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Mayaku, Gókan to Damaru [Teil I]

Die Vergangenheit ist unwiderruflich
von

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Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 2]

Ich hatte es so sehr gehasst, hatte es so sehr verabscheut und dennoch... Ich war schon so tief in den Schlund gefallen, dass ich keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe…
 

Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 2]
 

03. November 2009
 

Die Hände schüchtern auf ihre Brust gelegt, lief die vierzehnjährige Hinata durch die langen Schulgänge. Die Augen Richtung Boden gesenkt und mit ihren Gedanken weit woanders, rempelte sie aus Versehen jemanden an. Ängstlich zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, dass sie jemanden berührt hatte. Sie getraute sich nicht, nach oben zu sehen, um zu wissen, mit wem sie wirklich zusammengestoßen war. Aber eine Entschuldigung war von Nöten. Sie hoffte, dass sie sich damit aus der Situation retten konnte.
 

“Go... gomen... na... nasai...”

“Na, du Emo-Kind?”
 

Grob wurde sie am Oberarm angepackt und von dem größeren Schüler gegen die Wand gedrückt. Sie kniff die Augen zusammen, als sich ein brennender Schmerz in ihrem Oberarm ausbreitete. Sie wurde fester gegen die Wand gedrückt. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie den stinkenden Atem nach Zigarettenrauch in ihre Nase bekam. Sie fand dies widerlich.
 

Der ältere Schüler presste sie mehr gegen die Wand, welche sich kalt in ihren Rücken bohrte.

Ihr Atem stockte. Angst lähmte ihren Körper und kroch ihr in jede Faser.

Das Gesicht vor ihr war zu einer düsteren Fratze verzerrt. Hohn und Überlegenheit spiegelten sich in den Augen des Jungen wider. Und zwischen diesen beiden Emotionen schimmerte der leichte Glanz, dass ihr Gegenüber wusste, was sich unter dem Stoff ihrer Anziehsachen befand.

Sie wehrte sich, zerrte an ihrem Arm herum, um sich zu befreien. Panik mischte sich zu ihrer Angst, erbrachte damit eine neue Mischung an Emotionen und gab ihr die Kraft und Möglichkeit sich endlich von diesem Jungen zu befreien. Zumindestens versuchte sie dies...
 

“Was ist denn los, Hyuga-chan? Wehr dich nicht so.”
 

Hinata erschauderte, als die raue Stimme ihr ins Ohr flüsterte.
 

Gefährlich. - Bedrohlich. - Und viel zu nah.
 

Sie zerrte weiter mit ihrem Arm, als sie plötzlich noch am zweiten ergriffen wurde. Sie keuchte auf vor Schmerz. Ihre lavendelfarbenden Augen weit aufgerissen, da das Gesicht des Älteren nah an ihrem war. Tief sahen sie sich in die Augen, welche sie kurz darauf zusammenkniff. Ihr Gegenüber sollte nicht so tief in sie hineinsehen. Nicht, dass er in ihren Augen erkannte, was sie wirklich machte. Ihr Blut rauschte in den Ohren, ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust. Gedämpft nahm sie ihre Umgebung wie hinter einem Schleier war, während in ihrem Kopf alle Gedanken durcheinander rasten.
 

Und plötzlich, in diesem ganzen durcheinander von Stimmen, Gefühlen und Gedanken, hörte sie ein lautes Klatschen.

Sie fiel.

Der Druck an ihrem Armen ließ nach, bis sie ihn nicht mehr spürte.

Unsanft kam sie auf dem Boden auf und blieb dort sitzen, den Kopf nach unten gerichtet.

Erst war eine kurze Stille, bis es ihr das Herz zusammenschnürte. Schallendes Gelächter war auf dem Schulgang zu hören. Mit belustigtes Kichern von einigen Mädchen und dem Hohn von den Jungs wurde sie bestraft. Und zwischen dem vielen Lachen und murmelnden Stimmen hörte sie ein verächtliches Schnauben von ihrem Peiniger. Anscheinend hatte es ihm nicht gepasst, dass sie sich gewehrt hatte. Dabei hatte sie nichts gemacht, außer ihn angerempelt und das unbeabsichtigt. Sie hatte sich sogar entschuldigt.

Aber nicht nur das war der Grund, sondern hauptsächlich, dass sie dunkle Sachen trug. Weil sie Schwarz trug, war sie sofort unter die Kategorie Emo gefallen. Dabei war sie gar keiner... Aber so war es schon immer. Die Menschen waren zu oberflächlich, dass sie nur nach dem äußeren Erscheinungsbild gingen.
 

“Was ist hier los?”
 

Die Stimme eines Lehrers schallte über den Gang, womit sich sofort einige Schüler wieder in ihr Klassenzimmer begaben oder versuchten unauffällig weiterzugehen. Auch der Junge, der sie geschlagen und weggeschubst hatte war verschwunden. Er war einer der ersten, der sich verzogen hatte. Vielleicht aus Feigheit vor dem Lehrer? Aber er war nicht feige genug, um sie zu schlagen.
 

Mit zittrigen Knien zerrte sich Hinata an der Wand hoch. Ihre Wange pochte unangenehm und brannte. Ihre Augen hatte sie gegen Boden gerichtet, während um sie herum das schulische Treiben weiter ging.

Grob biss sie sich auf die Unterlippe, um ihre aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

Ihre bebenden Hände rutschten in ihre Jackentasche, streiften dort ihre Geldbörse. Kurz hielt sie inne, erschauderte.

Ein tiefes Verlangen in ihr kam auf. Ein Drang dieses kleine, silbrige Ding in ihrem Portemonnaie jetzt sofort zu zücken und es zu benutzen.

Sie biss sich fester auf die Lippe, dass diese fast zu Bluten begann.

Sie sollte es nicht, aber sie brauchte es. So dringend.
 

Mit hastigen Schritten lief sie in Richtung der Schultoiletten, betrat diese und suchte mit nervösen Augen eine leere Kabine. Mit schwitzigen Händen ergriff sie die Türklinke und schloss die Tür hinter sich ab, um sich mit dem Rücken gegen diese zu lehnen.

