Zum Inhalt der Seite

Das Maleficium

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Also, jetzt hört mal alle gut zu“, begann Yannick und räusperte sich geräuschvoll, als wollte er eine wichtige Rede beginnen. Ludowig, Nikodemus, Gaubert und auch Dorian saßen an ihren Plätzen um den Tisch verteilt und lauschten gespannt. Neben Yannick standen nun die beiden Neuankömmlinge, und er stellte sie ihnen mit lebhaften Gesten vor. „Ich darf euch vorstellen: das sind Nadim Wenzelstein und Iria Halloran, von der Gilde in Mosarria. Sie sind bis auf weiteres unsere Gäste, und es gelten natürlich alle Regeln der Gastfreundschaft für Gildengeschwister.“

Die beiden standen mit hängenden Schultern und müden Gesichtern vor ihnen, die von einer langen Reise kündeten. Dorian und auch die anderen betrachteten sie genau.

Nadim Wenzelstein, bei dem bei der Nennung seines Nachnamens ein leises Raunen durch ihre Runde gegangen war, war ein schmächtiger Bursche etwa in ihrem Alter. Sein Name war wohlbekannt in Diebeskreisen, und jeder kannte die Geschichten über die Dynastie, aus der er abstammte, allen voran Johann Wenzelstein, der als einer der begabtesten Diebe in der Geschichte ihrer Gilde galt. Er hatte eine Menge Nachfahren, doch dieser wirkte nicht ganz so, als würde er in seine großen Fußstapfen treten. Seine leicht krummen Beine machten nicht den Eindruck, als könnte er mit ihnen schnell laufen und Wachen entfliehen. Seine groß geratenen Hände schienen ebenfalls wenig geeignet, um unbemerkt in fremde Taschen zu fassen. Der nervöse Ausdruck auf seinen blassen Zügen verriet nicht jene Kühle und Beherrschtheit, die für einen erfolgreichen Dieb notwendig war. Während Yannick weitererklärte, fiel Dorians Blick auf Iria Halloran, die neben Nadim stand.

Dieses Mädchen, oder eher junge Frau, war etwas älter als sie. Ihr Gesicht wirkte erschöpft von der Reise, doch ihre Augen blickten klar und stolz. Auch wenn die Müdigkeit ihre Knochen beschwerte, so hielt sie das Kinn doch gerade, und ein gefasster Ausdruck um ihren Mund ließ den ehernen Entschluss erahnen, sich vom Leben und seinen Widrigkeiten nicht so leicht unterkriegen zu lassen. Ihr annähernd schwarzes Haar umrahmte ein zerbrechliches Gesicht, das schon so manches Leid gesehen zu haben schien. Dorians Blick verweilte länger darauf, als er eigentlich beabsichtigte, und wandte sich blinzelnd ab, als sie ihn direkt ansah und dabei die Brauen herab zog.

„…wie gesagt, sie sind für die nächste Zeit eure Gildengeschwister. Erklärt ihnen den Stadtbrauch und nehmt Rücksicht, sie haben eine lange Reise hinter sich. Und jetzt esst, bevor die Suppe kalt wird!“
 

Ein Schmatzen und ein Schlürfen hallten durch den Raum, und die dampfende Suppe, in der Brotkrumen, Kartoffelstücke und sogar einzelne Fleischbrocken schwammen, verschwand schnell von den Tellern. Nadim und Iria sprachen nichts bei Tisch; sie waren ganz konzentriert auf ihre Mahlzeit, und holten mehrmals nach. Sie wirkten, als wäre dies die erste warme Mahlzeit nach längerer Zeit für sie. Dorian beobachtete sie unauffällig, doch keiner von ihnen sah länger als einen Moment von seiner Schüssel auf.

Ludowig und Nikodemus, genauso wie Dorian und Gaubert, waren fertig mit dem Mahl und räumten ihr Geschirr weg. Nadim und Iria saßen immer noch bei Tisch und löffelten die letzten Reste mit Heißhunger weg. Danach zogen sie sich wieder in den Bereich mit den Stockbetten zurück und gaben sich auch sonst nicht gesprächig. Dorian sah ihn ihre Richtung, dann stieß er Gaubert an, der in einem Eimer die Teller abspülte.

