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Gerrit und Rahel

Man nannte uns Spinner
von

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Eigene Tatsachen

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Omas Anreise war nicht zu verhindern.
 

Wie sehr ich mich auch auf einen anderen Planeten wünschte, es half nichts.
 

Peppe versuchte Mom davon zu überzeugen, dass wir uns einfach alle tot stellen sollten, aber Mom lachte nur und meinte, es würde schon nicht SO schlimm werden.
 

Ich hatte mich ins Wohnzimmer verzogen und tat so, als würde ich ganz konzentriert einen Film über das Leben der Antilopen in Afrika schauen.

In Wirklichkeit glotzte ich einfach nur auf die Flimmerkiste und versuchte mit allen Mitteln Rahel zu ignorieren, die sich nach einer Zeit auf ihren Sessel neben meinen gesetzt hatte.
 

Meine Schwester hatte immer noch die Schlafsachen an und sich noch nicht unter die Dusche bemüht. Aber das war normal.

Rahel kam erst nach STUNDEN in die Gänge und lebte eigentlich in den Schlafsachen.
 

„Egal was du versucht zu tun, lass es sein.“
 

Ich ignorierte Rahels Satz und sah fast schon verzweifelt einem Löwen zu, der eine Antilope jagte.

Die verdammten Tiere waren ziemlich schnell…
 

„Gerrit!“ Rahel verlor nun endgültig die Nerven und hörte damit auf, mich einfach nur böse anzusehen.

Sie stand auf und schaltete den Fernseher aus.
 

„He!“ Ich deutete auf den Fernseher. „Mach wieder an. Ich wollte das schauen…“
 

„Erzähl keinen Durchfall, du Idiot. Glaubst du echt, ich lass mich von dir ignorieren?!“
 

Ich sank tiefer in den Sessel und hatte die lächerliche Hoffnung, dass ich NIE wieder aufstehen musste.

Aber es war ein Wunschtraum. Mehr nicht.
 

Rahel musterte mich ernst. „Findest du es so schlimm, Gerrit?“
 

Verfickter Scheissdreck! Meine Schwester wollte ja wohl nicht im Ernst HIER mitten im WOHNZIMMER über den Vorfall zwischen uns reden?!
 

„Psst!“ Ich stand schnell auf und winkte eilig ab. Immerhin konnte man sich bei Rahel NIE sicher sein. Ihr fehlte immerhin das eigentlich zum Überleben wichtige Schamgefühl. „Sei leiser, Rahel!“
 

„Wieso?“ Rahel verschränkte die Arme. „Vor was hast du Angst?“
 

„Du spinnst!“ Ich schüttelte den Kopf. Sie machte mir vielleicht Spass! Vor was ich Angst hatte?! „Sei jetzt endlich leiser, Rahel! Es muss ja nicht jeder mibek…“
 

„ICH BIN LEISE!“ Rahel stiess mich hart nach hinten und ich landete mit dem Rücken auf dem Boden. „SO WAS VON LEISE! ICH ERZÄHL JETZT DER GANZEN WELT…“
 

Rahel war definitiv total bescheuert!
 

Mit einem Ruck erhob ich mich vom Boden, sprang meine Schwester brutal an und drückte ihr fest die Hand auf den Mund, als wir beide zusammen auf den Holzboden krachten.

Rahel versuchte mir in die Handfläche zu beissen, aber ich hielt ihren Mund nur fester zu, drückte sie mit meinem Gewicht weiter auf den Boden und packte mit der anderen Hand ihre beiden Handgelenke gleichzeitig, da sie mich versuchte zu schlagen.
 

Wäre ich nicht so verdammt sauer auf sie gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich selbst über meine plötzliche Kraft gewundert.
 

„Halt dein Maul!“, zischte ich und Rahel sah mich nur böse an.
 

Peppe lugte je in diesem Moment plötzlich ins Wohnzimmer. „Scheisse“, sagte er. „Ihr macht Krach für eine ganze Armee! Es gibt hart arbeitende Leute, die mit ihrer Freundin telefonieren wollen!“
 

„Mach doch!“, fauchte ich meinen älteren Bruder an und spürte, wie sich Rahel unter mir vom Boden stemmen wollte.

Ich drückte sie hart zurück auf das Holz und tat ihr dabei mit ziemlicher Sicherheit ordentlich weh, aber das hatte sie verdient.
 

Rahel hatte… alles kaputt gemacht! Ja!
 

Es war alles okay gewesen. Ich hatte nichts Verbotenes getan und mich auch nicht wie ein Drecksack gefühlt! Aber RAHEL hatte eine wichtige Grenze einfach überschritten! Sie hatte wie immer einen verdammten Scheiss darauf gegeben, was mir wichtig war!
 

Wir waren Geschwister, verdammt! Zwillinge! Rahel war eigentlich ein Stück ICH bloss weiblich!
 

Man fasste sein anderes Stück ICH nicht an! Man machte einfach nichts Sexuelles mit der Person, mit der man sich Jahre lang eine Badewanne geteilt hatte und die seit Geburt an neben einem schlief!
 

Das war… krank.
 

Vielleicht nicht gerade KRANK aber es überstieg um eine gute Höhe die ethische Grenze.
 

Rahels Faust traf meine Nase, da ich bei meinen Überlegungen den Griff um ihre Handgelenke gelockert hatte.
 

Peppe machte sich ganz schnell aus dem Staub. Er spürte wohl, dass gleich RICHTIG die Fetzen flogen.
 

Rahel boxte mir noch einmal fest ins Gesicht, dann bekam ich ihren einen freien Arm zu fassen und biss hinein.

Rahel schrie auf, stemmte sich vor Schmerzen vom Boden und versuchte mir in den Bauch zu boxen, was ich aber verhindern konnte, da ich mich einfach wieder auf sie legte und mit meinem Gewicht auf den Boden drückte.
 

Ich war der Mann, verdammt! Auch wenn ich mir von meiner Schwester die Nase blutig hauen liess, war ich definitiv DER MANN IM HAUS!
 