Ihre Finger zitterten beim Aufknöpfen ihres schwarzen, langärmligen Blazers, um diesen über ihre Schultern auszuziehen. Leise keuchte sie auf, als sie ungeschickt an eine der neueren Wunden herangekommen war.

Ihre Hände hielten inne, den Blick gegen Boden gerichtet.
 

Der Drang in ihrem Inneren wurde stärker.

Genauso wie das Beben ihres Körpers.

Ihr Herz raste vor Aufregung und dem Verlangen nach Erlösung.

Es pochte schwer hinter ihrer Brust, während ihr Körper ruhelos und wie aufgelöst wirkte.

Ihre Muskeln spannten sich an und durch jede Faser ihres Körpers schoss das Adrenalin.

Schnell riss sie sich die schwarze Stülpe von ihrem linken Arm herunter, welche ihr bis fast über die Finger reichte.
 

Danach sah sie es wieder...

All die Narben, die sie sich zugefügt hatte.

Sie kannte den Anblick schon, es war nichts Neues, auch wenn tagtäglich neue Wunden dazu kamen.
 

Grob biss sie sich auf die Unterlippe, suchte in der Jackentasche ihres Blazers nach ihrem Portemonnaie, um ihr wichtiges Werkzeug außerhalb ihres Zimmers zur Hand zu nehmen.

Eine kleine Nadel...

Für einen Moment betrachtete sie diese in ihrer blassen Hand.

Silbrig glänzte sie im Schein der Toilettenleuchte.

Kein einziger Rostfleck oder Blutfleck war auf dieser zu sehen, dabei wurde sie jeden Tag mehrmals verwendet.

In fast jeder Pause...
 

Sie setzte an einer der frischen und verkrusteten Narben an und stach hinein, um mit einem Ruck die Nadel nach unten zu zerren. Einfach, damit sich die Wunde wieder öffnete. Es schmerzte kaum und bei dem Anblick ihres eigenem Blutes beruhigte sich ihr Körper. Er entspannte sich und kam zur Ruhe. Genauso wie ihr schnell pochendes Herz. Auch das Zittern ihrer Hände ließ nach, bis es ganz verebbte. Weiter schossen Endorphine durch ihren Körper und überschwemmten die Schmerzen mit einem Glücksgefühl.

Erleichtert seufzend zog sie sich ihre wieder über den Arm, ließ damit das heraussickernde Blut einfach von dem schwarzen Baumwollstoff aufsaugen. Langsam zog sie ihren Blazer wieder an und steckte ihre Geldbörse wieder in ihre Jackentasche. Die Nadel hatte sie fest umklammert. Diese musste sie noch mit heißem Wasser reinigen.
 

Schnell betätigte sie die Toilettenspülung. Einfach als Tarnung, dass sie angeblich nur auf dem Klo war. Sie öffnete die Tür wieder und schritt zu den Waschbecken hin, als wäre nie etwas gewesen. Als wäre alles in Ordnung. Nur ihren Kopf hatte sie gesenkt.
 

Wie jedes Mal. Dabei war überhaupt nichts in Ordnung…
 

Die Angst war groß, dass jemand in ihren Augen sah, was sie wirklich gemacht hatte. Aber nicht nur aus Angst senkte sie ihren Blick, sondern auch aus Scham.

Sie kam sich so erbärmlich vor.

Hasste es, dass sie täglich und in fast jeder Pause panisch und aufgewühlt zur Toilette rannte, nur um einige fast verheilte Wunden aufzureißen.

Aber trotzdem kam sie davon einfach nicht mehr los.

Je mehr sie versuchte sich dagegen zu wehren, desto tiefer rutschte sie in diesen Schlund hinein.

Je mehr sie sich einredete, dass sie einfach nur miserabel war, dass sie zu solchen Mitteln griff, desto mehr Schmerzen fügte sie sich zu.

Sie bemerkte nicht einmal, wie süchtig sie schon danach war...
 

Am Waschbecken wusch sie sich mit heißem Wasser und Seife ihre Hände. Nur, um die Nadel zu reinigen, welche sie später unauffällig wieder in ihrer Geldbörse verschwinden lassen würde.
 

Wie jedes Mal…
 

~*~*~
 

Mit langsamen Schritten und gesenktem Kopf ging sie durch die belebten Straßen der Stadt. Ihre Hände hatte sie krampfhaft in ihren Jackentaschen vergraben und dort zu Fäusten geballt. Plötzlich rempelte sie unerwartet und unbeabsichtigt einen der Passanten an. Erschrocken hielt sie die Luft an. Wie, als hätte Hinata eine ätzende Flüssigkeit getroffen, kribbelte es auf ihren Armen und Beinen. Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus und die Narben fingen schlimm mit Brennen an.

Panik kroch ihr den Nacken hoch. Auch wenn alles nur ein Hirngespinst ihrer Angst war, so befürchtete sie fast, dass dieser Mann unter dem Stoff ihrer Jacken und Stülpen die einzelnen Narben gefühlt hatte. Ihre Hände verkrampften sich noch mehr, während auch die Panik ihre Beine ergriff.

Mit schnellen Schritten, dabei ihre Schultasche fest an sich gedrückt und umklammert, rannte sie nach Hause.

Weg von den Blicken der Leute, die ihr neugierig und verständnislos hinterher blickten.

Weg von dem Trubel und den Massen auf den Straßen.

Und weg von den Menschen, die sie berühren konnten und erkannten, was sie wirklich machte.
 

Sich ritzen…
 

Nervös nestelte sie an der Haustür an ihrem Schlüsselbund herum, um den richtigen Schlüssel zu finden. Es dauerte einige Sekunden, um den Schlüssel im Loch zu versenken und die Tür zu öffnen. Laut knallte sie diese hinter sich zu, preschte die Treppen nach oben, übersprang dabei einige Stufen, nur um am Ende erschöpft und aufgewühlt vor der Wohnungstür zu stehen. Keuchend hielt sie an und verharrte in ihrer Stellung. Es dauerte Minuten, bis sich ihr rasender Atem und ihr pochendes Herz beruhigt hatten. Erst jetzt schaffte sie es ihren Wohnungsschlüssel ins Schloss zu stecken, um die Tür zu öffnen.
 

