vorüber, ohne dass sie etwas zu sich genommen hatte. Gerade als sie aufstehen wollte, wurde sie am Ärmel gezupft. Ein ein fragender Blick zur Seite verriet ihr, dass es der kleine Junge neben ihr war. „Hm?“ Was wollte er? Der Kleine antwortete ihr nicht, sondern hielt ihr eine Tafel Schokolade entgegen. „Nimm schon was, oder willst du verhungern? Also an deiner Stelle würd' ich sie nehmen!“, kam es von ihm kurze Zeit später. Überrascht blinzelte sie. Er wollte doch nicht wirklich, dass sie jetzt was Schokolade aß? Er ließ sie nicht los und sah sie ernst an. Wiedereinmal seufzte sie, hatte sie denn nie ihre Ruhe? Zaghaft brach sie sich ein Stück von der Tafel ab und schob dieses kleine Stück in den Mund. „Na zufrieden? Kann ich jetzt gehen?“ Shaelyn hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Eigentlich war sie nicht so unfreundlich, sie war immer höflich, wenn ihr jemand etwas anbot. Aber gerade war es nur störend gewesen. „Ja!“, hörte man bestimmend von ihm, umgehend ließ er sie los. Kopfschüttelnd ging sie wieder zurück zu ihrem Zimmer, dabei ging sie an das Zimmer vorbei in dem vorher dieser andere Junge saß. Als sie rein spähte, saß er immer noch so da und spielte mit seinen Figuren. Musste er etwa nicht zum Essen wie sie? Das störte sie, wieso durfte er in seinem Zimmer bleiben? Gerade als sie sich abwenden wollte vernahm sie eine Stimme. „Was ist?“ Verwundert blinzelte sie einige Male, es kam von dem Jungen aus dem Zimmer. Dieser hob nicht den Blick, hatte sie aber offensichtlich wahrgenommen. So blieb sie an der Tür stehen und schaute auf ihn. „Nichts,... ich hatte mich nur gewundert, dass du hier so alleine rumsitzt“, meinte sie ehrlich. Endlich hob der angesprochene Junge sein Gesicht. Er sah ihr in die Augen, währenddessen begann er an einer seiner Haarsträhnen zu drehen.

Ein wenig verblüfft sah sie ihn an, sein Blick war auf eine gewisse weise faszinierend. Er zog sie in einen Bann und sie konnte sich nicht erklären woher es kam. Also ungewöhnlicher ging es eindeutig nicht. Shaelyn starrte auf ihn, irgendwie hatte sie das Gefühl, er würde versuchen sie mit einem einzigen Blick einzuschätzen. Es blieb still, kein weiteres Wort verließ seinen Mund. Einige Sekunden vergingen und nichts geschah, bevor er dann seinen Kopf wieder senkte und weiter mit seinen Figuren spielte. „E... entschuldige die Störung“, brachte sie stockend hervor, sich sofort danach rasch daran machend von der Tür zu gehen.
 

Vollkommen verwirrt und auf direktem Wege, ging sie zu ihrem Zimmer weiter den Gang entlang. Wer war er gewesen? Unruhe machte sich in ihr breit. Dieser Blick von ihm, er jagte ihr einen Schauer über dem Rücken. Nicht unbedingt groß unangenehm, aber doch beunruhigend. Umso mehr freute sie sich nun endlich abgeholt zu werden. Von einem Menschen den sie noch nie zu vorher gesehen hatte. Was würde noch alles passieren? Hatte er auch Familie? Warum wusste sie erst seit kurzem von ihm? Wieso hatte man noch nie etwas von ihm erzählt? Es sollte laut Information ihr Großvater sein, dies lies sie hart schlucken. Niemand aber sagte ihr wer er hieß oder wer er denn genau war. Es war mehr als eigenartig. Der Großvater, von ihres Vaters Seite aus, war schon früh verstorben, war es also nur von ihrer Mutters Seite. Aber das Seltsamste war: Ihre Großmutter war immer alleine, hatte nie ein Wort über den mysteriösen Mann von damals erwähnt. Selbst ihre Mutter hatte nichts gewusst. Ein einziges großes Geheimnis.

