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Orthogonalität am Beispel des virilen Objekts

Herr Branner und ich
von

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Summarische Einführung in die Oberstufenmathematik

Mein bester Freund war genau deshalb mein bester Freund.

Natürlich hätte er mit ein wenig mehr Entgegenkommen ein noch besserer Freund sein können, aber so, wie er war, war er im Ganzen schon ein toller bester Freund. Einen besseren besten Freund konnte man wohl kaum noch erwarten.

Nichts desto trotz brauchte ich natürlich auch eine beste Freundin, denn so tolerant, wie Ray-Ray auch war, einige Sachen gingen nunmal nicht mit einem besten Freund.

Und das war das Thema des ersten Montagnachmittags nach den Sommerferien.

„Niemals!“ sagte Ray laut und lief stur weiter zur Bushaltestelle.

Ich folgte ihm schnell, die Hände vor der Brust ineinander gefaltet und sah ihn aus sehr großen, grünen Augen heraus an.

Doch er blieb stur: „Nein Tim, zum allerletzten Mal. Ich werde niemals, unter keinen Umständen jemals High School Musical mit dir gucken.“

Er sah mich sehr ernst an.

Ich schluckte und sank verletzt den Blick „Aber ich schwörs dir, der sieht aus wie Zac Efron.“

„Du verstößt gegen die Regeln, Tim!“ rief er über seine Schulter hinweg zu mir herüber.

Ich sog scharf die Luft ein und lief schnell zu ihm hin.

Wir hatten die Haltestelle erreicht und er nahm sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche „für solchen Kram hast du Lilly! Wo ist sie überhaupt?“

„Urlaub.“ Nuschelte ich.

Er zündete die Zigarette an und nickte „ruf sie halt an und erzähl es ihr. Ganz aaaufgeregt“

Ray fuchtelte zynisch mit den Händen vor seinem Gesicht herum, dann grinste er.

„Nicht lustig“, sagte ich, konnte mein eigenes Grinsen aber nicht unterdrücken.

„Ach man.“ Er seufzte hart und sah kurz zum Boden, ehe er einen weiteren Zug nahm und dann nochmal, etwas widerwillig, auf seufzte: „Nagut. Aber nur, weil Lilly heute nicht da ist!“

Ich quietschte vergnügt auf, hüpfte auf den Zehenspitzen auf und ab und warf meine Arme um Ray.

Der hob abwehrend seine Hände „Tim, Tim, Tim, Tim! Tim! Die Regeln!“ rief er aus.

Ich ließ von ihm ab, sah mit roten Wangen zum Boden und murmelte gepresst ein „Tschuldigung“ hervor.

Ray brummte genervt.
 

„Also“, sagte ich dann und sah ihn wieder grinsend an „Heeer Branner sieht echt genauso aus, wie Zac Efron. Nur älter. Na ja, ein bisschen älter. Eigentlich.. nein, eigentlich nicht älter. Eher wie Zac Efron ungeschminkt. Wobei du natürlich keine Ahnung hast, wie Zac Efron aussieht, weil du High School Musical ja nicht kennst!“

„Deine Zimmerwände sind vollgekleistert mit Postern von diesem Typ!“ warf Ray ein, doch ich ignorierte ihn natürlich „und seine Stimmte klingt so, wie Zac Efrons deutsche Stimme. Und die Haare, man, die Haare. Genauso glatt und glänzend und perfekt, die gleichen Augenbrauen und die Augen selbst. Als Herr Branner rein kam ins Klassenzimmer hab ich echt gedacht, das wäre Zac Efron!“

„Bist du deshalb hysterisch kreischend vom Stuhl gefallen?“

„Natürlich gibt es die kleinen, feinen Unterschiede. Zac Efron ist größer als Herr Branner. Und die Haarfarbe, na ja, ist bei Zac ja unterschiedlich. Herr Branners Haare sind bestimmt immer dunkelbraun. Und er ist ein bisschen... dicker!“

„Ich würde das trainierter nennen!“

Ich japste empört auf. Dieses Kommentar konnte ich ihm nicht durchgehen lassen.

„Du kannst das nicht!“ sagte ich genervt und drehte ihm den Rücken zu.

„Ja, ich bin auch ein Mann.“

„Aber ich rede mit dir auch über Frauen!“ antwortete ich enttäuscht.

„Ja, weil du so denken kannst wie Frauen.“
 

Ich schnaubte nochmal.

Ray lachte leise „ist doch so. Du bist dann nur nicht sofort eingeschnappt, wenn man ein falsches Wort sagt.“
 

Ich glaubte, nicht nur ich erfreute mich einer wunderbaren Freundschaft mit Ray-Ray, sondern er sich auch an einer mit mir.

Natürlich waren nicht alle Jungs so stoisch wenn es um das vermeintliche Thema „Schwul“ ging.

Sie waren eher verspannter und etwas leidig.

Ray-Ray rauchte, akzeptierte und stellte bald fest, dass es nebst einiger höchst schwuchteliger Eigenschaften auch ganz praktisch sein konnte, einen schwulen Freund zu haben.

Wie zum Beispiel das große und allseits beliebte Platz eins Thema Frauen.

Nicht nur, dass ich sie bedingungslos verstand und mein Wissen diesbezüglich gern an meinen besten Freund weitergab, nein, es wirkte bei Mädchen gerade anziehend, wenn man schwul war.

Ähnlich wie der Trick mit dem Baby-Hund.

„Es gibt Tage, da wünschte ich, ich sei auch schwul, dann wäre es viel leichter, Mädchen kennen zu lernen.“ hatte Ray mal gesagt.
 

Natürlich konnte er nicht nach vollziehen, was genau ich jetzt an Zac Efron oder diverse Männchen aus dem Pub verlockend fand und gegen überschwules Verhalten in der Öffentlichkeit gab es vereinzelte Regeln, denen ich mich zugunsten seiner Heterosexualität fügen sollte.
 

Die hatte Ray vor eineinhalb Jahren verfasst und er musste, zugegeben, mich dennoch täglich daran erinnern.

Es fiel mir nunmal nicht besonders leicht, mich gegen mein natürliches Verhalten zu stellen und mich zu verstellen.
 

Und über Jungs oder Zac Efron quatschen, das ging auch nicht mit ihm.

Dafür hatte ich dann Lilly. Wobei sie, genauso wie Ray-Ray, meine Zuneigung gegenüber Zac auch nicht wirklich nach vollziehen konnte, aber in gewissen anderen Dingen war sie eben unersetzlich.
 

Und da fing die Geschichte an.

Nach den Sommerferien, die uns innerhalb von sechs Wochen zu den großen Oberstufenschülern machten.

Es lief alles doch erheblich anders ab, als in der Mittelstufe.

Wie wir unsere Pflicht- und Wahlkurse vor den Ferien gewählt hatten, erhielt jeder Schüler am ersten Montag einen eigenen Stundenplan mit Raum- und Lehrerangaben und von da an mussten wir zusehen, wie wir zurecht kamen.

Es gab Deutschkurse und Englisch, Physik und Musik, Sozialwissenschaften und Sport und und und.

Und Ray-Ray und ich, wir hatten fast alles zusammen.

Was für ein ausgesprochenes Glück.
 

So auch Mathe.

Und Mathe war eine Angelegenheit in meinem Leben, die ich alles andere als gern ansprach.

Mathe war mir unbegreiflich.

Ich hasste Mathe.

So sehr, dass ich manchmal Nachts nicht schlafen konnte.

Und Mathe hasste mich.

So sehr, dass es sich alle Mühe gab, sich voll und ganz gegen mich zu versperren.

Und wir hielten das schon ziemlich stur vier Jahre durch.

Und keiner von uns sah sich in Naher Zukunft aufgeben.
 

Hatte ich bis zum Abschluss der zehnten Klasse noch geglaubt.
 

Stimmte nicht.
 

Nun ja, Mathe an sich würde für mich auch in der Oberstufe ein einziges Rätsel bleiben, das war uns allen klar.

Aber ich fing am ersten Montagnachmittag nach den Sommerferien an, mich auf Mathe zu freuen.
 

„Wie zur Hölle konnte das denn passieren?“ fragte Lilly empört am Telefon, als ich ihr diese Nachricht überbrachte.

Ich zuckte lächelnd die Schultern „Vielleicht wegen Zac.“

Sie schnaubte „Was hat der denn jetzt damit zu tun?“

Offensichtlich nervte ich mit Zac. Was mir sehr egal war.

„Du wirst es kaum glauben, aber Zac unterrichtet jetzt an unserer Schule Mathe. Unseren Kurs.“

„Wie darf ich das denn verstehen?“

„Ja, du hast Recht“, gab ich zu „es ist nicht wirklich Zac, aber er sieht aus wie er. Fast ganz genau so. Frag Ray.“

Lilly lachte.

„Er heißt Branner. Marc Branner. Ist neu an der Schule seit jetzt, wir sind seine erste eigene Klasse. Kurs. Wie auch immer.“
 


 

„Hey Tim“, begrüßte Ray-Ray mich am nächsten Morgen an der Bushaltestelle. Er nickte zu mir rüber, nahm den letzten Zug seiner Zigarette und ließ den Stummel dann auf den Boden fallen, um drauf zu treten.

Ich gähnte und erwiderte sein begrüßendes Nicken.

„Na, alles klar?“ fragte ich müde und riebe mir das linke Auge.

Er nickte knapp „jap. Du, sag mal...“

„hm?“

Ray sah mich kurz musternd an, dann redete er weiter: „wenn du jetzt auf Herr Branner stehst... hörst du dann auf, ständig von Zac Efron zu reden?“

Ich schnaubte leicht empört „bist du verrückt?“

Mit einem Mal war ich hell wach, als wenn ich nie geschlafen hätte „wie kann ich jemals meine erste große Liebe vergessen?“

„Tim...“ Ray seufzte genervt, doch natürlich reagierte ich nicht darauf

„glaubst du wirklich, dass es wahrscheinlicher ist, dass Herr Branner eines Abends mit Popcorn vor meiner Haustür steht und einen High School Musicla Abend machen will, als dass Zac anruft um zu erklären, dass er die Dreharbeiten für den vierten Teil hinschmeißt und zu mir in mein Zimmer ziehen will?“

Ray tat so, als würde er kurz darüber nachdenken, natürlich wusste ich, dass er das nur mit „Ja“ beantworten konnte, doch stattdessen sagte er: „du würdest wirklich auf den vierten High School Musical Teil verzichten?“

Überrascht ob dieser Frage zog ich die Augenbrauen zusammen und legte meinen Kopf nachdenklich schief.

Das ist eine doch sehr bedenkswerte Frage, die in der Tat einige Zeit brauchen würde.

Ich sah Ray böse an, steckte mir die Ohrhörer meines lila iPods in die Ohren und als der Bus kam und wir einstiegen, hörte ich nur noch Brian Molkos Stimme, die laut und entspannend in mein Ohr säuselte.
 

Ray-Ray, eigentlich Ramon Schuster, war ungefähr zur Hälfte Spanier, zur anderen Deutscher und sein Name brachte diesen Umstand deutlich zur Geltung.

In der fünften Klasse handelte er sich durch den Englischunterricht den Spitznamen Ray ein, weil unsere damalige Lehrern, echt gebürtige Kanadiern, es nie auf die Reihe brachte,  Ramon echt deutsch oder wenigstens spanisch auszusprechen, sondern immer diesen leichten, englischen Akzent drinnen hatte und er so jede vierte Stunde nicht mehr Ramon, sondern Raymon war.

Er war äußerst muskulös mit breiten Schultern und schmaler Hüfte und unter seinen dunklen Locken glänzten fast schwarze Augen.

Lilly war klein und schmal, hatte helle Haut, helle Augen und helles Haar. Sie war ein sehr verwöhntes Einzelkind und wir munkelten, dass sie adoptiert war, weil sie mit Cleverness und Intelligenz überzeugte, ihre Eltern hingegen eher normal waren; streng und hart arbeitende Workaholics, die es irgendwie schafften, ihrer Tochter trotz der rundum-arbeiterei genügend Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, dass sie auf ein Glückliches Sein schauen konnte. Und dass wir bemerken konnten, dass Lisa, so hieß sie eigentlich, eine erstaunliche Kombinationsgabe besaß, ganz im Gegensatz zu „Mom“ und „Dad“. Natürlich liebten wir Herrn und Frau Wolf trotzdem.
 

Über Herr Branner wusste ich so gut wie nichts.

Er sah aus wie meine erste große Liebe, im Unterricht war er locker, trotzdem diskret und wenn es sein musste, konnte er auch ganz schön laut werden.

Und um ehrlich zu sein, das fand ich extrem sexy.

Er schien mir am Anfang etwas nervös zu sein, aber ich glaube, dass überdeckte er ganz geschickt mit seinem eben angeeignetem Wissen.

Herr Branner, Marc, hatte vor gar nicht so langer Zeit erst seine Abitur-Prüfungen gemacht   und neben Mathe unterrichtete er auch noch Sport und ich beneidete die Klassen, die Sport bei ihm hatten.

Doch wahrscheinlich würde ich am laufenden Band in spontane Ohnmacht fallen, würde ich diesen Mann hautnah in engen T-Shirts sehen, wie er seine Schüler womöglich mit Körpereinsatz zum Sport und Spiel animierte.

Und ich würde wahrscheinlich die Leichtathletik gar nicht überstehen, wenn er mir nur einmal Hilfestellung geben würde.
 

Lilly wartete im Bus auf uns und zwinkerte mir zu. Es war Dienstag und das bedeutete, zwei Stunden Mathe standen auf dem Plan. Gleich, nachdem wir Philosophie hinter uns gebracht hätten, nach unserer zwanzig-minütigen Pause würde Herr Branner wieder irgendetwas reden von Definitionen und Funktionen.

Ich hörte ihm zu. Gerne. Mit vollstem Genuss, ich ließ mich durch Nichts ablenken, durch gar nichts.

Nicht durch Ray-Ray oder Lilly, einem Eichhörnchen auf dem Baum vorm Fenster oder durch Patricks alltägliche Alberein zum allgemeinen Vergnügen.

Ich lächelte Lilly vergnügt an und bedeutete ihr dann, dass ich gerade sauer auf Ray war und deshalb nicht mit ihm sprach und deshalb laut Musik hörte, weshalb ich auch mit ihr nicht sprechen konnte.

Und natürlich dachte ich an Ray-Rays Frage, ob ich auf einen vierten High School Musical Teil verzichten könnte, wenn ich dafür Zac oder wenigstens Herr Branner bekäme.

Und ich dachte an  Definitionen von Funktionen und Lineare, denn alles, was mit Mathe zutun hatte, brachte ich neuerdings zwangsläufig mit Herrn Branner in Verbindung.

Er war einfach toll.

Ganz besonders an diesem Morgen, als Lilly, Ray-Ray und ich das Schulgebäude betraten und uns für den Rest der Wartezeit an einen Tisch in der großen Pausenhalle niederlassen wollten.

Ich hörte nur noch auf einem Ohr Musik,  nämlich auf dem, welches Ray-Ray (und deshalb auch Lilly) zugewandt war, als ich Zacs und Herr Branners Stimme neben mir wahrnahm: „Tim“, sagte sie freundlich.

Mir blieb der Atem stehen und ich drehte mich, mir kam es vor wie in Zeitlupe, zu ihn um.

Meine Augen wurden größer und größer, doch er merkte das nicht. Er lächelte nur lieb, umwerfend, einfach göttlich.

Nicht dieses blöde Lächeln, dass ihn wirken ließ, wie ein Idiot, sondern das andere Lächeln. Das Lächeln, dass wohl jedes Mädchen auf der ganzen Welt zum Schmelzen brachte.

Und mich. Und bei meinen Knien fing es an.

„Guten Morgen“, sagte sein Lächeln.

Und ich starrte es an. Die rosigen Lippen, die so zart aussahen, die sicherlich nach etwas ganz besonderem schmeckten, und diese perfekten Zähne im perfektem Weiß.

Ich stotterte „ähm.. äh...“

„Was hörstn da?“ Herr Branner nickte zu meinem Ohr.

Ich schluckte hart und zog den Kopfhörer raus.

„Placebo“, nuschelte ich und spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss, sie aufwärmten und mit Sicherheit leicht rot färbten.

Wie peinlich.

„Sind gut“, lächelte Herr Branner, er zwinkerte, drehte sich dann nach rechts um und ging  in die Richtung der Klassenzimmer, und zum Abschluss sagte er: „das neue Album ist nicht schlecht.“
 

Lilly legte ihre Hand auf meine Schulter.

Mit rasendem Herzen drehte ich mich zu ihr um und sah nur ihr blondes, langes Haar irgendwo vor mir.

„Atmen nicht vergessen“, hörte ich ihre Stimme, doch sie klang gedämpft, wie durch Wände, sehr weit weg.

„Das ist doch bescheuert“, hörte ich auch Ray-Rays Stimme, sie klang deutlich genervt.

Ich sah, wie er sich seine Tasche enger auf die Schulter klemmte und uns dann verließ.

„Mach dir nichts daraus, er ist noch müde.“ entschuldigte Lilly sein unsensibles Verhalten.
 

Welches mir herzlich egal war an diesem Morgen.

Herr Branner hatte mich persönlich begrüßt.

Herr Branner hatte meinen Musikgeschmack für gut befunden.

Herr Branner hatte mich bemerkt.

Ich war total in Herrn Branner verschossen.

Von deutschen Mathefreaks und kanadischen Rockmusikern

Wir, das waren rund hundert Schüler, also alle der elften Klasse, saßen in der Aula und redeten und quatschten und tratschten was das Zeug hielt. Versammlung zur Besprechung der Stufenfahrt zwecks Kennenlernens im Dezember war angesagt. Es war Montagmorgen, acht Uhr und ich saß tief in meinem Sitz hängend neben Ray-Ray, der sich seine Ohrhörer in die Ohren gestopft hatte und die Augen geschlossen hielt.

Es war zu früh.

Müde wandte ich meinen Blick zu Lilly links neben mir. Sie redete aufgeregt mit Julie aus unserem Freundeskreis. Rechts von Ray-Ray hangen, ebenso kaputt und müde wie wir beide, Pat und Flo.

Wie es sich so gehörte, war man schon früher als acht an oder in der Schule und musste so irgendwie die zehn Minuten bis zum Beginn überbrücken.

Der Vorteil dieser Veranstaltung war unumstritten, dass Kunst für mich ausfiel und ich gleich, nach dieser Versammlung, zu meinem geliebten Mathelehrer spazieren durfte um ihn in seiner Ansprache über lineare Funktionen mit Nichtsverstehen aber schmachtem Anstarren irgendwie zu unterstützen.

In Kunst am Montag saß ich immer ganz allein, denn Lilly und Ray-Ray belegten den Musikkurs, eine Wahl, die ich absolut nicht nachvollziehen konnte.

Natürlich war Musik ein äußerst wichtiger Lebensbestandteil, aber gerade noch unwichtig genug, dass man nicht unbedingt ein Instrument spielen, Noten lesen und sonore Töne singen können musste.
 

Um acht Uhr klingelte die Schulglocke und schreckte mich, Ray-Ray und Pat gleichzeitig aus unserem Döszustund. Verwirrt sahen wir uns um, streckten uns und Ray-Ray gähnte herzhaft, um seinem Missgunst an der unhumanen Zeit zum Ausdruck zu bringen.

Ich schmunzelte, faltete die Finger ineinander und drückte sie gegen die Rückenlehne des Vordersitztes.

Herr Pieper tauchte vor den Sitzreihen auf und begrüßte uns mit einem fröhlichen „Morgen Jungs, Morgn Mädls.“

Einige verschlafene Stimmen antworteten, wir schwiegen.

„Die Stufenfahrt findet wie jedes Jahr vom neunten bis einschließlich dreizehnten Dezember statt und führt uns wie jedes Jahr in die wunderschöne, westlichste Großstadt des Landes, die mit einer außergewöhnlichen Historie... bla bla. Nach Aachen, wie jedes Jahr. Die Kosten betragen für vier Nächte, vier Frühstücks und vier Abendsessens und die Fahrt dorthin hundert Euro. Ihr bekommt diese“, Herr Pieper hielt einen Batzen Dokumente hoch „Blätter noch ausgehändigt, darauf“, er sah sie sich genauer an „findet ihr noch mal alle wichtigen und ausführlichen Informationen zur Fahrt, die Bankdaten für die Überweisung des Betrags und dieser Abschnitt hier“, er deutete auf den untersten Teil eines Blattes „ist bis zum zwanzigsten November an mich oder einen der aufsichtshabenden Lehrer wieder zu geben. Das Geld überweist ihr bitte bis dahin auf das Konto, wer nicht mit kommen will schreibt einen ausführlich... wobei, ich hab keine Lust, das alles zu lesen, der schreibt einfach einen Grund und reicht ihn bald möglich bei mir ein. Mal gucken, ob ich das so genehmigen kann wegen diverser Vorschriften. Hat irgendwer noch Fragen dazu?“

Ein gemeinsames Räuspern ging durch die Schülerschaft, dann hob sich links von mir eine Hand und eine piepsige, weibliche Stimme fragte: „Wer sind die aufsichtshabenden Lehrer?“

„Gute Frage, Christine, wirklich ausgezeichnet. Nun ja“, Herr Pieper, eine an sich doch recht witzige Natur, nickte in die rechte Ecke des Raumes „ich werde mitkommen müssen, außerdem noch Frau Berger, Frau Rescher und Herr Branner.“

Ich drehte mich zur rechten Ecke und erblickte den attraktiven Mann zwischen zwei mittelalten Frauen stehen, die eine nervös, die andere genervt lächelnd.

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, und das tat ich in diesem Moment wahrscheinlich auch nicht, hätte ich gedacht, dass Herr Branner nur für mich lächelte und seine blauen Augen fixierten genau mich.

Nervös schluckend drehte ich mich wieder um, zog mir die weiße Mütze meines Kapuzenpullis über das blonde Haar und rutschte tief in meinen Sitz runter.

Er hatte mich unmöglich sehen können. Ich saß mitten in einem Haufen von Leuten und war so mega unauffällig, dass ich mir nicht mal selber auffiel.

Er hatte nicht mich angelächelt. Er hatte die Schülerschaft angelächelt. Das musste einfach so gewesen sein!
 

Ich schluckte hart und sah wieder rauf zu Herrn Pieper, der mit seiner Ansprache fertig war, den Batzen Blätter in die erste Reihe reichte und uns dann „in den Unterricht“ entließ.

Das waren also zehn Minuten gewesen, für die wir uns hier versammeln mussten.

Mir passte an der Sache nicht, dass mein Unterricht trotzdem nicht statt fand – faules Lehrerpack – und ich jetzt die restlichen achtzig Minuten Zeit überbrücken musste, die ich lieber gern in meinem Bett verbracht hätte. Da hätten mein Bett, ich und Zac nichts gegen gehabt.

Ich gähnte herzhaft, verfluche diese Woche und schlurfte neben Lilly aus der Aula.

„Dein Kurs fällt aus?“ fragte sie mich und sah mich musternd an.

Ich nickte müde.

„Und du bist der Einzige von uns in diesem Kurs?“

„Du und Ray und Flo habt Musik, Pat und Julie sind im anderen Kunstkurs!“ antwortete ich leise und sah sehnsüchtig meine Freunde an, die sich verabschiedeten, um zum Kunstkurs im oberen Stockwerk zu gehen.

„Hm“, machte Lilly „hast du Herrn Pieper mal gefragt, ob du den Kurs wechseln kannst?“

Ich zog die Augenbrauen zusammen und sah sie verwirrt an.

Natürlich war ich darauf nicht gekommen, aber mir hatte auch niemand gesagt, dass das möglich war.

Vielleicht konnte ich den Sportkurs wechseln?

„Frag ihn doch mal, kostet ja nichts!“ sagte Lilly, lächelte, umarmte mich kurz und lief dann zu Ray und Flo, die schon auf sie warteten.

„Genieß deine Freistunden!“ sagte Flo, zwinkerte und die vier verließen das Gebäude.

Ich unterdrückte mein Gähnen, drehte mich zu den Tischen um und ließ mich auf einen Plastikstuhl neben der Glastür zum Flur nieder.

Ich seufzte herzhaft, sah mich kurz um, um fest zustellen, dass ich keinen der hier sitzenden Schüler kannte, und legte dann meinen Kopf auf meine Arme, die ich auf der Tischplatte abgelegt hatte.