Lautlos trat sie ein, schloss die Tür und lauschte einen Moment, um zu hören, ob ihr Vater zu Hause war. Aber es war ruhig. Ruhigen Schrittes ging sie den langen Flur entlang. Beängstigend laut hallten ihre Schritte von den kahlen, bilderlosen Wänden wider. Früher hingen hier viele Fotos. Fotos von der Familie, vor allem viele mit ihrer Mutter drauf. Aber ihr Vater hatte eines nach dem anderen in den letzten Monaten abgenommen. Warum wusste sie nicht und es war ihr auch egal.
 

“Hinata?”
 

Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Ihr Körper verkrampfte sich für einen kurzen Moment und sie legte ihre Hände zitternd auf ihre sich schnell hebende und senkende Brust. Sie spürte unter den Fingerspitzen ihr Herz rasen. Als wollte es ausbrechen und endlich frei sein. Wie sie selber.
 

“Hai, To-san?”

“Wo ist deine Schwester Hanabi?”
 

Leicht senkten sich ihre Lider. Einmal aus Erleichterung, da es nur um Hanabi ging und einmal aus Enttäuschung, da es sich eben nur wieder alles um diese drehte. Sie kaute kurz auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie antwortete.
 

“Mit ihren Freunden im Schwimmbad. Ihre eine Freundin hat heute Geburtstag. Hanabi hatte es gestern Morgen am Frühstücktisch erwähnt”, brachte sie mit fester Stimme hervor. Sie schob ihr blaues Ponyhaar hinter das Ohr und bemerkte, wie ihr Vater zu dieser Aussage nur nickte. Anscheinend fiel es ihm wieder ein.
 

“Ich bin in meinen Zimmer, meine Aufgaben machen.”
 

Nach diesen Worten zog sie sich wieder zurück. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie ihre Tasche auf den Boden und seufzte erleichtert auf. Sie war endlich wieder in ihrem Zimmer. In ihren vier Wänden, wo niemand außer sie sein konnte.

Langsamen Schrittes ging sie zu ihrem Kleiderschrank und öffnete diesen. Träge zog sie sich ihren Blazer über die Schultern und hängte diesen sauber auf einem Kleiderhaken auf, um ihn am nächsten Tag ungeknittert wieder zu verwenden. Dasselbe machte sie mir ihrem Hemd und ihrem Rock. Danach suchte sie sich neue Anziehsachen.
 

Wahllos griffen ihre Hände in den Kleiderschrank, als sie plötzlich einen etwas merkwürdigen Stoff zwischen die Finger bekam. Skeptisch die Stirn verrunzelt, holte sie diesen heraus. Ein trauriger Ausdruck bildete sich auf ihrem Gesicht, während sich ein Schatten über ihre Augen legte.

In ihren Händen hielt sie einen dunkelblauen Badeanzug mit einer rosafarbenen Lotusblume auf der Vorderseite.

Diesen hatte sie sich letzten Sommer gekauft und nie getragen.

Es war einfach unmöglich mit all diesen Narben in irgendein Schwimmbad oder an den Strand zu gehen.

Sie würde niemals mehr das Gefühl erleben, von seichten Wellen des Meeres umströmt zu werden.

Sie würde niemals mehr den Spaß haben, sich im Schwimmbad mit anderen auszutoben.

Sie hatte es diesen Sommer zu spüren bekommen. Die Hitze war manchmal unerträglich.
 

Aber Röcke, T-Shirts oder einen Badeanzug... Dies waren Dinge, die sie nicht mehr tragen konnte.

Dafür hatte sie viele schwarze, dicke Strumpfhosen, welche sie unter ihren Röcke trug.

Dicke, schwarze Baumwollstulpen, die sie sich über die Arme zog.

Und langärmlige, dunkle T-Shirts.

Sie hatte sich schon früh von ihren kurzen Röcken und ihren Kleidern verabschiedet.

Eine der vielen Konsequenzen, die sie jetzt zu verantworten hatte...
 

Wütend warf sie den Badeanzug wieder in den Schrank und holte sich eines der langärmligen T-Shirts und eine Jeans heraus. Sie schmiss beides auf ihr Bett, versuchte den Gedanken zu verdrängen, was sie alles schon verloren hatte.

Aber die Wut keimte weiter in ihr. Eine Wut auf sich selber, weil sie sich hinreißen lassen und den ersten Schnitt gemacht hatte.

Sie knirschte mit den Zähnen, während sich in ihrem Inneren die Wut zu einer tosenden Welle aufbaute. Eine Wut, deren sie freien Lauf lassen musste.

Sie ging zu ihrem Bett und setzte sich vor dieses. Es dauerte nicht lange, als sie eine Schachtel heraus geholt hatte. Mit zittrigen Fingern - vor Wut und Aufregung - öffnete sie den Karton.

Im herein flutenden Sonnenlicht schimmerte die Rasierklinge silbrig auf.

Ihre Augen waren auf diese fixiert. Ihre Finger bewegten sich von allein zu dieser hin.

Glatt fühlte sich das Metall zwischen ihren Fingerkuppen an.

Glatt, kalt und...

vertraut.
 

Sie setzte an, machte den ersten Schnitt an ihrem linken Oberarm. Aber es reichte nicht.

Die Wut regierte weiterhin in ihrem Körper. Trieb sie zu ihren Taten weiter an.

Die Frage “Warum hatte sie damit nur begonnen?” ging ihr nicht aus dem Kopf.

Sie hasste sich dafür, dass sie damit angefangen hatte.

Sie fand sich selber so erbärmlich, dass sie damit nicht einfach aufhören konnte.

Es kotzte sie an, dass sie so süchtig nach diesem Gefühl des Schmerzes war, dass alle anderen Argumente von eben wie unwichtig erschienen.
 