Endlich hatte sie ihr Zimmer erreicht. Langsam drückte sie die Türklinke herunter und betrat ihr kleines Zimmer. Die Luft lag schwer im Raum, somit entschloss sie sich das Fenster eine Weile zu öffnen. Sofort drang kühle Luft in das Zimmer, nachdem sie es aufgezogen hatte. Sie lehnte sich aus dem Fenster und sah hinaus. Der Winter war gekommen, es hatte schon längst begonnen leicht zu schneien. Normalerweise liebte sie diese Jahreszeit. Einen warmen Kamin, dieser Keksgeruch und vor allem Weihnachten. Die Zeit der Familie. Betrübt senkte sie ihren Kopf, das war wohl vorbei. Dieses Jahr würde so anders werden, völlig anders. Eine Familie hatte sie nicht mehr, zumindest eine die sie liebte. Als sie wieder ihren Blick auf die weiße Pracht richtete, musste sie an ihren Bruder denken. Erneut huschte ein kleines Lächeln über ihre Lippen. Wie oft hatte sie mit ihrem Bruder im Schnee getobt, einen Schneemann gebaut oder ihn einfach gnadenlos mit Bällen beworfen. Es war so eine glückliche Zeit. Sie hatte das Gefühl es nie wieder zu erleben. Die Leere kehrte zurück. Das Ganze war so unecht, ungewohnt, einfach komplett neu. Glücklich? Nein das würde sie wahrscheinlich nicht mehr sein.
 

Ein kalter Windhauch wehte ihr ins Gesicht, der ihre Haare sanft aufwirbelte, dabei schloss sie ihre Augen. Ein stiller Moment, welchen sie genoss. Er wurde jäh unterbrochen als es an der Tür klopfte. Etwas gereizt, unterbrochen worden zu sein, wieder einmal, ließ sie ihren Blick zur Seite schweifen. Die Tür wurde geöffnet und vorsichtig trat ein älterer Herr herein. Überrascht sah sie ihn an, da sie ihn in diesem Haus bisher nicht gesehen hatte. Schnell wurde ihr bewusst; es konnte doch dann nur ihr Verwandter sein. Er nahm seinen Hut vom Kopf und lächelte sie überaus freundlich an. „Guten Tag, du bist Shaelyn, nicht wahr?“, fragte er ruhig, woraufhin sie stumm nickte und ihn begann zu mustern.

Er betrat das Zimmer nun ganz und schloss hinter sich die Türe. Kurz darauf stellte er sich ihr gegenüber, sodass sie ihn besser sehen konnte. „Sie sind mein Großvater, oder?“ Natürlich es musste so sein, wer sollte es sonst sein. Im Waisenhaus war sonst nur ein älterer Herr und dieser leitete es. „Ich bin Quillsh Wammy, dein Großvater, ja.“, sagte dieser freundlich. Shaelyn traute ihren Ohren kaum. Wie hieß er? Bedeutete das etwa, dass ihr Großvater der Gründer dieses Hauses war? Natürlich verband sie sofort seinen Namen mit dem vom von diesem Haus. Es würde Sinn ergeben, niemand nannte ihr seinen Namen und auch sonst nichts. Aber es war doch unmöglich, oder? War ihre Großvater reich?

