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Das Maleficium

von

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Gleich nach dem Auftauchen der beiden Eindringlinge hatte sie den Schutz der Finsternis gesucht, der sich hier oben, an der Decke des hohen Saals, bot. An den Gitterstäben hängend, die hier fugenlos mit dem Stein abschlossen, hatte sie gesehen, wie die beiden Männer zu kämpfen begonnen hatten.

Ihr Plan, zu warten, bis sich die beiden Männer gegenseitig geschwächt hätten und schließlich einer gefallen wäre, hatte sich leider nicht erfüllt. Dann waren weitere Personen in diesen verliesähnlichen Saal gekommen, die wie jugendliche Diebe wirkten. Diese mussten die Aufmerksamkeit der Wachen erregt haben, denn die schleusenartigen Zugänge zum Zentrum des Saales waren nun wie von Geisterhand geschlossen. Es gab keinen Grund mehr, in Deckung zu verharren, und so ließ sie sich in die Tiefe fallen.
 

Die beiden Männer wirbelten herum, als die Frau ein dutzend Schritte von ihnen entfernt auf dem Boden landete. Dorian und Iria wichen vor den Gitterstäben zurück, durch die sie die Blicke einer Hundertschaft der Palastgarde auf sich fühlten. Furcht und mehr noch Scham erfüllte sie. Was immer ihnen von diesen anderen Personen drohte, es konnte kaum schlimmer sein als das, was sie draußen erwartete. Dorian hob sein Schwert wieder auf; aber weniger deshalb, weil er dachte, sich damit verteidigen zu können, sondern mehr, weil ihn der Gedanke überkam, es würde sein Vergehen noch verschlimmern, hier einen Gegenstand fremder Herkunft einfach liegen zu lassen.

„Ganz schöner Betrieb heute“, sagte die Frau, die sich langsam aufrichtete. Ein langer Stachel ragte aus der Armschiene an ihrem linken Arm und schimmerte matt im Licht der Glühdrahtlampen.

Die beiden Männer wandten sich ihr zu, begingen aber keine feindliche Handlung. Der Jüngere, ein Mann mit langen, blonden Haaren, starrte sie mit einer Mischung aus Trotz und kindlichen Ärger an, als hätte ihm diese Person einen liebgewonnenen Gegenstand streitig gemacht. Der Andere, ein älterer Mann mit einer Brille und einem blinden Auge, blickte sie kühl und abschätzend an, und Dorian hörte förmlich, wie er diese Frau, sie beide und die generelle Situation einschätzte. Dorians Gedanken hingegen hatten den Punkt erreicht, wo ihr Toben und ihr panisches Durcheinander sich gegenseitig lahm gelegt hatten und ihn die kaiserliche Streitmacht hinter ihnen, die Tatsache, dass sie gefangen waren, und der Umstand, dass diese Personen ihn womöglich noch vor den Soldaten töten würden, erstaunlich wenig kümmerte. Eher war es so, dass er sich Schutz von diesen fremden Kriegern erhoffte, und der naive Glaube, aus dieser ganzen Sache heil rauskommen zu können, verstärkte sich in ihrer Gegenwart. Er blickte Iria an, die neben ihm stand, und fragte sich, ob sie das Ganze genauso empfand. Doch ihre Miene war wächsern und starr, er konnte nichts in ihr lesen.
 

„Gut gemacht, Leutnant“, sagte der Oberst der Palastgarde zum diensthabenden Offizier. „Das Sicherheitssystem hat gut angeschlagen, und sie haben auch schnell reagiert. Trotzdem muss geprüft werden, wie diese Personen so leicht in die Schatzkammer gelangen- “

Der Soldat erstarrte mitten im Satz, als sich die Warnleuchten, die stumm und unsichtbar an den Wänden verteilt im ganzen Saal saßen, zum Leben erwachten und Strahlen roten Lichts in alle Richtungen ausgossen. Das rote Flackern tauchte die glänzenden Harnische der Palastgarde in ein ungesundes Licht. Dutzende fragende Gesichter wandten sich nach allen Seiten.

Der Oberst lief zum Gitter, und der Leutnant folgte ihm.

„Das kann nicht sein… Jemand ist beim Maleficium!? Öffnet sofort die Tore!“
 

Das rhythmische Aufleuchten der Warnleuchten tauchte den bis dahin düsteren Saal jetzt in ein lebhaftes rotes Licht, das die Mienen aller veränderte. Hargfried schwang sein Schwert nach allen Richtungen, als würde er unsichtbare Gegner bekämpfen. Die anderen wichen vor ihm zurück und merkten, dass seine drohenden Gesten nicht ihnen galten, er aber nichtsdestotrotz eine Gefahr für sie in seinem unüberlegten Handeln darstellte.

