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Alltag

Alltag
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Alltag

Alltag
 


 

Die Schule war aus und ich machte mich auf den Heimweg. Der Elan, der mich in der Schule immer überkam, hielt noch an, ich nahm mir vor mich heute auf die nächste Klassenarbeit vorzubereiten. Ich würde mir die Inhalte noch einmal ansehen, das Wichtigste auswendig lernen und vielleicht einfach mal einen kleinen Probetext schreiben. Deutsch war das interessanteste Fach momentan.
 

Als ich aus dem Haupteingang trat, sah ich ein kleines Grüppchen an der Baumgruppe auf unserem Schulhof. Die Situation konnte man mit einem Blick erfassen. Der Schüler in der Mitte wurde von den drei größeren, und augenscheinlich älteren, Schülern gestoßen und geschubst. Viele andere Schüler sahen es, nahmen es zur Kenntnis und gingen tratschend weiter. Von einigen hörte man sogar Sätze wie „Nicht schon wieder!“ oder „Können die nicht mal damit aufhören?“.

Die Schüler wurden weniger und die Gruppe blieb ungestört. Erbärmlich, wenn so ein Mobbingopfer sich nicht bei Lehrern oder sonstigen Autoritätspersonen beschweren konnte. Ich würde so etwas nie mit mir machen lassen. Mein Magen knurrte und erinnerte mich an das Mittagessen. Ich ging einen Schritt schneller und ließ die Gedanken an nutzlose Opfer auf dem Schulhof zurück.
 

Zu Hause angekommen machte ich mich über mein Mittagessen her und stapfte dann nach oben in mein Zimmer. Erst mal raus aus den Klamotten, der Tag heute war heiß gewesen. Als ich mir das T-Shirt über den Kopf zog, fiel mein Blick in den Spiegel. Die blauen Flecken auf meinem Bauch hatten sich grünlich-gelb verfärbt. Irgendwie erinnerte mich die Farbe an Rotze. Ich betrachtete meinen Rücken und entdeckte die frischen Blutergüsse, die ebenfalls allmählich anfingen zu verblassen. Die hatten noch eine schöne Farbe.

Frustriert schmiss ich das T-Shirt aus einem Impuls heraus gegen den Spiegel, wo es lasch gegenschlug und mit einem „Flopp“ auf dem Boden landete. Dann öffnete ich die Spiegeltür meines Schrankes, nahm ein frisches T-Shirt raus und zog es mir hastig über den Kopf. Erst dann wagte ich es die Schranktür zu schließen und mich wieder anzusehen.

Man sah nichts.

Nichts von den Tritten und Schlägen in den Bauch, nichts von den Striemen, die mit Stöcken in die Haut gerissen wurden und beim Duschen brannten. Nichts. Normal. Stolz erfüllte mich plötzlich. Ich kam damit zurecht. Ich brauchte die Hilfe anderer gar nicht, ich war stark. Ich war anders, als der Junge vorhin!
 

Ein unbestimmtes Kribbeln machte sich in mir breit. Es fing im Bauch an, ging in die Beine, Arme, Fingerspitzen, Kopfhaut. Ich musste raus hier! Hastig trampelte ich die Treppe runter, zog mir die Schuhe über die Füße, rief „Ich bin mal weg!“ über die Schulter und ließ die Tür hinter mir zuknallen. Dann lief ich los. Egal wohin, einfach nur weg! Weg von dem Spiegel in meinem Zimmer, weg von dem makellosen Haus, weg, weg, weg!
 

Nach einer Weile stach mir die Lunge und ich war im Neubaugebiet angekommen. Hier sollten neue Häuser entstehen. Die „Straßen“ waren planiert, aber außer Schutt und ein bisschen Stacheldraht fand man hier nichts. Planlos ging ich auf einen Schutthaufen zu und bestieg ihn. Oben angekommen wünschte ich mir ein Stück Stoff, dass ich um einen Stock binden könnte, um eine kleine Fahne hier aufzustellen. Der erste Schuttbesteiger!
 

Als ich auf der Spitze stand, ein oder zwei gefährliche Meter vom Erdboden entfernt, ließ ich meinen Blick schweifen. Die Grenze zwischen brach liegendem Land und Häusern war eindeutig und durch eine unsichtbare Mauer, wie mit einem Lineal gezogen, getrennt. Zwei Welten, deren Grenzen sich unmittelbar trafen. Zur Linken Feld, in der Ferne ein großer blasser, im Dunst verschwindender Schutthügel, der mit Bäumen bepflanzt worden war. Der Horizont war schnurgerade, Feld, und vereinzelte Baumgruppen, nur unterbrochen von dem erblühenden Hügel, so weit das Auge reichte. Die Häuser unseres Viertel standen wie eine Eins zu meiner Rechten, die Vorgärten makellos, mit Blumen arrangiert, die Häuserfassaden frisch gestrichen. Die Siedlung war ruhig, der Himmel strahlte blau und sanft. Es war genau wie mein zu Hause.