Schnell wurde es angenehm warm um meinem Gesicht, dann unangenehm heiß.

Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich läge in meinem Bett als die Tischplatte wackelte, ich das Rauschen einer Jeans wahrnahm und schließlich jemand „Hey, Tim?“ sagte.

Verwirrt ob ich meinen Kopf, koordinierte mich kurz und sah dann ein Paar grüner Augen vor mir, die mich vergnügt anleuchteten.

„Ähm“, antwortete ich und musterte den jungen Mann. Er hatte schmale Schultern, helle, reine Haut und tief schwarze Haare. Die waren gefärbt und zu einem schicken Seitenscheitel gekämmt.

„Ich bin Joe“, stellte der hübsche Unbekannte sich vor und zeigte sein perfekt weißes Lächeln.

„Joe?“ antwortete ich mit flagranten, fragendem Unterton. Mein Gegenüber nickte nur „Joe...“

„Okay!“

„Wir haben Kunst zusammen.“

„Hab ich mir irgendwie gedacht.“

„Und Mathe.“ Er lächelte mich an. Mit diesem wissenden Blick.

„Äh...“
 

Joe lehnte sich leise schmunzelnd zurück „Ich kann das voll verstehen.“

„Äh“

„Dass du einen Narren an ihn gefressen hast.“

Er wandte sich um und sah zum Sekretariat. Die große Tür stand offen und durch den Spalt gab sich mein Mathelehrer zu erkennen, der sich mit Herrn Pieper unterhielt.

„Ähm...“

„Ich fand Mathe schon immer ziemlich gut. Aber seit Neuestem ist es einfach nur genial.“

Joe drehte sich wieder zu mir um und lächelte ziemlich lüstern.

„Er ist zum anbeißen.“

„Heißt das, du bist auch...“ ich hielt kurz inne und musterte ihn.

Er nickte „schwul, ja.“

Ich schluckte hart.

Man merkte es ihm nicht unbedingt an. Wahrscheinlich sah man es nur, wenn man es wusste.

Bei mir war das – offensichtlich – anders.

Ich konnte mich einfach nicht zurück halten, ich war so, das war meine Natur.

„Das ist ungewohnt.“ antwortete ich leise und musterte Joe.

„du kennst keine anderen schwulen Männer?“

„äh...“ ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte vorsichtig mit dem Kopf „nicht wirklich...“

Joe kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits mich „das heißt, du hast nie...“ er zog die Augenbrauen hoch und drehte seine Hand.

Ich sog scharf die Luft ein.

Ich konnte mich nicht verstellen, und ich konnte nicht aufpassen, was ich zu wem sagte. Oder generell, was ich sagte.

Schnell versuchte ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: „Du bist jetzt neu hier?“ Er nickte „Von welcher Schule kommst du?“

„Gesamtschule Rothstraße!“

„Ah...“

„Ja...“

„Ich war vorher schon hier.“ erklärte ich und presste die Lippen aufeinander. Ich wusste wirklich nicht, was ich noch sagen sollte. Ihm gegenüber zu sitzen fühlte sich irgendwie ein bisschen peinlich an.
 

Wir schwiegen und wechselten einige Worte und die Anspannung zwischen uns war quasi greifbar. Bis mein Handy klingelte.

Ich nahm das Gespräch entgegen, ließ mir von meiner Mutter sagen, dass sie die Schicht ihrer Kollegin noch übernahm und daher erst später nach Hause kam, sagte ihr, dass ich sie lieb hatte und legte dann wieder auf.

„Billy Talent Fan“, lächelte Joe.

Zuerst sah ich ihn verwirrt an – woher wusste er denn das jetzt? - dann steckte ich mein Handy zurück in meine Tasche und das Wissen kam wie eine Erleuchtung über mich. Mein Klingelton.

„Ähm“, ich nickte verlegen „ja. Ja, eigentlich schon.“

„Ich liebe das neue Album...“
 

An diesem Morgen erfanden wir ein neues Spiel. Wir hatten ihm keinen Namen gegeben und eigentlich war uns auch gar nicht wirklich klar, dass es für uns eine Art Spiel sein oder werden sollte.

„Heißester Typ in Kanada“, lächelte er und musterte interessiert meine Reaktion. Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: „Alex Evans.“

Er verzog überrascht das Gesicht „Nie gehört.“

„Nicht?“

Er schüttelte den Kopf.

„Man.“ Ich lächelte leicht „kanadisches Model und... Fotograf.“ unwissend zucke ich die Schultern „glaub ich. Heiß, auf jeden Fall. Musst du mal googeln.“

Er griente verschmizt.

„Und?“ fragte ich neugierig „heißester Typ in Kanada?“

Jetzt lachte er vergnügt auf und zuckte dann die Schultern: „Weiß nicht, vielleicht... Keanu Reeves oder... hm, Ben Kowalewicz?“

„Hm“, ich legte nachdenklich den Kopf schief, dann nickte ich: „Ja schon, aber die sind so alt...“

Dann lachte er wieder. Er lachte schön.

Es war aufrichtig und unverhüllt, man hörte, dass er es ehrlich meinte.

„Natürlich, die sind alt, aber“ er schielte kurz zum Sekretariat, Herr Branner war nicht mehr da „da kennen wir ja noch jemanden, nicht wahr?“

Ich lächelte beschämt und meine Wangen färbten sich rot.
 

Man sagte ja „da stimmt die Chemie“, wenn man sich außerordentlich gut mit jemanden verstand.

Joe und ich waren ein Traumpaar.

Meine Freunde nahmen ihn ohne Widersprüche in unserem Kreis auf, wir lachten viel, redeten viel und wurden allmählich richtig gute Freunde.

Dass er homosexuell veranlagt war allerdings sollte ich für mich behalten.

Wieso genau verstand ich nicht, er hatte mir nur gesagt, dass das an seiner alten Schule weniger gut aufgefasst wurde.

Er hatte zwar nie beabsichtigt, sich zu outen, aber irgendwie hatte es irgendwer erfahren und schon bald war er monatelang das Thema an der Schule gewesen.

Das hatte ihn gestört und er hatte beschlossen, irgendwie auf zupassen, dass das nicht noch mal passierte.
 

„Jeder hier weiß davon, dass ich schwul bin und niemand tratscht.“ versuchte ich, seine Überzeugung umzuwerfen, doch er schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Das glaubst du.“

Er deutete auf eine Mädchengruppe, die etwas entfernt rechts von uns auf den Tischtennisplatten saß und sich sonnte „deren Lieblingstratschthema bist du. Und die da“ er deutete auf eine Gruppe Sechstklässler, die verdächtig zu mir und Joe rüber

starrten „ekeln sich schon eine Weile vor uns.“

Ich verdrehte genervt die Augen „Ja und? Dann ekeln die sich eben, ist nicht meine Sache.“ ich zuckte die Schultern, rutschte von der Mauer, die den oberen Schulhof vom unteren trennte und griff nach den Riemen meines Rucksacks „komm, die Pause fängt gleich an.“

Und wir gingen zum Schulgebäude, um die anderen abzufangen.
 

Ich hatte mich dagegen entschieden, den Kunstkurs zu wechseln, denn nicht nur, dass ich mit Joe zusammen dort saß, entfielen unsere Stunden auch noch außergewöhnlich oft, sodass ich fast jeden Montag später zur Schule musste; oder Frau Neumann entließ uns sehr viel eher in die Pause als es vielleicht angebracht war.
 

Als ich die Stufen zur Tür hoch lief, achtete ich wie gewohnt nicht direkt darauf, wo ich hin ging... oder vielleicht viel direkter, als es gut war; so besah ich mir meine Schuhe – nebenbei erwähnt wahnsinnig schicke Treter – und wie sie die Treppe hoch stiegen, als zu sehen, ob mir jemand entgegen kam.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht gewesen war, aber als ich die vierte Stufe erreicht hatte, spürte ich einen harten Schlag an meiner Schulter und ich ließ wegen des Rucks den Riemen des Rucksacks los und meine Tasche fiel auf die Kante der Treppenstiege und purzelte von da runter zum Boden.

„Boah man ey du Vollidiot pass doch auf wo du hinrennst...“, fluchte ich laut, als ich dem schwarzen Rucksack hinterher sah, dann schaute ich auf und spürte, wie das Blut gleichzeitig aus meinem Gesicht entwich und hinein schoss, ich musste abwechselnd bleich und rot geworden sein.

„Ähm“, stotterte ich und hob entschuldigend meine Arme.

Natürlich, und das war klar, musste es Herr Branner gewesen sein, den ich umgelaufen hatte.

Er lächelte, er lächelte so liebevoll und besonnen, dass sich die Welt augenblicklich aufhörte zu drehen, der Wind still stehen blieb, mein Herz nicht mehr schlug und es nur noch dieses Lächeln und mich gab.

Er ging schnell die Treppe runter, griff nach meinem Rucksack und reichte ihn mir „Tschuldigung, Tim, mir tuts Leid, war meine Schuld.“

„Äh...“ mit zitternden Fingern nahm ich den Riemen meiner Tasche. Ich sah in diese blauen Augen, die genau mich fixierten. Die meine Augen betrachteten, über meine Wangen fuhren, kurz an meinen Lippen klebten, dann wieder meine Augen ansahen.

Ich schluckte hart, packte den Rucksack richtig und nickte dankend.
 

Er schmunzelte kokett, wandte sich dann ab und ging über den Schulhof zum anderen Gebäude runter.
 

Herr Branner.

Er hatte mich persönlich angesprochen. Hatte mich berührt. Meine Schulter fühlte sich ganz kribbelig an.

Er hatte meinen Rucksack genommen.

Erschrocken sah ich den an, dann lächelte ich verliebt, seufzte glücklich auf und wusste, dass ich jetzt ohne Reue sterben könnte.

Ungenügend reicht nicht aus

„Boah man“, ich griff den Zettel fest und seufzte theatralisch genervt auf „das hab ich ja total vergessen. Wie das nervt.“ ich verdrehte die Augen und reichte den Zettel an Ray weiter.

Der nahm das Stück Papier entgegen und lachte dann vergnügt auf „Oh man.“

„Bescheuertes... blödes scheiß Sommerfest.“

Super angenervt ließ ich mich auf meinen Stuhl neben der Tür zum Flur fallen und legte das Gesicht in die Hände.

„Was ist denn so schlimm?“ sagte Ray-Ray, er zerknüddelte den Zettel, warf ihn zum Mülleimer, welchen er verfehlte, was ihm egal war, und setzte sich zu mir an den Tisch in der Pausenhalle.

„Ich hab voll kein Bock auf diese Scheiße“, erklärte ich und erinnerte mich an die unzähligen Male aus den vorherigen Jahren an das jährliche Sommerfest unserer Schule.

Es war vielleicht ganz spaßig, wenn man in der fünften oder sechsten Klasse war, aber jeder Sommer danach war einfach nur quälend oder unermesslich peinlich.

Die jüngeren Schüler spielten dämliche Spiele, die etwas älteren langweilten sich auf dem Sportplatz zu Tode und die Oberstüfler gaben sich jedes Jahr die Kante.

Und um den Titel als „schlimmere Säufer“ kämpften jedes Jahr die Elfer gegen die Abiturienten, und aus sehr verlässlichen Quellen wusste ich, dass der Dreizehner Jahrgang diesen Titel die letzten beiden Jahre einheimste.

Und das, obwohl sie letztes Jahr gar nicht teilnahmen, an diesem inoffiziellen Wettkampf.

Deshalb auch nur konnten sie den auch gewinnen, weil er eben nicht konventionell war.
 

Ray-Ray lächelte und zuckte gleichgültig die Schultern „ach komm schon Tim. Wir saufen die Dreizehner unter den Tisch, dieses Jahr.“

Ich lachte argwöhnisch auf „Ja klar. Aber du weißt sicher noch, dass dein Bruder in dem Jahrgang ist? Er hat mindestens fünfzig Prozent dazu beigetragen, den Titel der schlimmsten Säufer zu erlangen.“

Ray-Ray nickte selbstbewusst und verschränkte die Arme vor der Brust „Ja. Letztes Jahr haben wir ja nicht dran teilgenommen. Und erinnere dich daran, dass ich viel jünger und vitaler und kräftiger und hübscher und klüger und toller bin als Steve. Den hau ich weg und um die restlichen fünfzig Prozent kümmert ihr euch.“

Ich lächelte.

Und dachte daran, dass ich nicht an diesem Wettkampf teilnehmen sollte.

Wenn das ein Sommerfest der Schule war, dann würde sicherlich auch Herr Branner da sein.

Herr Branner war neu am Neuling-Gymnasium, so wie Joe und diverse andere aus meinem Jahrgang und es wäre ihr erstes Fest.

Joe war verpflichtet, teilzunehmen, Herr Branner wahrscheinlich nicht, er wusste ja gar nicht, was da los war.
 

Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass er kommen würde. Um zu gucken, wie es war.

Die Theater AG aus der Mittel- und Unterstufe würde sicherlich etwas vorführen, auf dem Sportplatz würden die jüngeren Schüler Völkerball- und Fußballspiele spielen und engagierte Mütter verkauften Obsttarteletten.
 

Letztes Jahr, ich war damals frisch fünfzehn geworden, hatte ich mir mit Lilly, Ray-Ray hatte sich den Fuß gebrochen und war deshalb befreit gewesen, eine Flasche Schnaps geteilt und wollten zu zweit allein den damaligen Oberstufenschülern den begehrten Alki-Titel abstreiten, aber die Teilnahme einzelner Schüler war nicht erlaubt und der Rest unseres Jahrgangs hielt sich im Sommer noch stark zurück.
 

Ich hatte meine damalige Französischlehrerin angepöbelt, war halbnackt über den Sportplatz gerannt, hatte dreizehn Tarteletten geklaut und dann, als ich meine Französischlehrerin wieder über den Weg gelaufen war, hatte ich ihr diese auf ihre Sandalen gekotzt.

Das war im Allgemeinen nicht so schlimm gewesen, die Schulleitung wusste, worauf sie sich bei diesem Spektakel einließ und dadurch, dass es jedes Jahr wieder gemacht wurde, gab es eine stille Unterstützung zur Weiterführung dieser Tradition ihrerseits, oder?
 

Ich wollte eigentlich nur sehr, sehr ungern, dass Herr Branner mich so erlebte und ich ihm womöglich auf seine Vans Chukka kotzte.
 

Was sollte er von mir denken?
 

„Tim.“

Etwas mitleidig sah er mich an. Nur mich, als er auf mich zu kam, er wandte seinen Blick kein einziges Mal ab.

Seine Lippen lächelten leicht und vorsichtig, seine Augen waren etwas feucht und anteilnehmend.

„Nicht so gut, hm?“ er beugte sich zu mir vor und reichte mir das unordentliche Pack Blätter.

Ich lächelte schüchtern, zuckte die Schultern und nahm es entgegen, als ich den Blick verlegen sank.

Ich schaute mir die Note gar nicht erst an.

Herr Branners Benehmen war es nicht unbedingt gewesen, das mich wissen ließ, dass die erste Matheklausur beschissen gelaufen war.

Sowas wusste man schon, wenn man vor dem Aufgabenblatt saß und nicht eine einzige Frage verstand. So rein von den Wörtern her.

Herr Branner sah, wie ich die Blätter, leicht verknüddelt, in meine Tasche verschwinden ließ und seufzend die Hände vor das Gesicht hob.

Bisher hatte ich mich immer irgendwie da durch mogeln können und eigentlich hatte ich gehofft, dass es auch so weiter gehen würde.

Aber irgendwie waren die Anforderungen anders und überhaupt.

Alles war gerade doof.

Dann spürte ich die kleine, sanfte Hand von Lilly auf meiner Schulter.

Schnell ließ ich die Hände sinken und sah sie lächelnd an.

„Na?“ sagte sie einfühlsam „nicht so prickelnd, was?“
 

Ich sah zu meinen ineinander gefalteten Fingern, die auf der Tischplatte lagen und zuckte die Schultern.

Was sollte ich tun?

Die Zeit zurück drehen und genau das vertiefen, was in der Klausur dran kam?

Obwohl ich das nicht mal verstand?
 

Auch, wenn ich jeden Montag und Dienstag gerne hier auf meinem Platz neben Lilly in der ersten Reihe saß und ihn anstarrte und versuchte, ihm zuzuhören, nichts von dem, was er redete, drang irgendwie zu mir durch.

Er benutzte so viele Begriffe, die ich noch nie gehört hatte, oder verdrängt hatte, damit andere, wichtigere Gedanken in meinem Kopf Platz hatten, und zeichnete Striche und Geraden in Koordinatensysteme, mit denen ich nichts anfangen konnte.
 

Dafür besah ich mir jede Woche seine Lippen, wenn er sprach. Sie waren schmal und blass und wunderschön.

Ich schaute mir seine langen Finger an, wenn er in seinem Buch oder in seiner Mappe blätterte. Sie waren fahl und ich hätte sie zu gern gespürt, wie sie mich berührten.

Ich sah mir die Bewegungen unter seinem Shirt oder seinem Hemd an, wenn er etwas an die Tafel schrieb, die breiten Schultern, die schmale Hüfte und die dünnen Beine.

Und natürlich sein festes Gesäß, über welchem sich eine Lee Flint oder Levis Rigid spannte.
 

Und ein oder zwei Mal hatte ich mich sogar dabei erwischt, wie ich ihm in den Schritt gestarrt hatte.

Ich war sofort errötet und hatte beschämt dämliche Bildchen in meinen Collegeblock gekritztelt.
 

Als die Schulglocke das Ende der Stunde ankündigte, raschelte es heftig um mich herum und alle packten schnell ihre Blätter, Blöcke und Stifte in ihre Taschen, um eilig das Klassenzimmer zu verlassen.

Wir taten gerade so, als handelten wir uns eine weitere Stunde Mathe ein, wenn wir den Raum nicht schnellstmöglich verließen.

Als ich mir den Riemen meines Rucksacks um die Schulter warf und das Zimmer schon halb verlassen hatte, hörte ich Zacs Stimme in meinen Ohren klingen.

Sie sagte meinen Namen, ganz sanft und verführerisch. Den Tonfall hörte aber nur ich.

Ich verspannte mich, schluckte meinen Missgunst der kompletten Situation runter und drehte mich zu ihm um.

„Hättest du vielleicht noch mal kurz Zeit?“ fragte er. Herr Branner stand neben dem Pult, auf dem sein brauner Rucksack lag und wirkte beinahe schon wie ein schüchterner Junge, der seine Mutter um Süßigkeiten gebeten hatte.

Nahm aber nur ich so wahr.

Verlegen senkte ich den Blick und ließ die anderen Schüler an mir vorbei gehen.

Flo, der meine Schwärmerei nicht so mit bekommen hatte, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und Lilly zwinkerte mir verschmizt zu.

Als Joes schwarzes Haar als letztes den Raum verließ, sah ich verschämt zu ihm auf.

Er lächelte schüchtern.

Und niemand konnte mir sagen, dass ich das nur sehen wollte.

Sein Lächeln war zaghaft.

Er kramte gehemmt in seinen Unterlagen rum, dann setzte er sich mit einer Arschbacke auf den weiß lackierten Tisch und sah mich letztendlich an.

„Tim“, er seufzte beseelt auf „ich glaube, ich habe noch nie eine Sechs unter eine Klausur schreiben müssen.“

„Ähm...“

Das war bestimmt nicht schwierig, wenn man erst zwei Jahre Lehrer war, dachte ich böse, bereute meinen Ton aber sofort und wurde etwas rot.

„Solange wir noch am Anfang sind sollte es eigentlich kein Problem für dich darstellen, dich etwas mit der Materie auseinander zu setzten. Tim.“ erklärte er liebevoll „Wenn du hinterher versuchen willst, da noch was zu machen, kann das viel Zeit und vor allem Nerven kosten.“ Herr Branner griff nach einem Kugelschreiber und klickte einige Male darauf herum.

„Johann ist eigentlich ziemlich gut mit der Sache“, sagte er und ich verzog kurz das Gesicht, bis ich mich daran erinnerte, dass er meinen Freund Joe meinte „und ich sehe, dass ihr... gut miteinander aus kommt?“

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte schnell.

Er lächelte erheitert und nickte dann auch: „Das ist nur eine Idee... oder vielleicht ein Ratschlag. Ich denke nicht, dass er Nein sagen würde, würdest du ihn fragen, dir zu helfen, oder?“

Ich schüttelte schnell den Kopf.

„Gut.“ er lächelte wieder. Ich liebte sein Lächeln.

Er rutschte vom Tisch runter, legte den Kugelschreiber in seine Stifterolle und packte die dann in den Rucksack.

Mein Hals war ganz trocken, als ich mich umdrehte und zwei Schritte zur Tür machte, als ich noch mal seine Stimme hörte

„Und?“

Ich verspannte mich noch mehr und drehte mich wieder zu Herrn Branner um. Er hatte seine Sachen fertig zusammen gepackt und nahm gerade die megafette Mappe vom Tisch „hast du dir das neue Album von Placebo angehört?“
 

Ich hielt die Luft an, als er auf mich zu kam, mit diesem Lächeln, mich fröhlich ansah und, als er mich erreicht hatte, seinen Arm hinter meinen Rücken legte und mich sanft zum Ausgang schob.

Ich schüttelte beklommen den Kopf, schluckte, dann nickte ich: „Ähm... ja, also nein, ich meine... nicht ganz. Nur ein bisschen...“

„Gut.“ Er lächelte wieder, schloss die Tür zu und verabschiedete sich dann, um die Treppe runter zum Lehrerzimmer zu gehen.

Mein Herz raste. Und mein Rücken kribbelte ganz aufgeregt.

Der neuseeländische Halbbruder und unser Mutterkampf

Ich glaubte, Gott, sofern es irgendwo existierte, hatte Schwule nicht besonders gern.

Oder zumindest mich nicht.
 

Ziemlich genervt saß ich oberhalb des Sportplatzes auf der Wiese und beobachtete missmutig die Sechstklässler, die sich ein eher langweiliges Volleyball-Turnier leisteten.

Die waren verdammt wehleidig und wegen jedem harten Schlag wurde das Spiel unterbrochen, ein Finger oder ein Fuß verarztet und Spieler ausgewechselt.

Die Lehrer waren mindestens genauso entnervt von ihren Schülern wie ich von

Ray-Ray und Jan und Pat und Lilly und Julie und Joe.

Ich wandte mich um und sah die meisten Schüler meines Jahrgangs auf der anderen Seite des Platzes auf den Grashügeln sitzen.

Einige Flaschen glitzerten in der Sonne. So dreist waren sie, dass sie sich nicht mal die Mühe machten, die Flaschen und Becher zu verstecken.

Wobei es ein offizielles Alkoholverbot scheinbar nie gegeben hat für diese Veranstaltung, aber die meisten der Schüler waren noch keine achtzehn und daher wäre rein vom Gesetz her doch nur Bier und vielleicht Wein toleriert gewesen, oder?
 

Ich seufzte traurig, legte die Arme auf die angezogenen Knie und versenkte das Gesicht darin.
 

Die Spätsommerluft wehte angenehm warm über den Platz hinweg, die Sonnenstrahlen wärmten meinen Rücken und die Stimmung war geprägt von Gelächter und reiner, unschuldiger Fröhlichkeit.

Zumindest auf dieser Seite des Platzes, wo Alkohol, Zigaretten und Sex noch kein Thema war.

Und die Liebe.
 

Ich seufzte noch mal schwer auf.
 

Herr Branner wusste jetzt, dass sich die Logik mir gegenber gänzlich verschloss und ich mit keiner Mühe dieser Welt es wahrscheinlich jemals schaffen würde, Funktionsrechnungen zu verstehen.

Was hatte er gedacht, als er meine Klausur vor sich hatte und die ganzen, zaghaften Versuche gesehen hatte, irgendetwas richtig zu machen?

Als er die Seite umgeblättert hatte und dort nur schmutziges Gekrakel zu sehen war und als er festgestellt hat, dass ich absolut nichts richtig hatte?

Ob er schweren Herzens das Ungenügend darunter geschrieben hatte? Ob er aufgeseufzt hatte und ich ihm Leid tat?
 

Kurz lächelte ich verliebt auf, als ich Rascheln der Wiese wahrnahm und sch ein schwerer Körper neben mich ins Gras fallen ließ.