Peppe zählte nicht wirklich, weil er eigentlich kaum Zuhause war, wenn er wieder seine Freundin und Herzblatt des Jahres hatte. Ausserdem sah er mit der Frisur wirklich aus wie Madonna bloss einige Jahrhunderte weniger.
 

Rahel schrie laut auf und jetzt war ICH es, der ihr ins Gesicht schlug. Nicht fest, da ich mich das immer noch nicht so wirklich traute.

Vielleicht war ich ja wirklich der Mann im Haus, aber Rahel würde mir ohne Zweifel den Schwanz abbeissen, wenn ich echt Gewalt einsetzen würde…
 

Sie würde mich zusammenschlagen, bis nichts mehr von mir übrig wäre. SO sah es aus…
 

Die restlichen erbärmlichen Wellen von meinem kurzen ‘Ich bin der Mann im Haus‘-Anfall hatten sich nun endgültig wieder gelegt und ich starrte Rahel ins Gesicht.
 

Sie lag unter mir, starrte mich böse an und biss mir wieder in die Handfläche, die ich ihr immer noch auf den Mund drückte.
 

„Ich… hab dich geschlagen.“ Ich starrte meine Schwester an. Ich hatte noch nie eine Frau wirklich geschlagen… Auch wenn Rahel nicht wirklich wie eine Frau rüberkam, war sie meine… andere Hälfte, verfickt!

Ja. Das klang zwar zum einen absolut kitschig, aber auch total eklig, da ich sofort an ein halb aufgeschnittenes Herz denken musste.
 

Rahel sah mich ernst an. Langsam nahm ich meine Handfläche von ihrem Mund und spürte, wie sie sich leicht unter mir bewegte.

„Und jetzt?“, fragte Rahel genervt. „Soll ich jetzt heulen, oder was? Du hättest fester schlagen sollen, Gerrit.“

„Ich…“ Ich stockte und fasste mir an die Nase. Blut tropfte dicht neben Rahels Kopf auf den Holzboden des Wohnzimmers. „Scheisse…“
 

„Las mich machen.“ Ich rutschte etwas von Rahel herunter und liess sie somit endlich vom Boden aufstehen. Sie verschwand kurz und kam mit Verbandszeug zurück.
 

„Bereit?“, fragte Rahel und ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mich in der Zwischenzeit auf meinen Sessel gesessen und kannte Rahels Art mich wieder Heil zu machen nur zu gut.

Sie würde mir so weh dabei tun, dass ich wie an unserem letzten Geburtstag ins Krankenhaus musste, weil Rahel meine von ihr gebrochene Nase einfach wieder richtig brechen wollte, es dabei aber nur schlimmer gemacht hatte.
 

Der Arzt, der die Aufgabe der Nasen-Rettung übernehmen musste, musste fast mit seinem ganzen eigenen Körpergewicht gegen meine Nase ankämpfen.
 

Ich hatte noch nie in meinem Leben SO geschrien, da waren sich alle aus der Familie einig.
 

„Fass mich nicht an!“ Ich trat mit meinem linken Fuss in die Luft und machte Rahel damit unmissverständlich klar, dass sie nicht näher kommen sollte, durfte und es aber – wie denn auch sonst?! – trotzdem tat.
 

Sie musterte Fachmännisch meine Nase und es war klar. Ich war am Arsch.
 

„Fass da nichts an, verdammt! Mir hat das letztes Jahr im Februar mit meiner geschroteten Nase wirklich gereicht! Echt!“ Ich versuchte Rahels Kopf wegzudrücken, wurde dabei aber gestört.
 

„Was macht ihr… Oh Gott, Gerrit!“ Mom kam ins Wohnzimmer gewuselt. Sie stiess Rahel etwas ZU grob von mir weg und packte mein Gesicht mit beiden Händen.
 

Wie schon gesagt… Nachdem ich mit ihr zu ihrer Premiere war, war ich für die nächsten hundert Jahre sauber aus dem Schneider.
 

„Rahel!“ Mom wand sich an ihre Tochter. „Was soll der Scheiss?! Wieso musst du ihm ständig wehtun?!“
 

Das hatte ich mich auch schon mehrmals gefragt. Mehrmals? Eigentlich jeden Tag. Jedes Mal, wenn Rahel wieder zuschlug.
 

Ich sah Rahel ernst an, da ich kurz befürchtete, sie würde Mom aus reinem Trotz mir gegenüber alles beichten. Was sie gemacht hatte, was ICH gemacht hatte, wo ICH sie angefasst hatte…

Keine Ahnung, ob ich danach immer noch so sauber dastand. Premiere hin oder her.
 

„Wir haben uns gezofft und DIESE Fotze hier wollte einfach nicht einsehen, dass ICH der Boss bin. Ich kann einfach für nichts garantieren, Mom, wenn dein Sohn so ein verblödeter Vollidiot…“
 

„Rahel! Es reicht!“ Mom schüttelte den Kopf. „Ich wunder mich wirklich, dass Gerrit dich nicht schon längt die Keller-Treppe hinunter getreten hat…“
 

Weil ich ein Feigling war, Angst vor Rahel hatte, ihr in der Regel unterlegen war und sie dafür viel zu sehr mochte.

Ich liebte Rahel, auch wenn ich mir nicht mehr so sicher war, auf welche Weise eigentlich…
 

Meine Finger zitterten kurz und Mom nahm mich plötzlich in den Arm.
 

„Müssen wir ins Krankenhaus? Tut es so schlimm weh?“
 

Ich schüttelte den Kopf und bekam von Mom eine Taschentuch-Ambulance geboten, die sich wirklich sehen liess.
 

Nach fünf Minuten hörte das Nasenbluten langsam auf und es schien nicht so, als wäre was gebrochen.

Rahel bekam sogar richtigen Ärger von Mom, den sie aber nur Augenverdrehend über sich ergehen liess.
 

Um halb drei kam dann der Alptraum in Form einer älteren Frau mit grauem Haaren und einem furchtbaren Mantel.

Oma begrüsste Mom eher steif und liess sich in die Küche führen, als wäre sie die Königin von England, Spanien und Luxemburg zusammen.