„Nenne mich aber bitte Watari.“, erklärte er und lächelte immer noch freundlich. Er kam ihr sofort sympathisch vor, es war ein gutes Bauchgefühl. Dennoch lernte sie ihn gerade mal kennen und sie musste als erstes wissen, warum sie ihn nicht schon von Anfang an kennen gelernt hatte. Watari legte seinen Mantel über die Stuhllehne, platzierte dabei den Hut darauf und blickte sie kurz darauf wieder an. „W... warum lerne ich … Sie ... erst jetzt kennen?“ Sie war sehr unsicher in ihrer Frage, was ihre brüchige Stimme nur weiter zum Ausdruck brachte. Eine berechtige Frage, die unbedingt geklärt werden musste. „Vor kurzem habe ich selbst erst davon erfahren, dass ich eine Enkeltochter habe.“, sagte Watari ehrlich. Überrascht öffnete sie leicht ihren Mund. Er hatte es selbst nicht gewusst? Was war damals passiert? Erste einmal musste Shaelyn sich setzten. „Es ist auch sehr bedauerlich es so zu erfahren.“ Ja damit hatte er vollkommen Recht. Die Art und Weise warum, war erschreckend. Betrübt senkte sie ihren Kopf. Gespannt wartete sie seine weiteren Worte ab, denn die wichtige Frage war noch nicht geklärt. Erwartungsvoll blickte sie wieder hoch in das Gesicht ihres Großvaters. „Nun ich kann dazu nur sagen, dass ich damals in jungen Jahren eine Freundin hatte. Aus familiären Gründen durften wir uns nicht mehr treffen und habe sie somit nie wieder gesehen.“, erklärte er. Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Es schien eine schmerzliche Erinnerung zu sein.

Langsam begann sie zu verstehen; natürlich das machte Sinn. Aber wie kam es dazu, dass der Familienstand erst jetzt ermittelt worden war? Irgendwo musste es eine Verbindung geben. Ihr Kopf war voll mit Fragen. Das Gefühl brachte sie fast um den Verstand, es überflutete sie. „Ich habe nicht gewusst, dass sie ein Kind erwartete.“, setzte der ältere Mann schließlich fort. „Woher.... ich meine .... ?“ Sie konnte nicht klar denken. War die Antwort vielleicht doch ganz einfach? Oder doch ein komplexes Netz?

„Deine Großmutter hatte mich eintragen lassen. Es wurde nicht viel Aufsehen veranstaltet, daher habe ich nie davon erfahren. Da nun dieses Dilemma entstanden ist, wurden die alten Akten durchsucht, nach möglichen Verwandten.“ Das war die Antwort auf die sie gewartet hatte. Sie war also so einfach? Shaelyn schluckte. Und wie sollte es jetzt weiter gehen? Unfähig auch nur ein weiteres Wort über die Lippen zu bekommen, starrte sie ihn fragend an. Man sah es ihr an, all das was sie gerade fühlte. Ganz eindeutig war sie verwirrt und durcheinander. Zu viel war in der letzten Zeit passiert. Der alte Mann beließ es dabei, er wusste, dass sie gerade wenig aufnahmefähig war. Sie würde sicher in einer paar Tagen mehr wissen wollen. Die Luft schien mehr als erdrückend zu sein, selbst das offene Fenster das frische Luft herein ließ, verbesserte es nicht.

„Sicher weißt du, dass du ab jetzt bei mir wohnen wirst.“, begann er behutsam. Shaelyn blickte auf und nickte schwach. Wo wird es sein? Hatte er eine andere Familie? Und würde sie dort auch aufgenommen? Großer Zweifel nagte an ihr. Es war nicht zum Aushalten. „Da du noch zur Schule gehst, wird mein Aufenthalt währenddessen in England sein.“, meinte Watari freundlich. Natürlich, daran hatte sie nicht mehr gedacht. Sie musste ja noch das restliche halbe Jahr in die letzte klasse. Was aber hatte das zu bedeuten? Aufenthalt solange in England? Wohnte er etwa in einem anderen Land? Sie schüttelte diese Gedanken ab, es würde sich alles mit der Zeit klären. Shaelyn nickte direkt zur Bestätigung. Sie hatte verstanden. Nun galt es den morgigen Tag zu überstehen.
 