Die nächsten Schnitte verteilte sie sich an Armen und Beinen. Es dauerte eine Zeit, ehe sie aufgelöst und mit tränengenässten Wangen den letzten Schnitt gesetzt hatte. Eine Wärme durchströmte ihren Körper, brachte damit ihr wütendes und aufgewühlte Herz wieder zur Ruhe.

Ihre Arme und Beine schmerzten, brannten und pochten angenehm.

Ein vertrautes Gefühl. Für einen kurzen Moment blieb sie so sitzen, betrachtete stumm ihr Werk. Ihre Tränen verebbten.
 

Lautlos legte sie die Klinge wieder in die Schachtel zurück und holte dort einzelne Kompressen und Mullbinden heraus. Aber nicht nur Verbandsmaterial hatte sie in ihrem Karton. Mit einem Desinfektionsspray reinigte sie die Wunden, ehe sie an die einzelnen Schnitte Kompressen hinauf presste. Auch das Alleineverbinden mit den Verbänden stellte sich nicht einmal mehr als Problem da.
 

Sie hatte es schon oft gemacht.

So oft, dass sie ihren Körper auswendig kannte.

Sie wusste an welche Stelle sie sich nicht ritzen durfte, da es Lebensgefährlich werden konnte.

Sie wusste wie tief sie schneiden kann, auch wenn die Schnitte von Zeit zu Zeit immer tiefer wurden.

Zu Beginn hatte sie nur kleine Schnitte auf den Arm gemacht, aber mit der Zeit war die Haut aufgebraucht und sie hatte sich weiter ausgebreitet.
 

Der andere Arm... Beine... Bauch... Brustkorbbereich...

Auf all diesen Körperteilen hatte sie schon Narben.
 

Narben die früher schnell verheilten, aber jetzt Monate brauchten, bis sie gänzlich geschlossen waren.

Und es brauchte Jahre, bis sie auf der zerbrechlichen Haut verblassten.

Sie hatte gelernt ihre Wunden selber zu versorgen.

Was ihren Körper betraf, war sie ein Experte, während sie diesen Schnitt für Schnitt immer mehr zerstörte...

Die letzte Wunde war verbunden.
 

“Hinata?”
 

Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters im Flur hörte. Schnell und lautlos packte sie ihre Sachen zusammen und schob den Karton wieder unter das Bett.
 

“Hai, To-san?”

“Gehe bitte für heute Abend einkaufen.”

“Hai!”
 

Bei dieser Gelegenheit konnte sie ihr erspartes Taschengeld wieder in der Apotheke ausgeben, um neues Verbandsmaterial zu besorgen. Träge erhob sie sich. Ihre Beine knickten leicht ein, als ein brennender Schmerz durch diese fuhr, aber sie schaffte es sich aufzustellen. Musste sie auch. Schnell zog sie sich an, stülpte sich ihre schwarzen Stülpen über die schmerzenden Arme und schlüpfte in ihre Jacke. Ehe sie es noch vergaß, suchte sie schnell in ihrem Blazer noch ihr Portemonnaie heraus und steckte es in ihre Jackentasche.
 

Prüfend schweifte ihr Blick durch das Zimmer, ehe sie dieses verließ.

Nicht ahnend, dass einige sichtbare Blutstreifen auf dem Boden zu sehen waren...
 

~*~*~
 

Aufgeregt stand sie an der langen Schlange zur Kasse in der Apotheke. Ihr Herz raste vor Angst hinter ihrer Brust. Die Befürchtung, dass es jemand vor oder hinter ihr hören konnte war groß. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper, als sie den Blick eines anderen auf sich spürte. Sofort senkte sie den Kopf, hielt krampfhaft ihren Korb in beiden Händen fest, damit dieser vor nervösem Zittern nicht aus ihren schwitzigen Händen rutschte. Ihre Beine fühlten sich weich an, sie befürchtete schon, dass sie hier gleich zusammensackte.
 

Wie jedes Mal, wenn sie hier an dieser Kasse stand.
 

Auch wenn dem meistens nicht so war, spürte sie Blicke auf sich ruhen.

Blicke, die sie scannten.

Blicke, die zu ihr durch drangen und vielleicht ihr Inneres sahen.

Blicke, die prüfend über ihre Arme glitten.

Blicke, die sich sicherlich fragten, für was sie das alles in ihrem Korb brauchte.
 

Mit gesenkten Augenlidern schaute sie in ihren Korb. Klammerpflaster, Desinfektionsmittel, Antibiotika, Creme, Mullbinden, Narbenpflaster, Rasierklingen... Es sah übertrieben aus, aber sie brauchte das alles. Ansonsten wäre die Chance groß, dass sie ihre Narben nicht mehr verstecken konnte.

Was würde sie machen, wenn jemand etwas heraus bekam, nur weil sie ihre Wunden nicht richtig versorgt hatte?

Sie wusste es nicht... Sicherlich vor Scham im Erdboden versinken.

Und wenn es ihr Vater wäre, der es heraus fand, dann würde sie sicher vor Angst sterben.
 

Die Schlange vor ihr rückte einen Schritt weiter. Sie ging mit der Masse mit, welche sich um sie drängte.

Ungeduldig starrte sie auf den Boden, hoffte sehr, dass dieser sich auftat und sie verschlang. Aber da konnte sie lange warten. Dies würde niemals passieren.

Sie löste eine ihrer Hände und rieb sich mit dieser über den Arm. Als hätte sie das Gefühl, dass sie Flöhe bissen. Immer fester und schneller. Ein leichtes Brennen entstand auf der Haut, welches sie für einen kurzen Moment zur Ruhe brachte.
 

Kurz hob sie ihren Blick an, ließ diesen über die Körbe der anderen Menschen schweifen.

In der Hoffnung jemand würde in der Reihe stehen, der sie vielleicht bemerkt hatte.

Jemand, der dieselben Dinge einkaufte wie sie.

Jemand, der sie vielleicht ein wenig verstand...

Aber so würde es niemals sein. Dies würde niemals passieren.