Falls Luxemburg überhaupt eine Königin hatte…
 

„Was ist mit deiner Nase passiert, Gerrit?“ Oma deutete auf meine Nase und trank einen Schluck Tee.
 

„Nichts“, log ich und war froh, als Mom Oma mit ihrer Erzählung von der Premiere kurz ablenkte.
 

Oma interessierte das wenig und beim Essen eskalierte schliesslich alles.
 

Es war die Schuld des Salzes. Da war man sich am Schluss eindeutig einig.
 

„Rahel, gib mir das Salz.“ Oma sah von ihrem Teller auf und zu ihrer Enkelin, die ständig auf ihrem Piercing herumbiss und sich laut die Nase putzte.
 

„Das Salz?“ Rahel roch den Braten sofort. „Was für ein Salz?“
 

Mom seufzte und legte ihre Gabel zur Seite. „Das Salz, was direkt neben dir steht, Rahel. Tu jetzt nicht so und gib es Oma.“
 

„Wieso?“ Rahel lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ist sie die Salzkönigin oder was? Wenn ihr das Essen zu wenig Salz hat, soll sie sich doch das nächste Mal was von ihrem Zuhause mitbringen!“
 

„Du unverschämte…“, setzte Oma an, aber Mom klatschte laut in die Hände.
 

„Leute!“, rief sie und machte eine lächerliche Geste mit den Armen. „Frieden! Kommt schon! Wir sollten es doch zumindest einmal fertig bringen zusammen zu essen ohne…“
 

„Du bist eine unverschämte Köre!“ Oma haute auf den Tisch. „Rahel Pfaffner, du bist das Anstandsloseste, Respektloseste und unverschämteste Mädchen, dass ich je in meinem Leben ertragen musste!“
 

Rahel legte den Kopf schief. „Zählst du die Zeit deiner Jugend in der Steinzeit mit?“
 

„Du verdammte…!“
 

„Mutter!“ Mom packte ihre Mama am Arm. „Bitte. Lass dich nicht von ihr provozieren. Rahel ist im Moment wieder etwas schwierig…“
 

„Etwas?!“ Oma nahm tief Luft und deutete mit einem Finger auf meine Schwester. „Sie ist eine verzogene Göre!“
 

Rahel nahm das Salz, drehte den Salzspender auf und spuckte hinein. Dann drehte sie den Verschluss wieder zu und schob den Behälter über den Tisch zu Oma. „Dein Salz, du letzter Dinosaurier auf Erden. Liebe Grüsse von der verzogenen Göre.“
 

Mom sah Rahel Vorwurfsvoll an, Peppe glotzte gross und ich wollte einfach nur von einem Blitz getroffen werden.
 

„Das lass ich mir nicht bieten!“ Oma schnaubte und machte Anstalten aufzustehen, aber Mom packte sie erneut am Arm.
 

„Bitte, bleib noch…“
 

„Dann lass ich mich lieber lebendig begraben!“ Oma riss sich los und Rahel stand ebenfalls auf.
 

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie auf Oma losging, aber sie fummelte an dem Gürtel ihrer Hose herum, die ihr fast so weit unten hing wie meine.
 

„Rahel, was machst du da?“, fragte Peppe verwirrt, der eindeutig nicht ganz mit seinem Tempo hinterherkam.
 

„Rahel, setz dich wieder!“ Mom wurde nun doch laut und Oma schimpfte laut über uns alle.
 

Und dann liess Rahel die Hose nach unten und zeigte ihrer verstörten Oma schliesslich den nackten Arsch.
 

Der Tag war absolut im Eimer.
 


 

Oma war wütend nach Hause gefahren, Mom sass heulend in ihrem Sessel und wir hatten alle ein schlechtes Gewissen.

Ausser Rahel natürlich.
 

Sie bedauerte nur, dass sie Oma nicht auf den Teller scheissen konnte.
 

Meine Schwester war abartig. Sie war kaputt im Kopf und es war ehrlich gesagt beruhigend.

Wäre sie normal, wären wir beide vermutlich schon längst vor die Hunde gegangen.
 

„Du hast ihr den nackten Arsch gezeigt…“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist… krank.“
 

Rahel zuckte mit den Schultern. Wir konnten Moms Schluchzen bis in unser Zimmer hören.
 

Meine Nase hatte wieder zu bluten angefangen und ich hatte mir einfach ein Taschentuch in die Nase gesteckt. Es war bequemer, als mir die ganze Zeit ein Tuch gegen die Nase zu drücken.
 

Und DANN kam der Hammer.
 

„Ich bin krank“, sagte Rahel und setzte sich neben mich auf das Bett. „Und jetzt? Soll ich mich jetzt erschiessen, oder was? Das Problem sind die Normalen, Gerrit.“
 

Ich schwieg. Vor allem deswegen, weil ich keine Lust auf Streit hatte.
 

„Ich entschuldige mich weder bei Mom, noch bei Oma oder sonst wem. Der einzige, der je von mir ein Sorry hört, ist mein Arsch. Und das nur, weil er Oma direkt ins Gesicht sehen musste.“
 

Ich gab es auf. Ich atmete laut aus und liess mich auf die Matratze fallen. „Ich zieh aus.“
 

„Wie?“ Rahel sah mich an.
 

„Aus unserem Zimmer. Du machst mich krank, verflixt nochmal.“
 

Rahel schwieg. Sie schrie mich nicht an, noch boxte sie mich. Und das war furchtbar.

Sie nickte nur langsam. „Probier es mal, du Pantoffelheld. Sobald du auch nur eine Sache aus dem Zimmer hier nehmen willst, breche ich dich in der Mitte durch.“
 

Ich schwieg. Was denn sonst?
 


 

Auch wenn Rahel behauptete, sie würde sich nie im Leben bei Mom entschuldigen, fuhr sie mit zu einer Probe.

Wir alle fuhren mit und sogar Peppes Freundin – die mit dem Badeanzug und den Defiziten – kam mit und wir alle gaben uns Mühe, Mom nicht zu blamieren.
 

Wir quälten uns sogar in der ersten Reihe 98 Minuten ab und applaudierten sogar noch, als die Probe endlich aus zu sein schien.