Im Gegensatz zu dem Schutt, auf dem ich gerade thronte.
 

Niemand sah es, niemand half, niemand kümmerte sich um den Dreck anderer! Jeder hatte sein Schneckenhäuschen, in das er sich vergrub, niemand traute sich aus dem Haus, um andere Menschen wirklich kennenzulernen. Gespräche über das Wetter, einer Finanzkrise oder der ungezügelten Tochter von gegenüber mussten ausreichen.
 

Ich musste mich abwenden. Eine unbestimmte Wut erfasste meinen Bauch. Und wenn schon! Ich war stark, ich konnte das aushalten! Andere Menschen würden unter so einer Tortur einfach zusammenbrechen, aber das würde ich denen nicht gönnen! Niemals!

Aber wieso fühlte ich mich dann so schwach, kraft- und machtlos? Wieso konnte ich nichts dagegen unternehmen? Die Wut brodelte und stieg mir bis zum Kopf. Wieso? Hatte ich in meinem früheren Leben etwa was verbrochen? War das eine Strafe dafür, dass ich den Brokkoli nie aß? Meine Hände hatten sich zu Fäusten geballt und meine Armmuskeln waren angespannt.
 

Als ich den Stacheldraht neben meinem Fuß erblickte, griff ich schnell danach und schloss meine Hand darum, so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Der Schmerz tat gut und ich beobachtete, wie sich ein Blutstropfen aus meiner Hand stahl. Ich sah ihn an, wie einen kleinen Freund und trauerte ihm nach, als er auf den Boden fiel.
 

Das war meine Entscheidung gewesen. Das hatte niemand anderes getan, das war ich. Und es fühlte sich gut an. Gut, dass ich den Schmerz kontrollieren konnte. Die blauen Flecken und die Muskelkater-ähnlichen Schmerzen waren vergessen. Es zählten nur meine Hand, der rostig-rote Stacheldraht und das Blut. Das war mein kleines Geheimnis, das mir niemand nehmen konnte. Niemand.
 

Ich öffnete meine Hand langsam und der Schmerz ließ nach. Erleichterung machte sich breit. Ich konnte es kontrollieren! Als ich meine Handfläche betrachtete, konnte ich sechs blutige, vom Rost dreckige Löcher sehen. Mitten auf der Handfläche prangte die hell-rosa Narbe, die mir Kai aus der höheren Klasse mit einer Glasscherbe beschert hatte. Neben den Löchern sah sie erbärmlich aus. Es war, als hätte ich die Niederlage dieser Narbe mit meinen eigenen zugesetzten Löchern in einen Sieg umgewandelt.

Kai würde mir nichts mehr anhaben können. Meine sechs Begleiter waren der Beweis dafür. Niemand konnte mir Schlimmeres antun als ich selbst. Und das erfüllte mich mit Stolz. Überlegene Zufriedenheit machte sich breit, es fühlte sich schön warm an.

Befreit sprang ich von dem Schutthaufen und ging gemächlich nach Hause. Ich verachtete die ordentlichen, schnieken Häuser für ihre Ignoranz und kam, als es schon dunkel wurde, zu Hause an.
 

„Bin wieder da!“ rief ich durch das Haus, aber wie üblich antwortete keiner. In meinem Zimmer betrachte ich wieder meine Sechslinge. Vielleicht sollte ich lieber den Dreck aus den Wunden waschen, bevor sie sich schlossen. In Biologie hatten wir gerade Tetanus durchgenommen und ich war nicht besonders scharf drauf wegen so etwas den Rücken vor Schmerzen und Krämpfen zu verbiegen oder Schaum vorm Mund zu haben. Oder was auch immer die Symptome davon jetzt waren.

Als ich meine Hände im Badezimmer wusch, merkte ich, wie müde ich war. Und die Hausaufgaben musste ich auch noch machen. Wie nervig. In zehn Minuten schlampte ich irgendwelche Stichworte hin und knippste dann das Licht aus.
 

Am nächsten Morgen griff der Alltag mit seinen Zähnen wieder ins Uhrwerk, ich stand auf, zog mich an und kam die Treppe runter. Mein gesprochenes „Tschüss.“ hallte ungehört in dem leeren Haus wider und die Tür zog die Grenze zwischen Sicherheit und Realität.

Das durfte ich nicht vergessen, hier draußen war ich verletzlich. Als ich die Tür zuzog, durchfuhr meine Hand ein Stechen. Stimmt ja, meine sechs Begleiter. Meine Hand pochte unangenehm, aber beim Betrachten der Wunden floss eine Wärme durch mich, die mich schaudern ließ. Ich hielt mir die heiße Hand an die Wange und musste wieder an den Hügel denken. Meine Beine trugen mich Richtung Schule.
 