Ich verdrehte die Augen und sah auf, erstarrte kurz, weil es so hell war außerhalb meiner gemütlichen, kleinen Kopf-Auf-Knie-Welt und sah dann in zwei mir sehr bekannte, blaue Augen.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, verzog angesäuert mein Gesicht und drehte mich halb von Josh weg „was willst du?“

Er lachte vergnügt, legte seine Hand auf meinen Kopf und wagte es, meine Frisur zu ruinieren, als er durch das Haar strich „nichts.“

„Dann verschwinde wieder.“

„Nicht doch“, sagte er freundlich und legte jetzt seine Arme um meine Schultern

„mein kleiner, schwuler Freund. Ich wollte dich fragen, was du so allein hier oben machst? Wieso bist du nicht bei Anderen und trittst gegen mich an?“

Ich brummte genervt, befreite mich aus seine unangenehmen Umarmung und rutschte etwas von ihm weg.

„Timmi“, nuschelte er weiterhin freundlich „was ist los?“

„Selbst, wenn irgendwas wäre, was ginge es dich an?“ antwortete ich sauer und genervt und so böse, wie ich konnte.

Josh rutschte seinerseits näher zu mir, legte wieder seine Arme um mich und zog meinen kleineren, schwächeren, dünneren Körper an sich heran und drückte mich fest in eine Umarmung, die ziemlich unangenehm nach Rum und Cola roch.

„Mein armer Timmi, dich bedrückt was.“ nuschelte er in mein Haar und ich erschauderte, als ich daran dachte, dass meine schöne, blonde Frisur jetzt nach Barcadi roch.

„Josh“, quängelte ich „lass mich los.“ und drückte ihn weg.
 

Josh war einen Kopf größer als ich, Josh war fitter und trainierter als ich und er war deutlich beliebter als ich.

Mich störte dass ganz und gar nicht, ich brauchte nicht von allen aus der Oberstufe geachtet und verehrt zu werden, mir reichte es aus, wenn Ray-Ray und Lilly da waren und ich von Zac Efron schwärmen durfte.

Schlimm wurde der Umstand für mich, als wir im Philosophieunterricht saßen und Herr Stein von Anthropologie berichtete, und das ganze so dermaßen langweilig war, dass Lilly neben mir tatsächlich eingeschlafen war und ich in meinem Collegeblock keinen Platz mehr fand, um rumzukritzeln.

Wie ich so meine Deutschmitschrift betrachtete, als Herr Stein auf einen gewissen rechtsradikalen Gehlen zu sprechen kam, fand sich plötzlich ein zusammen geknüddeltes Zettelchen auf meinem Platz wieder.
 

Verwirrt hob ich den Kopf und erblickte Joe, der mich rabiat angrinste und deutete, dass ich den Zettel lesen sollte.

Ich nahm das Papier, entfaltete und las den Satz „heißester Typ der Oberstufe“ und musste lachen.

Herr Stein fragte mich, ob ich Gehlenes Auffassung vom Menschsein zum Lachen fände, ich entschuldigte mein Benehmen und sah mich dann im Kurs um.
 

Die Jungs hier waren nicht gerade ansprechend, ganz und gar nicht, was ich von einem Mann erwartete.

Ich seufzte also nachdenklich und erinnerte mich an die Gesichter und Körper meiner Mitschüler.

Auf Anhieb fiel mir keiner ein, dachte ich, also gab es wohl keinen besonders auffällig attraktiven Mann in der Oberstufe und zuckte einfach die Schulten.

Joe hob die Augenbrauen, forderte den Zettel zurück und schrieb sofort, als ich ihn ihn zugeworfen hatte, etwas drunter.

Er faltete ihn zusammen und warf ihn mir wieder zu.

Da stand „Josh Sutherland aus der 13?“.

Ich ekelte mich kurz, dann erschauderte ich, um die Gänsehaut los zu werden und schüttelte dann angewiedert den Kopf.

Er sah mich überrascht fragend an, ich deutete ihm, dass ich dem Unterricht folgen wollte und bekam noch mit, dass Gehlens Auffassung von der menschlichen Natur eigentlich ziemlich spannend war.

Als es klingelte und der Unterricht vorbei war, hatte ich gar keine Gelegenheit, mich auf Herrn Branner zu freuen, weil ich einfach mal total sauer auf Joe war.

„Was ist los?“ fragte er mich und sah mich höchstgradig verwirrt an.

„Bah“, antwortete ich etwas laut „wie kannst du auf Josh stehen?“

Er zuckt verwirrt die Schultern „Josh ist sexy.“

„Nein“, antwortete ich piepsig und ging weiter die Treppe runter zum Schulhof „Doch!“ rief er mir nach und ich hörte Lilly, die ihn irgendwas von „er hat seine Tage“, erklärte.
 

Später fand Joe raus, dass Josh mein blöder, älterer Halbbruder war und verstand, wieso ich mich geekelt hatte, als er ihn für den heißesten Typen aus der Oberstufe

erklärt hatte, verstand aber nicht, wieso ich ihn hasste.

Josh war dieser Umstand scheinbar total egal und um so mehr ich ihn bat, mich einfach in Ruhe zu lassen, desto mehr schien er um mich herum zu sein.

Sein bester Freund war Stefano Schuster, Rays älterer Bruder, was den Umstand, ihn zu ignorieren, noch viel schwieriger machte, als es sowieso schon war.
 

Mein Vater, Thomas Jung, hatte in seiner Studienzeit an der Schauspielschule eine deutlich jüngere Ausstauschstudentin aus Neuseeland geschwängert und sich sechs Monate nach Joshs Geburt von ihr getrennt.

Nachdem Joshs Mutter ihr Studium dann an der Schauspielschule abgebrochen hatte, aufgrund diverser, privater Probleme, die ich nicht weiß und nicht wissen will, hat sie ihr eigenes Kind einfach bei Papa abgeladen und ist Hals über Kopf zurück nach Neuseeland geflogen.

Da standen mein Papa und meine Mama dann mit dem kleinen, zurück gelassenen Jungen.
 

Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass er immer bevorzugt und mehr liebgehabt wird, als ich.

Wenn meine Mama mich mal verstoßen hätte, wäre ich jetzt vielleicht zwei Meter groß, sportlich, attraktiv und umworben von reizvollen Jungs.
 

Dabei haben sich meine Eltern auch getrennt, ich bin auch ein Scheidungskind, auch, wenn Mama und Papa nie verheiratet waren, ich sollte auch liebgehabtwerden.
 

Josh wusste um mein Faible für Männer, ganz im Gegensatz zu meinen Eltern.

Natürlich beanspruchte Josh meine Mutter gewissermaßen auch für sich und betrachtete sie irgendwie auch als seine eigene – was mir auch nicht passte, sie war meine und niemanden sonst'st Mama! – und war trotz meiner Abneigung ihm gegenüber immer so nett gewesen, ihnen nichts von meiner vermeintlichen Homosexualität zu erzählen.
 

Ich war sauer auf Joe gewesen, weil ich wenigstens meine Freunde auf meiner Seite dieses Mutterkampfes, den es nur in meinem Kopf gab, haben wollte.

Joe nickte verstehend, fand Josh weiterhin sexy und lachte darüber, wie „niedlich“ ich mich darüber aufregte.
 

„Timmi weiß, dass er mir alles sagen kann!“ sagte Josh und ließ mich dann los.

Er zwinkerte mich verschmitzt an, stand dann auf und ging zu seinen Freunden, die ihn schon gerufen hatten.

„Bäh.“ rief ich ihm nach, er winkte mir lächelnd zu und verließ dann mit der Gruppe Abiturienten den Sportplatz.
 

Dann sah ich zu meiner Uhr und stellte voller Glückseligkeit fest, dass das Fest offiziell vorbei war und uns nun nichts mehr hier auf dem Sportplatz hielt und stand auf, streckte mich und ging rüber zu meinen Freunden.

„Tiiiim“, rief mir Ray-Ray entgegen und umarmte mich sehr leidenschaftlich, als ich mich neben ihn in das Gras fallen ließ „Wo warstnzuhölle nochmal du dummer Junge“, nuschelte er gegen meinen Hals und ich verdrängte die assoziative Erinnerung an meinen Halbbruder „Und wieso bist du nicht betrunken?“

sagte er dann und lehnte sich böseguckend zurück um mich anzusehen und zu mustern.

„Ray“, sagte ich leise und entschuldigend.

Er schnaubte und ließ sich rücklings ins Gras fallen „Joe hat nach dir gefragt, er hat dich gesucht.“

Ich nickte.
 

Ray-Ray richtete sich auf, hielt mir seine Hand entgegen und lallte: „Komm.“

„Wohin?“

„Na... wir gehen jetzt in die Stadt, was essen und dann in Pub.“

„Was?“ ich stand vom Boden auf, ohne Rays Hilfe in Anspruch zu nehmen, ich hatte Angst, dass er umfallen würde, wenn er versuchen würde, mich hochzuziehen.

„Na das hab ich doch gesagt, dass wir heute im Pub feiern.“

„Nein, hast du nicht.“

„Nicht?“ nachdenklich legte er den Kopf schief und ich schüttelte heftig den Kopf „Nein, hast du nicht.“

„Is aber auch egal, Tim, als mein bestester Freund solltest du so oder so wissen, dass ich mein siebzehntn Geburtstag mit euch feiern will.“

„Wie...?“

„Und du solltest wissen, dass der heute ist!“ Er stemmte angesäuert die Hände in die Hüfte.

„Moment mal“, sagte ich überrumeplt, ordnete meine Gedanken und seine Aussagen und sagte dann: „Erstmal bin ICH die schwule Zicke von uns beiden, klar?“
 

Wieso hatte ich ausgerechnet das gesagt?

Und wieso ausgerechnet jetzt?

Wieso in diesem Moment, als Herr Branner hinter mir auftauchte, um uns zu verabschieden?

Und wieso waren Ray-Ray und Pat so schrecklich betrunken?
 

„Hallo, Herr Branner!“ sagte Ray und winkte blöd.

Ich erstarrte Augenblicklich und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

Ich kam nicht im entferntesten auf die Idee, dass er sich einen Scherz erlauben könnte, ich wusste, Herr Branner stand wirklich hinter mir.
 

Leichenblass drehte ich mich um. Da stand er. Mein eigener Zac Efron.

Er lächelte verstört und wirklich irgendwie unsicher und verwirrt.
 

Wahrscheinlich sah nur ich das aufgewühlte Verhalten.
 

„Na“, sagte er und lächelte verlegen „wie geht’s euch?“

„Subber!“ sagte Ray und grinste dermaßen blöd, dass ich mich für ihn gleich mit schämte.

„Schön“, er zog die Augenbrauen hoch, schlug die Hände zusammen und schien so, als würde er jetzt nicht mehr weiter wissen mit der Konversation.

„Und, Tim“, sagte er dann und sah mich musternd an – ich errötete sofort „hast du mit Johann geredet?“

Ich schluckte hart, schaute mich unauffällig um, um zu sehen, ob Joe in der Nähe war und nickte dann und schüttelte gleichzeitig den Kopf „Irgendwie...“ sagte ich, dann wurde ich von Lillys dämlichen Gekicher abgelengt.

Verwirrt sah ich sie an, die mindestens genauso rot war, wie ich und sich über Herr Branners Anwesenheit scheinbar köstlich zu amüsieren schien.

Dann beugte die Ray vor, legte tatsächlich seinen Arm um Herrn Branner und machte mich unfassbar eifersüchtig damit.

Aber das war nicht mal annähernd so schlimm, wie das, was Ray jetzt sagen würde: „Sie sind verdammt aktaktiv, Herr Branner.“

Eine Entschuldigung, der man nicht widerstehen kann

Von draußen drangen Motorengeräusche vieler Autos in mein Zimmer, alle fünf Minuten bimmelte eine Straßenbahn und dämliche Vögel zwitscherten vergnügt, um ihre Freude über den neuen Tag zum Ausdruck zu bringen.

Ich zog die Nase hoch, seufzte missmutig und zog die Bettdecke noch enger über meinen Kopf.

Dann klopfte es an der Tür, meine Mutter kam ins Zimmer und sagte: „Tim? geht’s dir besser?“ sie kam zu meinem Bett, setzte sich auf die Kante und zog die Decke von meinem Gesicht.

Ich sah sie aus müden Augen heraus an, so leidig, wie ich nur konnte und zog nochmal theatralisch meine Nase hoch und tat, als könne ich nur durch den Mund atmen.

„Mein Armer“, sie strich mir über die Stirn und seufzte mitleidig „hat es dich voll erwischt, hm? Willst du noch zu Hause bleiben?“
 

Ich nickte und kuschelte mein Kinn enger an die Decke, die sie weggezogen hatte.

„Nagut, Liebling“, Mama tätschelte noch mal meine Stirn, dann stand sie auf und ging zu meinem Fenster, um es zu schließen „Dann ruh' dich noch ein bisschen aus. Ich komm erst heute Abend nach Hause, hab eine 12-Stunden Schicht, meinst du, du schaffst das allein?“

„Ich werd eh nur schlafen“, antwortete ich träge, als ich mich im Bett umdrehte und mich viel mehr in meine Decke kuschelte.

„Gut, ich bring dir was von der Arbeit mit. Schlaf dich schön aus, hab dich lieb.“ Sie beugte sich über mich, drückte mir einen Kuss aufs Ohr und ging dann zur Tür und bevor sie die von außen wieder schloss, antwortete ich noch „Ich dich auch, Mama.“
 

Nachdem ich mir irgendwann in den letzten Tagen eine Erkältung eingefangen hatte, die aber sehr schnell abklang, hatte ich es dennoch irgendwie geschafft, dass ich nicht mehr zur Schule musste.

Und ich wollte auch gar nicht mehr dahin zurück, nie wieder am liebsten. Ich wollte auf keinem Fall Herrn Branner begegnen, nachdem Ray-Ray und Pat mich am vergangenen Freitag so oberpeinlich geoutet hatten, und noch viel weniger wollte ich Ray oder Pat oder Joe sehen, und Lilly oder Julie oder Flo auch nicht, da sie nämlich nur blöd rumdrucksend da neben gestanden, aber nichts getan hatten.
 

Meine Mutter war die hübscheste Frau der Welt, Anfang Vierzig, sah aus, wie Zwanzig, uns hielten alle für Geschwister, hatte schöne, lange, glatte, blonde Haare, ein wohl geformtes Gesicht und war dazu noch sehr attraktiv. Und das konnte ich alles natürlich aus rein objektiver Sicht sagen, Töchter durften Mütter so betrachten, so auch schwule Söhne. Auch, wenn Mama nichts davon wusste.

Sie arbeitete als Krankenschwesteer in der alten Klinik Blankenstein und verdiente angeblich so wenig, dass sie immer darüber jammerte.

So auch, als ich ihr den Zettel über die Stufenfahrt gegeben hatte.

„100 Euro?“, hatte sie überrascht gesagt „das ist aber viel.“

„Ist doch erst im Dezember“, hatte ich geantwortet und war davon ausgegangen, dass man hundert Euro in drei Monaten hätte zusammen sparen können.

„Ja, schon, aber du weißt, unser Monatsgeld ist haarklein abgestimmt... wir müssten...“

Ich unterbrach sie mit einem genervtem Seufzer „Mama, rauch einfach weniger, dann geht’s schon!“

Sie kniff die Augen zusammen und schielte zu ihrer Zigarettenschachtel, die auf dem Küchentisch lag, seufzte dann, strich mir über den Kopf und nickte: „Du hast recht, ich muss aufhören.“
 

Ich hatte am Montag schon eine SMS von Lilly bekommen, in der sie fragte, wo ich denn sei, und mir kurz mitteilte, dass wir den Alki-Titel bekommen hätte und sie am Nachmittag im ICQ online sei.

Ich blieb offline.

Denn mein Sauersein erstreckte sich über Tage hinweg und ich schaffte es nicht so einfach, ihr oder Ray oder den anderen zu verzeihen, dass sie sich so bescheuert aufgeführt hatten.

Natürlich kam ich nicht im geringsten auf die Idee, dass ich derjenige war, der sich jetzt bescheuert aufführte.
 

Mittlerweile war es Donnerstag und da ich mich nicht einmal bei Lilly oder Ray oder den anderen gemeldet hatte, machte sich Sorge im Freundeskreis breit.

Wobei die natürlich wesentlich krasser ausgefallen wäre, wenn am Freitag nicht dieser Vorfall gewesen wär.

Sie dachten sich wahrscheinlich, dass ich peinlich berührt, gedemütigt und deprimiert in meinem Bett lag und über die Hoffnungslosigkeit der Liebe zu älteren Lehrkörpern oder entfernten Disney Channel Schauspielern nachdachte und machten deshalb nicht einen so penetrant extremen Wind um meine Abwesenheit in der Schule.

Unter normalen Umständen wären Lilly und Ray schon am Dienstag vor der Wohnungstür gestanden und hätten Sturm geklingelt, jetzt kam nur täglich eine SMS in der sie fragten, wie es mir ginge.

Und am Mittwoch entschuldige sich Ray sogar.
 

Nichts desto Trotz schoss mir das Blut schon in die Wangen und ich fing an, zu zittern, wenn ich nur daran dachte, Herrn Branner über den Weg zu laufen.
 

Ich machte mir einen gemütlichen Tag, hörte über den iPod im Bett Placebo, aß eine Tafel Milka Traube Nuss und schaute Scrubs auf DVD.

Gegen halb vier klingelte es dann tatsächlich an der Wohnungstür. Ich schaute auf die Uhr an meinem Computer und stellte fest, dass das nicht meine Mutter sein konnte.

Gähnend stand ich auf, warf beim Vorbeigehen am Bad ein Blick in den Spiegel, ignorierte, dass ich noch meine Schlafhose und ein altes, buntes T-Shirt aus meinen Kindertagen (ich war so schmächtig, es war mir nur etwas zu kurz, nicht aber zu eng) trug, war mir egal; nur meine durcheinander gebrachte Frisur beunruhigte mich etwas.

Ich strich die blonden Strähnen unsanft über meine Stirn, dann ging ich zur Wohnungstür und öffnete sie.

Ray-Ray war genau fünf Centimeter größer als ich, und das reichte schon, dass ich zu ihm aufschauen musste.

„Was willstn du hier?“ sagte ich, und bemühte mich, dabei vollkommen gleichgültig zu klingen.

Rays Schultern zuckten „Du hast dich sechs Tage lang nicht gemeldet, ich wollte wissen, wie es dir geht.“

Er lächelte so lieb und herzerweichend und starrte mich aus seinen dunklen Augen so unglaublich liebevoll an, dass ich ganz vergessen hatte, wieso ich ihm aus dem Weg ging.

Ich seufzte erfreut auf und ging zur Küche.

Ray kam in die Wohnung, schloss die Tür, zog seine Schuhe aus, pfefferte sie in die Schuhecke und folgte mir dann.

„Ich mach mir gerade essen“, erklärte ich und befreite Minipizzen von der Plastikfolie „willst du auch?“

„Und wie, hab n Bombenhunger, Frau Hoppe hat uns tierisch dran genommen in Sport.“ Antwortete Ray und machte es sich auf Mamas Platz am kleinen Küchentisch gemütlich, nahm seinen Collegeblock aus seiner Tasche und ließ diese dann auf die Fliesen fallen „ich hab alle Arbeitsblätter für dich und Mitschriften aus den wichtigen Fächern. Wir haben in spanisch eine neue Lektion angefangen und müssen die Vokabeln bis nächste Woche gelernt haben“, erklärte Ray und blätterte blöd in seinem Block rum, doch ich ignorierte ihn, denn als sein Rucksack auf dem Boden gekippt war, war etwas äußerst reizvolles für mein Auge heraus gerutscht.

Ich schob das Blech mit den zwanzig Pizzen in den Ofen, bevor ich mich zur Tasche bückte und eine weiße DVD-Hülle griff.

Es war also Herr Branners Gesicht gewesen, das mich von da unten angestarrt hatte.

Ich war entzückt und strahlte wahrscheinlich über das ganze Gesicht bis nach Norwegen und Griechenland über diese Entdeckung.

„Was ist denn das?“ fragte ich und drehte mich vergnügt zu Ray um.

Der hielt in seinem Geschwafel inne und sah mich zuerst fragend, dann lächelnd an.

„Ach so, hm, die hab ich dir gekauft“, er deutete mit seinem Stift verlegen auf die DVD in meiner Hand „das ist doch Zac Efron, auf den stehst du doch. Sein neuer Film.“

„Uuuuhm“, machte ich voller Freude, beugte mich vor und umarmte Ray so heftig, dass ihm der Stift aus der Hand fiel „danke danke danke danke danke!“ rief ich aus und hüpfte vergnügt auf den Zehenspitzen auf und ab.

„Die Regeln“, nuschelte er mir ins Ohr, aber ich ignorierte ihn.

Wir waren immerhin in meiner Küche und nicht in der Öffentlichkeit, niemand sah uns.
 

Wir aßen die Pizzen, ich ignorierte die Dokumente, die Ray mir brachte und wir schauten uns, er etwas widerwillig, den Film an, den er mir gewissermaßen als Entschuldigung gekauft hatte.

Zac Efron spielte den Typen, der durch mysteriöse, magische Umstände vom vierunzdreißigjährigen Versager wieder siebzehn wird und mit seinen verblödeten und hässlichen Kindern wieder zur High School geht.

Wobei Ray anmerkte, dass er die, die seine Tochter im Film spielt, ziemlich heiß fand.
 

Am Freitag, nach dem Sommerfest, als Ray Herrn Branner diesen unmissverständlichen Antrag gemacht hatte, hielt der arschbesoffene Pat es für angebracht, ihm noch zu erzählen, dass er „heiß wie Zacfrom!“ war.

Herr Branner war total verwirrt, ich war total sauer, da tauchte Joe auf, begrüßte den Lehrer lächelnd, vergnügt, als wenn nichts wäre, legte seinen Arm um meine Taille und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe.

Sowohl mir als auch Herrn Branner wichen augenblicklich alle Züge aus dem Gesicht, doch, wie immer, sah nur ich das und er schien sich sehr schnell wieder fassen zu können.

Er räusperte trocken, befreite sich aus Rays Umarmung, wünschte uns ein schönes Wochenende und ging irgendwie angespannt davon.
 

Nach dem Film erzählte mir Ray, wie wir es geschafft hatten, den Alki-Titel zu bekommen und dass wir es fast ganz allein ihm zu verdanken hätten.

„Wobei Steve immer noch findet, dass du den bekommen solltest weil du letztes Jahr Frau Lavie angekotzt hat“, erklärte er auch und schob sich eine Hand voll M&Ms in den Mund.

Ich verdrehte die Augen und dachte an diesen Tag zurück.

Die Frau war furchtbar erzürnt gewesen, aber das war sie eigentlich immer, also im Grunde kein großes Theater.

Ich hatte tagelang danach schreckliche Kopfschmerzen und mir war furchtbar schlecht, im Französischkurs war ich aber der Held.

Deswegen war es, obwohl diese Aktion unvoreingenommen wahrscheinlich viel peinlicher war, als ein lächerliches Coming-Out vor einem unglaublich hinreißenden Mathelehrer, letztes Jahr nicht so schlimm gewesen, nach dem Fest wieder in die Schule zu gehen.
 

„Mich allerdings“, erklärte Ray und deutete auf seine Brust „halten die jetzt allerdings für schwul.“

„Was?“ fragte ich aufgeregt und drehte mich ganz zu ihm um „Wieso?“

„Na weil ich Herrn Branner deine Verliebtheit gestanden habe.“ sagte er und rollte genervt mit den Augen „ich hab nicht wirklich gut rübergebracht, dass ich für dich gesprochen habe“, er tippte mit seinem Finger auf meiner Brust herum „und das kam irgendwie so rüber, als würde ich das meinen.“

Ich gluckste „und Herr Branner?“

„Nichts“, er zuckte mit den Schultern „tut so, als sei nichts. Na ja, hat nach dir gefragt und ich könnt schwörn, der hätte mir... eine art betörenden Blick zugeworfen, aber irgendwie schein ich mir das in dieser ganzen Tiefe der Peinlichkeit nur eingebildet zu haben.“

Was ich mysteriös fand, da ich mir scheinbar auch immer eine Menge doch recht eindeutige Blicke, Gesten und Mimiken von und bei Herrn Branner einbildete.