„Da sind sie, die Mörder meines Vaters! Kommt nur her, ihr Teufel!!“ schrie er gegen die Warnleuchten an. Sarik betrachtete ihn noch kurz kopfschüttelnd, dann trat er an das Gitter, das sie vom inneren Bereich der Schatzkammer trennte, und blickte zwischen die Stäbe hindurch. Im roten Schein der Warnleuchten erkannte er eine Reihe von Kisten, von denen eine erhöht auf einem Podest stand. Ihre Position sprach für ihren speziellen Status, und er ahnte, was sich in ihr befand. Er hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie sich jemand den Zugriff zu ihr verschafft hatte. Während die selbst im roten Licht der Warnleuchten nur schwer erkennbare Gestalt den Truhendeckel öffnete, fragte er sich Wird es wirklich jemand wagen…?
 

Die Gestalt, deren Konturen zur Gänze von einem wallenden, die Farbe wechselnden und zugleich auf irritierende Weise durchsichtigen Mantel verwischt wurden, langte in die Truhe. Das Gesicht war nicht erkennbar, aber das frohlockende Grinsen war spürbar, ja fast hörbar. Sie hob den Gegenstand aus der Truhe, setzte sich mit ihm auf die Stufe des Podests und legte ihn auf seinen Schoß. Dabei nahm sie keine Kenntnis von den durcheinander rufenden Wachen, die im Begriff waren, die Tore zur Schatzkammer zu öffnen.
 

Der Mann mit der auffälligen Narbe schimpfte und drohte immer noch den Warnleuchten. Dorian aber, und auch Iria, ebenso wie der ältere Mann und auch die Frau, die so plötzlich vor ihren Augen aufgetaucht war; sie alle sahen mit an, wie die Gestalt, die es irgendwie bis in den innersten Bereich des Saales geschafft hatte, den Gegenstand auf ihrer Schoß betrachtete. Für Dorian sah der Gegenstand aus wie ein altes, dickes Buch, dessen Einband mit Metallbeschlägen verziert war. Sein Blick traf dann den Mann neben ihm, der die Szene wie er gebannt verfolgte, der vorhin im Angesicht der Gefahr so ruhig gewirkt hatte, dessen Augen sich nun aber weiteten, um dabei langsam und tonlos zu flüstern:

„Das Maleficium…!“

Dorian hielt den Atem an, blinzelte verwirrt und wollte den Mann schon mit Fragen bestürmen; doch seine Stimme versagte. Wie von einem Zwang gelenkt blickte er wieder durch die Gitterstäbe, durch die er sah, wie die Gestalt das Buch aufschlug.
 

Die Gestalt, deren diffuse Umrisse sich beständig dem Auge aller Betrachter entzogen, öffnete das Buch. Seine nahesten Zeugen, Dorian, Iria und die ihm unbekannten Menschen um ihn herum, sie alle hielten den Blick auf ihn geheftet, und es war ihnen, als würden sie ihn lachen hören, als würden sie einen Ausruf des Triumphes hören, wenngleich ihre Ohren keinen Laut vernahmen. Und doch hing der Rausch eines endlich zur Erfüllung gekommenen Drängens spürbar in der Luft. Diese Erleichterung, die sie fühlten, ließ sie die kaiserliche Streitmacht vergessen, die sich in ihrem Rücken befand und im Begriff war, die herunter gelassenen Tore zu öffnen, um der Eindringlinge habhaft zu werden.
 

Die Gitter hoben sich; von der Ferne hörten sie Winden sich drehen und Ketten rasseln, und sogleich setzten sich die schweren Schritte der Palastgarde in Bewegung. Dorian sah das Gitter an sich vorbeiziehen. Durch das vorbeigleitende metallene Geflecht warf das aufblitzende grelle Licht zuckende Schatten auf sein Gesicht. Er schloss die Augen und ließ sich instinktiv zu Boden fallen.

Ebenso taten es Iria und die anderen Personen um ihn herum, die dem folgenden Ereignis am nächsten standen; die Palastgarde jedoch, die forsch und von dem Gedanken erfüllt, die Schmach des Eindringens dieser Diebe ungeschehen zu machen, vorstürmte, geriet in die volle Wucht des Geschehens, das vom Maleficium ausging.
 