In der Schule angekommen kam natürlich das unvermeidliche: Kai hatte mich anscheinend wieder ins Beuteschema gerückt. Und ich dachte, dass die stille Woche ewig so weitergehen würde. Ach, ich machte mir nichts vor. Ich hatte sie schon erwartet. Geradezu darauf erpicht gewesen war ich. Immer fluchtbereit und erwartungsvoll auf ein Anzeichen gewartet. Und jetzt, da es so weit war, wusste ich, dass ich darauf gewartet hatte.

Da machte es auch nichts mehr die Prozedur über sich ergehen zu lassen, die bereits so oft und wie ein Ritual ablief. Kräftig schubsen, die ersten Fäuste, wohlgezielt, wo ein T-Shirt noch alles verdeckte. Und dann nutzten sie die Gelegenheit, wo ich doch schon mal am Boden lag, noch mal mit Schmackes zuzutreten. Wenn der Gong ertönte bewegten sie sich tratschend und lachend Richtung Eingang, von ihren Aggressionen endlich befreit, während mir noch die Eingeweide brannten. Meine Wohltäter waren nicht so dumm wie die älteren Schüler gestern und suchten sich sehr wohl einen von Bäumen und Büschen verdeckten Platz, um ihren Gewohnheiten zu frönen.
 

Mein Atem ging hektisch, stoßweise. Zu viel Luft geholt und der Schmerz brannte und loderte stechend neu auf. Nur langsam ließen die Schmerzen nach und ich glaubte an Luftmangel zu ersticken. Meine von schwarzen Pünktchen durchtanzte Sicht schärfte sich langsam, der Schwindel legte sich und ich konnte wieder tiefere Atemzüge nehmen. Ich roch plötzlich das Gras und fühlte, wie es meine Haut sanft streichelte. Der Schmerz klang ab, aber etwas pochte stark. Meine Hand mit meinen sechs Malen. Ich starrte meine Hand an. Dieser Schmerz war heftig. Niemand konnte ihn mir nehmen und niemand konnte mir so gut weh tun, wie ich mir selbst. Seht doch, ihr Hirnis, meine blauen Flecken werden heilen! Von euren Trophäen wird es eines Tages nicht das leiseste Anzeichen geben. Aber meine Wunden werden bleiben. Ich werde bleiben. Ich werde das überstehen, so wie die Wunden es überstehen, so wie sie überdauern, werde auch ich überdauern.

Da habt ihr keine Chance.

Ich stand auf, klopfte mir den gröbsten Dreck von der Hose und ging gut gelaunt, wenn auch mit vorsichtigen Schritten auf das Schulgebäude zu.

Ich brauchte keine Hilfe, ich war stark.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-08-17T11:09:39+00:00 17.08.2009 13:09
Dieses Ende ist wirklich besser.
Vor allem weil du alles wieder auf die 6 Wunden zurück gebracht hast. So haben sie einen viel größeren Impact.
Es war zwar schon schön nicht zu wissen, wo die Wunden herkommen, aber als du es verraten hast, war es schon ein Shocker. Dass die genau daher kommen, wie bei dem Jungen...
Von:  Lanaxylina
2009-08-16T12:18:38+00:00 16.08.2009 14:18
wirklich... ein interessantes Thema.
Die Story ist... nachvollziehbar, auf eine beunruhigende Weise.
Du hast Suizid gut in einer Story verpackt, auch wenn man noch viel mehr daraus machen kann, aber ich finde, du hast es gut hinbekommen.
Dein Schreibstil ist nicht schlecht, jedoch noch verbesserungsfähig, aber das kommt mit der Zeit und der Übung!

Und verzeih mir, wenn ich sagen, dass "Alltag" nicht gerade eine zu empfehlende Lektüre für einen wunderschönen sonnigen Sonntagnachmittag ist.
Die Geschichte macht traurig.

lg faith
Von: abgemeldet
2009-08-14T09:06:00+00:00 14.08.2009 11:06
Dein Schreibstil ist wirklich leicht und locker. Das liest sich so flüssig wie sonst nichts.
Mir gefiel, dass du vorher den Jungen beschrieben hast. Das stellt so schön den Kontrast, und auch den Nichtkontrast zwischen den beiden dar.
Außerdem fand ich das Motiv mit dem Hügel ganz gut. Das war eine gute Überleitung zur Selbstverletzung.
Allerdings fand ich das Ende ein bisschen abrupt. Erstmal war es kein richtiges Ende, was wohl der Punkt sein soll. Aber das Thema Alltag wird sonst in der Geschichte nicht aufgegriffen. Also wirkt es angepappt, oder so.
Von:  il_gelato
2009-08-14T04:59:52+00:00 14.08.2009 06:59
Interessantes Thema, was du dir da ausgesucht hast!
Ich mag deinen Schreibstil, er ist leicht und locker, wirkt nicht, als ob du unbedingt etwas schreiben musst, sondern eher als wenn die Wörter einfach nur so fließen.




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