Peppes Freundin war sogar so tapfer und fragte unsere Mom über die bereits geplante neue Aufführung aus.
 

Mom platzte fast vor Glück und mir ging es etwas besser.
 

Uns allen ging es besser, auch wenn es keiner zugeben wollte.
 

Als Mom sich noch mit ein paar Kollegen unterhielt und Peppe und seiner Freundin raus eine rauchen ging, passierte die verrückte Drehung in meinem Leben.
 

Rahel kletterte neben mich wieder auf ihren Sitz und sah sich um. Alle Plätze waren –bis auf unsere – leer und es befand sich niemand mehr auf der Bühne.
 

Ich hielt die Luft an, da es sich komisch anfühlte, mit Rahel ganz alleine in einem riesen Saal zu sein.
 

„Es war zum Kotzen langweilig“, sagte Rahel genervt und boxte mich fest. „Oder?“
 

Ich schüttelte den Kopf, obwohl es wirklich öde gewesen war. Aber ich wollte nicht mehr Rahels Meinung einfach übernehmen
 

„Was war denn so spannend?“, fragte Rahel spöttisch. „Der Moment, an dem man CUT gerufen hat, oder was?“
 

„Sie haben nicht CUT gerufen. Das macht man im Film, aber nicht im Theater…“
 

Rahel boxte mich erneut und schüttelte den Kopf. „Scheisse, bist du dämlich! Mir ist es absolut scheiss egal, wo und wann man CUT ruft!“

Und dann drückte sie mir ihren Mund auf die Wange. „Aber dafür hast du ja mich. Damit du nicht an deiner eigenen Blödheit erstickst…“
 

Ich stand auf und machte mit der Hand eine verwerfende Bewegung. „Lass das. Fass mich einfach nicht mehr an.“
 

Und dann ging die Eingangstür auf, Peppe kam mit seiner Freundin herein und war genervt, als wir ihm erklärten, dass Mom noch eine Tratsch-Runde hielt.
 

Zwei Stunden später konnten wir endlich fahren, was aber niemanden von uns den Arsch rettete.

Wir kamen alle Zuhause an, mit der herzlichen Einladung meiner Mom, zur nächsten Premiere zu kommen…
 

Und NIEMAND hatte sich darum gerissen.
 


 

Die nächste Woche verlief relativ normal.

Rahel hatte sich aus Trotz im Unterricht ins Ohr getackert, Carla redete kein Wort mehr mit mir und Herr Schmitz brach unter dem Zicken-Terror von Natascha zusammen und setzte sie wieder neben Carla.
 

Es war mir ehrlich gesagt nur recht, wieder neben Rahel zu sitzen. Sie hatte die letzten Tage nichts getan, was irgendwie… sexuell war.

Und es war schon schlimm genug, daran denken zu müssen, während man in Geschichte neben seiner Schwester sass und sich keine einzige Jahreszahl keines einzigen beschissenen Kriegs merken konnte.
 

Und da Herr Schmitz mich eh auf dem Ast der Verachtung hatte, seit er meiner Bitte mit dem Umsetzen nachgegeben hatte, nahm er natürlich MICH dran.
 

„Gerrit, wann kapitulierte Deutschland?“
 

Die Frage knallte mir so überraschend gegen den Kopf, dass ich sogar ein überraschtes Geräusch von mir gab.

Alle Köpfe der Klasse drehten sich zu mir um und Rahel zeigte ihnen alle den Mittelfinger.
 

„Glotzt nicht so, ihr Atschlöcher. Wisst ihr es?!“, fauchte sie und boxte mich. „Na los, altes Mädchen. Zeig es diesen Pissern!“
 

„Rahel, es reicht.“ Herr Schmitz seufzte. „Also, Gerrit? Langweile ich dich?“
 

„Sogar mehr als sonst“, flüsterte Rahel mir ins Ohr und es war ein ätzendes Gefühl, als ihr Mund mein Ohr berührte. Und das vor allen Klassenkameraden!
 

Einige grinsten, weil sie dachten, Rahel hätte mir die Antwort gesagt. Aber meine Schwester hatte von schulischen Sachen so viel Ahnung wie ein Selbstmordgefährdeter Vogel von Kernphysik.
 

„Rahel, ich hab Gerrit gefragt.“ Herr Schmitz kam langsam näher.
 

Rahel verdrehte die Augen und spielte wieder mit dem Tacker herum.
 

Ich wurde immer noch angegafft.
 

„Er weiss es nicht“, sagte Rahel gereizt und legte den Tacker weg. „Aber dafür kann er nichts, wissen Sie?“
 

Wenn Rahel schon ein SIE benutzte, konnte es nur richtig schlimm kommen…
 

„Rahel…“, sagte ich leise, aber meine Schwester winkte ab.
 

„Wie will man auch gebildet aufwachsen, wenn man auf einer Hauptschule mit Affen abhängt? Ich meine, schauen Sie sich mal ihre Klasse GENAU an… Meine Fresse! Also ich hätte das Lehreramt schon längst abgelegt…“
 

„Raus“, sagte Herr Schmitz nur. „Verlass sofort den Klassenraum, Rahel. Das gibt einen Verweis, verlass dich drauf.“
 

„Klar, Daddy.“ Rahel stand auf und ich befürchtete fast, sie würde die Hose vor der ganzen Klasse runterlassen. Aber sie riss sich zusammen und rülpste nur laut.
 

Einige der Mädchen und Jungs verzogen das Gesicht. Andere lachten leise und ein paar andere glotzten nur dumm, als Rahel laut die Klassentür hinter sich zuknallte.
 

Ich sank tiefer in meinen Stuhl und war erst dann einigermassen aus dem Schneider, als Denis Meier „8 Mai 1945“, sagte und Herr Schmitz nun endgültig von meiner Dämlichkeit überzeugt war.
 

Denis war nämlich nicht gerade der hellste Kopf und erst recht nicht an Geschichte interessiert. Er musterte mich nach seiner Antwort kurz und überlegte wohl, wie er mich in der Pause am besten fertig machen konnte.

Doch dann grinste er nur und drehte sich wieder weg.
 