Die massiven Buchdeckel des Maleficium öffneten sich, und sein Finder bekam weite Augen. Er sah das, was er sich so oft erträumt hatte, was sein ganzes Wesen und sein ganzes Drängen erfüllt hatte. Er sah nun die Seiten des Werkes, für das er alles zu geben bereit war. Er ahnte aber nicht, dass er genau das jetzt tun würde.
 

Strahlen blendenden Lichts entstiegen den Seiten, brachen aus wie ein Vulkan aus weißer Glut und überfluteten die Schatzkammer mit Helligkeit. Dorian spürte dies selbst noch durch seine zusammengepressten Augenlider. Er drehte den Kopf weg, öffnete die Augen ein Stück und sah undeutlich, wie die Wachen die Hände vor ihre Gesichter hielten, wie manche flohen und viele zu Boden sanken. Dann rollte über sie ein Donner hinweg, der keine physische Beschaffenheit hatte, den er aber bis ins Mark und bis in die Tiefe seiner Seele spüren konnte. Es fühlte sich an, als würde eine ganze Kavalleriekohorte in wildem Galopp über sie hinweg stürmen, und er fühlte auf der Oberfläche seiner Seele die schmerzenden Huftritte und das Getrampel schnaubender Rösser.
 

Die Gestalt im innersten Kreis der Schatzkammer blickte auf die Seiten des Maleficium, und ihre Augen wurden erfüllt vom Glanz, von den Verheißungen, von der überwältigenden Macht, die es ihm anbot, die es ihm entgegenhielt wie ein Geschenk, das nur für ihn allein bestimmt war. Licht strahlte aus den Seiten empor, und die Symbole und Lettern auf ihnen erschienen ihm in einer Deutlichkeit wie Sterne am tiefschwarzen Firmament. Es überflutete seinen Verstand und seinen Geist; die Gestalt konnte nicht anders, als das Geschenk anzunehmen. In seinem Taumel spürte er nicht mehr, wie das Maleficium den Preis für diese Macht verlangte, und war somit nicht imstande, diesen ihm zu verweigern. Er bekam alles vom Maleficium, alles, was er sich erträumt hatte- und im selben Moment begann sein Verlust, der durch nichts mehr zu stoppen war.
 

Dorian bewegte den Kopf auf die andere Seite und lüftete ganz vorsichtig die Hand vor seinen Augen. Das durchdringende Strahlen hatte etwas von seiner Blendwirkung verloren, und er erkannte wieder Einzelheiten seiner Umgebung. Rund um ihn herum lagen mehrere Personen auf dem Boden, die unter dem Gewitter des gleißenden Lichts ihre Köpfe unter ihren Händen verbargen, als spürten sie, dass hier eine Macht waltete, die größer war als sie alle. Dann sah er die Gestalt im Kern dieses Vorgangs.

Seine Konturen zeichneten sich blass im wogenden, wabernden Kern dieses Kreisels aus Licht, dieses Strudels aus flirrenden Schemen ab. Er hielt immer noch den Gegenstand, den der Mann zuvor das Maleficium genannt hatte, in Händen. Die Umrisse der Gestalt lösten sich auf, so erschien es Dorian.
 

Der Blick der Gestalt verlor sich immer tiefer in den Seiten des Maleficium, seine Seele forschte in ihnen nach alldem, was er schon immer gesucht hatte, und bei all dem war er sich nicht bewusst, dass dieser Gegenstand seine Klauen schon fest um ihn geschlungen hatte. Diese Gestalt war bereit, alles zu geben, selbst seinen eigenen Namen, so sehr war er schon betört. Sein eigener Name, der Name Scavo, selbst dieses vertrauteste aller Wörter schien ihm in diesem Moment unbedeutend und wäre beinahe dem Vergessen anheimgefallen, als sich die Macht des Maleficium ihm offenbarte.

Scavo sah die Lettern an sich vorbeimarschieren wie stolze Lanzenträger, wie Grenadiere eines mächtigen Heeres. Er sah ihre Reihen, ihre Kolonnen, und sie füllten ganze Schlachtfelder, die bis an den Horizont eines fernen Landes reichten, in dessen dunstigen Ebenen sich ihre Fußspuren verloren. Er sah sie marschieren und hörte den gleichmäßigen Atem ihrer Schritte und ihrer Rufe, die zusammen ein Ganzes bildeten, in dem die Seele des Krieges, in den sie zogen, enthalten war und welchem sie einhellig entgegen strebten wie ein Schwertarm, der sein Ziel unerbittlich verfolgte.