Das wusste sie schon so lange.

Es fiel ihr jedes Mal wieder ein, wenn sie hier, voller Ungeduld und Angst, an dieser Kasse stand und all diese Dinge einkaufte, die sie jetzt in ihrem Korb hatte.

Sie senkte ein wenig ihre Augenlider, während eine tiefe Traurigkeit ihr kleines Herz umfing.
 

Wieder rückte die Schlange ein Stück vor und sie in der Masse mit, ohne die Hoffnung, dass es jemand bemerken würde.

Ohne die Hoffnung, dass jemand sie darauf ansprach.

Ohne die Hoffnung, dass sie jemand verstand.

Erneut bemerkte sie es. Sie war wieder allein und verlassen.
 

Wie jedes Mal…
 

~*~*~
 

Die Neonlichter strahlten unheilvoll auf sie hinab. In einzelnen Ecken rannten Ratten und Mäuse an ihr vorbei. Man hörte das Maunzen eines Katers in der Ferne und weiter weg die leisen Geräusche von der Hauptstraße. Der kalte Novemberwind wehte polternd über einige verbeulte Mülltonnen hinweg. Es roch unangenehm und ein weiter Schatten breitete sich auf den Steinwänden der alten Häuser aus. Es war spät und Hinata wollte eigentlich nicht wieder so spät zu Hause sein, weswegen sie einen kleinen Umweg genommen hatte. Aber anscheinend war sie eine falsche Seitenstraße abgebogen, denn diese Gegend hier kam ihr unbekannt vor.
 

Ein wenig ängstlich zitternd drückte sie ihre Tasche mit ihren Einkäufen dicht an sich heran. Zum Halt, um nicht von dieser Dunkelheit verschluckt zu werden, welche, trotz mit geheimnisvollen Neonlichtern ausgestattet, über sie hereinstürzte. Sie schluckte hart und wollte nur so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ohne es selber zu bemerken beschleunigten sich ihre Schritte.
 

Plötzlich raschelte etwas neben ihr. Erschrocken quiekte sie und vor ihr erstreckten sich zwei langgezogene Schatten. Den Kopf weiter gesenkt, schielte sie unter ihrem Pony hervor. Zwei dunkle Gestalten standen vor ihr, welche mit trägen und schweren Schritten immer näher kamen. Durch das seichte Neonlicht der Wandbeleuchtung konnte sie die Gesichtsausdrücke vorerst nur schemenhaft erkennen.
 

Hinata erschauderte, als sie in die Gesichter der beiden Personen sah. Der eine mit einem lüsternen Lächeln und der andere sich über die Lippen leckend. Sie erzitterte bei diesem Anblick, auch wenn sie nicht recht verstand, was diese beiden Männer von ihr wollten.
 

“Na hallo, junge Dame.”
 

Für einen kurzen Moment war sie verwirrt. Meinte der Mann etwa sie? Sie hatte Angst sich umzusehen, um zu schauen, ob noch wer hinter ihr stand. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als die beiden Männer auf sie zu traten. Am liebsten hätte sie geschrien. Aber ihre Kehle war wie zu geschnürt. Es kam kein Ton über ihre Lippen, genauso wenig wollten sich ihre Beine bewegen.
 

Einer der Männer berührte sie leicht am Arm, was ihr einen unangenehmen Schauer und eine Schmerzenswelle bescherte. In ihrem Bauch drehte sich alles. Ihr war schlecht. Sie wollte nur so schnell wie möglich weg.
 

“Wie viel kostet du?”, fragte wiederum der andere. Was wollten diese beiden Männer von ihr?

Für was sollte sie Geld verlangen? Dafür, dass sie ihren Körper berührten?

Plötzlich traf sie die Erkenntnis. Auch wenn sie sich selber für diese Art von Thema nie richtig begeistern konnte, so hatte sie schon oft von den Jungs in ihrer Klasse solche Sachen gehört.

Die Männer hielten sie anscheinend für eine Nutte.

Jemand, der für Geld anderer die Beine breit machte und seinen Körper preisgab...

Zu mindestens drückten es so immer wieder ihre Klassenkameraden aus. Wieder erschauderte sie. Dies war das Letzte, was sie in diesem Moment wollte. Für jemanden ihren Körper verkaufen.

Mit Mühe schaffte sie es einen Schritt nach hinten auszuweichen. Am liebsten wäre sie sofort kehrt um und weggerannt, aber ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle war wie ausgetrocknet, sodass wieder kein Ton über ihre bebenden Lippen kam.
 

Erneut wurde sie am Arm berührt.

Erneut drängte er sich ihr auf.

Erneut blickte sie in die wollüstigen Gesichter der Männer.

Erneut drehte es sich in ihrem Magen alles um.

Diese Typen sollten sie nicht so... lüstern anstarren.

Sie war nicht eins dieser Weiber, die sich verkauften.

Und sie wollte es auch nie werden.

Am liebsten hätte sie genau dies ihren Gegenübern ins Gesicht geschrien. Aber sie blieb stumm und schwieg, während ihre Unterlippe leicht auf zitterte. In ihrem Inneren brach solch eine Unruhe aus, welche sie nur erlebte, bevor sie sich die Klinge an die Haut setzte. Eine Mischung aus Wut und Angst... Der Drang, nach Erlösung von diesen Emotionen, in ihrem Inneren wuchs, sodass ihre Hände schon unaufhörlich zu zittern begannen.
 

“Bist wohl schüchtern, mh? Das gefällt mir.”
 

Die Hände des Mannes rutschten auf ihre Oberschenkel. Sie zog vor Schmerz und Angst scharf die Luft ein. Er sollte sie nicht berühren. Er sollte sich von ihr entfernen und sie in Ruhe lassen. Wie gerne würde sie ihm das sagen und ihn gleichzeitig wegstoßen. Aber zwecklos. All ihre Kraft war wie mit einem Sog aus ihrem Körper entwichen. Ihre Schultern bebten, während die Hand immer weiter nach oben wanderte. Panisch kniff sie ihre Augen zusammen.
 