Mich liess er tatsächlich in Ruhe und es war Martin, der mich in der grossen Pause abfing.
 

Wie immer also.
 

„Hey, Gerrit! Wie geht’s deiner nackten Mom?!“
 

Bestens. Aber das sagte ich sicher nicht laut. Ich warf stattdessen weiter Münzen in den Cola-Automat und hoffte, der Depp würde sich einfach verpissen, wenn ich ihn ignorierte.

Aber ich ignorierte ihn immer und er lernte nicht aus seinen Fehlern.
 

„Ich rede mit dir!“ Martin trat gegen den Automaten und stiess mich weg. Ich landete auf dem Rücken und bekam keine Sekunde später in die Seite getreten.
 

Ein Fehler, da Rahel mich immer zuerst am Cola-Automaten suchte. Wie schon gesagt, so jemand wie Martin wurde aus keiner Schlägerei schlauer…
 

„Hey, Martini!“ Rahel kam auf uns zugestampft. Ihre Hose hing wie immer ganz wie bei einem Jungen weit unten und der Pulli war neun Nummern zu gross. Ihre kurzen Haare standen wie immer ab und sie würde sich eher vor einen Smart werfen, als sich jetzt eine Schlägerei mit Martin entgehen zu lassen. „Warum gehst du Fotze nicht einfach auf den Strich, wenn du so geil darauf bist, Typen anzufassen?!“
 

„Dein Bruder ist höchstens schwul! Ein Arschficker, genau DAS!“ Martin drehte sich zu Rahel um. „Und du bist eine Kampflesbe, Mann!“
 

„Und wenn schon.“ Rahel zuckte mit den Schultern und war nun nah genug, damit sie nach Martins Kumpel mit der schiefen Kappe treten konnte. „Wer bist du? Verpiss dich, oder ich knall dir eine.“
 

Der Typ trat ebenfalls nach Rahel, was ein sehr dummer Fehler war und bekam schliesslich eine Faust ins Gesicht.

Dann spuckte sich Rahel in die Handfläche und drückte diese dem Typen direkt ins Gesicht.
 

Der Typ schrie angeekelt auf, Rahel schlug ihm hart aufs Kreuz und Martin verzog das Gesicht.

Meine Schwester war das einzige Mädchen auf der Schule, dem nicht mal ein notgeiler Kater folgen würde.
 

Ich musste mir ernsthafte Gedanken um meinen Körper machen…
 

„Ich hab dich gewarnt, Muschi.“ Rahel liess den Typ los und sah Martin an. „Lass Gerrit endlich in Ruhe. Wenn du so scharf auf ihn bist, dann schneid dir sein Foto aus dem Klassenfoto aus und hol dir eine runter. Aber VERPISS DICH!“
 

Man sah Martin an, wie abartig er diese Idee fand und wie verdammt sauer er war.

Er und Rahel gingen aufeinander los und es brauchte zwei Lehrer, um die beiden voneinander zu trennen.
 

Rahel wurde mit einem Verweis nach Hause geschickt und Mom unterschrieb diesen seufzend.

Wie gesagt. Die letzte Woche verlief völlig normal…
 


 

Am Abend der Premiere von Moms neustem Stück lag die Laune ganz tief im Keller.

Peppe gab dem Verlangen von Mom und seiner Freundin nach und zwängte sich schliesslich doch noch in seinen Anzug.

Er hatte in der Hose zwar Hochwasser und sah lächerlich zu LANG in dem Teil aus, aber Mom war glücklich und Peppes Freundin küsste ihn zur Belohnung.

Sie selbst trug ein rotes und kurzes Kleid und schien sich irgendwie wirklich auf die Premiere zu freuen.
 

Rahel weigerte sich natürlich strickt was Feines anzuziehen und sass in einer ausgewaschenen Jeans, ihren Turnschuhen und einem Kapuzenpulli von mir schliesslich neben mir und Peppe auf dem Rücksitz unseres Autos.
 

Ich selbst trug ebenfalls meine normalen Kleider, da ich mein Anzugs-Pensum erreicht hatte. Mom hatte mir meine Strassenkleidung durchgehen gelassen, weil ich immer noch ihr Stern am Himmel war.

Immerhin war ICH mit zu ihrer letzten Premiere.
 

Peppe sah angepisst aus dem Fenster, Rahel kaute laut Kaugummi und ich spielte nervös mit meinen Händen herum und lauschte den Frauen, die sich vorne gut gelaunt unterhielten.
 

Mom war aufgedreht und Peppes Freundin übertrieben höflich. Es war die Hölle.
 

Das Stück selbst in dem grossen Theater und dem Parfüm-Geruch ertrug ich die ersten 20 Minuten tapfer, nickte aber wegen der leisen und einschläfernden Musik ein.

Mein Kopf landete auf Rahels Schulter und ich war froh, dass wir diesmal nicht in der ersten Reihe sitzen mussten. Hätte Mom mich schlafend gesehen, wäre sie vermutlich von der Bühne auf mich gestürzt und hätte mich verzweifelt gefragt, was sie denn jetzt schon wieder falsch gemacht hätte…
 

Rahel tat zuerst nichts, dann lehnte sie ihren Kopf gegen meinen und gähnte ebenfalls.
 

„Weichei“, sagte sie leise und müde.
 

„Gleichfalls“, sagte ich und spürte, wie Rahel langsam nickte.
 

„Du sagst es, Gerrit. Dagegen hat niemand eine Chance…“
 

Peppe erst recht nicht. Er schlief WIRKLICH und seiner Freundin war es offensichtlich ziemlich peinlich, dass ihr Begleiter neben ihr vor sich hinpennte, während KUNST auf der Bühne gemacht wurde.
 

Ich bekam nur noch die letzten zwei Minuten des Stücks richtig mit, da mich lautes Applaudieren der Zuschauer weckte.

Peppe schreckte ebenfalls hoch und applaudierte einfach mit.
 

Aber selbst das weckte Rahel nicht, die sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und eindeutig immer noch schlief.

„Rahel…“ Ich stiess meine Schwester an, aber diese gab nur ein Knurren von sich und wollte einfach nicht wirklich wach werden.
 