Der Geist des Maleficium ging auf ihn über, und sein Verstehen erweiterte sich um Welten, die mit dem Wissen und der Weisheit des Maleficium ausgefüllt wurden. Ein untrennbares Band wurde geschmiedet, sein Schicksal wurde in diesem Augenblick besiegelt.
 

Dorian versuchte aufzustehen, doch es war ihm, als müsste er gegen einen Sturmwind ankämpfen, der ständig drohte, ihn von seinen wackligen Beinen zu fegen. Ebenso versuchten es die anderen um ihn herum, die die gleiche Mühe hatten. Das Strahlen aus dem Zentrum des Saals nahm nun einen pulsierenden Charakter an. Wie ein schlagendes Herz flutete es in kurzen Abständen den ganzen Saal mit einem unerträglichen Glänzen, das ihm in den Augen brannte und die Luft zum Atmen raubte.

Die Männer der Palastgarde lagen allesamt im Staub. Einige wenige, die der ersten Welle des Ausbruchs hatten entfliehen können, krochen auf den Ausgang zu. Der Rest lag aber in erstarrter Haltung zu ihren Füßen, und Dorian fragte sich, ob dies ein Alptraum oder Wirklichkeit war.

Dann drehte er sich wieder um und stemmte sich gegen den Sturmwind, in dem ein rhythmisches Sausen dröhnte, das wie ein Schrei aus tausend Kehlen klang. Nur mit Mühe hielt er sich in den Böen aus Licht und Klang auf den Beinen, eine Annäherung an die Gestalt schien ihm unmöglich. Dann mischte sich ein schattenhaftes Flackern in das grelle Licht.

Zuerst erschienen ihm die Schemen nur wie unscharfe Schattenspiele an einer Wand, dann gewannen sie an Klarheit. Reiter auf prächtigen Pferden stürmten an ihm vorbei, ihnen folgten Kolonnen aus Speerträgern, Schwertkämpfern, aus Fußsoldaten in fremdartigen Rüstungen. Er verbarg sein Gesicht vor den schrecklichen Bildern, und Angst brannte ihm wie siedendes Wasser in der Kehle.

Er presste die Augenlider zusammen, doch die Bilder wichen nicht. Seine starren Beine fühlten sich wie kalte, nutzlose Stümpfe an. Lautlos verfluchte er sie und die Unfähigkeit, zu fliehen. Der Schrecken all des gesammelten Leids, all der bewaffneten Auseinandersetzungen, all der Feldzüge aus blinder Eroberungswut; sie strömten über ihn hinweg wie eine Flut unreinen Wassers, das ihm das Atmen erschwerte und jeden Mut nahm. Er fühlte sich so winzig klein inmitten dieses Geschehens, das ihm wie ein bereits im Vergessen begriffener Alptraum schien und das doch so greifbar echt wie eiskalter Hagel auf ihn hernieder prasselte. Plötzlich durchzuckte ein heißer Schmerz seinen rechten Arm, woraufhin er die Augen öffnete.

Die Schemen und die Schatten längst vergangener Schlachten, die wie eine Luftspiegelung durch den Raum tanzten und sich auf ihren Gesichter spiegelten, schienen einen Wirbel um den Escutcheon an seinem rechten Arm zu bilden. Wie um einen herausragenden Stein in einem wilden Gewässer, so drehten und brachen sich die Ströme flackernden Lichts um seinen Arm. Die Glasscheiben im Escutcheon begannen in grellen Farben zu blinken und zu flackern. Gleichzeitig fühlte sich das Metall brennend heiß auf der Haut an.

Die Panik drohte ihn endgültig zu übermannen, und er zerrte am Escutcheon wie von Sinnen. Seine Beine gehorchten ihm immer noch nicht. So zog er mit umso größerer Kraft an der Armschiene, die in diesem Moment schmerzhaft in seine Haut einzuwachsen schien. Die Pein wurde unerträglich, und seine Augen, in denen der Irrsinn die Oberhand zu gewinnen drohte, tasteten nach dem Schwert, das auf dem Boden lag. Der Plan, sich in letzter Konsequenz den Arm abzuhacken, reifte wie ein krankmachendes Geschwür in seinem vom Schrecken durchfluteten Verstand. Als sich der Schmerz der Grenze des Vorstellbaren näherte, sahen seine zitternden Augen, wie sich die vier Scheiben zur Gänze mit einem satten grünen Schein füllten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2009-12-20T02:11:18+00:00 20.12.2009 03:11
Da gibt noch ne Menge Ärger.
Habe ic h recht?


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