Dieser Tag brach zu schnell an und es würde ein schrecklicher werden, das wusste sie. Shaelyn stand vor ihrem Bett, das schwarze lange Kleid, was ihr Großvater ihr gekauft hatte, sollte sie nun anziehen. Es war schlicht, es bedurfte auch nicht an Verschönerungen. Warum sollte man sich auch für einen so traurigen Tag hübsch machen? Somit zog sie es sich schnell über. Nachdem sie fertig war, stellte sie sich vor dem kleinen Spiegel in ihrem Raum. Vor dem Spiegel kämmte sie sich noch ihre langen schwarzen Haare. Jene waren ein wenig brüchig geworden und längst nicht mehr so seidig wie sie es sonst waren. Die Haarfarbe war für eine Engländerin nicht normal. Sie kam mehr nach ihrem Vater, dieser stammte aus Japan. Ihre Mutter war Engländerin, ihre braunen Haare hatte ihr Bruder geerbt. Man sagte doch immer, die Mädchen kämen nach ihren Vätern und die Söhne nach ihren Müttern. Shaelyn senkte ihre Augenlider. Von allen die sie liebte heute Abschied zu nehmen, würde ihr wahrscheinlich alle Kräfte rauben.

Es kostete alle Mühen nicht los zu weinen, es war grauenvoll. Hatte sie es überhaupt schon richtig begriffen? Der Abschied ihrer Familie fühlte sich unecht an. Nein so richtig hatte sie es noch nicht realisiert. Gab es etwas Schlimmeres? Nein, vermutlich nicht. Sie nahm ihren kleinen Rucksack hoch. Nur dieser war ihr geblieben, nicht mal Kleidung, oder gar Erinnerungsbilder waren vom Hausbrand übrig geblieben. Nur der Rucksack, den sie an diesem Abend trug. Die Kleidung die sie im Waisenhaus bekam durfte sie behalten, somit hatte sie diese in den Rucksack gepackt. Es war wirklich nicht viel was sie besaß. Auch wenn sie reich gewesen wäre, niemals könnte es den Schmerz lindern über den Verlust ihrer Familie. Materielles war ihr egal, sie war glücklich gewesen. Man brauchte nicht viel zum Leben, aber liebende Personen waren ihr das Wichtigste. Keinesfalls würde sie vertraute Personen hintergehen. Wenn sie jemanden in ihr Herz gelassen hatte, brauchte dieser nie fürchten je von ihr enttäuscht zu werden.

Sie zog sich ihre Stiefel an, sowie einen Mantel. Ein kleinen Hut setzte sie sich noch auf, bevor sie ihr Zimmer verließ, zum letzten Mal würde sie es sehen. Direkt nach dem Abschied würde ihr Großvater sie in ihr neues Zuhause bringen. Ein letztes mal sah sie sich um, während sie den Gang entlang ging. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus, denn sie wusste nicht wie es weiter gehen sollte. Ein neues Leben würde für sie beginnen, mit Leuten die sie nicht einmal kannte. Kurzzeitig hielt sie in ihrer Bewegung inne. Oder war Quillsh,... nein, Watari etwa alleine? Zögerlich begann sie wieder zu laufen. Diesen Gedanken hatte sie noch gar nicht bedacht. Nein, sicherlich war Watari nicht alleine. Er sah nicht aus wie ein alter Mann der alleine lebte. Und wenn doch, war es dann nicht sogar besser? Zu viele Sachen gingen ihr durch den Kopf. Die Zeit würde es schon noch alles klären. Das Schlimmste stand nun erst einmal bevor.
 

Als sie die Ausgangstür öffnete, kam ihr direkt ein kalter Luftzug entgegen. Die weiße Pracht wehte auch leicht in den Eingangsbereich. Es war eindeutig Dezember. Lange wäre es auch nicht mehr bis Weihnachten, ein Tag an dem die Familie gemeinsam feierte. Es versetze ihr immer wieder einen Stich ins Herz.