„Schläft sie?“ Peppe beugte sich zerzaust zu uns. „Scheisse, ich bin auch voll eingepennt…“
 

„Ja, das bist du!“, sagte seine Freundin zickig und es war klar, dass die zwei sich bald schon wieder trennen würden. „Du hast fast alles verpasst!“
 

„War ja auch der Sinn der Sache!“, zickte Peppe zurück und deutete auf mich und Rahel. „Die zwei haben es ja auch nicht bis zur ersten dramatischen Szene ausgehalten!“
 

Die meisten Leute um uns herum standen laut auf, redeten und ein paar ganz verrückte Spinner verlangten laut nach einer Zugabe.
 

„Bloss nicht“, jammerte Rahel, die langsam wach wurde. Sie setzte sich auf, zog die Kapuze vom Kopf und rieb dich den Nacken. „Fuck, tut mir der Arsch weh.“
 

Das Essen hinter der Bühne war langweilig. Mom unterhielt sich mit ihren Kollegen, die Leute standen wieder in festen Gruppen in der Gegend herum und es wurde das gleiche wie bei der letzten Premiere serviert.
 

Carla war jedoch diesmal nicht anwesend und ich beschäftigte Rahel mit der Erzählung meiner Begegnung mit Carla und ihrem Freund.

Natürlich erwähnte ich auch die dramatische Sache mit dem Tod ihrer Tante im dritten Akt oder so.
 

Danach sassen wir herum und langweilten uns.

Zumindest solange, bis Rahel plötzlich aufstand und meinte, sie müsse mir was echt abgefahrenes zeigen.
 

Ich war dumm und bescheuerte genug, um aufzustehen und meiner Schwester zu folgen.

Sie verliess den grossen Raum hinter der Bühne, schob sich an Bühnendekorationen vorbei und steuerte auf den Notausgang zu, als ich begriff, was sie tun wollte.
 

„Rahel!“ Ich packte meine Schwester am Arm. „Scheisse, du löst sofort Alarm aus, wenn du die Tür aufmachst!“
 

Rahel sah mich ernst an. „Und?“
 

„Was und?! Das wird einen riesen Ärger geben!“
 

„Na dann…“ Rahel küsste mich hart auf den Mund. „Dann nimm mal lieber die Beine in die Hand, mein verdammter Sonnenschein.“
 

Und dann drückte sie den breiten Türgriff nach unten, greller Alarm erklang und mir Feigling blieb nichts andere übrig, als verdammt nochmal zu laufen…
 


 

Wir hörten den grellen Ton vom Alarm noch Kilometer weiter und waren immerhin schon über den grossen Parkplatz gelaufen.
 

In der Nähe eines anderen Gebäudes liessen wir uns auf den sauber geschnittenen Rasen fallen und nahmen erst einmal Luft.

Rahel lachte gehässig und ich konnte die verwirrten Rufe vom Parkplatz aus bis zu unserem Versteck hören.
 

Okay, es war ein echt schlechtes Versteck, aber meine Füsse taten unheimlich weh und ich würde selbst dann keinen Meter mehr weiter gehen, wenn mein Leben davon abhängen würde.
 

„Denkst du die Feuerwehr kommt jetzt, oder so?“, fragte ich Rahel besorgt und meine Schwester spuckte auf den Boden.

Sie dachte nach.
 

„Quatsch“, sagte Rahel schliesslich. „Und selbst wenn, man kann uns nichts beweisen.“
 

„Fingerabdrücke an der Tür.“ Ich hielt es nicht für nötig, Rahel daran zu erinnern, dass SIE eigentlich immer als erster Täter in Frage kam.

Egal wo meine Schwester war, es war immer der bequemste Weg für die Polizei, einfach Rahel mit aufs Revier zu nehmen.

Selbst wenn sie durch Zufall nicht der gesuchte Schuldige war, bekam man sie schon noch wegen genug anderen Vergehen dran.
 

„Mom ist sicher sauer.“ Ich liess mich zurück ins Gras fallen. Es war unangenehm feucht am Rücken. „Was sollte das, verdammt?!“
 

Rahel dachte wieder darüber nach. „Woher soll ich das wissen?“, fragte sie dann genervt. „Du kannst vielleicht Fragen stellen.“

Und dann küsste mich Rahel erneut auf den Mund. Es war nicht so fest wie vor wenigen Minuten, kurz bevor sie den Alarm ausgelöst hatte, aber immer noch alles andere als zärtlich.

„Ich mag dich, du Feigling“, sagte Rahel ernst. „Also steh auf und hör auf zu jammern.“
 

„Was?“ Peinlicherweise bekam ich nicht ganz mit, was Rahel gesagt hatte. Es war mir eigentlich auch egal.

Irgendetwas in mir wusste, dass ich nichts ernst meinte. Als ich zu Rahel mal gesagt habe, dass sie mich nie wieder anfassen soll, war es die schlechteste Lüge der Welt gewesen. Sie war so schlecht und halbherzig gemeint, dass ich sie nicht mal selbst ernst nehmen konnte.
 

Und das wusste Rahel. Ausserdem war es hier draussen um Welten besser als in dem Theater, wo man kaum Luft wegen dem ganzen Parfüm bekam und wir vermutlich eh jetzt so was wie Staatsfeind Nummer 1 waren.
 

„Ich sagte, dass ich dich mag. Wir sind Kollegen, du Idiot.“ Rahel boxte mir gegen die Seite und ich zuckte nur etwas hilflos mit den Schultern.

Und dann küsste ich Rahel. Einfach so. Ich nahm mir etwas von ihrer Scheissegal-Einstellung und krempelte sie so um, dass auch ich für wenige Sekunden das Gefühl hatte, dass alles schon irgendwie in Ordnung kommen würde.
 

Die Rufe vom Parkplatz waren langsam verstummt und man hatte scheinbar inzwischen kapiert, dass nichts passiert war, sondern es sich hier lediglich um den Gag von ein paar Idioten handelte, die meinten, dass es lustig wäre, den Notausgang zu benutzen.
 

Rahel liess sich nach hinten fallen und zog mich somit automatisch mit. Das Gefühl, welches eindeutig unmoralischer Natur war, gefiel mir.