„Was hältst du von den beiden?“

„Na ja, wir haben auch nicht gerade im Übermaß“, meinte er mürrisch und blickte kurz von seiner Arbeit auf. „Die hätten gern auch in Mosarria bleiben können.“

„Ja, aber das Mädchen? Die ist doch ganz nett“, bemerkte er gedankenversunken.

„Die? Sie ist ziemlich dünn, und hübschere hab‘ ich auch schon gesehen“, erwiderte Gaubert, und entleerte dabei den Eimer aus einem offenstehenden Fenster. Das Aufklatschen des Schmutzwassers erklang aus der Tiefe, gefolgt von einem ebenso überraschten wie wütenden Ausruf eines betrunkenen Nachtschwärmers.

„Ich finde, sie hat was“, gab Dorian zurück, verschränkte die Arme und legte den Kopf schief.

„Du kannst dich ihr ja anbieten, Gelegenheit gibt es ja ab jetzt genug“, meinte Gaubert schulterzuckend und schloss das Fenster, unter dem jemand wütend schimpfte. „Nachdem sie neu ist, weiß sie ja noch nichts von deinem Ruf als Schürzenjäger.“

Dorian wandte sich zu ihm um und blickte ihn entgeistert an.

„Ich und Schürzenjäger!? Wer behauptet sowas?“

Gaubert machte ein überlegendes Gesicht.

„Lass mich nachdenken… Petrina, Callo, Rosie- “

„Ja, ja, das reicht schon“, unterbrach Dorian ihn und hob die Hände. „Es ist nun mal nicht so leicht, die Richtige zu finden!“

„Ja. Vor allem für dich“, schmunzelte Gaubert und räumte das nun saubere Geschirr weg. Dorian schüttelte seufzend den Kopf, dann schnippte er mit den Fingern.

„Lassen wir das Thema. Wir wär’s mit ein bisschen Training?“

Gaubert schloss die Schranktür und blickte ihn mit erhobener Augenbraue an.

„Du willst wieder verlieren?“ fragte er ihn schelmisch.

„Wir werden sehen, wer hier verliert“, erwiderte Dorian und verschränkte abwartend die Arme.
 

Dorian streifte den Kupfer-Escutcheon über seinen Schwertarm, und sofort glühten die darin eingesetzten Glasscheiben auf. Er ballte probeweise die Faust, und ein geheimnisvoller Schimmer glitt über die Armschiene und kündete von ihrer verborgenen Energie. Gaubert legte die seine an, dann griffen beide nach den schartigen Eisenschwertern, die an der Wand hingen.

„Muss ich es dir nochmal erklären, oder hast du es dir gemerkt?“ fragte Gaubert in einem gespielt schulmeisterlichen Tonfall. Dorian, der wusste, was er erwartete, verdrehte die Augen.

„Also gut… die Escutcheons haben drei Aufgaben: erstens sammeln sie die Kampferfahrung, die wir erwerben, und verstärken mit ihnen unsere Kräfte. Zweitens lassen sie den… wie heißt es? Genau, den ‚Kreis der Konfrontation‘ oder auch ‚Kampfdom‘ entstehen, der sich um die beiden Kontrahenten aufspannt.“

„Und weiter?“ fragte Gaubert grinsend, der seine Rolle als Lehrmeister sichtlich genoss.

„Und weiter baut sich dieser Bereich um den Urheber und den nächststehenden Escutcheon-Träger auf“, zählte er mit leicht genervtem Tonfall auf. „Die beiden haben dann ihre Arena, in die kein unbeteiligter Kombattant eingreifen kann.“

„Nicht übel, ein bisschen hast du dir ja doch gemerkt“, sagte Gaubert spöttisch. „Und drittens?“

Dorian kratzte sich am Hinterkopf und überlegte scharf.