„Auf jeden Fall habe ich jedes Recht, sauer auf dich zu sein.“ meinte er dann und ich hob verwirrt eine Augenbraue „wieso denn das?“

„Na, die halten mich wegen dir für schwul!“

„Ich kann ja nichts dafür, wenn im Suff irgendwelchen Kerlen gestehst, dass du sie“ ich gestikulierte Gänsefüßchen „aktaktiv findest.“
 

Wir sahen uns kurz ernst an, dann lachten wir los.
 

Deshalb war Ray-Ray mein bester Freund.

Natürlich könnte er ein noch besserer Freund sein, wenn er mit mir nur einmal High School Musical gucken würde.

Brian verbindet

Trotzdem hatte ich ein merkwürdig flaumiges Gefühl im Magen, als ich am Montagmorgen aus de Bus stieg und zur Schule runter ging.

Auch, wenn es so ausgesehen hatte, dass es Ray war, der in Herrn Branner veknallt war, und dass Herr Branner quasi so tat, als sei gar nichts passiert, hatte ich dennoch irgendwie Angst, ihm zu begegnen.

Und Joe.
 

Er war auf jeden Fall angeheitert gewesen, als er beim Sommerfest zu uns stieß und unmissverständlichen gestikuliert hatte, wie er angeblich zu mir stand.

Dadurch war nun auch für Herrn Branner klar, dass ich schwul war und er musste denken, wir seien eine kleine, homosexuelle Gruppe von Freunden, die es höchstwahrscheinlich noch mit allen gegenseitig tat.

Oh Gott.
 

Ich verfluchte Joe und alle anderen leise, als es um acht Uhr zum Unterricht klingelte, mein Kunstkurs aber, wie so oft, ausfiel und mir nichts anderes übrig blieb, als genervt und müde auf meinem Stuhl in der Pausenhalle sitzen zu bleiben.

„Genieß deine Freistunden“, hatte Flor gesagt, dann waren er, Lilly und Ray zum Musikunterricht im anderen Gebäude, und Julie und Pat zum Kunstkurs im oberen Stockwerk gegangen.
 

Ich seufzte genervt, kannte nach wie vor niemanden, der in Pausenhalle verweilte, die Menge löste sich so wie so ziemlich schnell auf. Wer war schon so blöd, und kam Montagmorgen früher?

Außer mir natürlich, der ich nicht wusste, dass Kunst ausfallen würde, Joe und der Rest meines Kurses allerdings schon.
 

Also griff ich in meinen schwarzen Burton-Rucksack und nahm meinen iPod hervor, steckte mir die charakteristischen, weißen Ohrhöhrer in die Ohren, schaltete den Player an, der ging jedoch sofort wieder aus.

Verwirrt schaltete ich de iPod noch mal an, er leuchtete auf, dann ging er wieder aus.

„Scheiße“, nuschelte ich noch genervte, riss mir die Ohrhöhrer wieder aus den Ohren und pfefferte das Gerät deutlich angenervt zurück in den Rucksack.

Wie konnte der Akku jetzt leer sein?

Jetzt?
 

Ich zog die Knie auf meinen Stuhl, legte die Arme um sie und den Kopf in die Arme.

Hallo, gemütliche Kopf-Auf-Knie-Welt, ich bin's, Tim Müller und ich könnte heulen, alles läuft irgendwie beschissen heute.

Noch prekärer wurde die Angelegenheit, als sich jemand zu mir an den Tisch setzte.

Ich vermutete Joe, wie letztes Mal, doch der war sicher zu Hause und schlief noch.

Dann dachte ich an Josh, wie beim Sommerfest, doch wenn der die ersten Stunden frei hätte, wäre der garantiert nicht hier und würde ausgerechnet mich in meiner Schwermut ermutigen wollen. Es war zwar sein Fachgebiet, in den unangenehmsten Situationen zu nerven und anwesend zu sein, wenn man ihn nicht wollte oder brauchte, aber selbst ein Montagmorgen konnte diese Nervensäge in die Knie zwängen.

Da mir sonst niemand einfiel, der sich neben mich setzten würde, zog ich konfus die Augenbrauen hoch, hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und sah dann ihn neben mir sitzen.

„Zac...“ nuschelte ich verwirrt. Dann lächelte er. Dieses blöde Lächeln.

Es war bezaubernd.

„Alles klar?“ Fragte er und mir blieb die Luft weg „Ähm.“
 

„Gehts dir wieder besser?“

„Ähm“

„Warst du die ganze Woche krank, hm?“

„Äh...“, ich hob die Hand zu meinem Mund, räusperte mich und nahm mir gleichzeitig vor, eine normale Konversation zu führen, mit richtigen Wörtern.

„Erkältet“, antwortete ich leise „wahrscheinlich vom Sommerfest.“

Er nickte lächelnd, etwas verwirrt.

„Weil ich den ganzen Tag auf der Wiese gesessen hatte“, erklärte ich schüchtern.

Wieder nickte er lächelnd, diesmal verstehend.

„Und was machst du hier?“ Fragte er und sah zur großen Uhr hoch, die an der Wand über den Türen zum Sekretariat hing.

Ich seufzte genervt auf „Kunst fällt aus und ich hab's nicht gewusst.“

„Oh, so ist das!“ sagte er lächelnd.

Das Lächeln war so schön.

Und ich vergaß, wieso ich überhaupt Angst gehabt hatte, ihm zu begegnen.

„Ich hätte eigentlich jetzt den Mathe LK der Dreizehner.“ fing Herr Branner an, zu erklären „aber die sind nicht aufgetaucht.“

Er zuckte die Schultern „irgendsoein Streich. Wobei es ja noch etwas zu früh ist, für Abistreiche, oder?“ Herr Branner sah zu seiner Uhr.

Ich nickte „Ja, irgendwie schon.“

Das klang eindeutig nach meinem bescheuerten Halbbruder, der kam am Laufenden Band auf solche dummen Ideen, und ich erwartete nur mit (Ehr)furcht die Abistreiche dieses Jahr, die garantiert fast alle auf seine Kappe gehen würde.

Blödes, verwöhntes Kind.
 

Ich spürte Herr Branners musternden Blick auf mir.

Ich schluckte. Ich wusste nicht so wirklich, was ich tun sollte.

Dann tat er etwas, was ich mir nicht mal mit viel Mühe vorstellen konnte, dass er, Zac Efron oder irgendwer sonst auf der Welt, das jemals tun würde.
 

„Hey Tim, du stehst doch auf Kaffee?“

„Ähm?“ ich zog verwirrt die Augenbrauen hoch

„Ich kenn' eine gute Bäckerei“

„Kaffee?“ ich sah ihn scheinbar viel perpelexer an, als ich eigentlich war

„Du wirkst noch ziemlich neben dir stehend“, antwortete er freundlich. Und lächelte.

Das andere Lächeln. Das wunderschöne Lächeln.

„Aber, aber aber“, sagte ich, als Herr Branner aufstand „Sie sind doch mein Lehrer!“
 

Der Satz, den ich aussprach, stach mir tief ins Herz, ich fasste mir kurz an die Brust; doch der Knoten löste sich, als er antwortete: „Betrachte mich eben nicht als deinen Lehrer!“

Er lächelte.
 

Ich liebte sein Lächeln.
 

Unser zweisames Beisammensein war total kribbelig in meinem Körper, ich zitterte teilweise sogar so sehr, dass ich den Kaffeebecher abstellen musste.

Die Kommunikation blieb eher spärlich, ich wusste nicht wirklich, was ich hätte sagen oder erzählen sollen und Herr Branner selbst schien teilweise auch irgendwie verlegen.

Er frage mich, ob es mir zu Hause gut ginge, und da ich die Frage nicht verstand, nickte ich einfach und antwortete mit Ja.

Wir drucksten eine Weile blöd rum, dann kamen wir irgendwie auf Musik zu sprechen, auf meinen iPod und die doch etwas ungewöhnlichen Farbe, dann auf Placebo und am Ende schwärmten wir uns beide einen was über Brian Molko vor.

Es war trotz anfänglicher Schwierigkeiten so ausgelassen, mit Herrn Branner zu reden, dass ich vergaß, angespannt zu sein und ganz hingerissen von Brian Molko und später Steve Joachim erzählte und auch vergessen hatte, dass es mir ein winziges bisschen peinlich war, dass ich schwul war.

Jetzt war es so oder so raus.

Dass und wie er über Brian Molko sprach, wurde mir in diesem Moment nicht bewusst.
 

Voller Glückseligkeit erwartete ich meine Freunde am Anfang der Pause an unserem Pausenstammtisch.

„Wasn mit dir los?“ fragte Ray misstrauisch, als er die ausgelassene Freude in mir wahrnahm.

„Nichts“, trällerte ich vergnügt und lächelte weiter doof vor mir rum.

„Okay“, sagte Ray, setzte sich auf seinen Stuhl neben meinen und konnte nicht aufhören, mir immer wieder skeptische Blicke zu zuwerfen.

Gerade, als er zum Sprechen ansetzte, erblickte ich Josh und Steve in die Pausenhalle treten.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, stand auf und ging schnurstracks auf meinen Halbbruder zu.

„Josh“, rief ich, als ich fand, dass ich nah genug dran war, und neben seinem drehten sich auch einige andere Gesichter zu mir um.

„Timmi“, entgegnete er fröhlich und nahm meinen wehrlosen Körper, als ich nah genug dran war, ungefragt und etwas zu heftig in eine Umarmung.

Und er ließ mich nicht mehr los.

Steve und die anderen Dreizehner lachten leise darüber und ich verdrehte genervt die Augen.

„Ich muss mit dir reden“, sagte ich ernst, Josh schmiegte sein Gesicht an mein Harr und nickte „Was gibt’s, mein kleiner, schwuler Freund?“

Ich brummte noch genervter, versuchte, mich weg zudrücken, spürte dabei seine trainierte Brust durch das T-Shirt, war davon kurz etwas irritiert, fing mich wieder und fragte dann angesäuert „tust du mir einen Gefallen?“
 

Er nahm ernstere Züge an, ließ mich endlich los und sah dann zu mir herab „was denn, mein kleiner Freund?“

Ich ignorierte den versteckten Kommentar über meine Körpergröße, der gar nicht da war, ballte die Hände zu Fäuste, um meine irrationale Wut zu unterdrücken und sagte: „Ärger Herrn Branner nicht mehr so!“
 

Er hob verwirrt eine Augenbraue „Wie bitte?“

„Du hast doch Mathe bei ihm.“ sagte ich gepresst und Josh nickte.

„Dann mach nicht mehr so'n Scheiß wie heute.“

„Was meinst du?“

„Na, einfach nicht zum Unterricht kommen. Das ist unfair!“ sagte ich etwas lauter.
 

Josh lachte vergnügt auf, legte dann seinen Arm um meine Schulter und ging mit mir ein paar Schritte von der Menge weg „soll das heißen, du bist verknallt in ihn?“
 

Ich lief rot an und verpsannte mich deutlich.
 

„Ach nein, wie süß!“ entgegnete Josh. Er stellte sich vor mich, kniff mir in die Wange und sagte: „So was niedliches. Was nur Ray dazu sagen wird.“

Er grinste böse.

„Ray ist nicht schwul.“ sagte ich verkrampft und spürte langsam, wie sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten.

„Schon gut. Wenn du es so ernst meinst“, sagte er friedlich „dann werd ich das beherzigen. Für dich alles, mein kleiner, schwuler Freund.“

„Und hör auf, mich so zu nennen!“ sagte ich scharf, drehte mich dann um und ging zurück zu meinen Freunden.

„Kannste vergessen, mein kleiner, schw...“ rief er mir hinterher, ich drehte mich nach zu Josh, zeigte ihm den Mittelfinger, er verstumme, lächelte, und ich ging endgültig zu Ray-Ray und Lilly zurück.

Jetzt hatten wir Mathe.
 

Bei Herrn Branner.

Und ich fühlte mich irgendwie etwas mehr verbunden mit ihm, als noch heute morgen.

Joshs Suche nach seinen Wurzeln

Als ich aufwachte, kroch mir ein seltsam unangenehmer Geruch in die Nase.

Es war kalt und dunkel außerhalb meines Bettes, sodass ich nur widerwillig daraus kroch, zum Schalter bei der Tür krabbelte und das Licht an machte.

Hier war der Geruch viel beißender.

Ich sah mich verschlafen und verwirrt im Raum um, doch nichts war ungewöhnlich oder anders, als gestern Abend.

Erst, als ich die Tür öffnete, bemerkte ich auf eine höchst unangenehme Weise, dass der Gestank aus der Küche kam.

„Puh“, sagte ich laut „wasn das ey.“ Ich stieß die nur angelehnte Tür zur Küche auf. In der Dunkelheit sah ich nichts und als das Licht an war, fiel mir beim ersten und zweiten Hinsehen nichts ungewöhnliches auf.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Mama in ungefähr zehn Minuten von der Arbeit kommen würde.
 

Wir hatten kein Auto oder so was und um diese Uhrzeit kamen die Busse eigentlich sehr pünktlich, dass ich mich gut darauf verlassen konnte.
 

Ich schloss die Tür zur Küche, ging zurück in mein Zimmer, schloss auch die Tür und öffnete das Fenster.

Die kalte Morgenluft weckte mich endgültig und erfrischender.

Ich atmete tief ein, dann suchte ich meinen Kram für den Dienstag zusammen und freute mich auf Mathe.
 

Pünktlich wie erwartet hörte ich, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, zurück ins Schloss fiel, der Schlüssel in den Schlüsselkasten gehängt wurde und wie meine Mutter mit müder, entnervter Stimme sagte: „Tim, was hast du gemacht?“

Dass sie mich verdächtigte, etwas getan zu haben, was den Geruch verursachte, kam mir vorhin nicht in den Sinn, jetzt aber dachte ich, hätte ich damit rechnen sollen.

„Nischts, Mama!“ antwortete ich ihr, stieß die Badezimmertür auf, nahm die Zahnbürste aus dem Mund und sagte: „Das war schon so als ich aufgestanden bin, das kommt aus der Küche!“
 

„Scheiße“, nuschelte sie wenig später.

„Was ist denn los?“ rief ich ihr entgegen, als ich die restlichen, wichtigsten Dinge in meinen Rucksack räumte: meine Stifte und mein Collegeblock.

„Der Kühlschrank ist kaputt gegangen.“ entgegnete sie gestresst.
 

Der Tag fing beschissen an und machte auch im Matheunterricht keine Anstalten, sich zu verbessern.

Zwar hatte Herr Branner Guten Morgen zu mir gesagt und gelächelt, aber er hatte uns auch unsere Klausuren zurück gegeben und mich dabei wieder so mitleidig angestarrt.

Lilly beugte sich über mich, um meine Note sehen zu können und quietschte vergnügt auf, als sie das mit grüner Tinte geschriebene „Mangelhaft Plus“ unter meinen schmierigen Rechnungen erblickte.

„Das ist doch super, Tim!“ sagte sie und umarmte mich kurz aber fest.

Ich nickte, wusste aber nicht, ob ich das wirklich super finden sollte.

Es war immerhin drei Notenpunkte besser als bei der ersten Klausur, aber es waren immer noch zwei Punkte zu wenig und Herr Branner hatte daran bestimmt gemerkt, dass ich Joe nie gefragt hatte, ob er mir mit Mathe helfen konnte.
 

Nach dem Unterricht bat Herr Branner mich, wie letztes Mal, noch um ein kurzes Gespräch „Hast du kurz Zeit?“

Ich war verwirrt, nickte aber „Ja, hab jetzt eh nur ne Freistunde.“

„Gut“, er lächelte. Das schöne Lächeln.

Lilly sagte, sie würden in der Pausenhalle auf mich warten, zwinkerte grinsend und ging dann mit den anderen runter.
 

„Keine Angst“, sagte Herr Branner lächelnd, als er seine Sachen in seinen Rucksack packte „es ist nichts Schlimmes.“

Er zog den Reißverschluss zu und sah mich dann lächelnd an.

Herr Branner lächelte unglaublich viel.

„Bei deiner Klausur kann man wohl von Fortschritt reden, nicht?“ sagte er. Und er grinste.

Ich nickte verstört „ähm.“

„Na ja, deshalb wollte ich nicht mit dir reden“, erklärte er und nahm sich wieder den Kugelschreiber.

„Du scheinst aus dem Dreier Kurs der Einzige zu sein, der das Geld für die Stufenfahrt noch nicht überwiesen hat.“ Erklärte er.

„Ach so“, sagte ich leise und fummelte an meinen Fingern.

„Wenn du irgendwie Förderhilfe brauchst“, fing er dann an „dann musst du uns das auch mitteilen. Tim!“ Herr Branner zog eine Augenbraue hoch und sah mich weiterhin bedauernd an.

Ich schüttelte jedoch nachdenklich den Kopf: „Nein, nein, das ist es nicht. Ich... ähm, ich weiß nicht, ich muss mit Mama... ähm, also meiner Mutter reden. Ich werd's ihr heute sagen. Gleich, nach Spanisch, sie ist zu Hause.“

„Okay“, er nickte und lächelte.

Ich nickte und lächelte zurück, dann drehte ich mich um und ging verstört die Treppe zur Pausenhalle runter.
 

Als ich nach Hause kam, lag noch ein Hauch des Gestankes vom Morgen in der Luft, doch war es nun deutlich angenehmer in der Wohnung.

„Mama?“ rief ich, sobald ich die Wohnungstür offen hatte und aus meinen Schuhen schlüpfte.

„In der Küche!“ antwortete sie mir, ich warf den Rucksack in mein Zimmer und ging zur ihr.

Auf der Anrichte und in der Spüle lagen Tupperdosen, Gefrierbeutel und Konserven, frisches und weniger frisches Gemüse und verschiedene Gläser mit Soßen oder etwas, was mal eine Soße sein wollte, drinnen.

„Was ist denn hier?“ fragte ich verwirrt, noch bevor ich mich erinnerte, dass sie etwas vom kaputten Kühlschrank geredet hatte.
 

Meine Mama kroch von hinter dem Schrank hervor, wo sie sich befunden hatte, ihre Haare hässlich mit einem Haarband aus dem Gesicht haltend uns sah mich müde an: „Was gibt’s, mein Junge?“

„Ähm“, sagte ich, sah Mama dann an und erklärte ihr mit angesäuertem und enttäuschtem Ton mein Problem: „Das Geld, Mama! Für die Stufenfahrt! Das sollte schon längst überwiesen sein!“

„Oh“, entgegnete sie und klang dabei verboten desinteressiert, dann kroch sie wieder hinter den Schrank. Was auch immer sie da tat.

„Oh, Mama!“ sagte ich „du hattest drei Monate Zeit dazu. Willst du nicht, dass ich mit nach Aachen fahre? Dass ich mich gut in meine Klasse integriere? Willst du, dass ich verstoßen werde und deshalb sitzen bleibe und Alkoholiker werde?“

Gut, ich wurde etwas pathetisch, aber in etwa traf das das, was ich sagen wollte.

Sie antwortete mit einem leisen Lachen, dann wurde ihre Stimme ernst: „Nein Tim, das will ich nicht. Aber wie es dir wahrscheinlich aufgefallen ist“, sie hielt kurz inne, um irgendetwas sehr anstrengendes hinterm Schrank zu machen „ist unser Kühlschrank kaputt gegangen!“

Sie kam wieder hervor und sah mich an „Das Geld für deine Klassenfahrt brauchte ich für den neuen Kühlschrank, aber frag doch einfach Papa! Der überweist dir das schon.“

„Hm“, ich presste die Lippen aufeinander und verfluchte den alten Kühlschrank.

Angesäuert riss ich den Informationszettel von der Magnetwand in der Küche und ging zurück zu meinen Schuhen, um sie wieder anzuziehen.

„Was machstn jetzt?“ fragte Mama und ich hörte, wie sie wieder hinter den Schrank kroch.

„Ich fahr zu Papa! Hier stinkst nach deinem Käse!“

„Du kannst ihn auch anrufen“, hatte sie mir noch hinter her gerufen, aber ich ignorierte das; vergrub meine Hände stattdessen tief in meinen Jackentaschen, zog die Schultern hoch und strapfte durch die kalte Novemberluft zur Straßenbahnhaltestelle.
 

Mein Vater wohnte mitten in der Innenstadt, oberhalb des Bermuda Dreiecks in einer sehr großen Wohnung, die sich über das ganze letzte Stockwerk erstreckte und einen Balkon hatte, von dem aus man alles mitbekam, was unten in der Kneipenmeile passierte.

Er arbeitete als Schauspieler am Schauspielhaus; wenn Theateraufführungen waren, vorwiegend Abends, während der Proben Vormittags bis Nichmittags.

Nach den Herbstferien im Oktober waren wir einen Abend da gewesen und hatten uns Antigone im Rahmen des Deutschunterrichts angesehen.

Ich war fast eingeschlafen, weil Theater so schrecklich langweilig war und war noch nicht mal begeistert vom Sitz gefallen, als ich meinen Vater auf der Bühne erkannt hatte, der die Rolle des Haimons spielte.

Ich konnte auch nicht sagen, ob er schlecht oder gut war, davon hatte ich ja keine Ahnung. Was ich aber sagen konnte war, dass er jeden GZSZ-Darsteller um Meilen überbot, immerhin hatte er auch Schauspielerei studiert, aber er war gewiss kein Zac Efron.
 

Und mit ihm wohnte sein ältester Sohn Josh und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die beiden eher so etwas wie eine Art Männer-Wohngemeinschaft hatten, anstatt des üblichen Eltern-Kind-Zusammenwohnen.

Ich liebte meine Mutter und wir beide waren miteinander total tolerant, aber sie rastete an schlechten Tagen auch gern mal aus, wenn mein Schuh falschrum lag oder ich benutztes Geschirr nur in die Spüle statt in die Spülmaschine stellte.

Solche kleinen Differenzen, so stellte ich es mir zumindest vor, schien es bei meinem Vater und Josh nicht zu geben.

Aber vielleicht irrte ich mich, vielleicht trog der Schein, vielleicht war ich in diesem Haushalt einfach kein Mitglied der Familie, die hier lebte.
 

Ich lief zielstrebig auf den versteckten Hauseingang in der Seitenstraße zu und drückte auf den Klingelknopf, neben dem in säuberlicher Handschrift die Namen

„Jung / Sutherland“ zu lesen waren.

Wenig später ertönte das summende Geräusch, welches mir mitteilte, dass ich die Tür auf drücken konnte und ich ging durch den Hausflur und joggte die Treppe hoch bis in den vierten Stock.

Völlig außer Atem kam ich oben an, die schwere Tür war nur angelehnt.

Offenbar erwartete mein Vater mich schon.

Ich betrat die helle, geräumige Wohnung, schloss die Tür und genoss erstmal die angenehme Wärme hier oben.

„Papa?“ rief ich durch den Flur, doch niemand antwortete.

Ich zog meine Jacke aus und legte sie über die Garderobe, zog die dreckigen Schuhe von den Füßen und stellte sie neben den Chucks von Josh.

Er war also da.

„Josh?“ rief ich deshalb und als ich zur Wohnesszimmerküche ging, erschien sein Kopf von hinter der halben Trennwand, wo sich die Küchenzeile befand „Was gibt’s, mein kleiner, schwuler Freund?“
 

Seine Wortwahl ließ darauf schließen, dass mein Vater nicht da war.

„Wo ist Papa?“

Joshs Kopf verschwand wieder, ich kam in den großen, hellen Raum und setzte mich auf einen hohen Stuhl an die Küchentheke.

„Ist noch arbeiten. Aber Mama“, ich sog scharf die Luft ein und Josh lächelte entschuldigend, als er sich zu mich umdrehte „Tschuldigung, Timmi, Marion, hat gerade angerufen und gesagt, dass du kommen wirst. Sie hat gesagt, dass du nichts gegessen hast und ich soll dich zwingen, wenn es sein muss, dich anketten und gewaltsam einflößen, was zu essen.“

Ich nickte „Alles Klar.“

„Und sie hat gesagt, dass sie mich lieb hat!“ Er zwinkerte, dann drehte er sich wieder um und beschäftigte sich weiter mit dem, wobei ich ihn gestört hatte.