In diesem einen Moment, in dem meine Schwester unter mir lag und ich sie verdammt nochmal küsste, löste eine Welle der puren Selbstsicherheit aus.

DAS hier war okay. Auch wenn es 99 Prozent der Welt anders sahen, war der eine scheiss Prozent mein verdammtes Schlupfloch und Paradies.

Und DAS würde mir keiner nehmen, verdammt!
 

Selbst Martin nicht oder sonst wer von diesen Idioten da draussen.
 

Rahel kraulte mich am Nacken und mir kam der erschreckende Gedanke, was ich jetzt eigentlich alles mit ihr tun könnte, als mich meine Schwester in den Hals biss.

Sie stand innerhalb einer Millisekunde auf, schnalzte mit der Zunge und rannte los. Ich sah ihr verwirrt nach und handelte natürlich wieder viel zu spät.
 

„Gerrit!“ Peppe landete plötzlich neben mir im Gras. Ich erstarrte vor Panik, aber der fehlende IQ meines Bruders liess mich nicht im Stich.
 

„Scheisse! Ihr wart das mit dem Alarm, oder?! Mom ist mega sauer und meint, ihr würdet die Hölle auf Erden erleben, wenn wir nach Hause kommen.“
 

Ich starrte auf den feuchten Boden unter mir und die Übelkeit, die sich unbewusst seit einigen Minuten schon angestaut hatte, entleerte sich mit einem Mal.
 

Rahel. Peppe. Mom…
 

Die ganze verdammte Welt spielte mit mir und wäre mein Bruder nur ein wenig schlauer, hätte er genau kapiert, was ich und Rahel da gerade eben gemacht hatten…
 

„Scheisse Mann! Wieso kotzt du?! Hat dich Rahel wieder verprügelt?“ Peppe bewies wie auf Knopfdruck seine bescheuerte Gedankenzentrale. „Du hast da nämlich eine heftige Bisswunde, Mann.“
 

Bevor mich mein Bruder anfassen konnte, übergab ich mich ein zweites Mal.
 

Nichts würde gut werden. Und Rahel, die blöde Kuh, hatte mich einfach hängen gelassen!
 

Peppe half mir auf und brachte mich zu Mom, die schimpfend auf uns zu kam, aber verstummte, als sie mich sah.

Da sich eh alle Welt ihre eigene Realität zusammenreimte, dachte Mom scheinbar, dass ich und Rahel nur den Notausgang benutzt hatten, weil ich mich übergeben musste.
 

Mom nahm mich in den Arm, versicherte mir, dass ich keine Schuld hatte und bat Peppe, Rahel ausfindig zu machen.
 

Es herrschte die reinste Aufruhr im Theater, aber Mom erklärte ihre selbst zusammengebastelte Variante und man beruhigte sich wieder.
 

Man bot mir schrägerweise sogar eine Schüssel an und eine fremde Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, strich mir ständig durchs Haar und meinte, sie hätte einen Sohn in meinem Alter und der hätte auch starke Beschwerden mit dem Magen. Sicher hätte ich das Essen nicht vertragen, da Jugendliche für Käse ziemlich anfällig wären…
 

Keiner fragte MICH was passiert war. Niemand dachte auch nur einen Moment daran, dass ich aus reiner Gewohnheit meiner Schwester durch die Notfalltür gefolgt war und dass ich sie geküsst hatte.

Niemanden schien diese schräge Tatsache überhaupt erst in Erwägung zu ziehen…
 

Ich übergab mich erneut und die fremde Frau mit dem Sohn in meinem Alter bemutterte mich wie einen 3jährigen kleinen Bub.
 

Peppe kam mit Rahel nach gut einer halben Stunde zurück und Rahel schloss ohne Probleme an Moms Variante der Story an.

Sie stellte sich sogar noch als Heldin hin, da sie dafür gesorgt hatte, dass ich nicht mitten in den Gang kotzte.
 

Rahel dichtete sogar noch was von einem Schwindelanfall meinerseits zusammen und dass sie MICH bis zur Wiese geschleppt hätte, damit ich mich an der frischen Luft etwas hinlegen konnte.
 

Jeder schluckte die Story und ich fühlte mich schrecklich. Verraten und als Marionette der erfundenen Wirklichkeiten.
 

Immerhin war ich selbst bei zusammengebastelten Geschichten der Idiot…
 


 

Auf dem Weg zum Auto herrschte Stille. Mom erwähnte den Vorfall nicht mehr und selbst Peppe war still.

Seine Freundin hatte sich an seinen Arm geklammert und war blass vor lauter Aufregung.
 

Als Mom das Auto aufsperrte und Peppe und seine Freundin einstiegen, zog mich Rahel wieder etwas weg von dem Auto.
 

Ich wollte nicht mit ihr reden. Immerhin hatte sie mich wieder blossgestellt. Mich als Idioten präsentiert und kam wie immer sauber aus der Sache raus.
 

„Lass mich in Ruhe…“ Ich löste mich von Rahels festen Griff um mein Handgelenk, aber meine Schwester packte mich erneut.

Sie sah mir direkt in die Augen und dachte kurz nach. Sie kaute nervös auf ihrem Piercing herum und seufzte schliesslich.
 

„Du färbst auf mich ab, Gerrit“, sagte sie leise und ihr Griff wurde noch fester. „Ich kann es inzwischen auch so gut wie du.“

Dann küsste sie mich hart auf die Stirn.
 

„Was?“, fragte ich verwirrt und bemerkte sehr wohl die verwunderten Blicke von Mom, Peppe und seiner Freundin, die bereits im Auto warteten.

Aber vermutlich hatten sie auch für das schräge Verhalten von Rahel eine selbstgebastelte Erklärung.
 

„Weglaufen“, sagte Rahel nur und zog mich wieder zum Auto zurück. „Kapiert?“
 

Nein. Aber das war auch egal, da ich einfach nicht zum Kapieren gemacht war. Ich folgte Rahel einfach. So wie immer.
 

Und es würde mit Sicherheit auch NIE anders sein.
 