„Drittens, äh… genau, drittens können die Escutcheons mit speziellen Fähigkeiten erfüllt werden, die sich auf ihre Träger auswirken. Allerdings ist dies sehr kostspielig, und nur hochrangige Soldaten oder wohlhabende Leute können sich das leisten.“

„Sehr richtig. Wissen muss man das aber trotzdem, wenn man ein Krieger sein will. Also, worauf wartest du?“ rief ihm Gaubert herausfordernd entgegen, und ließ dabei seine Klinge von der einen Hand in die andere springen. Dorian verbreiterte seinen Stand, senkte seinen Körperschwerpunkt und hob seine Waffe. Ludowig und Nikodemus, die ahnten, was bevorstand, eilten herbei, um die beiden aus angemessener Entfernung zu beobachten. Auch Yannick, der sich gerade seine Pfeife mit Tabak stopfte, richtete seine Aufmerksamkeit auf sie.

„Schlagt nichts kaputt, und tut euch vor allem nicht weh“, rief er lachend. „In unserer Profession gibt es keinen Krankenstand, ha, ha!“

Wie zum Zeichen, dass ihr Übungskampf beginnen möge, hob er seine Pfeife, wie Dorian aus dem Augenwinkel sah. Dann richtete er wieder den Blick auf seinen Kontrahenten, und hob seinen rechten Arm, an dem der Escutcheon saß. Die Armschiene, die seinen Unterarm vom Handgelenk bis hin zum Ellbogen bedeckte, glänzte matt im Licht der Glühdrahtlampen. Dorian konzentrierte sich. Dann geschah es.
 

Ein Zischen klang durch seine Gehörgänge, als sich der Kampfdom aufspannte. Er wusste, dass niemand außer ihm dieses Geräusch hören konnte und sah mit an, wie sich eine Kuppel aus blauen, geometrischen Linien, mit ihm als Zentrum, auftat. Sie wuchs über ihm empor und schloss sowohl ihn als auch Gaubert in eine Arena aus blauen Linien ein. Alles außerhalb dieses Bannkreises schien diffus und weit weg, als würde das Licht der Umgebung durch einen erhöhten Widerstand in ihren Kreis dringen. Seinen ‚Gegner‘ sah er jedoch deutlicher als zuvor, geradeso, als würde eine Energiequelle seine Umrisse mit einem bläulichen Schimmern verstärken.

Dorian schritt auf seinen Gegner zu und landete einen Schwerthieb. Gaubert parierte gekonnt, und die Funken ihrer zusammentreffenden Klingen erhellten ihren von gefilterter Dunkelheit erfüllten Bannkreis einen Moment lang. Dann wich er wieder zurück.

Nun war Gaubert am Zug. Er holte weit aus, und Dorian nahm eine defensive Position ein. Der Hieb erschütterte seinen Arm bis ins Schultergelenk, und seine Klinge vibrierte noch einen Moment nach.

„Genau, gib’s ihm!“ jubelte Nikodemus von außerhalb des Kreises. Dorian sah seine Umrisse undeutlich außerhalb des Kampfdoms. Ärger legte sich über seine angespannten Züge, und er fühlte sich so ähnlich wie heute Vormittag auf dem Marktplatz, als damals schon Zuseher seine Konzentration gestört hatten.

„Woha!“ stieß er aus, als ihn eine heftige Attacke fast zu Boden beförderte. Gaubert hatte den Moment der Ablenkung genützt und eine Parade gelandet. Dorian taumelte zurück und rang um sein Gleichgewicht. Der Kampfdom erweiterte sich mit jedem Schritt, den er vor seinem Kontrahenten zurückwich, und die von blauglühenden Linien gezogene Kuppel wuchs über ihm in die Höhe.

„Regel Nummer Vier: lass dich nicht ablenken, denn im ‚Kreis der Konfrontation‘ kann dir niemand helfen!“ belehrte Gaubert ihn, und ein Grinsen voller Genugtuung wuchs auf seinem Gesicht.

„Ja, ja“, brummte Dorian und wechselte seine Position. Nun war er an der Reihe, und er bereite seinen Angriff gewissenhaft vor.