Ihr Blick fiel sofort auf den schwarzen Wagen, der in der Auffahrt stand. Watari wartete bereits auf sie. Kurz blinzelte sie überrascht, denn der Wagen sah nicht billig aus. Wahrscheinlich sogar ein recht teures Gefährt. Langsam trat sie an den Wagen heran, sogleich kam ihr Großvater und hielt ihr die Hintertür auf, wie es ein Gentleman tat. Sein Lächeln war wie zum Tag davor auch äußerst freundlich. Nochmals musste sie ihn überrascht ansehen. Es war ihr schon zu beginn aufgefallen: Er besaß auffallend gute Manieren. War er reich? Woher sollte sonst dieses Auto kommen, natürlich musste er mehr Geld besitzen. Er hatte schließlich das Waisenhaus gegründet. „Danke sehr“, sagte sie freundlich und setzte sich auch gleich in das Auto. Er schloss die Tür und direkt wurde es angenehmer im Auto, da die Temperatur stieg. Nicht, dass sie etwas gegen die Kälte hatte, sondern im Gegenteil, sie liebte den Schnee. Bisher hatte sie jedes Jahr darauf gewartet.

Watari öffnete die Fahrertür und ließ sich auf seinen Sitz nieder. Shaelyn schaute aus dem Fenster, denn es hatte erneut begonnen zu schneien. Langsam näherten sich die Flocken dem Boden, tanzten ihren letzten Tanz im Wind. Eigentlich liebte sie jede Jahreszeit, denn jede hatte seine Vorzüge. Shaelyn musste aber zugeben, das gerade der Winter etwas Magisches hatte. Allerdings nun würde diese Jahreszeit sie immer daran erinnern was passiert war. Der Motor wurde gestartet und ihr Großvater fuhr auch direkt los. Sie warf einen letzten Blick auf das Waisenhaus, das sie freundlich aufgenommen hatte. Als er vom Gelände fuhr drehte sie ihren Kopf nach vorne. Den Blick senkte sie, denn hoffte sie immer noch inständig, dass es hier alles nur ein böser Traum war. Es wäre so schön aufzuwachen und ihr Bruder würde sie ärgern.

Ein kleines Lächeln machte sich auf ihren Lippen breit. Jedes mal wurde Shaelyn von Ryu geweckt, sie war eine Langschläferin, er hingegen ein Frühaufsteher. Somit machte er sich immer daraus einen großen Spaß sie zu wecken. Das Lächeln verschwand augenblicklich. Sie richtete ihren Blick aus dem Autofenster. Behutsam berührte sie mit ihren Fingern das kalte Glas.

Es war alles viel zu real als das es ein schrecklicher Traum war. Die Fahrt verlief ruhig. Sie wollte nichts sagen, denn sie musste sich vorbereiten - auf das, was nun folgte.
 

Schon erkannte sie den Friedhof, als sie sich diesem Näherten. Der Wagen wurde langsamer, da Watari auf den Parkplatz bog, der sich vor dem Friedhof befand. Zaghaft stieg sie aus dem Wagen als ihr Großvater das Auto anhielt. Der Schnee senkte sich leicht, nachdem sie einen Fuß darauf stellte. Es hinterließ ein typisches Knirschen, dieses Geräusch hatte sie immer sehr gemocht. Nur heute hörte es sich dumpf an, sodass sie es nicht richtig wahrnahm.

Hinter sich schloss sie die Autotüre. Sofort war es sehr kalt, somit rieb sie ihre Hände aneinander. Ihr Großvater stellte sich neben ihr. „Wir sollten gehen, nicht wahr?“, fragte er sachte. Sie schaute daraufhin in seine Augen, sein Blick war warmherzig. Zögerlich nickte sie. Watari ging vor und sie folgte ihm still.

Je mehr Gräber sie sah, desto mehr verschleierte sich ihr Blick. Normalerweise hätte sie dieser schöne Anblick den Atem geraubt. Es sah zum Träumen aus, denn der Schnee, die Lichter, die auf den Gräbern waren, sowie auch die großen alten Bäume, ließen einen an ein wunderschönes Gemälde denken. Es sah einfach perfekt aus, dennoch bekam sie davon nicht viel mit.