E N D E
 


 

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Es ist zu Ende. Ja. Manch ein Leser wird das Gefühl haben, dass irgendwas fehlt. Das stimmt auch. Es wird keinen Epilog geben, aber eine Fortsetzung. Mir sind Gerrit und Rahel ans Herz gewachsen und ich komme einfach nicht mehr von ihnen los.
 

Das Schreiben hat mir Spass gemacht und ich habe das Gefühl, dass die in der Geschichte auftauchenden Personen ihr eigenes Leben führen werden. Ich werde es bei der geplanten Fortsetzung lediglich niederschreiben ;)
 

Nachträglich noch ein schönes neues 2010.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2010-03-24T14:20:05+00:00 24.03.2010 15:20
Also die ganze Geschichte an sich ist gut beschrieben. Mein Fall ist dieses Streithähne-Thematik nicht wirklich... Hab davon daheim genug davon! XD - Aber ich nehme an gerade deshalb konnte ich es auch gut nachvollziehen.
Es ist echt niedlich dieses kleine Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Zwillingen. ^^
Von:  piarona
2010-03-22T02:01:47+00:00 22.03.2010 03:01
interessantes thema. ich finde die charakter von gerrit und rahel total faszinierend. die geschichte ist übrigends auch sehr gut geschrieben ^^
über eine nachricht, wann du mit der fortsetzung beginnst, würde ich mich sehr freuen!

lg, piarona
Von: abgemeldet
2010-01-23T00:55:29+00:00 23.01.2010 01:55
Wie...Schluss?
Ich würde es ja nicht glauben wenn dieses kleine "Ende" nicht unter dem Kapitel stehen würde, aber das mit dem abrupten aufhören kenne ich schon von dir...
Tja, ich hab deine Story jetzt in einem Aufwasch gelesen und muss abschließend sagen, dass du warscheinlich auch über das Züchten von Kunstrasen schreiben könntest und es würde mich köstlich amüsieren.
Will sagen: Schreibtechnisch hast du´s voll drauf. Du lässt deine Protagonisten völlig banale und alltägliche Dinge erleben (z.B.: Der Besuch der Oma) und trotzdem ist es eben nicht langweilig. Das könnte vieleicht daran liegen das du deine Handlungen auf das wesentliche beschränkst, aber ich glaube das es mehr deine wirklich saugeilen Charaktere sind, die einen so an deine Geschichte fesseln. Ich könnte den ganzen Tag nichts anderes tun, als mir von dir erzählen zu lassen, wie sich Gerrit und Rahel gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Was mich auch gleich zu den Namen deiner "Sprösslinge" fürt. Ich finde es mehr als genial, dass du dem Leser erzählst wie die Beiden zu ihren abgefahrernen Namen kommen. So viel liebe zum Detail, bin ich ja noch nicht mal von "profesiomellen" Autoren gewonnt. Aber ich bin sowieso ein Fan von kleinen Geschichten in Geschichten.
Und die vielen verschiedenen Charakter deiner Charaktere. (Haha, Wortwitz!) Mal ehrlich, welcher Typ Mensch fehlt den in dieser Chaosfamilie noch? Schläger und Weichei haben wir schon. Dann die überforderte Mutter und der pupatierende Bruder. Die alle auf engsten Raum? Das kann ja gar nicht gutgehen, und tut es auch nicht. Was mich irgendwie zur Story bringt:
Die Grundidee ist so einfach wie genial. Ein verweichlichter Junge, der sich zu seiner Zwillingsschwester hingezogen fühlt, weil die ihn jeden Tag den Arsch rettet und er selbst nicht genau weiss was er will. Nun ist diese Zwillingsschwester aber leider eine brutale Schlägerin, die mit der Gesellschaft nicht zurechtkommt und denkt mit dem Kopf durch die Wand zu müssen. Dieses "Dreamteam" kämpft sich nun durch das Leben und das auf höchst amüsante Weise.
Streng genommen passiert in diesen 5 Kapiteln eigentlich nichts, und spätestens als Gerrit in der Schule wieder neben Rahel sitzt, hat man das Gefühl, wieder am Anfang zu sein. Was aber nicht wirklich stört, denn eigentlich tragen ja deine Figuren die humorvolle Geschichte.
Und bei dir folgt einer Pointe die Nächste, und die meisten deiner Gags zünden, dazu noch ein Hauch Sozialkritik, oh ist das schön!

Auch wenn ich eigentlich kein Fan von Alltags-Stors bin, deine ist wieder großartig geworden und auf die Fotrsetzung bin ich auch schon mächtig gespannt.
(Ach und so nebenbei: Wie sieht es den bei "SchlägerTyp!" aus? Ich warte jetzt schon ewig, aber es geht leider nicht weiter. Wenn du etwas Zeit und Muse findest, investiere sie bitte in Spongebob und Co., ja? ;)

P.S. Waqrum kommentiert dich niemand??? Vielleicht liegt es ja daran das niemand weiß, das es dich gibt. Vielleicht würde es helfen, wenn du deine Storys ein wenig mehr "puschen" würdest, sonnst bleibst du ja auf ewig ein Geheimtipp.

Hochachtungsvoll,
Von:  P-Chi
2010-01-03T22:03:15+00:00 03.01.2010 23:03
Argh, es ist einfach wieder absolut genial geworden <3 <3 <3
Ich liebe Rahel Gerrit auch TOTAL!!!
Es wäre einfach der Hammer wenns ne fortsetzung mit den beiden geben würde! x3 *luv*

glg Angels
Von:  il_gelato
2010-01-03T18:33:09+00:00 03.01.2010 19:33
Guter Schluss!
Aber verstehen kann ich es trotzdem nicht, warum du es umschreiben musstest. Die erste Version würde mich interessieren. Könntest du sie vielleicht auch reinstellen, aber unter einem anderen Titel oder so?
Gerrit ist wohl doch nicht so ein Weichei, wenn er ihr doch noch handfeste Paroli bieten kann!!

ass du ne Fortsetzung machen willst freut mich riesig. Die beiden Verplanten sind mir nämlich auch mächtig ans Herz gewachsen, zum Schluss vor allem Rahel!


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