Seine Schritte beschleunigten sich, und das Schwert fühlte sich leicht an in seiner Hand. Schnell kam er seinem Kontrahenten näher, und im gleichen Maße zog sich der Kampfdom zusammen. Gaubert machte sich auf den Zusammenstoß gefasst, und Dorian erkannte an Veränderungen seiner Stellung einen Konterangriff, mit dem er ihm antworten würde.

„Ich versteh nicht, warum sie die Dinger nicht einfach verkaufen“, sagte Ludowig zu Nikodemus, der den Kampf mit wesentlich mehr Interesse verfolgte als sein Kamerad. Wieder schweifte Dorians Blick ab, und mit ihm seine Gedanken. Sein Angriff ging ins Leere. Gauberts Klinge fegte an ihm vorbei wie eine Sense, und Dorian fiel auf den Hosenboden. Gaubert blickte triumphierend auf ihn herab.
 

Dorian erwiderte seinen amüsierten Blick säuerlich, dann verdrehte er die Augen in Richtung Nikodemus und Ludowig.

„Aus denen werden sowieso keine großen Krieger mehr, und so ein Escutcheon bringt locker 200 Heller“, sagte Ludowig zu seinem Kumpan. Dorian stützte sich auf sein Schwert und kam so auf die Beine.

„Könnt ihr nicht mal ruhig sein?“ fuhr er die beiden verärgert an.

„Das Problem ist deine Konzentration, Dorian. Ich sage es immer wieder.“

Dorians aufgebrachter Blick traf nun Gaubert, richtete sich wieder auf Nikodemus und Ludowig, um sich schließlich zu Boden zu senken. Seine Kampflust wich, er gab sich geschlagen. Augenblicklich erlosch der Kampfdom. Die blauen Linien schwanden, und das Licht der Glühdrahtlampen traf wieder ungedämpft den Bereich um sie herum.

Gaubert sah zu, wie Dorian wortlos das Schwert in die Halterung an die Wand hing. Dann suchte er sich einen Schemel am Tisch und setzte sich hin. Ludowig und Nikodemus, die seine grantige Verfassung spürten, suchten lautlos das Weite. Gaubert, dessen nachdenklicher Blick immer noch auf Dorian ruhte, stellte sein Schwert ebenfalls weg, streifte den Escutcheon ab, um ihn in dem Schrank zu verstauen, und ging dann zu ihm.

„Beim nächsten Mal gewinnst du die Partie“, sagte er in einem ungeschickten Versuch, ihn aufzumuntern.

„Für mich ist es keine ‚Partie‘“, erwiderte Dorian und blickte ihn mit düsterer Miene an. Gaubert zog sich einen Schemel heran und setzte sich zu ihm.

„Was ist los mit dir, Dorian? Ich glaube, du nimmst das zu ernst.“

„Es ist für mich auch ernst“, beharrte er. Sein Blick glitt über den Escutcheon an seinem rechten Arm. Die vier Glasscheiben darauf waren leer bis auf die erste, in der ein leichter grüner Schimmer sich an dessen Rand abzeichnete; Gaubert wusste, dass sie sich mit der steigenden Kampferfahrung ihres Trägers füllte, und diese war noch beinahe leer.

„Das solltest du nicht so sehen. Vergiss nicht, wir sind Diebe, und darauf können wir stolz sein“, sagte er mit fester Stimme.

„Ich will aber… mehr sein, verstehst du?“ entgegnete Dorian mit einer Mischung aus Bedrückung und leiser Zuversicht. „Ich will nicht nur ein Dieb sein, ich will ein großer Dieb sein… einer, von dem man noch in Generationen sprechen wird.“ Seine Stimme hob sich, seine Brust schwoll an und sein verklärter Blick ging in eine unbestimmte Ferne. „Und dafür muss ich auch kämpfen können.“

Gaubert schüttelte sachte den Kopf, und sein besorgter Blick ruhte auf ihm.