“Wollt ihr wirklich dieses kleine, schüchterne Mäuschen haben? Wie wäre es mit einer wilden Bestie wie mir? Ich würde für euch sogar einen Sonderrabatt geben. Ihr beide zusammen im Preis von einem. Wie wäre das?”
 

Eine zärtliche, weiche Stimme, wie die bei einer singenden Nachtigall, drang in ihre Ohren.

Erschrocken riss Hinata ihre Augen auf und blickte an den Männern vorbei.

In einer dunklen Ecke stolzierte jemand mit der Eleganz eines Schwanes auf sie zu.

Das kurze, durch die Dunkelheit rotbraun schimmernde Haar wippte freudig und federleicht bei jedem Schritt auf und ab.

Ein Mädchen kam auf sie zu. Ein Mädchen mit der Schönheit einer Kirschblüte.

Auch die Haare waren nicht rotbraun, sondern glänzten rosafarben im hellen Licht der Neonleuchte.

Keck schauten sie zwei türkisfarbene Augen, die wie die Weiten des tosenden Meeres waren, an.

Das Mädchen war nur knapp bekleidet. Die eng anliegende Kleidung betonte besonders ihre Kurven, auch wenn es oben herum ein wenig flach wirkte.

Und sie war anscheinend nicht viel älter als die Hyuga selber.
 

Hinata war fasziniert von der selbstsicheren Ausstrahlung der Augen und dem eleganten Gang, sodass sie für einen kurzen Moment die beiden Männer außer Acht ließ. Diese drehten sich zu dem Neuankömmling herum, beachten die Blauhaarige schon nicht mehr.

Der richtige Augenblick, um zu verschwinden, dachte sie. Ängstlich machte sie einen Schritt zurück, betrachtete noch einmal das Mädchen vor den Männern, welche sich gerade liebreizend an diese schmiegte. Kurz stockte sie. Ein einzelnes Handzeichen brachte sie dazu, sich herumzudrehen und mit panischen Schritten die Gasse wieder zu verlassen. Ein Handzeichen, dass so viel bedeutete wie “Nun verschwinde schon.”
 

Ihren Blick hatte sie gegen Boden gerichtet, die Tasche fest mit ihren Händen umklammert, um sie nicht zu verlieren.

Hinata war froh, total erleichtert und irgendwie dankbar. Dieses Mädchen hatte ihr aus der Situation geholfen.

Sie hatte sich nicht einmal dafür bedankt... Wie unhöflich.

Aber der Auftritt dieser Rosahaarigen war in ihren Augen wie eine faszinierende Show gewesen.

Wie selbstsicher diese türkisen Augen gestrahlt hatten.

Dann dieser elegante Gang, wie bei einem stolzierenden Schwan.

Und dann diese Schönheit... Wie lange man wohl brauchte, um sich so hübsch zu machen?

Ein wenig war sie neidisch auf dieses Mädchen.

Sie würde gerne auch diese selbstsichere Art beherrschen. Diesen sicheren Gang drauf haben. Aber so war sie nun mal nicht. Vielleicht würde sie ewig dieses Mauerblümchen bleiben und stumm durch die Gegend tippeln. Wie deprimierend...
 

Ihre Schritte verlangsamten sich wieder, als sie wieder bei der Hauptstraße ankam. Laut dröhnte der Straßenverkehr in ihren Ohren. Sie blieb auf dem Gehweg stehen, verschnaufte dort einen kurzen Moment, damit ihre müden und schmerzenden Beine für einen kleinen Augenblick sich ausruhen konnten. Ihr Blick schweifte durch die Gegend. Hier war wenigstens alles bekannt. Erleichtert aufseufzend blieb sie noch weiter stehen, um ihre Sinne zu sammeln. Ihre Gedanken kamen auch wieder zur Ruhe, ebenso wie ihr ängstliches, schnellschlagendes Herz in ihrer Brust.
 

Diese letzte Situation war wirklich sehr... verrückt gewesen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Sie setzte ihre Schritte weiter fort, um nach Hause zu kommen.

Ohne zu merken, dass dieser Drang nach Erlösung in ihrem Inneren Schritt für Schritt immer mehr abflaute.
 

~*~*~
 

Lautlos schloss sie die Tür hinter sich und hielt kurz inne. Sie hörte Stimmen im Wohnzimmer. Eine war ihr Vater, die andere war selbst ihr unbekannt. Sie schluckte hart und drückte ihre Tasche näher an sich. Angst beflügelte ihre Füße, zwang sie dazu den leeren Gang bloß schnell hinter sich zu lassen. Am Wohnzimmer hielt sie inne.

Lauschen schickte sich nicht, aber ihre Neugier war wieder einmal stärker, als alles andere. Die Tasche weiterhin zitternd an sich gedrückt, stellte sie sich näher an die Tür.
 

“Ich habe mir das Zimmer Ihrer Tochter angesehen. Unter ihrem Bett war eine Kiste mit Rasierklingen und Verbandsmaterial. Auch die Sachen im Schrank deuten darauf hin, dass sie sich selbst verletzt.”
 

Hinata biss sich auf die Unterlippe, um ein überraschtes Keuchen zu unterdrücken.

Jemand war in ihrem Zimmer? Ein Fremder hatte einfach so ihre Sachen durchsucht? Was fiel diesem Mann ein?

Ihr Körper erbebte, während Wut und Trauer in ihr hochkamen. In ihren Augen brannten unvergossene Tränen, welche sie mühselig herunterschluckte.
 

Wie unfair…
 

Warum machte man dies mit ihr? Dabei hatte sie sich so viel Mühe gegeben alles zu verheimlichen und zu verstecken. Dabei musste sie so viel durchmachen, damit nichts heraus kam. Sollte das denn alles umsonst gewesen sein? Dieser Schmerz, diese Verzweiflung und diese Angst? Die erste Träne rollte über ihre Wange, als sich auch nun Angst und Scham mit unter ihre Emotionen mischte. Eine ungesunde Mischung. Sie wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Sie hatte Wut auf ihren Vater, aber Angst ihm gegenüberzutreten. Sie war traurig darüber, dass er sie so hintergangen hatte, und schämte sich, dass er es jetzt wusste.