„Was wird das?“ fragte ich neugierig. Er ignorierte mich kurz, dann hörte er auf, an etwas rum zufummeln, begutachtete es und trat dann einen Schritt zu Seite, damit ich es sehen konnte „Tadaa.“

Erfreut über sein was auch immer klatschte er in die Hände, dann zeigte er auf das weiße, komische Ding, das aussah, wie ein geschmolzener Schneemann, auf dem jemand seine Goldbärentüte ausgeschüttet hätte und sagte: „Das ist eine Torte. Die hab ich selbst gemacht. Nach originalem, neuseeländischem Rezept.“

„Tz“, ich verdehte genervt die Augen, dann sah ich zur Uhr und fragte „Wann kommt Papa nach Hause? Er muss das Geld für die Stufenfahrt überweisen.“
 

„Nicht so hastig.“ entgegnete Josh, er nahm ein Messer aus dem Messerblock und schnitt seine Torte an, schob dann das Messer unter das riesig ausgeschnittene Stück und hievte das auf einen bereitstehenden Teller, den er mir letztendlich vor die Brust stellte „iss ersmal n Stück Pavlova.“

„Aber ich hab Angst, dass ich sterbe, wenn ich das esse!“ Sagte ich und musterte sehr misstrauisch das entstellte Gesicht des Schneemannes vor mir.

Josh lachte fröhlich, hatte sich selbst ein Stück seiner Torte abgeschnitten und biss dann genießerisch einen Happen ab.

„Hm“, machte er „is n bisschen süß. Wollen wir uns ne Pizza bestellen?“

„Ich bin eigentlich nicht gekommen, um ein auf Freund zu tun.“

„Musst du nicht“, er legte sein Tortenstück zurück auf den Tortenteller und ging zum Telefon „bist ja mein Bruder.“

„Halbbruder!“
 

Er winkte mich ab, wählte dann (aus dem Kopf!) die Nummer des Pizzaliferservice und bestellte eine mittlere und eine große Pizza Margharita.

Als er aufgelegt und sich wieder zu mich umgedreht hatte, musste er meine Stimmung dazu aus dem Gesicht abgelesen haben, denn sofort erklärte er mit sanfter Stimme: „Mensch, Tim, jetzt hab dich nicht so. Papa kommt frühestens in einer Stunde“, er sah zur Uhr, um sich zu bestätigen „und du hast Hunger und zu Hause stinkst nach Mamas Käse. Du bist so wie so viel zu selten hier dafür, dass du zur Familie gehörst. Lass uns Playstation spielen!“
 

Ich sah ihm widerstrebend zu, wie er sich mit seiner Figur durch eine virutelle Welt kämpfe, bis unsere Pizza kam, die wir dann aßen. Er ermutigte mich, nicht ganz so verkrampft zu sein.
 

Meine Mutter und mein Vater hatten sich getrennt, als ich sechs Jahre alt war und ich erinnere mich nur vage an unsere Zeit als Familie zusammen.

Zuerst hieß es, dass Josh und ich bei meiner Mutter blieben, dann kam es aber so, dass Josh, der nun ja nicht Mamas leiblicher Sohn war, doch zu Papa zog.

Ich erinnere mich nicht, dass wir beide jemals so richtig dicke Freunde gewesen waren, aber so eine Großer-Bruder-Kleiner-Bruder Beziehung pflegten wir irgendwie schon.

Als ich dann in die Schule kam, lernte ich Ray-Ray kennen und meine Abhängigkeit von Josh wurde immer geringer, bis wir uns nachmittags zu Hause schließlich gar nicht mehr sahen.

Am Anfang war Josh noch regelmäßig nach der Schule mit zu uns gekommen und Papa hatte ihn Nachmittags nach der Arbeit abgeholt, als er aufs Gymnasium kam, erledigte sich die Sache dann auch und als ich schließlich aufs Gymnasium kam waren wir eher wie zwei flüchtige Bekannte als Geschwister.

Niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht, dass wir Brüder waren, wir wohnten nicht zusammen, sahen uns nicht besonders ähnlich und hatten vollkommen unterschiedliche Namen.
 

Als Papa nach Hause kam, war er sehr überrascht, mich in seiner Wohnung anzutreffen „Tim?“ sagte er „was machst du denn hier?“

„Du musst mir meine Klassenfahrt bezahlen“, erklärte ich ihm sofort und war total froh, von Josh und seinen Fantasy-Fabel-Gestalten los zu kommen.

„Wie bitte?“ entgegnete er matt, hängte seine Jacke an die Garderobe und ließ seine Schuhe mitten im Weg im Flur liegen.

„Mama wollte das bezahlen, aber sie hat's vergessen, dann ist unser Kühlschrank kaputt gegangen und jetzt haben wir kein Geld mehr. Aber es ist wichtig. Es sollte bis Freitag überwiesen sein.“

Erklärte ich ihm und folgte meinen Vater in die Küche.

Er schien nur halbherzig zuzuhören und als er Joshs Schneemantorte erblickte, seufzte er genervt auf.

Er drehte sich zu mich um, lächelte mich liebevoll an und deutete auf das Gebäck: „Er backt ständig dieses Pavlovading, dabei schmeckt es uns gar nicht, ist viel zu süß. Ich denke, das hat irgendwas mit seinem plötzlichen Interesse an Neuseeland zu tun.“

Er ließ sich auf einen Stuhl an der Theke fallen und streckte sich „Hm, ich überweis das Geld morgen früh, okay?“

Aachener Weihnachtsschmetterlinge

Aachen im Dezember.

Es ist kalt, es ist nass, es schneit. Der Weihnachtsmarkt ist echt schön, und der Dom und die Altstadt.

Die niedlichen Konditoreien und Aachener Opladen. Teestübchen und überall der Duft von Weihnachten in der Luft.
 

Mein Vater hatte mich nicht vergessen.

Josh umarmte mich zum Abschied zu fest, sagte mir, ich solle Mama grüßen und fuhr dann wieder, nachdem er mich zu Hause abgesetzt hatte.

Am nächsten Tag hatte mein Vater das Geld für die Stufenfahrt überwiesen und am Morgen des neunten Dezember, ein eisiger Mittwoch, saßen wir im warmen Zug und waren auf den Weg in ein aufregendes Abenteuer.

Aachen im Dezember.

Ich war vorher noch nie in Aachen gewesen und es hatte mich vorher noch nie gereizt, dahin zu fahren und ich erhoffte mir nichts.

Ein wenig Spaß mit den Jungs, natürlich, ausgiebige Schwärmerein mit den Mädels und illusorische Blicke von Herrn Branner.

Julie und Lisa saßen eine Sitzreihe vor uns und kicherten alle paar Minuten weibisch auf, Flo, Pat und Ray redeten über Boxen oder Wrestling oder so sowas und ich saß hier am Fenster, starrte auf die vorbei ziehende Landschaft und unterhielt mich mit Joe.

Zuerst über Herrn Stein und wie langwierig sein Unterricht immer war.

Dann über Musik und Billy Talent.

Dann schwiegen wir eine Weile, als wir in den Kölner Hauptbahnhof einfuhren.

„Hey, Tim“, sagte er dann leiste und beugte sich mit einem Grinsen zu mir vor „heißtester Typ aus Köln?“

Ich lachte leise auf.

Köln war, soweit ich wusste, etwas bekannt für seine reiche Anzahl an Homosexuellen und seine Homosexuellenfreundlichkeit.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster und überflog die Menschenmengen am Bahnsteig.

„Ich kenne niemanden aus Köln.“ antwortete ich und drehte mich zu Joe um.

Er grinste immer noch „Nicht? Nun ja, ich komme aus Köln!“

„Was, echt jetzt?“

Joe nickte lächelnd „Na ja, ich bin hier weggezogen, als ich zwei war, aber ich finde, das gilt trotzdem!“

Ich lachte, legte meine Arme um Joe und zog ihn zu mich heran, um ihm durch seine Haare zu wuscheln.

Er wehrte sich, doch ich hielt ihn so fest, dass er sich nicht los machen konnte.

„Na gut“, sagte er dann, hörte auf, sich befreien zu wollen und legte seinen Oberkörper auf meine Beine „Heißerster Typ in diesem Zugabeteil?“
 

Ich überlegte nicht lange, drückte Joe etwas kräftiger auf meine Beine und presste glucksend ein „Das weißt du ganz genau, Herr Branner natürlich.“ hervor.
 

Er lachte wieder, wehrte sich gegen meinen festen Griff und schaffte es dann irgendwie, sich um zudrehen. Er sah mich an.

Sein Blick war so voller Liebe und Zärtlichkeit, dass er mich unverweilt sofort einfing.

Es war magisch.

Dann lehnte er sich etwas zu mir hoch.

Ich spürte sein Herz, das wild in seiner Brust hämmerte, und mein Puls war versucht, sich dem anzupassen.

Ich beugte mich etwas zu ihm vor, mein ganzer Körper kribbelte aufgeregt, als wir ein Räuspern hinter uns wahr nahmen.

Ich neigte mich sofort wieder nach hinten, Joe wurde rot und richtete sich wieder auf, dann drehten wir uns zu Herrn Branner und Frau Berger um.

Sie lächelte verlegen, er presste seine Lippen aufeinander und spannte sein ganzes Gesicht an.

Er versuchte zumindest, zu lächeln.

Lilly hatte sich zu uns umgedreht und begrüßte unsere Lehrer fröhlich: „Frau Berger, Herr Branner. Was gibt’s?“

„Wir kontrollieren ein bisschen“, antwortete die dunklehaarige Frau und tippte ihren Kollegen an „diese Flasche haben wir gerade schon euren Mitschülern abgenommen. Die stand bei denen einfach auf dem Tisch, unglaublich, oder?“

Herr Branner hielt die Flasche Mezcal in seiner Hand etwas höher, so dass wir sie sehen konnten.

„Oh, das ist das Zeug von letztes Jahr“, sagte Lilly aufgebracht und tippte mich nervös an „erinnerst du dich, Tim?“

Ich seufzte genervt und nickte peinlich berührt.

„Oh ja“, Frau Berger lachte vorsichtig „du hast Frau Lavie angekotzt. Gute Arbeit“, sie zwinkerte, Lilly freute sich noch mehr, und Frau Berger und Herr Branner gingen weiter.
 

Joe räusperte sich und warf mir einen schüchternen Blick zu.

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, ich zog die Schultern an, sah Joe an, dann nach draußen, verspannte mich und fragte dann leise: „Wieviel hat er mit bekommen?“

Joe zuckte die Schultern.
 

Zumindest das würde über die kommenden vier Tage verschwiegen bleiben.

Wir beruhigten uns schnell wieder, taten, als sei nichts, und alberten schnell wieder rum.
 

Wir kamen am Vormittag in Aachen an und mussten uns um die Zimmeraufteilung kümmern, die ich bis dahin nicht bedacht hatte.

Wir schliefen in einer niedlichen Jugendherberge, außerhalb der Innenstadt in einer scheinbar etwas wohlhabenden Gegend und mussten sieben Minuten mit dem Bus in die Stadt fahren.

Die Zimmer waren gemütlicher, als ich es erwartet hatte, die Etagenbetten waren aus Holz, in jedem Zimmer stand ein kleiner Tisch und zwei Stühle (auf acht Schlafplätze...), die Wände waren hell und die dominierende Farbe war gelb. In jedem Zimmer.

Unsere Bettwäsche war blau-gelb kariert, ich hoffte, ich bekäme keine Alpträume, und wenn man aus dem Fenster sah, betrachtete man direkt die kahlen Bäume, eine grüne Wiese und einen kleinen Platz unterhalb des Hauses, auf dem man Tischtennis spielen konnte.

Ich schlief im unterem Bett rechts neben dem Fenster und Pat und Flo hatten Angst, dass sie schwul werden würden, wenn sie im selben Bett schliefen wie ich.

Ray schlief oben, die anderen entschieden sich alle dazu, ein eigenes Bett zu nehmen und auch oben zu schlafen.

So würde ich jede Nacht einsam und allein hier unten den Schlaf finden.

Da wir sowieso vor hatten, aus der Stufenfahrt ein einziges Saufgelage zu machen, würde das wohl weniger das Problem sein.
 

Den Mittag verbrachten wir alle mit den Lehrern in der Stadt, schauten uns die Altstadt an, begutachteten den Dom und schlenderten über den Weihnachtsmarkt. Immer, wenn Herr Branner in der Nähe war, warf ich ihm verstohlene Blicke zu und ich meinte sogar, dass er einige Male zurück geguckt hatte.

Lilly zeigte mir einen Marktstand, an dem es hübsche, aus Holz handgefertigte Figuren in verschiedenen Formen gab und wir entschieden uns beide dafür, dass wir den blau-violetten Schmetterling am schönsten fanden.
 

Nachdem wir den Nachmittag frei bekommen hatte, aßen wir bei McDonalds, die Jungs kauften Bier im Supermarkt, die Mädchen kicherten und wir fuhren zurück zur Jugendherberge.
 

Am Abend war die Stimmung ausgelassen.

Die Party, wie es beschrieben wurde, fing dezent mit acht Flaschen Bier an, die Flo, Pat, Joe und Ray gemütlich tranken.

Ich verzichtete, wurde als Langweiler abgestempelt und saß die erste Zeit mit den Jungs zusammen, wir redeten und lachten.

Dann kamen einige andere dazu, brachten noch mehr Bier mit, und die Luft im Zimmer wurde allmählich wärmer.

Dann kamen noch mal welche, und die brachten sogar zwei Flaschen Wodka, die im nu leer auf dem Boden lagen.

Das Niveau der Gespräche sank dementsprechend, und die Fähigkeit, Gedanken zu verbalisieren und eine normale Konversation zu führen, ebenfalls.

Als sie über das Thema 'Saufen' bei 'Sex und Frauen' angelangt waren, hockte ich schon gelangweilt in meinem Bett und starrte raus in die dunkle Winterlandschaft.

Es hatte angefangen, zu schneien und die einzelnen Flocken wurden draußen vom Mond angestrahlt, die Wiese schien wie ein glitzernder See vor dem Haus zu liegen und die Luft musste sich glasklar abgekühlt haben.
 

„Ey Tim“, sagte dann jemand.

Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und sah in die Runde, sie hatten allesamt rote Gesichter und fahle Blicke.

„Was“, entgegnete ich trocken, räusperte mich dann und beugte mich etwas zu ihnen vor.

„Du bisdochschwul, odda?“

„Hm, ja, wieso?“

„Na, wieisndas so mitm Mann? Also weißte?“

Ich hob verwirrt eine Augenbraue und sah zu Joe rüber.

Er sah mich an. Nicht erwartend oder fragend.

Er wollte mir eine stumme Mitteilung machen, sich entschuldigen? Mich bitten, darauf nicht zu antworten?

Was hätte ich so wieso sagen sollen?

Keine Ahnung, ich war noch nie mit einem zusammen?

Oder viel besser als mit einer Frau?

Ich zuckte nur die Schultern: „Wieso fragst du so'n Scheiß?“

„Na ja“, antwortete er und deutete in die Runde „wir haben festgestellt, dass niemandvon uns jewasmit nem Kerl hatte, dass wir alle bisher nur die Ladies flach gelegt haben und na ja es ist echt nicht so, als würden wir mit dir figgn wollen Tim, echt nicht, aber...“

Ich sah zu Joe.

Er war etwas rot, und sah mich immer noch entschuldigend an.

Dann sah ich in die Runde.

Ich verdrehte genervt die Augen und stand von meinem Bett auf „Probiert es doch an euch aus, ihr seid doch eh so besoffen, dass ihr keine Schamgrenzen mehr habt.“ sagte ich, als ich das Zimmer verließ.

Darauf wollte ich mich echt nicht einlassen, da hatte ich so was von keine Lust drauf.

Sollten die doch machen, was sie wollten, aber mich sollten sie daraus lassen.
 

Ich ging die Treppe runter und verließ leise und unauffällig das Gebäude.

Die Nacht war kalt und ich beobachtete mein Atem, wie er sich als weiße Wolke leise davon schlängelte.

Genervt lehnte ich mich über den Zaun und sah runter auf die Wiese.

Hier konnte man bestimmt gut mit dem Schlitten fahren.
 

Ich stand eine Weile da und beobachtete die Flocken, als ich hörte, wie jemand hinter mir durch den Schnee stapfte.

„Hey“, sagte sie und stellte sich dann neben mich „was machst du hier?“

„Hm“, brummte ich, sank den Blick und sah Lilly dann an „mich langweilen.“

„Was ist los?“ sie legte ihre Hand auf meine Wange „wie lange bist du schon hier, du bist ganz kalt?“

Lilly war eben nicht dabei gewesen, aber ihre rote Nase verriet mir, dass sie auch getrunken hatte.

Die waren eben alle ziemlich hardcore, meine Freunde, und ich der blöde Langweiler, der daneben steht und sich ärgert.

„Lilly“, sagte ich und sah wieder zum Schnee runter „hattest du eigentlich schon Sex?“

„Was?“ sie klang etwas überrascht.

„Wir reden nie über sowas.“ entgegnete ich.

Dann hörte ich sie lächeln. Sie legte ihren Arm um mich, drückte mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte „Tim, du bist meine beste Freundin.“ „Ja...“ „Wenn ich jemals einen Freund gehabt hätte, oder verliebt gewesen wäre, glaubst du nicht, du wüsstest das?“

„Hm“, ich legte meinen Kopf nachdenklich schief.

„Siehst du, Tim. Manche sind eben noch nicht so weit, du solltest dir deshalb gar kein Kopf machen. Alles kommt, wie es kommt.“

Sie lächelte mich an.

Ich lächelte auch, dann ließ ich mich von Lilly umarmen, dann wurde sie etwas hysterischer: „Tim! Du hast gar keine Schuhe an, bist du bekloppt oder was? Willst du sterben?“

Sie griff meine Hand feste, keine Chance, ihrem Griff zu entkommen und zog mich entzürnt zum Haus zurück.

„Komm einfach mit zu uns, ja?“ hatte sie gesagt.
 

Als Lilly zurück in ihr Zimmer kam und mich an der Hand hielt, sahen einige Mädchen, die im Kreis auf dem Boden – auf dem sie die Matratzen der Betten gehievt hatten – verwirrt und teilweise überrascht zu mir auf.

„Lilly“, sagte Christine „keine Jungs.“

„Ach, das ist Tim“, hatte Lilly erwidert „der ist schwul!“
 

Damit konnten die Mädchen leben, sie schienen sich sogar zu freuen und als ich mich in ihrem Kreis nieder lies, rückten die Damen neben mir sogar näher an mich heran.

„Trink erstmal was, Tim!“ sagte Lilly und reichte mir eine Flasche Barcadi Breezer.

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, ich will nicht.“

„Ach Tim, komm schon. Ich glaube, du brauchst das jetzt.“ Lilly lächelte liebevoll.

Ich dachte an die Jungs in meinem Zimmer, an den Wodka und deren charakterloses Gerede über Sex und Frauen.

Dann sah ich in die Runde, eine Gruppe, schüchterner, süßer Mädels in rosa Schlafanzügen, die bei einer Pyjama Party Wahrheit oder Pflicht spielte.

„Hm“, ich nahm die Flasche und trank.
 

Sie spielten tatsächlich gerade Wahrheit oder Pflicht.
 

Nach fünf weiteren Barcadi Breezer fühlte ich mich schon leicht betrunken und das Spiel wurde zunehmend witziger.

Ich musste bisher beantworten, ob ich schonmal verliebt war, ob ich Frau Lavie wirklich angekotzt hatte, einmal sollte ich mir für eine Runde meinen Pullover ausziehen und als ich die letzte Flasche Breezer geleert hatte, wurde Christine gerade gefragt „Wer ist der sexiste Lehrer an der neuen Schule?“

Die Mädchen kicherten und ich war mir ziemlich sicher, dass, man das nur mit 'Herrn Branner' beantworten konnte.

„Hm, also“, stotterte sie. Sie wusste schon ganz genau, was sie antworten würde, aber tat trotzdem, als würde sie überlegen.

„Herr Pieper ist eigentlich ziemlich sexy.“

„Was?“ entgegnete ich entsetzt und die Mädchen sahen mich belustigt an „Herr Pieper; bist du bescheuert?“

Christine musterte mich prüfend, während ich ihr einige Dinge aufzählte, die sowas von gegen Herrn Pieper sprachen „der hat Schlabberlippen und is voll untrainiert, der hat voll den beschissenen Kleidungsgeschmack, hast du mal seine Schuhe gesehen? Und die Frisur, alter, voll die Alte-Mann-Frisur.“

Herr Pieper war ein durchschnittlicher, 37-Jähriger Jeans-T-Shirt-Träger, an dem es weit und breit nichts besonderes gab, er war in der Tat eigentlich total unscheinbar weil voll unauffällig.

„Na ja“, Christine zuckte die Schultern „wen findest du denn sexy?“

„Herr Branner natürlich“, entgegnete ich sofort und mit einer Selbstsicherheit, als wenn das zweifellos die richtige Antwort wäre.

„Hm“, Christine überlegte, dann nickte sie „ja okay, Herr Branner ist auch sexy.“

„Herr Branner erinnert mich an irgendwen“, warf ein Mädchen ein „und ich kann diesen wen nicht leiden.“

Ich hob verwirrt eine Augenbraue.

„Du stehst also auf den Mathelehrer.“

Ich nickte.

„Gut, dann... geh zu ihm hin und gesteh es.“ Die Mädchen kicherten.

„Natürlich“, antwortete ich, deutlich sarkastisch natürlich.

„Okay, aber, geh zu ihm hin und sag ihm, dass du schwul bist.“

„Ich glaub, der weiß das.“

Ich dachte an das Sommerfest und an Joe. Grimmig ballte ich die Hände zu Fäusten.

„Egal“, entgegnete sie „geh zu sein Zimmer und sag es ihm richtig.“

„Hm“, ich zuckte die Schultern und richtete mich auf „na gut.“

Und ich hatte keine Ahnung, wieso ich darauf eingegangen war, aber ich denke, dass lag am Barcadi, der feucht fröhlich durch meine Adern floss und meine Hemmungen niedriger setzte.
 

„Und wenn du wieder kommst wollen wir alles haargenau wissen!“ rief mir Julie nach, als ich das Zimmer verließ und zum Jungenflur zurück ging.
 

Aus unserem Zimmer hörte ich lautes, fröhliches Gelächter und war gleich wieder genervt von deren Gelage.

Dass sich Jungs bloß durch Aufnahme von Ethanol und Anwesenheit von Anderen durch solche hirntoten Idioten substituieren ließen, war mir ein Rätsel.

Sie, auch Pat, Flo, Ray und Joe, die sonst immer ganz lustige und liebe Gesellen waren, waren auf einmal totale Trottel, die um ihr Ansehen in der Jungsgesellschaft kämpften.
 

Ich klopfte an Herr Branners Zimmertür und wartete.

Als ich bemerkte, dass das Herr Branners Zimmertür war, und er vermutlich gleich vor mir stehen und mich ansehen würde, mich musternd beäugen würde und garantiert von mir wissen wollte, wieso ich mitten in der Nacht bei ihm klopfte, fing mein Bauch an, merkwürdig zu grummeln und ein komisch kribbeliges Gefühl machte sich von meiner Mitte aus im ganzen Körper breit, meine Knie zitterten aufgeregt und um meinen Kopf herum wurde es plötzlich schwindelig.

Oh mein Gott!

Was sollte ich tun?

Verwirrt und unwissend drehte ich mich um und wollte wieder gehen, als ich das Knarren der Tür hörte, die geöffnet wurde.

„Hm“, machte Herr Branner und mit seiner Stimme kam ein bekannter Geruch und eine unangenehme Wärme aus seinem Zimmer.

Irritiert drehte ich mich wieder um und brauchte eine Weile, um ihn zu fixieren.

„Timm“, nuschelte er leise und hielt sich verdächtig an der Tür fest.

„Herr Branner“, entgegnete ich zitternd.

„Was gibs?“ fragte er und lächelte mich dann an.

„ähm äh... i.. ich sollte irgendwas sagen zu ihn.“ erklärte ich „a... allerdings hab ich irgendwie vergessen was.“

„Hm“, er machte etwas, dass aussah, wie missglücktes Schulternzucken „machtja nischst.“

Ich verengte die Augen. Seine Nase war so rot wie Lillys und beim Festhalten schwankte er merkwürdig hin und her.

Und der Geruch.

Das war doch...

„Mezcal!“

„hä?“

„Sie sin betrunken!“ sagte ich, dann schlug ich mir die Hände vor den Mund „oops.“

„Hm“, er lächelte schief „Mag sein, Tim Müller, du...“ er streckte seine Hand aus, griff mein T-Shirt und zog mich zu sich heran.

Herr Branner war ganz warm, sein Atem roch nach Tequila und sein Arm legte sich stark um meinen schmalen Körper.