„Du solltest zufrieden sein mit dem, was wir haben. Es geht uns gut hier. Wir haben jeden Tag zu essen, wir haben ein sicheres Dach über dem Kopf, und wir haben uns… das können nicht alle Bewohner dieser Stadt von sich behaupten.“ Dorians Blick ging zu Boden, und er schien ihn aus Trotz zu überhören. „Sieh dir die beiden an“, sagte Gaubert, und deutete auf Iria und Nadim, die auf ihren frisch bezogenen Stockbetten saßen, und deren Blicke mit einer Mischung aus Ermattung und Resignation ins Leere gingen. „Der Krieg hat sie aus ihrer Heimat vertrieben, und bald kommt er vielleicht zu uns.“

Dorian hob den Blick und sah ihn wieder an. Doch immer noch sprach kindlicher Trotz aus ihm.

„Und was geht mich das an?“

Gaubert überhörte die Schärfe in diesen Worten und antwortete in einem versöhnlichen Ton.

„Ich meine nur, wir alle haben Grund zur Zufriedenheit. Deine Träume von Ruhm und Ehre sind nichts Schlechtes, und ich vergönne sie dir. Aber etwas zum Essen auf dem Tisch zu haben und ein warmes Bett, das ist auch einiges wert. Du warst noch klein, beim ersten Krieg zwischen Galdoria und Mosarria, aber…“ Er schwieg einen Moment, und ein Reigen beklemmender Erinnerungen schien hinter seiner Stirn vorüber zu ziehen. Dann klarte sich sein Blick wieder. „Du hast damals deine Eltern verloren, in diesem verdammten Krieg, so wie wir alle. Aber du hast eine neue Familie gefunden, und das ist etwas Schönes. Vergiss das nicht.“
 

Gaubert nickte ihm noch einmal aufmunternd zu, und erhob sich dann von seinem Schemel. Dorian blickte ihm hinterher und sah, wie er sich Wasser in einen Trog einfüllte, um sein vom Übungskampf verschwitztes Gesicht zu waschen. Seit er sich erinnern konnte, war er wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Niemand seiner eigenen Familie hatte den großen Krieg vor bald zwei Jahrzehnten überlebt. Nicht Kampfhandlungen, sondern das davon ausgelöste Elend, die Hungersnöte und Krankheiten hatten ihnen alle die Familien genommen, um dann später, unter der Obhut ihres Patrons Meister Yannick, eine neue Familie zu formen. Sie war wichtig für ihn, und immer hatte er Gewicht auf die Worte von Gaubert gelegt.

Doch dieses Drängen, diese unterschwellige Gewissheit, dass sein Schicksal darüber hinaus ging, mit Taschendiebstählen sein Brot zu verdienen, diese Gewissheit ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Seufzend betrachtete er die in den Escutcheon eingefasste Glasscheibe. Sie war erst zu einem winzigen Teil gefüllt. Um es zumindest mit einer der Stadtwachen aufnehmen zu können, müsste sie voll sein. Von den drei weiteren ganz zu schweigen. Und so erhob er sich, um die Armschiene vorsichtig zu verstauen, und sich ebenso wie Gaubert sein Gesicht zu waschen.
 

Er rieb sich mit dem kühlen Nass das Gesicht ab, und die Erfrischung trat sofort ein. Seine nassen Haare tropften in den Zuber, und er sah sein eigenes, sich kräuselndes Spiegelbild im Licht der Glühdrahtlampen. Ein schelmisches Lächeln, umrahmt von hellbraunen Strähnen, bot sich ihm dar, dann machte er sich auf, um frisches Waschwasser zu holen.

Das Dach des Gebäudes hatte an mehreren Stellen große Löcher. Abgebrochene Balken des Dachstuhls ragten wie Rippen aus dem Tonziegeldach, und unter der größten Öffnung stand ihre Zisterne, mit der sie Regenwasser für den täglichen Gebrauch sammelten. Funktionierende Wasserleitungen gab es in allen besseren Vierteln der Stadt, nicht aber am Bucket-Weg.