Sie war nur eine Hülle, die durch die Wege ihr Ziel fand und das nur, weil ihr Großvater den Weg vor ihr entlang schritt. Ein paar Leute hatten sich vor den drei Gräbern versammelt. Es waren Freunde ihrer Eltern, die ihr auch sogleich ihr Beileid mitteilten. Aber all das, nahm sie nicht wahr. Nicht einmal die Worte, die der Pastor von sich gab. Sie starrte unentwegt auf die Gräber. Die das Datum trugen, an dem alles endete:

Der 05.12.2002.
 

Die Zeremonie ging vorüber, ohne dass sie auch nur eine Träne vergossen hatte. Es war einfach nicht wahr, nichts konnte wahr sein. Still ging sie zurück zum Wagen. Ihre Gefühle hatten sie verlassen. Es war einfach eine Leere da. Die wohl nicht mehr gefüllt werden konnte. Nachdem Watari sich wieder in den Wagen setzte, richtete er den Blick in den Rückspiegel. Er sah ihr Gesicht, welches einfach nichts ausdrückte. Jeglicher Ausdruck war verschwunden. „Ich werde dich jetzt in dein neues Zuhause bringen, vorübergehend. Eine Wohnung wird schon bald für dich geräumt sein, es grenzt an die jetzige Wohnung an. Es werden jetzt ein paar Stunden Autofahrt vergehen, es ist nicht direkt in der Nähe.“, erklärte er in einem ruhigen Ton. Sein Blick war immer noch auf sie gerichtet, wartend auf eine Reaktion.

Shaelyn hob ihren Kopf, da sie ihren Großvater gehört hatte. Kurz musste sie nachdenken. Eine eigene Wohnung? Sie hatte doch eigentlich gedacht sie wohnte bei ihm in einer. Aber direkt eine eigene? War seine Wohnung vielleicht einfach nur zu voll?

Zögerlich öffnete sie ihren trockenen Mund. „Wohnen Sie alleine?“ Diese Frage wollte sie schon lange gestellt haben, jetzt schien der richtige Moment zu sein.

Er begann zu lächeln, ließ dann den Motor an. „Nein, du wirst ihn kennen lernen. Mit ihm wirst du auch die ersten Tage in einer Wohnung leben. Aber keine Sorge, er verhält sich still und wird dich auch sonst nicht stören.“ Seine Stimmlage war wie immer freundlich. Er richtete seinen Blick nach vorne und fuhr los.

Kurz blinzelte sie überrascht. Mit ihm? Was bedeutete das? Wer war das? Mit einem Unbekannten in einer Wohnung leben? Auch wenn das nur vorübergehend war, es machte ihr Sorgen. Nun gut, Watari war auch kein Bekannter, aber von ihm wusste sie ja, dass er ihr Großvater war. Dies jedoch war ein Außenstehender. Oder hatte sie möglicherweise noch einen Verwandten? Nein, sonst hätte es ihr Großvater wahrscheinlich schon längst gesagt.

Solange er sich fern halten würde und auch die Wohnung groß genug war, wäre das wohl im Rahmen des Möglichen. Denn nichts lieber als Ruhe würde sie nun haben wollen, vor allem vor Fremden. Erneut schaute sie aus dem Fenster neben sich. Ein paar Stunden? Wie weit es wohl entfernt war. Es lösten sich Tränen, völlig unbewusst, da die Gedanken an ihre Familie auf kamen. Still weinte sie, die ganze Fahrt über. Denn erst jetzt war es wie ein Losriss. Shaelyn begann langsam zu begreifen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shiza-Chan
2009-12-12T14:48:30+00:00 12.12.2009 15:48
Sehr schön geschrieben, freue mich auf die Fortsetzung :3
Von:  Das_Bienchen
2009-12-11T06:42:19+00:00 11.12.2009 07:42
hui, fängt ja schon super an!
:D

hast einen sehr schönen schreibstil
x3

bin supi gespannt, wie es weiter geht
*.*



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