„Hm“, machte ich „Herr Branner?“

Dann beugte sich sein Gesicht zu meinem runter, er lächelte noch immer so charmant, auch, als mein Herz rasend verdeutlichte, dass es Herr Branner war, der mich küsste.

Das war Herr Branner.

Das war mein Mathelehrer.

Mein betrunkener Mathelehrer Herr Branner.

Was sollte das?

Gefühlsbarrieren

Mein Kopf dröhnte gegen meine Stirn, und von meinem Magen aus kroch eine unangenehme Übelkeit in meinen Hals.

Ich wachte am nächsten Tag allein auf und mein Arsch tat mir gewaltig weh.

Brummend öffnete ich die Augen und konnte die Lider nicht bewegen, ohne, dass mich ein ekliger Kopfschmerz durchzuckte.

Die Wand, die ich betrachtete, war makellos weiß.

Verwirrt fuhr ich die Hand an ihr hoch, legte sie dann auf meine Stirn und erinnerte mich an gestern.

Ich seufzte genervt und tastete neben mich.

Die Matratze war kalt.

Widerwillig hob ich den Kopf und drehte mich um, damit ich ins Zimmer sehen konnte.
 

Mein Mathelehrer saß gegenüber an der Wand, hatte die Beine angezogen – es erinnerte mich an meine Kopf-Auf-Knie-Welt – starrte zwar in meine Richtung, sah mich jedoch nicht an und kaute nervös auf seiner Fingerkuppe.

„Hm“, machte ich und drehte den Rest meines Körpers um.

„Was sitzen Sie da so verstört rum“, sagte ich und merkte im selben Moment, dass ich noch nicht vollkommen ausgenüchtert war.

Ich ließ genervt meinen Kopf in das blau gelb karierte Kissen fallen.

„Ich fusche nicht gern irgendwo drin rum!“ sagte er dann.

Diese nichtssagende Aussage setzte meinen Kopf noch mehr zu „Was?“

„Es tut mir Leid“, sagte er dann endlich und schaffte es, mich an zu sehen „wegen... na ja, dein Gesäß.“
 

Ich lachte leise auf, erfreut über Herr Branners schüchterne Wortwahl.
 

Er hatte mich leidenschaftlich geküsst am vorherigen Abend. Er war betrunken, genauso wie ich, und das machte es, dass wir darauf eingingen, auf einander. Auf diesen älteren Mann.

Er sah mir in die Augen, dann lächelte er glücklich und küsste mich nochmal, als wir das leise Flüstern und Tapsen der Mädchen hörte.

Er ließ von mir ab, legte doch etwas unsanft seine Hand auf meinen Mund und drückte mich hinter die Tür, welche er etwas zu zog.

„Guten Abend... ähm“, ich hörte Lillys Stimme und mein Herz raste.

„Sie sind noch wach.“ Lilly klang gespielt überrascht und ich sah durch sein T-Shirt, wie sich seine Muskeln am Rücken und an den Schultern verspannten.

Auch die Hand, die um meinen Kiefer fasste und der Arm, der mich gegen die kalte Wand drückte.

Ich war so aufgeregt, mein Herz musste so schnell geschlagen haben wie das eines Kolibris, als die Mädchen auf der anderen Seite der Tür standen und nicht wissen durften, dass ich hier war.

„Haben Sie Tim gesehen?“

Obwohl sie mich hierher geschickt hatten.

Ich versuchte, mich zu räuspern, doch sein Griff hielt mein Kopf hoch und nur der Versuch, ein Geräusch von mir zu geben, tat mehr weh, als dass es einen Zweck erfüllte.

„Hm“, machte ich dann unter seiner Hand, und ich sah, wie sich seine Muskeln noch mehr verspannten.

„Nun ja, mehr wollten wir auch nicht.“ sagte sie dann und ich dachte, ich müsse irgendwas tun, damit sie mich bemerken würde; nur, damit sie wusste, dass ich meine Pflicht erfüllt hatte.

„Lül...“, versuchte ich, unter seiner Hand her zu rufen, doch er war so stark, er ließ mich nicht. Stattdessen zog er meinen Kopf ein Stück vor, dann drückte er ihn mit etwas zu viel Wucht zurück gegen die Wand.

Ich spürte einen dumpfen Schlag, die Welt drehte sich kurz auf den Kopf, ich verlor meine Orientierung, mir wurde schlecht und meine Beine gaben nach.

In dem Moment, in dem Herr Branner die Tür schloss und mich los ließ.
 

Unsanft sackte der Körper zusammen und noch unsanfter schlug der schöne Arsch auf den harten Linoleumboden auf.

Autsch.
 

„Oh mein Gott, Tim“, sagte er besorgt und hockte sich zu mich runter.

Die Welt verlangsamte sich und ich konnte ihn wieder erkennen.

Sein braunes Haar, die blauen Augen, die mich so liebevoll ansahen, die Wangenknochen und die rote Nase.

„Alles in Ordnung?“ fragte er und ich nickte. Ich nickte und war vollkommen glücklich und zufrieden.

Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich bemerkte irgendwie nebenbei im Döszustand, wie sich sein warmer Körper über mich beugte, wie ich im Bett lag und wie er sich leise Vorwürfe machte.
 

Bis ich aufwachte.

Mein Kopf dröhnte und mir war so richtig schlecht.
 

Herr Branner richtete sich vom Boden auf, er sah mich etwas verstört an, aber in seinem Blick war auch Glück und genauso Unsicherheit.

Vorsichtig setzte er sich neben mich auf das untere Bett und lächelte verklemmt.

Er wusste nicht recht, ob er mich berühren sollte, wog es mit sich ab, bis er schließlich befangen die Hand hob, in der Bewegung inne hielt und mir dann vorsichtig über die Wange strich.

„Tim Müller“, er lächelte so glücklich und zufrieden, wie ich es noch nie gesehen hatte bei ihm.

Ich schluckte vorsichtig und nickte, dabei genoss ich die Berührung seiner sanften Finger an meiner Haut und war mir ziemlich sicher, dass ich träumte. Denn so von ihm angefasst zu werden war sicherlich immer ein Traum gewesen, es konnte jetzt einfach nicht real sein.

„Du bist bewundernswert.“ flüsterte er dann.

Ich wurde etwas rot, natürlich.

Dann beugte sich mein Mathelehrer zu mich runter, schloss seine blauen Augen und drückte mir einen Kuss auf die kalten Lippen.
 

Es war soviel intensiver und klarer als gestern, ich nahm mit viel mehr Bewusstsein auf und wahr, wie er mich berührte, wie seine Lippen meine massierten, wie er mich so wunderbar küsste, seine Hand mein Gesicht in sich nahm, er durch mein blondes Haar strich.

Mein Herz raste regelrecht, schlug mit aller Gewalt und voller Aufregung gegen meinen Brustkorb, und es fühlte sich so gut an.

Ich war glücklich, fühlte mich federleicht, tanzend auf allen Wolken im Himmel und solange ich hier war bei ihn, solange war alles gut.
 

Dann hörte er auf und richtete sich wieder auf.

„Was ist?“ flüsterte nun ich, musterte ihn, sein Gesicht, seine Augen, die mich so liebevoll ansahen, seine Lippen, die ich zurück haben wollte.

„Was ist mit Johann?“ sagte er dann und klang etwas weniger warm und mild.

„Joe?“ fragte ich verwirrt.

Er nickte.

„nichts ist mit Joe.“ vorsichtig richtete ich mich auf, sah ihn verwirrt an und zuckte die Schultern. Ich wusste einfach nicht, wo drauf er hinaus wollte.

„Du bist doch mit ihm zusammen“, er wandte den Blick ab „ich will nicht irgendwo rein geraten oder euch auseinander bringen.“

Ich gluckste vergnügt und mein Kopf fühlte sich weniger schlimm an als noch vorhin.

„Joe und ich sind garantiert nicht zusammen. Wir sind bloß Freunde. Gute Freunde, aber kein Paar.“

„Nicht?“

„Das war alles wohl ein Missverständnis, man, dafür könnte ich ihn töten!“

Ich dachte an das Sommerfest im September zurück und dann kam mir in den Sinn, dass Herr Branner seit dem geglaubt hatte, er und ich wären ein Paar?

„Heißt das, Sie haben... die ganze Zeit geglaubt, Joe und ich...“

Er sah mich wieder an, fragend, dann lächelte er und nickte: „Natürlich hab ich das.“

„Heißt das, Sie... moment“, ich schluckte nochmal hart.

Es kam plötzlich über mich wie eine Erleuchtung.

„Herr Branner“, sagte ich etwas verstört und stand vom Bett auf, legte die Hand auf die Türklinke, fühlte mich so, als müsse ich von ihm weg.

Der Raum war auf einmal so klein und die Luft heizte sich plötzlich so schrecklich auf.

Atmen ging jetzt viel schwerer.

„Sie sind mein Lehrer...“

Er hob verwirrt eine Augenbraue.

„Aber... ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht als dein Lehrer betrachten.“

Ich nickte. Die Luft schnürte mir immer mehr den Hals zu.

„Ja. Sie haben recht. Ich denke, ich sollte jetzt rüber gehen. In mein Zimmer. Anziehen und so. Wir sehen uns beim Frühstück.“

Ich verließ den Raum, sah ihn nicht noch mal an, hielt den Blick auf den Boden und versuchte in meinem Kopf das ganze zu rekonstruieren, zu verstehen, wieso das passiert war und wieso ich diesen Seifenblasentraum kaputt machen musste.
 

War es nicht schön so gewesen?

Wir hätten im Bett liegen können, beieinander sein, kuschlen, küssen, reden, träumen.

Vielleicht träumte ich ja doch noch.
 

Als ich in mein Zimmer kam, waren Joe und Ray schon wach, etwas träge und scheinbar schlimmer verkatert als ich, aber immerhin wach.

Ray putzte sich die Zähne und Joe saß müde auf seinem Bett an der Wand gelehnt und sah mich misstrauisch an.

Pat und Flo lagen noch wie Steine in ihren Betten und dünsteten unangenehme Dämpfe aus.
 

„Na Tim“, sagte Ray grinsend „kommste jetzt erst nach Hause?“

„hä was?“

„warst wohl die ganze Nacht unterwegs, hä? Haste Mädels aufgerissen?“
 

Ich lief augenblicklich rot an, wandte deshalb schnell mein Gesicht von ihm ab und wühlte ziellos in meiner Tasche rum.

Und spürte Joes traurigen, musternden Blick auf meinem Rücken.

Der tat weh.
 

Ich mied Herr Branner den ganzen Morgen.

Ich mied ihn auf der Fahrt zur Hochschule, ich mied ihn während der Vorlesung und ich mied ihn, als wir uns danach in der Schule umschauen und informieren durften.

Die Gänge und Räume waren voll bis oben hin, es war ein Tag der offenen Tür und dementsprechend war der Andrang im Gebäude.

Nach einer Stunde neben Lilly rumrennen beschlossen wir, uns in die Cafeteria zu setzten.

Hier trafen wir auch den Großteil unseres Jahrgangs wieder.

Und natürlich Herrn Branner.

Er saß allein am Ende eines langen Tisches und starrte gedankenverloren auf seine Hände.

Und mir wurde gleich ganz komisch.

Ich schluckte das Gefühl runter und setzte mich zwischen Ray und Lilly auf einen der Plastikstühle.
 

Ich wusste einfach nicht, was los war.

Mit mir, mit ihm.

Mit uns und der Sache heute Morgen.

Denn es kam ganz gewiss von ihm.

Er wollte es.

Und ich sehnte mich danach.

Wieso hatte ich mich dem entzogen?

Mein Herz schlug wütend gegen meine Brust.

Ich seufzte schwer.

Meine Hände zitterten.

Ich sah auf und schielte rüber zu ihn.

Er saß unverändert da.

Vielleicht ging es ihm nicht so gut, vielleicht ähnlich wie ungefähr allen anderen.

Er hatte einen dicken Kopf.

Ein besoffener Lehrer.

Diese Sache war gerade so absurd, dass ich leise Schmunzeln musste.

„Was ist?“ fragte Lilly, ich schüttelte nur den Kopf, dann schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.

„Wohin gehst du?“ fragte sie, aber ich ignorierte die Frage und ging zu ihm.

Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber und sah Herrn Branner in die blauen Augen, als er aufschaute.

Er schwieg.

Und mir fiel einfach nichts anderes ein, als jetzt diesen belanglosen Scheiß zu sagen: „Josh hat mir versprochen, dass er nicht mehr blau macht bei Ihnen!“

Zuerst sah er mich weiterhin ohne Regung an.

Dann zuckten seine Mundwinkel nach oben und er lachte kurz unsicher auf: „Was?“

Und ich lachte auch: „Ja, Josh hat gesagt, er benimmt sich, und was er mir verspricht, das hält er.“

„Josh Sutherland, hm?“

Ich nickte „In solchen Gruppen gibt es immer einen, der so eine Art Führerrolle übernimmt, der sich alle irgendwie unterwerfen. Wenn Josh was sagt, dann machen's alle. Aber wenn ich was sage, dann macht Josh das.“

Herr Branner musterte mich genau, und nur ich schien dabei den verlangenden Blick zu bemerken „Und was genau... hast du mit Josh Sutherland zu tun?“ Er kniff verdächtigend die Augen zusammen und ich hörte den fürchtenden Unterton in seiner Stimme. Als wenn jetzt, wo gerade Joe als Konkurrenz aus dem Weg war, der unschlagbare Joshua auftauchen würde.

Ich ekelte mich kurz ob diesem Gedanken, dann sagte ich so nüchtern wie möglich: „Er ist mein Bruder.“ Dann korrigierte ich: „Halbbruder. Selber Vater, verschiedene Mütter.“

„Tatsächlich?“ Und ein Hauch Erleichterung klang mit.
 

Und das erleichterte mich, als wenn eine Tonne Steine von meinem Schultern fiel und dieselbe Menge von meiner Brust.

Ich spürte, dass ich plötzlich freier Atmen konnte, das Zittern meiner Hände ließ nach und in meinem Magen blieb ein angenehm aufregendes Gefühl zurück.

Und als ich Herr Branners blaue Augen sah, wie sie mich glücklich anschauten, da wurde mir heiß und kalt und ich wusste, nichts schien mehr im Weg zu stehen.

Geheime Nächte zu zweit.

Ich wartete den Rest des Tages ungeduldig ab.

Wippte nervös den Fuß auf und ab, kaute auf meinen Fingernägeln rum und erfand irgendwelche dummen Ausreden, wenn einer meiner Freunde fragte, was los sei.

Was genau los war, war mir heute so unglaublich bewusst, das mir stundenlang Adrenalin durch den Körper schoss.

Dementsprechend hibbelig war ich.

Wir schlenderten nach der Uni in der Innenstadt rum, aßen noch mal bei McDonald's – eigentlich nur Ray, Pat und Flo, die Mädchen kauften sich dann Brötchen oder sowas beim Bäcker, ich war fiel zu aufgeregt um was zu essen und dass Joe seit gestern Nahrung verweigerte, fiel mir in dem Moment nicht auf – und am frühen Nachmittag kehrten wir in die Jugendherberge zurück.

Die Kennenlernfahrt hatte nicht besonders viel mit Kennenlernen zu tun, zumindest tat ich mich immer noch schwer, mit denen, die ich nicht kannte, zu reden; wobei sich die Gelegenheit dazu auch gar nicht ergab.

Nur Abends, wenn auf den Zimmern gesoffen wurde.

Doch für heute hatte ich was anderes vor.
 

Meine Freunde, ganz besonders die Mädchen, waren sehr misstrauisch, als ich mich zu Herrn Branner gesetzt hatte. Sie hatten nicht verstehen können, was wir redeten, doch war ihnen das Schmunzeln, Anlächeln, Auflachen und warme Ansehen nicht entgangen.

Zum Glück aber wusste ich, dass sie daraus niemals die richtigen Schlüssel ziehen konnten, denn eine Affäre zwischen dem sexy Mathelehrer und dem unscheinbaren Tim war einfach zu abwegig als das sie das ernsthaft in Betracht ziehen würden.

Und so rätselten sie kurz, zuckten dann die Schultern und kümmerten sich weiterhin um ihren Kram.

Was mir sehr zusagte, denn neugierige Stalker konnte wohl keiner in so einer Situation gebrauchen.
 

Erst Recht nicht am Abend, als wir zusammen in unserem Zimmer saßen und trotz der erschreckenden Erkenntnis des schmerzvollen Ausnüchterungsprozesses wieder dabei waren, Alkohol zu verwirtschaften.

Und dieses mal zog ich mit, immerhin musste ich locker und offen sein für das, was später noch passieren sollte.

Heute blieben wir unter uns, Ray und Joe, Pat und Flo, Lilly und Julie, tranken dezent Bier und Sekt und wurden von Stunde zu Stunde lustiger, jedoch nicht absurd, abartig und niveaulos.

Bis auf Joe, der schweigend da saß und auch nach drei Stunden immer noch an seinem ersten Bierchen nuckelte; was uns aber nicht sehr auffiel.
 

Herr Branner und ich hatten den Tag nicht mehr miteinander gesprochen. Wir hatten uns wissende Blicke zu geworfen und lächelten dann immer bis zu den Ohren, ich ganz besonders, und irgendwie hatten wir im Stillen aus gemacht, dass ich ihn am Abend besuchen würde.

Um halb zwölf stand ich dann vom Boden auf, verfluchte meine eingeschlafene Füße und streckte mich.

„Was machstn?“ fragte Flo und ich antwortete: „Frische Luft schnappen, Beine vertreten...“

Und ich hoffte, niemand würde auf die Idee kommen, mit zu gehen.

Doch ihren musternden Blicken aus dem Fenster nach zu urteilen, verweilten sie wohl lieber im heißen Suffzimmer als ein Fuß in den kalten Schnee zu setzten.

Erleichtert und der Natur dankend verließ ich das Zimmer und atmete entlastet aus.

Ich sah mich im dunklen Flur um, um zu sehen, dass niemand da war, dann tapste ich leise rüber zur Tür, hinter der sich Herr Branner befand und auf mich wartete.

Ich schluckte die Angst, dann klopfte ich leise.

Wenig später öffnete er die Tür einen Spalt, erspähte mich und ließ mich in den Raum.

Mein Herz schlug mir bis in den Hals, so aufgeregt war ich.

Weil es irgendwie verboten war, diese Gefahr des Erwischtwerdenkönnen trällerte in meinem Hinterkopf; weil es Herr Branner war, in den ich seit Monaten jämmerlich verliebt war und weil er der Erste war.

Der Erste, den ich küssen konnte, auch so, den ich küssen wollte, auch so, den ich berühren wollte und konnte, spüren konnte.

Ein wohliger Schauer lief mir den Rücken runter, als wir uns schüchtern gegenüber standen und ansahen und nicht genau wusste, was wir tun sollten.

„Tja“, krächzte ich dann und schlug unsicher die Hände ineinander.

Er nickte, presste die Lippen aufeinander und ich spürte sein Verlangen geradezu in der Luft hängen.
 

War irgendwie beängstigend, gleichzeitig aufregend und ganz kribbelig.

Dann sagte er was: „Wir sollten da mal kurz drüber reden!“

Und ich strahlte ihn an, als er weiterfuhr: „Über das, was da gestern war.“

Er sah beschämt zur Seite und räusperte sich leise.

Ich nickte und sagte: „Ja.“
 

Und dann nickte er.
 

Hilflos standen wir da, in diesem kleinen Raum, gegenüber, mieden den Blick des anderen und wurden erdrückt von der Erregung, die die Atmosphäre beherrschte.

„Also, Tim“, setzte er dann an, sah auf zu mir, seine Lippen zitterten, seine Augen suchten meinen Blick, dann sahen sie runter zu meinem Mund und er schluckte hart.

Er wollte mich, aber so was von, doch etwas blockierte ihn.
 

„Mir macht das nichts aus!“

Sagte meine Stimme.

Mein Herz raste daraufhin und meine Beine machten zwei Schritte vor, zu ihm ihn. Jetzt waren wir uns so nah, dass ich aufschauen musste, um seine Augen zu sehen und er den Kopf senken musste, um mir ins Gesicht blicken zu können.

Zwischen uns baute sich eine ungemeine Spannung auf und so, wie ich in der Stille der Umgebung sein Herz klopfen spürte, war ich mir sicher, er hörte auch meines.

„Sie sind nicht mein Lehrer.“

Ich lächelte unsicher.

Er musterte mein Gesicht zum dreihundertsten Mal, doch schien er von meinem so wie ich von seinem nicht genug zu bekommen.

Sein Blick fuhr über die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen, das spitze Kinn, die rosigen Wangen und die leuchtend grünen Augen.

Allein das erregte mich schon etwas und ich konnte mich kaum zurück halten, ihn zu berühren und zu spüren, doch ich blieb standhaft, wenn auch nur ungern und ziemlich angespannt.

Er lächelte auch: „Nein, ich bin nicht dein Lehrer, aber...“

Ich hob meine Hand und legte vorsichtig meine kalten Finger auf seine zarten Lippen.

Ein Schauer überkam mich, ich erzitterte, dann breitete sich ein angenehmes, warmes Gefühl in mir aus, das nach noch mehr schmachtete.

Mehr Berührungen, intensiveren Kontakt zwischen den beiden Körpern.

Ich machte den letzten Schritt und schloss den letzten, kleinen Abstand.

Mein Herz berührte sein Herz, ich spürte es deutlich gegen meine Brust schlagen, ganz wild und aufgeregt; ich fühlte, wie seine Beine weicher wurden und das Beben in seinen Armen.
 

So fühlte sich so eine Nähe also nüchtern an.

So viel stärker als gestern, in der Luft lag heute nicht der fiese Geruch von Mezcal, aber diese erregte Spannung zwischen den sich Liebenden, die ihre Hürden überwinden, um zusammen zu sein.
 

Mein Gesicht näherte sich seinem, bis meine Stirn seine Nasion berührte. Er schloss die Augen und ich sah seine Lippen an, leicht geöffnet, wartend.

„Das ist mir egal.“ flüsterte ich und sie bebten unter diesen Wörtern.

Er schluckte, dann schob er den Kiefer vor und küsste mich.

Zuerst zurückhaltend und sanft, doch als er die süße Frucht des Verbotenen gekostet hatte und für unwiderstehlich gut befand, wurde er heischer.

Seine Hände umfassten meinen Körper und drückten ihn an seinen, sodass ich sein Herz noch klarer Klopfen spürte.
 

Ich liebte ihn.
 

Das wurde mir gerade in dem Moment so richtig bewusst.

Das war keine dumme Schwärmerei mehr, kein kleines Verliebtsein, es war richtige, aufrichtige, große Liebe.
 

Und dem sollte doch nichts im Weg stehen, absolut gar nichts.
 

Und dann lag ich plötzlich auf ihm, auf der trainierten Brust, die mein Gewicht gut aushalten konnte, meine Hände umfassten sein Gesicht und ich verschlang seine Küsse geradezu gierig.

„Hm“, machte ich, dann ließ ich von seinen Lippen ab, berührte mit meiner Stirn seine, hielt meine Augen geschlossen, denn ich wollte ihn so intensiv spüren, wie ich konnte.

„Herr Branner“, flüsterte ich „wie... wie alt sind Sie?“

Dann drückte ich ihn einen kleinen Kuss auf die Lippen.

Er lächelte, seine Hand strich immerzu über meinen Rücken und entfachte eine brennende Gänsehaut, die alles andere als unangenehm war.

„Siebenundzwanzig“, flüsterte er dann gegen meine Lippen und küsste mich kurz zurück.

Ich nickte leicht, überlegte kurz, dann küsste ich ihn nochmal kurz und sagte: „Elf Jahre also...!?“

„Scheint so.“ Er legte seine Hände auf meine Brust, drückte mich von sich hoch und legte meinen Körper neben sich auf die Matratze, den Kopf in das blaugelbe Kissen, und legte sich selbst auf die Seite, stützte den Kopf auf einem Arm ab, die andere Hand lag ruhig auf meiner Brust.

„Okay“, flüsterte ich, sah ihn an, sein Gesicht und war wiedermal erstaunt über diese unfassbare Ähnlichkeit mit dem Mann, der in Postern meine Zimmerwände zierte.

Ob er sich diesem Aussehen bewusst war?
 

Dann lagen wir da. Wir schwiegen. Wir berührten uns gegenseitig so viel und intensiv, wie es ging, wir küssten uns sanft und schüchtern, dann fordernd und fest und als wir beide so müde waren, dass wir uns kaum noch wach halten konnten, rüttelte er vorsichtig meinen Körper.