Er tauchte den Eimer ein, und dieser füllte sich mit klarem Wasser. Die Sterne am unbedeckten Himmel spiegelten sich auf der Oberfläche, die sich nun leicht kräuselte. Dorian wartete geduldig, bis der Eimer voll war. Dabei bemerkte er die Gestalt, die am Rande des offenen Dachs saß. Er stellte den Eimer ab und ging auf sie zu.

„Dein Name war… Iria, richtig?“ Sie drehte den Kopf zur Seite und nickte, dann wandte sie sich wieder dem nächtlichen Panorama von Galdoria zu. Dorian stellte sich neben sie und verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Ich hab‘ gar nicht mitbekommen, dass du hier rauf bist.“

„Ich wollte allein sein“, erwiderte sie knapp. Ihre Stimme verriet, dass ihr an diesem Gespräch nicht allzu viel lag.

„Dann hast du unseren Kampf also versäumt“, sagte er lächelnd und streckte die Brust raus.

„Pah, ihr mit eurem Kampf“, gab sie missmutig zurück. „In Pielebott, an der Grenze, wo wir wohnten… Es begann vor einer Woche“, erzählte sie zuerst zögerlich. Dorian, etwas irritiert von ihrer harschen Entgegnung zuvor, lächelte nicht mehr, sondern hörte ernst zu. „Soldaten kamen, zuerst wenige, dann immer mehr“, sprach sie weiter, und die zögerlichen Worte schienen die Erinnerung nur mit Mühe zu lösen. „Sie sprachen vom Krieg, und dass sie ihn schon erwarteten. Sie führten große Sprüche und wirkten so stolz…“ Im Halbdunkel sah er, wie sich ein Ausdruck aus Empörung und auch Abscheu auf ihrem Gesicht abzeichnete. „Sie prahlten, so wie ihr beide. Und zwei Tage später waren viele verwundet, und manche tot. Von Kämpfen habe ich genug.“

Schweigen kehrte ein in dem teilweise eingestürzten Dach, und Dorian sah sich betreten um. Ihre Worte hatten seinen Übermut betäubt. Unangenehm berührt trat er von einem Bein auf das andere.

„Dann bleibt ihr also länger bei uns?“ fragte er, um das zum Erliegen gekommene Gespräch weiterzuführen, und auch um von dem Gefühl abzulenken, dass ihre verbitterten Ausführungen in ihm wachgerufen hatten.

„Nicht länger als nötig“, erwiderte sie eilig. „Wenn dieser Krieg vorbei ist, gehen wir zurück. Es ist nur vorübergehend“, fügte sie hinzu, wie um sich selbst davon zu überzeugen.

„Dieser Krieg… ist sicher bald vorbei“, sagte Dorian. Seine Stimme klang nicht sonderlich überzeugt. Sein Blick ging über die in regelmäßigen Abständen von Gaslaternen beleuchteten Straßen, hob sich auf die in tiefer Dunkelheit liegenden Dächer und verlor sich schließlich am Horizont, in der Bucht vor Galdoria, auf die er heute schon vom Uhrturm hinabgeblickt hatte. Doch diesmal erfüllte ihn dieser Anblick nicht mit drängender Abenteuerlust. Diesmal flößte er ihm eine stockende Furcht ein vor einer Kriegsmacht, die weit weg war und doch schon ihre drohenden Schatten bis hierher warf und auf seine Träume und Pläne keine Rücksicht nehmen würde. Genauso wenig, wie sie auf das Schicksal der Flüchtlinge Rücksicht genommen hatte, die nun bei ihnen einquartiert waren. „Also dann… ich lass dich dann mal allein.“ Dorian achtete auf ein Zeichen des Widerspruchs bei Iria, doch es blieb aus. Dann hob er den gefüllten Eimer an, seufzte über dessen Gewicht und ging wieder die knarrende Treppe hinunter.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fahnm
2009-11-09T22:48:05+00:00 09.11.2009 23:48
Krieg ist immer was Schliemmes.
Ich bin mal auf s nächste kpai gespannt.

mfg
fahnm


Zurück