Weitere Tränen liebkosten ihre Wangen, streichelten sie sanft und versuchten sie zu trösten.

Aber zwecklos. Sie konnte ihren Tränenfluss nicht unterdrücken.

Ein ersticktes Schluchzen kam ihr über die Lippen. Ihre Hände zitterten und wurden schwitzig. Der Träger der Tasche in ihren Händen schnitt sich in ihre Haut und wurde immer schwerer. Plötzlich ließ sie die Tasche fallen, wollte so schnell wie möglich sich in ihr Zimmer einsperren.

Aber ihre Beine bewegten sich nicht. Sie blieb weiter wie angewurzelt an der Stelle stehen.
 

Die Wohnzimmertür wurde aufgerissen. Sie getraute sich nicht aufzusehen. Jemand packte sie grob am Oberarm, zerrte sie in den Raum. Schmerz durchflutete ihren Körper, als die Angst ihre Nackenhaare aufrecht stellen ließ.
 

“Junges Fräulein, wo warst-“
 

”Mister Hyuga, beruhigen Sie sich doch. Ihre Tochter ist doch ganz durcheinander. Wenn Sie sie jetzt anschreien, wird es sicherlich nicht besser.”
 

Hinata kniff ihre Augen zusammen und zerrte sich aus dem Griff. Es schmerzte, was ihr ein Keuchen über die Lippen brachte. Sie verharrte weiter an Ort und Stelle, starrte gegen Boden und spürte die Blicke der Anwesenden im Raum auf sich ruhen. Sie fühlte sich unwohl und beobachtet.

Wie gerne würde sie jetzt im Erdboden versinken und von diesem verschluckt werden? Erschrocken zuckte sie zusammen, als sich eine Hand sanft auf ihre Schultern legte. Ihre Augen waren immer noch durch die vergossenen Tränen glasig. Auch der Tränenfluss hatte sich noch nicht gelegt. Schüchtern blickte sie wie ein scheues Reh und sah in warme, geborgene und schwarze Augen eines anderen Mannes.
 

“Ah. Du musst Hinata sein. Ich bin Umino, Iruka. Schön dich kennenzulernen.”
 

Die Stimme war warm und sanft. Anders, als sie es erwartet hätte. Sie nickte leicht, schluchzte kurz auf und zuckte wieder zusammen. Wieder stieg Angst in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu, als die großen Finger von dem Braunhaarigen über ihre Arme strichen und auf den Unterarmen zur Ruhe kamen. Sie vergaß für den Zeitpunkt Luft zu holen.

Zärtlich wurde über die Arme gestreichelt, sodass sie kaum Schmerzen verspürte.

Eine Wärme ging von den berührten Stellen aus.

Wie in warmes Wasser gelegt und seichten Wellen gewogen fühlte sich ihr Körper an.

Irgendwie hatte diese Geste etwas Beruhigendes an sich.

Ihr Inneres wurde damit von Minute zu Minute immer ruhiger, bis sich all ihre aufgewühlten Emotionen soweit beruhigt hatten, dass nur noch stumme Tränen über ihre Wangen liefen.
 

“Keine Angst, ich bin hier, um dir zu helfen“, flüsterte Iruka leise und sanft. Er blickte sie nicht an, sondern streichelte weiter über die Unterarme.

Sie biss sich auf die Unterlippe und entriss einen ihrer Arme aus dem Griff des Mannes.

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. Immer und immer wieder.

Aber ihre Tränen wollten nicht verebben. Sie wurden immer mehr, bis sie diese nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Ein Schluchzen kam ihr über die Lippen. Die Tränen perlten wie Diamanten von ihrem Kinn ab und sickerten in den Stoff ihrer Jacke.
 

Er wollte ihr Hilfe anbieten. Sie würde Hilfe bekommen für ihr so kaputtes Leben. Ihr würde geholfen werden. In ihren Ohren klang es fast wie nach einen Rettungsseil, nach dem sie zitternd die Arme ausstreckte und zupackte.
 

Ihr würde geholfen werden…
 

„Du warst sicherlich oft sehr einsam und hast dich unverstanden gefühlt, oder?”
 

Leicht nickte sie zu dieser Aussage, während ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. So sehr hatte sie sich nach diesen Wörtern gesehnt. Auch wenn sie es sich nicht selber bewusst war. Tief in ihrem Inneren wollte sie immer diese Worte hören.
 

Denn sie hatte sich immer einsam gefühlt... und unverstanden.
 

Wie sehr hatte sie sich nach wem gesehnt, der ihr einmal aus der Seele sprach? Der ihre Ängste und Sorgen aussprach, was sie sich niemals selbst getraut hätte?

Sehr... So sehr, dass sie jetzt bei den Worten des Braunhaarigen nicht mehr aufhören konnte zu Weinen. Sie wischte sich weiter über die Augen, versuchte aufzuhören zu schluchzen, aber es half nichts. Die Tränen wollten nicht aufhören. Und die lieben Gesten von Iruka hörten ebenfalls nicht auf. Sie trugen nur dazu bei, dass sie mehr weinte. All ihr Schmerz lag in dem salzigen Wasser verborgen.
 

“Du hast sehr gelitten. Es hat sicherlich sehr wehgetan, stimmst?”
 

Sie nickte nur, zu mehr war sie nicht fähig. Alle Scheu von sich abwerfend, warf sie sich in die Arme des Mannes und schluchzte herzzerreißend und laut. Es war ihr in diesem Moment egal, was man von ihr dachte. Es war ihr egal, dass sie von einem Fremden in die Arme genommen wurde. Sie wollte nur mehr von dieser angenehmen Wärme spüren.
 

Während der Schmerz weniger wurde, ihr Herz immer freier, kroch ihr ein warmes Gefühl den Rücken empor.
 

Geborgenheit... Verständnis... Trost...
 