Ich schreckte aus meinem Duselzustand auf, doch war ich keineswegs orientierungslos, ich spürte sofort die angenehme Nähe seines Körpers und fühlte mich geborgen und warm.

„Tim“, flüsterte seine Stimme, dann drückten mir seine Lippen einen Kuss auf.

„Du gehst besser zurück.“

„Was?“, nuschelte ich, drehte mich auf die Seite und kuschelte mich an seine Brust. Er lachte leise auf, streichelte meinen Rücken und hauchte einen Kuss auf mein Haar „das geht nicht; Tim, wir müssen aufpassen, und das zählt dazu. Du musst so tun als wenn nichts wäre.“

Erklärte er leise, dann küsste er nochmal die Stelle auf meinem Haar und strich sehr tröstend über meinen Rücken.

Ich verstand, was er meinte, aber ich wollte nicht weg.

Draueßen war es kalt, in meinem Bett war es einsam und ungemütlich, ich wollte nicht dahin zurück, wenn es doch hier so warm und zweisam war.

Er rüttelte mich nochmal sanft: „Tim!“

Ich seufzte, dann löste ich mich von seiner Wärme und sah ihn so unglaublich traurig an, wie es mir eben möglich war mit müden Augen.

Er lachte wieder sanft auf und flüsterte ein „Tut mir Leid“, gegen meine Lippen, dann küsste er mich.

Ich brummte, dann standen wir vom Bett auf und gingen zur Tür.

„Morgnabnd?“ fragte ich hoffnungsvoll und er zuckte die Schultern: „Kannst du dich von den anderen losmachen?“

Ich zuckte die Schultern „bestimmt, die sind betrunken nicht auf auf einer sonderlich geistigen Höhe!“

Er lachte wieder, dann beugte er sich zum letzten mal zu mir vor und küsste mich.
 

Dann lächelten wir uns an, ich öffnete die Tür und verließ den Raum.
 

Der Flur war kalt und einsam, man fühlte sich gleich so angreifbar und allein.

Ich seufzte traurig, dann tapste ich zurück zu meinem Zimmer.

Das Licht brannte noch, doch so richtig wach waren sie nicht.

Lilly lag eingerollt in Rays Umarmung und mir kam fast das Kotzen bei dem

Anblick.

Pat schlummerte auf dem Boden, da würde er morgen eine schicke Verpsannung haben und Joe lag ziemlich einsam aussehend in meinem Bett.

Ich seufzte genervt, beugte mich zu ihm runter und schüttelte ihn.

Doch außer einem Brummen machte er nichts.

„Grrr, Joe!“ zischte ich, doch er wachte nicht auf.

Missmustig schielte ich zu seinem Bett hoch.

Obwohl da drin niemand lag, degoutierte es mich, da zu schlafen.

Also schob ich Joe etwas schwerfällig zur Seite und legte mich neben ihn.

Und weil das Bett viel zu klein war, als dass zwei nebeneinander vernünftig darin liegen konnten, rückte ich ganz nah an ihn heran, fing seine Wärme auf und merkte gleich, dass es sich fast so gut anfühlte, wie bei Herrn Branner.

Nur nicht ganz so aufregend.

Ich legte unsanft einen Arm um Joe, sollte mir doch egal sein, wenn er dadurch aufwachte. Tat er aber nicht, das missbilligte ich dann doch ein wenig.

Brummig zog ich uns die Decke bis zum Kinn, dann kuschelte ich mein Gesicht an seinen Rücken und schlief ein.

This Picture - Placebo

„Hey ihr Schwuchteln“, flüsterte jemand und holte mich so sanft, trotzdem unangenehm aus meinem kurzen Schlaf.

Um mich herum war es ungewohnt warm und ich erinnerte mich an den vorherigen Abend, als ich mit Herrn Branner im Bett lag und wir kuschelten.

Ich lächelte, freute mich, weil ich aus einem Traum aufwachte und mein tiefstes Begehren Realität war und öffnete dann meine Augen.

Es war Ray, der mich vergnügt ansah.

Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.

Ray hatte hier nichts verloren.

Etwas ratlos hob ich den Kopf, dann bemerkte ich, dass ich gar nicht bei Herrn Branner unter der Decke lag.

Dann kroch die Erinnerung an den traurigen Abschied von gestern in mein Kopf und dass mein Bett besetzt war, als ich zurück ins Zimmer kam.

Erschrocken drehte ich mich um, erblickte Joe neben mir, der seinen Arm um mich geschlungen hatte, aber immer noch fest schlief.

„Oh scheiße“, sagte ich, schlug die Decke zur Seite und strampelte mich aus dem Bett.

Rays schallendes Gelächter erfüllte dabei den Raum.

„Meine Fresse“, nuschelte ich, hielt mir den Kopf und fand, dass der Boden, auf dem ich mich gerettet hatte, ziemlich kalt war.

„Und ich dachte, du verbringst die Nacht wieder bei deiner süßen!“ sagte Ray und hielt mir die Hand hin, um mich hoch zu ziehen.

Ich brummte, rieb mir den Hintern und antwortete: „Ich würd' viel lieber über deine Süße reden.“

Rays Gesicht färbte sich rot und er stotterte: „Keine Ahnung, was du meinst.“

„Ja klar“, entgegnete ich „was ist mit Lilly und dir?“

„Ähm“, er verschluckte sich, hustete kurz, dann räusperte er sich und zuckte die Schultern: „Alter. Lilly!“

„Ja“, sagte ich „ganz genau man. Lilly, sie ist unsere Freundin. Und du weißt genau, dass zwischen Freunden nichts läuft.“
 

Dass Joe das gehört hatte, wusste ich nicht; und dass er wach war, als ich mich so erschrocken hatte, neben ihn zu liegen, das wusste ich auch nicht; doch wenn ich gewusst hätte, wie es in ihm aussah, dann wäre ich vielleicht umsichtiger gewesen.

Und dass ich ihm damit ins Herz stach, konnte ich in meiner rosa Naivität wirklich nicht ahnen.
 

Der letzte Abend in Aachen verlief ungefähr genauso.

Ich verließ das Zimmer mit dem Vorwand, die Betrunkenen seien wir zu nervig, schlich mich rüber zu Herrn Branner und blieb bei ihm bis sechs Uhr in der Früh.

Dann weckte er mich sanft und ich ging zurück in mein Zimmer, kroch in mein kaltes Bett und schlief wieder ein, bis die Jungs mich um neun weckten.

Sie ließen es, mir dämliche Fragen zu stellen über meine ständige Abwesenheit, vielleicht hatten sie das auch nicht mehr gewusst, denn wer drei Tage am Stück betrunken war, der konnte schon einiges gut vergessen.

Tagsüber versuchte ich, Herrn Branner so gut wie es ging normal gegenüber zu treten, doch war irgendwo in mir immer noch die Furcht, irgendwer könnte an einer Gestik oder Mimik genau erkennen, was zwischen uns war.

Deshalb mied ich ihn so gut, wie es ging.

Am dritten Abend nahm ich mein Handy mit zu ihm auf das Zimmer, wollte seine Nummer haben und ein Foto machen.

„Wozu brauchst du ein Foto?“ hatte er mich gefragt, als er gerade in seiner Jackentasche kramte und sein Mobiltelefon hervor nahm.

„Na, zum Haben!“ hatte ich geantwortet.

Er hatte mich verwirrt angesehen, die Tasten des Telefons entsperrt und nach seiner Nummer gesucht „wieso musst du ein Foto von mir haben?“

„Weil ich es nunmal will. Außerdem; tu nicht so, als hättest du nicht Fotos von mir gemacht heute Mittag auf dem Weihnachtsmarkt!“
 

Seine Mundwinkel zuckten und seine Wangen wurden leicht rot.

Er setzte sich neben mich auf das Bett, in dem wir die meiste Zeit küssten und kuschelten: „Ich habe Fotos von den Schülern gemacht, für die Abizeitung und so.“

„Ja, klar. Und fünfundzwanzig für deine private Sammlung?“ ich klang wohl etwas schärfer, als ich wollte, denn das Rot in seinem Gesicht wurde gleich dunkler.

„Hm“, er brummte, dann strich er sich sein Haar aus dem Gesicht, doch ich hielt ihn davon ab: „Nicht. Mir gefällt es so besser.“

„Ah ja?“ er lächelte und ich nickte.

Dann durfte ich mit meiner kleinen Handykamera ein Foto machen.

Und das war das erste Bild, das ich von meinem ersten Freund hatte. Ein kleiner Herr Branner in meinem Handy, der nur mir gehörte und welches mich wieder daran erinnerte, was für eine verblüffende Ähnlichkeit er mit Zac Efron hatte.

Seine Nummer bekam ich auch.

Er natürlich auch meine, und das nutzte er gleich am Sonntag, als wir im Regionalexpress nach Hause saßen, aus.
 

Die Lehrer waren scheinbar noch am entspanntesten von allen; den Schülern dröhnte der Schädel im Kater, immerhin waren sie drei Tage lang dauerbesoffen gewesen, doch für sie hatte sich nichts geändert.

Aber für mich.

Als total unerfahrene Jungfrau mit einer erbaulichen Schwärmerei bin ich dort hin gefahren; liebend in einer richtigen Beziehung steckend kehrte ich zurück.

Ich war unschuldig gewesen, nun hatte ich ein schmutziges Geheimnis.
 

Und dabei fühlte ich mich natürlich ungeheuer gut.
 

Es war aufregend, erfrischend, spannend und irgendwie erregend.

Niemand durfte irgendetwas ahnen oder richtig deuten oder sogar wirklich sehen.

Herr Branner lief (sonst) Gefahr, seinen Job zu verlieren.

Das war die milde Sache, die er mir am frühen Abend nahe legte.

Später erklärte er mir, dass ich so jung so sei, dass es für ihn wirklich ernsthafte Konsequenzen haben könnte, wenn auch nur irgendwer Wind von der Sache bekäme.

„Und das willst du doch nicht, oder?“ hatte er gefragt.

Ich hatte den Kopf geschüttelt und ihn dann wieder auf seine Brust gelegt, um seinem Herzschlag zu lauschen.

Ich wusste, dass ich bei ihm bleiben wollte und soviel Zeit, wie es ging, mit ihm zusammen sein wollte, und wenn das hieß, immer achtsam zu sein und aufzupassen, was man tat, dann konnte ich damit umgehen. Dachte ich.
 

Ich saß also allein in meinem Sitz in der Bahn und hörte zu, wie Brian über einen Aschenbecher und ein Mädchen und ein Bild sang, als ich spürte, wie mein Mathelehrer sich näherte.

Mein Herz klopfte schneller gegen die Brust.

Ich umklammerte meinen iPod fester und verspannte etwas.

Im Augenwinkel dann sah ich seine dunkle Jeans, sie strich meine Schulter.

Seine Hand war zu einer Faust geballt, doch der Zeigefinger stand ab.

Er wollte mir etwas sagen.

Doch tat er es so unauffällig, dass niemand was merkte und ich nicht mal darauf kam, was er wollte.

Wenig später vibrierte dann mein Handy.

Ein Lächeln zuckte über mein Gesicht, ich wusste schon, dass er es war.

„Komm mit“ stand in der SMS.

Ich legte meinen MP3-Player in meinen Rucksack und stand dann auf.

Als ich mich umsah, sah ich nur die müden Gesichter der Mitschüler, einige fremde Passagiere, doch keinen Herr Pieper, keine Frau Berger und keine Rescher.

Joe saß auf seinem Sitz einige Reihen hinter mir und schien zu schlafen, zumindest waren seine Augen geschlossen und Billy Talent dröhnte aus seinen Kopfhörern bis zu mir vor.

„Wohin gehst du?“ fragte Lilly, ich antwortete knapp mit: „Klo.“ und sie akzeptierte, bevor sie weiter in ihrem Buch las, was auch sonst.

Ray und die anderen schliefen.

Eigentlich ein guter Moment für ein kurzes, geheimes Treffen.

Ich stieg die kleine Treppe hinab und ging an der Boardtoilette vorbei durch einen kleinen Gang zum Fahrradwagen.

Hier standen keine Fahrräder, auch keine Fahrgäste, was für ein Glück, nur einsam und allein mein Lehrer. Der ja jetzt nicht mehr mein Lehrer war, sondern mein Freund.

Hier stand einsam und allein mein Freund.

„Was gibt’s?“ fragte ich lächelnd, als ich zu ihm hin kam.

Er drehte sich zu mir um, lächelte auch und antwortete: „Nichts besonderes. Ich hatte bloß... Langeweile.“

Er beugte sich zu mich vor, zog mich an sich ran und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.
 

Mein Herz pumpte nicht nur wild Adrenalin in meinen Körper, weil es so aufregend war, meinen neuen Freund zu küssen, sondern auch, weil es verdammt nervenaufreibend war, ihm ausgerechnet hier auf diese Art so nah zu sein.

Wo mein ganzer Jahrgang nur wenige Meter weiter saß, mein Oberstufenleiter irgendwo ganz nah nichts ahnte und meine Vertrauenslehrerin sicher dachte, wir seien zumindest dahin sichtlich ziemlich artige Gesellen.
 

„Hm“, machte ich in den Kuss, dann löste ich mich und sah mich verstört um.

Niemand war da, niemand hatte uns gesehen, niemand konnte uns verpetzten.

„Meine Fresse“, flüsterte ich wegen dem geringen Schock, der noch in meinen Gliedern saß.

„Doch nicht hier, verdammt, doch nicht so, Sie haben mir gestern ewig eingetrichtert, was auf dem Spiel steht!“

Er grinste verschmitzt: „Ich bin doch auch nur ein Mann.“

Ich brummte.

Dann drückte ich mich gegen ihn, stellte mich auf die Zehenspitzen, Herr Branner war immerhin sieben Zentimeter größer als ich, und drückte ihm einen festen Kuss auf die Lippen.

Dann wandte ich mich ab, nicht, ohne breit zu Grinsen und wollte wieder gehen.

Doch seine Stimme hielt mich fest: „Wirst du abgeholt?“

Ich drehte mich zu ihm um: „Was?“

„Vom Bahnhof nachher.“ Herr Branner sah mich an.

Ich zuckte die Schultern „Wieso...“

„Ich kann dich nach Hause fahren.“
 

Ein Auto hatten wir ja sowieso nicht, was anderes als mit der Straßenbahn Heim zu fahren wäre mir nicht übrig geblieben.

Und das reizte mich ja nun überhaupt nicht.

Also nahm ich an und ging dann leise lächelnd zurück zu Brian und den Meds.
 

Als wir am Mittag am Hauptbahnhof ankamen, schneeregnete es und die Luft schien kälter zu sein, als sie es in Aachen gewesen war.

Ich erschauderte kurz, als ich auf dem Bahnsteig stand, einen Rucksack auf dem Rücken, eine Tasche in der Hand haltend und mich von den anderen knapp verabschiedete.

„Willste mit uns fahren?“ fragte Ray, als er sich ein Snickers in den Mund schob und deutete auf den hinteren Ausgang des Bahnhofs.

Ich verspannte und suchte schnell, während ich langsam den Kopf schüttelte, nach einer plausiblen Ausrede dafür, nicht mit Ray nach Hause zu fahren.

„hm?“ hakte er nach und sah mich erwartend aus seinen dunklen Augen an und ich antwortete mit dem ersten, was mir in den Sinn kam: „Ich geh zu Papa!“

„Hm“, entgegnete Ray, sah etwas verwirrt aus, zuckte dann jedoch die Schultern, warf die Snickersverpackung in den Mülleimer und ging dann „Alles klar, bis Morgen dann.“

„Bis dann.“
 

Mein Vater wohnte nicht weit weg vom Bahnhof, zu Fuß kam man da in sieben Minuten hin, doch hatte ich sicher nicht vor gehabt, Josh zu begegnen.
 

Ich wartete in der Halle, bis sich das Getummel gelegt hatte und wirklich jeder Schüler mit Sicherheit nicht mehr in der Nähe war.

Dann machte ich mich auf dem Weg zum hinteren Ausgang, wo ich Herrn Branner schon stehen sah.

Mit dem Rücken zu mir und er machte die ganze Zeit keine Anstalt, sich um zudrehen.

So grinste ich böse, nahm die letzten Meter Anlauf, ließ die Tasche unterwegs fallen und sprang mit soviel Kraft, wie ich aufbringen konnte – das war bei weitem nicht alles, wozu ich eigentlich fähig war – und sprang ihm auf den Rücken, schlang meine Arme um seine Schultern und lachte ihm laut ins rechte Ohr.
 

Herr Branner erschreckte sich so sehr, dass er einige Schritte unkoordiniert nach hinten setzte, dann nach vorn baumelte und sich anstrengen musste, das Gleichgewicht wieder zu bekommen.

Dann ließ ich los, rutschte runter zum Boden und grinste ihn sehr breit an.

Er grinste zurück.

Wortlos nahmen wir unsere Sachen und ich lief neben ihm her zum Parkplatz.

Über sein Auto war ich plötzlich gespannt, obwohl ich mich für so etwas wirklich nicht interessierte.
 

Ich ahnte es schon, als wir uns dem Ding näherten, doch wirklich wahr haben wollte ich es wohl nicht.

Dieses Auto war uns auf dem Parkplatz vor dem Schulgebäude auf jeden Fall schon öfter aufgefallen, teilweise hatten wir Spaße über die Farbe gemacht, die Autointeressierten waren aber auch deutlich neidisch.

Das Einzige, was ich darüber sagen konnte, war, dass es in einem sehr auffälligem, leuchtend quietsche blau war und für mich aussah, wie ein Porsche.

Selbstverständlich wurde ich für diese Aussage imaginär gelyncht.

Wobei dieses Gefährt ein ziemlich direkter Konkurrent für Porsche war und sich die Geschmäcker auch hier entscheidend teilten, doch waren meine Autointeressierten Kameraden sich einig darüber, dass dieser Wagen in dieser heraus stechenden Farbe besser sei.

„Meine Fresse“, sagte ich beeindruckt „ich dachte, wir sollten uns unauffällig benehmen!“

Herr Branner grinste, als er die Heckklappe öffnete und seine Tasche achtlos in den kleinen Kofferraum warf „Kein Mensch achtet auf den Fahrer.“

„hm“, entgegnete ich und suchte den Aufmachknopf an der Tür.

„Und was fürn Auto willst du fahren?“ fragte er mich, als er zu mir kam und mir die Beifahrertür öffnete, die nicht, wie wohl bei jedem normalen Auto einfach zur Seite hin auf ging; nein, der Mathelehrer brauchte eine extravagante Art für seine Autotüren, die sich nämlich nach vorn hin anhoben.

Und da war ich mir gar nicht mal mehr so sicher, ob er nicht einen kleinen Komplex hatte, vielleicht irgendetwas kompensieren musste mit diesem Luxusgefährt.

„Meine Fresse“, kommentierte ich sein Auto „ich habe mir wirklich noch nie Gedanken darüber gemacht.“

„Hm“, er lächelte, als ich einstieg, die Innenverkleidung bestaunte und er die Tür von außen schloss.
 

„Gut“, sagte er dann, als er einstieg, seine Tür zuging und er den Schlüssel in das Zündschloss steckte.

Der Motor startete, die Karosserie vibrierte und ich war nicht minder beeindruckt.

Dann fuhr das Auto los, reihte sich in dem wenigen Sonntagsverkehr ein und fuhr genau in die andere Richtung von da, wo ich wohnte.

„Herr Branner?“

„hm?“

„Sie sind doch seit zwei Jahren erst Lehrer?“

„hab eigentlich erst im Sommer das zweite Examen gemacht“, erklärte er.

„Wie können Sie sich so ein Auto leisten?“

Er schwieg.

An einer roten Ampel kam das Ding zum Stillstand, er legte den ersten Gang ein, sah dabei doch ziemlich nachdenklich aus, dann sah er mich an, zuckte die Schultern und sagte: „Ja, wie eigentlich?“

Der Mathelehrer und der Matheschüler

Als Herr Branner in einer Parklücke eingeparkt und den Motor ausgestellt hatte, atmete er laut auf und sah mich dann an.

Ich schaute aus dem Fenster. Wir befanden uns in einer gewöhnlichen, kleinen Einkaufsstraße; Mehrfamilienhäuser standen Wand an Wand, in den untersten Etagen waren kleine Blumenläden, eine Bäckerei, ein Café und eine Eisdiele, eine Sparkassenfiliale und eine Boutique.

„Wo wohnstn du eigentlich?“ fragte er dann. Ich spürte seinen Blick auf mir, er sah mich gespannt und schmachtend an, musterte mein Gesicht, meinen Hals, die Schulter unter dem Pullover und das Schlüsselbein.

Als ich fertig geguckt hatte, drehte ich mich zu ihm um, erwiderte den begehrenden Blick und antwortete: „Bei meiner Mutter.“

Er nickte und grinste, und ich grinste zurück.

Dann strich er mir durch das Haar, die Hand glitt über meinen Hinterkopf in den Nacken. Er sah mich wieder so an.

Ein Blick voller Wärmer und Vertrauen, der mir sagte, dass er mich wollte, mich liebte, so, wie ich hier vor ihm saß und dass er froh war, mich endlich haben zu können.

Dann zog er mich zu sich hin, seine Lippen trafen auf meine, berührten sich hart, bewegten sich aufeinander.

Seine andere Hand strich über meine Wange und ein aufregendes Kribbeln folgte der Berührung.

Er glitt über mein Kinn zur Brust, die Seite runter und legte die Hand schließlich auf meine Hüfte, zog meinen Körper noch näher zu sich und ich spürte seine Wärme, wennauch wir durch die Mittelkonsole getrennt wurden.

Nah waren wir uns trotzdem.
 

Als er von mir ab ließ, sah er mir wieder so in die Augen.

Sein Blick lächelte.

Dann flüsterte er: „Wann erwartet dich deine Mutter?“

Ich lächelte auch und zuckte die Schultern: „Weiß nicht.“
 

Dann lehnte ich meine Stirn an seine, ich schloss die Augen und genoss es, bei ihm zu sein.

Seinen Herzschlag unter meiner Hand zu spüren und seinen leisen Atem in meinem Ohr zu hören.

Wenn diese Stille zwischen uns nicht unbehaglich war, wenn sie als angenehm und unterstreichend empfunden wurde, dann durfte ich doch wohl von richtiger Liebe reden, oder?
 

Herr Branner hielt sich sehr zurück, wenn es darum ging, etwas von sich zu erzählen.

Er schwieg gern, genoss die Stille der Zweisamkeit, lag gern einfach nur da, neben mir, streichelte mein Gesicht, spielte gedankenverloren mit meinem Haar, hielt liebevoll meine Hand und erbaute sich am zusammen sein.

Er war mir gern nah, legte seine Arme um mich, oder seinen Kopf in meine Halsbeuge, ließ mich gern seinen Herzschlag hören und freute sich einfach nur darüber, dass er mit mir zusammen sein konnte.
 

Eigentlich hielt er sich insgesamt mit dem Erzählen sehr zurück.
 

Seine Wohnung war oberhalb des kleinen Blumenladens und passte eigentlich nicht wirklich zu seinem blauen Lotus.

Sie war nicht besonders groß und ziemlich spärlich eingerichtet.

Ein Regal im kleinen Flur, ein Tisch und zwei Stühle neben der Küchenzeile. Ein Dreisitzter und ein freischwingender Sessel von Ikea, eine ziemlich große Fernsehbank für seinen riesigen Plasma Fernseher und die Playstation drei fanden sich in dem kleinen Wohnzimmer wieder.

Weniger auffällig im Eck unter einem der zwei Fenster stand ziemlich einsam ein kleiner Schreibtisch, dadrauf der neuste iMac neben ordentlich gestapelten Bücern und CDs.

„Hm“, machte ich, als ich die Wohnung betrat und mich umsah.

Ich fragte mich, an wen ich da geraten war.
 

Ich hatte mir sicherlich hundert Mal ausgemalt, Herrn Branner in seiner Wohnung zu besuchen.

In meiner Fantasie war sie immer ziemlich hedonistisch gewesen, Bücher und CDs, die auf dem Boden lagen, Benutzten Pfannen und Töpfe in der Spüle, eine Schlafcouch, die nie zum sitzen, sondern nur zum Schlafen benutzt wurde und mit Sicherheit kein Fernseher mit einer Bildschirmgröße im Ausmaß meines Bettes.
 