Iruka streichelte ihr beruhigend über den Rücken.

Er war die Person, die sie immer gebraucht hatte.

Jemand, der ihr helfen wollte.

Jemand, der sie mal in den Arm nahm.

Jemand, der sie tröstete.

Bei ihrer Familie hätte sie diese Dinge nie erhalten, außer vielleicht von ihrer Mutter, wenn diese noch da gewesen wäre.
 

“Mister Hyuga! Ich werde Ihre Tochter mitnehmen, sofern Sie nichts dagegen haben.”
 

“Nein. Ich willige ein. Ich habe sowieso als Vater... versagt.”
 

Das letzte Wort brachte ihr Vater nur mit Mühe über die Lippen. Noch nie hatte er zugegeben, dass er Fehler gemacht hatte. Dass er irgendwie oder irgendwann versagt hätte.
 

“Nehmen Sie Hinata bitte mit zum Atarashii Seimei. Dort ist sie weitaus besser aufgehoben und man kümmert sich auch dort um sie.”
 

“Gut, dann werden wir gleich die Formulare ausfüllen.”
 

Hinata hörte nicht mehr ganz zu. Ihre Lider waren schwer und träge. Am liebsten hätte sie geschlafen und sich von dieser Wärme einlullen lassen. Ihr Vater redete weiter. Wollte er sie loswerden? Er redete von einem Ort, wo es ihr weitaus besser erging als hier. Besser als zu Hause. Wie gerne würde sie dort sein?
 

Vielleicht gab man ihr damit nun eine zweite Chance alles zu vergessen? Es zu verdrängen oder zu verarbeiten?
 

Atarashii Seimei... Neues Leben... Sie wünschte es sich so sehr.
 

Ihr Leben einfach neu beginnen... ohne den Schmerz in dem schimmernden Metall der Rasierklinge…



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Kommentare zu diesem Kapitel (18)
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Von:  Sumino
2010-09-24T18:12:25+00:00 24.09.2010 20:12
was ist SVV?
Von:  Kokorokizu
2010-09-12T10:34:38+00:00 12.09.2010 12:34
Es ist schrecklich, das man Vorurteile machen muss. Die anderen haben keine Ahnung von Hinata und machen sie fertig.
Ich finde es toll, wie du ihre Gefühle so rübergebracht hast. Das könnte ich nie.

Was ich auch super fand war, wie ihr dieses neue Leben angeboten wurde. Wie sie in diesem Moment sich gefühlt hat. Aber irgendwie traurig, das ihr Vater das nicht von allein geschafft hat, ihr zu helfen und sie einfach sofort losgelassen hatte. Aber es ging schließlich um das Wohl seines eigenen Kindes.

Ich fand es toll.
Von:  Spielzeugkaiser
2010-09-05T20:33:34+00:00 05.09.2010 22:33
Ich kann mich eigentlich nur anschließen^^
Mir geht es ähnlich wie meinen Vorpostern =)

“Na du Emo-Kind?”

Ich rege mich jedes Mal auf wenn ich das lese. Einfach, weil das so ein dummes Klischee ist.
Hinata ist immerhin ernsthaft krank. Darüber macht man sich einerseits nicht lustig, und anderseits hat das überhaupt nichts mit 'Emo' zu tun.
Aber ich will nicht abschweifen^^

Du hast das ganze wirklich sehr gut verpackt, man konnte sich gut in Hinata hineinversetzen.
Sie tut mir echt leid, aber zum Glück bekommt sie jetzt Hilfe.

... Na dann, auf zum nächsten Kapitel ;)
Von:  Tsuki14
2010-07-23T17:14:17+00:00 23.07.2010 19:14
*sprachlos sei* Also....Ich habe ja schon wirklich viele FF´s gelesen, die sich mit diesem Thema befassen...Aber so intensiv habe ich wirklich noch nie gelesen!
Du hast wirklich einen wunderschönen und atemberaubenden Schreibstil! Die Story von Hinata ist sehr herzzerreißend und leider ist sie die reine Wahrheit. Die Gefühle hast du sehr gut beschrieben, man konnte es sich regelrecht vorstellen, zugleich hat es einen in den Bann gezogen. Wirklich klasse gemacht!

VLG, Tsuki14♥
Von: abgemeldet
2010-06-30T12:51:32+00:00 30.06.2010 14:51
Lalala *-*
auf zum nächsten *o*
<3 LG
Von: abgemeldet
2010-06-17T11:51:34+00:00 17.06.2010 13:51
Dieses Kapitel ist auch wirklich gut geschrieben ^^ du hast eine Menge Talent *thumbs up* vor allem darin die Dinge zu beschreiben ^^
freu mich aufs nächste Kapitel
Sora
Von:  FreakyFrosch1000
2010-06-03T20:00:59+00:00 03.06.2010 22:00
Klasse Kapitel!!
die arme Hinata"heul"
so was zu erleben T.T
ihr Vater ist ein Arsch!!!
gott sei dank kam Iruka!^^

bis zum nächsten Kapitel! :)
Lg freakyfrosch
Von:  Knuddel-chin
2010-06-01T11:13:44+00:00 01.06.2010 13:13
Hey,
danke für die ENS
ich bin ehrlich gesagt sprachlos
wirklich sehr gut geschrieben
auch find ich es gut, dass du Sakura schon reingebracht hast
...
liebe Grüße
Knuddel-chin
Von: abgemeldet
2010-05-30T20:29:12+00:00 30.05.2010 22:29
Uff wau *wider einmal sprachlos bin* so super da kapp.
Die kapp. mit hinata..so als würdest du meine qedankn lesen xD
Echt super freu mich schon sehr auf die nächsten kapp.
lq
Hony
Von:  Inan
2010-05-30T18:14:38+00:00 30.05.2010 20:14
Sakura und Hinata verstehen sich dann bestimmt gut, wenn Sakura auch zum Atarashii Seimei kommt, immerhin "kennen" sich die Beiden dann schon :D
Echt schönes Kapitel, toll, dass Hinata endlich "gerrettet" wird~


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