„Sie leben nicht schlecht“, stellte ich fest.

Er legte seine Schlüssel auf das Regal im Flur, zog sich die schwarze Jacke aus und warf sie einfach über die Garderobe und kam dann zu mir in die Tür zum Wohnzimmer.

Er legte die Hände auf meine Schultern, massierte eine wenig durch den Stoff des Pullovers und der Jacke und sagte: „Beeindrucken muss ich dich doch nicht damit?“
 

Auf die Frage hin, wie er sich einen iMac und einen zweitausend Euro Fernseher leisten konnte, bekam ich keine Antwort und auch der blaue Lotus Esprit blieb mir ein Rätsel.
 

Wir verbrachten den Nachmittag auf seiner Couch.

Das Gerät von Fernseher lief, meistens aber nur nebenbei, wir küssten uns und kuschelten und genossen einfach nur die Zweisamkeit; und aßen Pizza.

Am frühen Abend, als es anfing, dunkel zu werden, fuhr er mich dann nach Hause.

Mama war nicht da gewesen, hatte mir einen Zettel auf den Küchentisch hinterlassen, der mir sagte, dass sie bei Lou sei und vermutlich erst spät nach Hause käme.
 

Lou, eigentlich Louise-Marie, war ihre beste Freundin seit Kindheitstagen. Sie gingen zur gleichen Schule, machten gleichzeitig ihren Abschluss, Mama studiere vier Semester Sozialpädagogik, Lou machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Dann lernte Mama den verrückten, hippen jungen Mann von der Schauspielschule kennen und sie verliebten sich.

Sie brach ihr Studium ab und begann ebenfalls eine Ausbildung zur Krankenschwester. Hier traf sie dann Lou wieder und die alte Freundschaft blühte ganz neu auf.
 

Herr Branner und ich verabschiedeten uns voneinander mit einem innigen Kuss.

Total müde und total glücklich ging ich an diesem Abend in mein Bett und ich nahm mir vor, am nächsten Tag alle Poster von Zac aus meinem Zimmer zu entfernen.
 

In der Schule taten wir weiterhin so, als sei nichts.

Herr Branner war viel souveräner, er konnte mich wirklich so behandeln wie vor der Klassenfahrt. Sogar ich kaufte ihm das Benehmen ab und manchmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob wirklich etwas zwischen uns war.

Doch wenn er im Unterricht zu mir an den Tisch kam und sich davor hin hockte, um mir persönlich nochmal zu erklären, was Orthogonalität bedeutete, dann spürte ich seine Zuneigung.

Manchmal leuchteten seine Augen auch, sehr dezent, aber für mich war es zu sehen.

Doch irgendetwas bemerken, das konnte niemand.

Wir begrüßten uns so, wie sich Schüler und Lehrer begrüßten, er berührte mich nicht auf eine Art, auf die ein Lehrer seine Schüler nicht berühren sollte und wenn er mich ansah, dann war seine Zuneigung nur für mich ersichtlich.

Eigentlich verhielten wir uns unauffälliger, als wir es vor Aachen getan hatten, und auch meine verbalen Schwärmerein im Freundeskreis gingen sehr zurück.
 

Am letzten Dienstag vor den Weihnachtsferien wünschte er uns, bevor die Schulglocke läutete, schöne Feiertage, schöne Ferien und einen guten 'Rutsch ins Neue Jahr'.

Wir packten unsere Blöcke in die Rucksäcke und wollten in die Pausenhalle gehen.

Ich ließ mir sehr viel Zeit und Lilly, Ray und Joe wartete bei der Tür auf mich.

„Hm“, sagte ich, sah meine Freunde, dann Herrn Branner an, der sich noch Notizen in sein Kursbuch machte.

„Ich wollt' eigentlich noch mal kurz mit Herrn Branner reden. Wegen Noten und so.“

Erklärte ich ihnen und ließ den Collegeblock in meine Tasche gleiten.

„Nagut“, sagte Lilly „wir sind unten am Stammtisch, ja?“ sie lächelte mich merkwürdig an, Ray seufzte genervt und Joes Blick war so durchdringlich, dass mir augenblicklich kalt wurde und ich eine unangenehme Gänsehaut bekam.

Schnell schluckte ich das Unbehagen runter, zog den Reisverschluss von der Tasche zu und sah dann zu Herrn Branner auf.

Der schrieb sich noch immer etwas auf, doch lächelte er.

Und das Lächeln war so warm, dass ich mich sofort besser fühlte und mein Herz einige Sprünge machte.

Ich stand von meinem Stuhl auf, legte den Rucksack auf den Tisch, ging zur Tür, sah in den Flur, ob dort jemand war, zum Glück keiner, und schloss die Tür dann zu.

Dann drehte ich mich wieder zu ihm um.
 

Er sah mich immer noch nicht an, er schrieb sich immer noch etwas auf.

Ich ging zu ihm.

Ich griff nach seinem sich permanent über das Papier bewegendes Handgelenk.

Das Schreiben hörte auf.

Herr Branner sah meine Hand gespannt an.

Ich hob seinen Arm, legte ihn um mich, drückte seinen Oberkörper nach hinten und ließ mich dann auf seinem Schoß nieder, legte die Arme um seinen Hals und lächelte ihn sinnlich an.
 

Dann lehnte er sich vor und wir küssten uns.
 

Und in meinem Hinterkopf war wieder die Angst vor der Gefahr, dass jemand plötzlich ins Zimmer geplatzt käme und sah, welche Auffassung wir hier von Unterricht hatten.

„Hm“, machte er, dann lösten wir uns und er lächelte mich frech an „und du glaubst wirklich, dass deine Noten dadurch besser werden?“

„Zumindest versuchen sollte ich es.“ antwortete ich und küsste ihn erneut.
 

Es fühlte sich so verboten gut an.
 

„Herr Branner“, sagte ich, legte meinen Kopf auf seine Schulter und spürte sein Herz gegen meins. Seine Arme waren um mich geschlungen und ich konnte fühlen, wie sehr er diese Berührungen genoss.

„Was ist mit Weihnachten?“

„Was sollte damit sein?“

„Wollen wir da zusammen sein?“
 

Sein Schweigen war etwas unangenehm und ich wollte mich aufrichten um ihn anzusehen, doch drückte er mich an sich, dann küsste er mein Haar und nickte: „Natürlich wollen wir das.“

Ich spürte seinen Atem an meinem Hals.
 

„Na ja“, sagte ich „Heilig Abend ist doof, da sind wir immer zu Hause und Papa und Josh kommen und so. Aber an den Weihnachtstagen haben wir nichts vor.“

Er nickte wieder: „Alles klar.“

„Ziemlich cool, was?“ Jetzt lehnte ich mich endlich zurück und strahlte meinen Lehrer an. Der nickte.

„Dann seh ich dich am Freitag wieder?“

„Ja.“

„Alles klar.“
 

Ich stieg von ihm runter, drückte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen und als ich mich umdrehte um meinen Rucksack zu holen, wurde die Tür aufgerissen und eine Schülerin aus der zehnten Klasse stand im Türrahmen.

Mein Herz raste und pumpte ungewohnt viel Adrenalin durch meinen Körper, sodass ich deutlich sichtbar zitterte, als ich den Riemen meines Rucksacks griff.

„Man Herr Branner, wo bleiben sie denn“, sagte sie genervt „sie sind seit zwanzig Minuten überfällig!“

Ich schluckte nervös, drehte mich dann zu ihm um, lächelte unsicher und verabschiedete mich.
 

Auf dem Weg in die Pausenhalle dann kam mir zum ersten Mal der Gedanke, wie absurd und riskant diese Beziehung war.

Wäre sie nur eine Minute eher rein gekommen hätte sie uns in dieser absolut unmissverständlichen Position vorgefunden.

Dann wäre es aus gewesen.

Zwischen ihm und mir, mit seiner Karriere in diesem Beruf und mit seiner Freiheit.

Und ich hätte ewig mit diesem Gewissen leben müssen, dass ein unschuldiger Mann meinetwegen sein ganzes Leben versaut bekommen hätte.
 

Den Rest das Tages zitterte ich vor Aufregung und der Angst, die immer noch in mir saß.

Große Brüder und kleine Brüder

Ich vermisste Herrn Branner.

Der Mittwoch zog sich und Donnerstag war sicherlich kein angenehmer, erster Ferientag für mich.

Zwar schlief ich endlich mal wieder richtig entspannt aus, doch trotzdem fühlte es sich nicht so gut an, so ganz allein im Bett.

Nicht, dass ich jemals bei Herrn Branner übernachtet hätte, ich hatte sein Schlafzimmer noch nie gesehen.

Doch wenn ich bei ihm war, fuhr er mich ganz von sich aus, wie eine Art Regel, Abends nach Hause.

Und zu mir kam er ja sowieso nie.

Wäre mir schon schlimm genug, wenn Mama mich mit irgendeinem Mann erwischen würde, aber einen elf Jahre älteren, der zusätzlich noch mein Lehrer war, das wollte ich ihr garantiert nicht zumuten.
 

Meine Abwesenheit in den letzten Tagen schrieb sie einer heimlichen Freundin zu, was so unverkehrt auch nicht war.

Nur meine Freunde waren da etwas skeptischer.

Neulich fragten sie mich, ob ich mit ihnen in den Pub wollte, doch natürlich hatte ich an diesem Abend vor, zu Herrn Branner zu fahren.

Da warf mir Ray das erste mal vor, dass ich in letzter Zeit kaum Zeit mehr hätte.

Nach der Schule sofort nach Hause, ich würde nicht mehr auf Telefonanrufe oder ähnliches reagieren und online sei ich auch so gut wie gar nicht mehr.
 

Dass das seit Aachen so war, bemerkten sie zum Glück nicht, oder sie fanden keinen Zusammenhang.
 

Und dass Joe sich von mir immer mehr distanzierte, dass bemerkte ich natürlich auch nicht, immer hin war ich viel zu beschäftigt mit meiner Liebe.
 

Es war nicht so, dass Herr Branner mich je mehr berührt hätte, als ich wollte. Und ich war so nervös, was das anging, dass ich garantiert noch nicht so berührt werden wollte.

Ich hatte mir im Grunde niemals Gedanken über Sex gemacht, das war für mich immer sehr fern, immerhin war meine einzige Liebe immer nur Zac Efron gewesen, und es gab sicherlich kaum etwas unrealistischeres als Sex mit dem.

Und da ich so unerfahren und nervös war, machte ich mir auch keine Gedanken über Sex, als ich mit Herrn Branner zusammen kam.

Er war siebenundzwanzig Jahre alt, ich erwartete garantiert nicht, dass er eine keuschere Jungfrau war, und vielleicht war es genau deshalb total unwirklich, mit ihm zu schlafen.

Nicht, dass ich niemals Sex wollte, aber das alles war mir in diesem Moment so fern, wie Zac Efron.
 

Als ich endlich im ICQ online kam, wurde ich gleich von Nachrichten von Lilly bombadiert, die sie mir scheinbar die halbe Nacht zukommen lassen hatte.

„Verdammt“, hieß es in der Neusten „ich hab dir hundert SMS geschrieben und dich achthundert Mal angerufen, Tim!!!!“

Etwas verwirrt und noch müde fragte ich, was los sei.

„du musst mit Ray reden! Sofort.“ antwortete mir mein Bildschirm und die Verwirrung wuchs immer mehr.

„Wieso?“ tippte ich in das kleine Gesprächfenster.

Sie antwortete nur mit einem ziemlich nachdrücklichen 'Sofort' und einigen Ausrufezeichen.
 

Etwas lahm kramte ich in meinem Rucksack nach meinem Handy.

Es war auf Lautlos eingestellt, was erklärte, wieso ich ihre dreiundzwanzig Anrufe nicht bemerkt hatte.

Genervt drückte ich die weg, dann suchte ich nach Ray im Telefonbuch und seufzte genervt auf, als ich es bei ihm Klingeln ließ.

Dann ertönte das Klicken, dann hörte ich schon ein nervöses „Tim?“

„Äh“, antwortete ich matt „was'n los, alter?“

„Es geht um Steve un...“, er hielt inne.

„Was ist denn los?“ fragte ich und seine Nervosität sprang auf mir über.

Ray war doch immer jemand, der nicht schnell auf der Ruhe zu bringen war und eigentlich hatte ich gedacht, dass er erst so ausflippen würde, wenn er das von Herrn Branner und mir erfuhr.

„Steve ist...“, sagte er, hielt wieder inne und ich hörte sein nervöses Atmen.

„Was ist mit ihm? Geht’s ihm gut?“ fragte ich prononciert, so langsam wurde mir schlecht von dem ganzen Theater und irgendwo in meinem Kopf, ganz klein, ahnte etwas, dass mit Josh was nicht stimmte und allein, dass ich mir Gedanken darüber machte, ärgerte mich und machte mir gleichzeitig Angst.

„Steve ist schwul, okay?“

Ray klang so entrüstet, wie ich war.

Nämlich darüber, dass ich mir am frühen Morgen so eine Show reinziehen durfte, für so eine Nebensächlichkeit.
 

Wenn er vom Auto angefahren worden wäre, oder aus irgendeinem mysteriösen Grund nach Spanien geflohen wäre, um seine Uroma im Land Valencia an der Mittelmeerküste zu besuchen, oder wenn er und Josh die Nacht in einer Ausnüchterungszelle auf dem Polizeirevier verbracht hätten, dass wären zwar keine unerwarteten Gründe, aber durchaus welche, bei denen man rumheulen durfte.

„Aha“, entgegnete ich also sehr genervt.

„Aha?“ antwortete er total verdrießen „Aha? Sag mal, is dir klar, was das bedeutet? Meine Fresse. Ein schwuler, spanischer Katholik? Der wird von meiner Familie verstoßen werden. Er wird gehasst, verbannt, gesteinigt. Du meine Güte, das ist sein Todesurteil.“

Ray klang sehr aufgekratzt.

Ich unterdrückte mein Gähnen „Ray, bist du dir sicher?“

Er hielt in seinen Tötungsdelikten inne.

„Was meinst du damit?“ fragte er.

„Na, hat er es dir gesagt, oder was?“

„Nein, nicht direkt.“ entgegnete Ray etwas ruhiger. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte, als er mich beim Nachdenken unterbrach: „Er hat es mir nicht gesagt, aber ich habs gesehen. Okay? Ich hab ihn gesehen mit... einem anderen. Also einen Typen. Gesternabend. Sie waren zusammen, Tim, sie haben sich geküsst.“ seine Stimme wurde leiser, bis er flüsterte „so richtig.“

„Kennst du den Anderen?“ fragte ich.
 

Und Ray schwieg.

Ich hörte sein nervöses Einatmen.
 

„Na, ich war das nicht“, sagte ich dann, und er nickte: „Nein, herzlichen Glückwunsch. Es war Josh!“
 

Dann war es ganz still um uns herum.

Stundenlang.

Ich hörte nichts weiter, als das Rauschen vom Handy in meinem Ohr, und ganz leise dadrunter war Rays angespanntes Atmen.
 

„Dein Bruder fickt mein Bruder?“ flüsterte ich.

Ich drehte mich zur Tür. Ich hatte plötzlich Angst, dass meine Mutter hörte, was ich sagte.

„Sieht ganz so aus.“ antwortete Ray, er flüsterte auch.

„Das ist absurd.“

„Du sagst es.“

„Josh und schwul?“

„Steve, man. Steve!“

„Heißt das... mein Bruder ist wie ich?“

„Was?“

„Mein Vater hat zwei schwule Söhne...“
 

Dann hörte ich Rays leises Kichern.

Und dann musste ich auch Lachen.

Dabei war gar nichts zum Lachen.
 

„Soll ich vorbei kommen?“ fragte ich.

„Nein, ist schon gut“, entgegnete Ray „du hast Recht. Ich sollte mich nicht aufregen, oder?“

„Solltest du nicht.“

„Ich sollte mit Steve reden.“

„Wahrscheinlich.“

„Okay.“ sagte er und klang etwas erleichtert.

„Bis dann, Ray. Schöne Weihnachten.“

„Dir auch, wir sehen uns.“
 

Dann legten wir auf und die Stille fing mich wieder ein.
 

Mein großer Halbbruder sollte also schwul sein.

Ich wusste nicht, ob ich das lustig, seltsam oder traurig finden sollte.

Für meine Eltern.
 

Sofort rief ich bei Herrn Branner an und erzählte ihm alles.

Er lachte und sagte mir, dass ich mir keine Sorgen machen sollte.

Wir wünschten uns ziemlich innig schöne Weihnachten und sagten „bis Morgen“ zueinander.

Und ich vergaß die Sache auch ziemlich schnell, bis zum Nachmittag, als Papa und Josh Traditionsgemäß in unsere Wohnung kamen, damit wir Heilig Abend als eine Scheinfamilie glücklich zusammen verbringen konnten.
 

Als Josh die Wohnung betrat, und dabei so tat, als sei nichts, gar nichts ungewöhnliches, als er lächelte, meine Mutter umarmte und sich vorbeugte, um ihr auf die Wange zu küssen, und mich wie immer verschmitzt angrinste, da erinnerte ich mich wieder daran und in mir breitete sich ein komisches, mulmiges Gefühl aus.

Ich hatte sogar total vergessen, dass ich zum Töten eifersüchtig wurde, wenn meine Mutter Josh so berührte.
 

Das war meine glückliche Scheinfamilie, die Mutter und der Vater und zwei schwule Söhne.

Traditionsgemäß wurde gegessen, geredet, gelacht, nur ich konnte mich an dieses Weihnachten wirklich nicht erfreuen.

Ich beobachtete Josh auf irgendetwas Ungewöhnliches. Ob er Angst hatte, oder nervös war, aber nichts dergleichen war der Fall.

Josh war einfach wie immer.

Glücklich, ausgelassen, vital.

Machte Scherze, trank Wein (Moment, Wein?) und zwinkerte mir hin und wieder zu.
 

„Alles klar, Tim?“ fragte mein Vater im Verlauf des Abends und meine Mutter nickte lächelnd, strich mir über den Kopf und sagte: „Tim hat eine Freundin, nicht wahr?“

„Äh“, sagte ich und wurde rot.

„Eine Freundin“, Papa klang erfreut und überrascht gleichzeitig und Josh zog beide Augenbrauen hoch: „Tatsächlich? Kenn ich sie?“

Er wackelte böse mit den Augenbrauen.

„Ich will das jetzt nicht besprechen.“ antwortete ich scharf und sah Josh durchdringlich an.

Er vermutete wohl, ich wollte ihm sagen, dass er sich zügeln sollte, irgendein falsches Wort zu sagen; doch eigentlich sah ich ihn so an, weil ich genau wusste, wo er gesternabend war und was er gemacht hatte.
 

Mein Vater schenkte mir Geld für den Führerschein, meine Mutter schenkte mir viel Milka Schokolade und Geld und von Josh bekam ich einen iTunes-Gutschein.

Meine Eltern waren leicht angeduselt und redeten stundenlang im Wohnzimmer, als ich mich verabschiedete und in mein Zimmer ging, wo ich mich über eine Packung Lebkuchenherzen her machen wollte.

Ein Weihnachten, wie jedes andere.

Nur, dass Josh mich heute in meinem Zimmer besuchen kam.

Er klopfte vorsichtig an, dann trat er ein.
 

„Wasn los?“ fragte ich und sah ihn mit gemischten Gefühlen im Bauch an.

Er sagte nichts.

Er sah sich in meinem Zimmer um, begutachtete die letzten zwei Bilder von Zac Efron, die ich noch über meinem Bett hängen hatte, und das Foto von Herrn Branner, das auf dem Boden neben dem Bett lag.

„Woher hastn die Bilder von Herrn Branner?“ fragte er verwirrt, als er in Zacs blaue Augen starrte.

„Das ist nicht Herr Branner“, entgegnete ich genervt.

„Hm?“

„Das ist Zac Efron, das ist ein Schauspieler, der genauso aussieht wie Herr Branner.“

„aha?“ machte Josh und musterte Zac genau.

„Du hast Recht“, sagte er dann, drehte sich zu mich um und ließ sich auf meinem Bett nieder.

„Du hast also einen Freund?“ fragte er dann und lächelte.

Josh war ungewöhnlich nett zu mir und wirkte nicht so verrückt und klammernd, wie sonst immer.

Vielleicht hatte das was mit dem Schwulsein zu tun.

Ich zuckte die Schultern: „Ich hab doch gesagt, ich will nicht dadrüber reden.“

„Ist es Ray?“

„Das würde dir gefallen, ne?“ sagte ich mit einem leicht amüsiertem Unterton.

„Ich fänd's zumindest witzig.“ antwortete er schmunzelnd. Dann sah er mich so komisch an. So durchdringlich und allwissend.
 

„Du weißt es.“ sagte meine Stimme dann und ich war selbst verwundert über ihre Selbstständigkeit.

Er nickte lächelnd „Steve hat mich angerufen und vorgewarnt. Ray hat uns wohl erwischt gestern, war irgendwie klar, dass er es dir gesagt hat.“

„Josh“, sagte ich dann, etwas mitleidig, obwohl ich das gar nicht wollte „weißt du, was das heißt?“

Er lachte vergnügt auf „wir können ein Doppel-Coming-Out starten!“

„Papa weiß also nichts?“
 

Josh schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

Es fiel ihm offensichtlich etwas schwer, das alles, die gesamte Situation, und irgendwie war das ja auch alles komisch und sicherlich keine Sache, die man mal eben wegsteckte.

Ich war schon Jahrelang so und hatte mich kein mal getraut, meinen Eltern es zu sagen. Sicherlich hatte ich es mir hin und wieder mal vorgenommen, doch ich hatte einfach viel zu viel Schiss vor deren Reaktion.

Es meinen Freunden zu sagen, das war soviel einfacher.

Als Josh es mitbekommen hatte, war es mir sogar ziemlich gleichgültig gewesen und das an der Schule jeder darüber redet bedeutet doch nichts.

Die kenne ich ja nicht mal, die sehe ich in meinem Leben nie wieder, doch meine Eltern?

Immer hin will man es den Eltern immer recht machen, man will sie niemals enttäuschen, man verehrt sie, und wenn sie über einen urteilen, dann trifft es einen härter als jedes andere Urteil der Welt.

„Und...“, sagte ich „bin ich der Erste, der... dem... also?“

Josh lächelte und nickte dann „ja. Mein kleiner Bruder ist der Erste, der es weiß.“

„Das ist... ich weiß nicht, irgendwie...“

„Ich weiß, dass du eine irrationale Aversion gegen mich hast, Timmi, aber das heißt nicht, dass ich das gleiche für dich empfinde.“
 

Ich wurde irgendwie rot, das klang gerade so, wie eine Liebeserklärung, wenn das nicht total komisch gewesen wäre, immerhin war Josh mein Bruder und er war mit Steve zusammen.
 

Und dann war in mir irgendwie plötzlich nicht mehr dieses Gefühl der Abneigung gegen ihn.

Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert, als ich ihn nun ansah und ich glaubte, uns verband doch mehr, als bloß derselbe Erzeuger. Mein großer Bruder war schwul.

Genau, wie ich.

Komische Sache.
 

Mit gemischten Gefühlen schlief ich am Abend ein, wachte am Morgen auf und sagte meiner Mutter, dass ich 'mal an die Frische Luft' wollte.

Sie zwinkerte mir zu und sagte, dass ich mir ruhig Zeit lassen könne.

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, meine Mutter war kleiner als ich, und lief dann, dick und warm eingepackt in meiner Jacke, zur Sraßenbahnhaltestelle.

Josh verwirrte mich.

Aber ich hatte mir vorgenommen, diesen Tag nicht darüber nach zu denken. Ich wollte einen gemütlichen Mittag mit meinem Freund verbringen. Ich wollte mit ihm was essen, einen blöden Film im Fernsehen sehen und gemütlich auf seiner Couch liegen und kuscheln und das Zusammensein genießen, ohne irgendwelche Faktoren, die das ganze auf irgendeine Weise stören würden.
 

Ich lief an dem kleinen Blumdenladen vorbei zum Hauseingang. Gerade, als ich den Knopf neben seinem Namenschild drücken wollte, wurde die Haustür aufgezogen.

Ein älterer Mann sah mich kurz erschrocken an, dann lächelte er, begrüßte mich und ging an mir vorbei.

Ich lächelte ihn zurück an und ging, ohne zu Klingeln, ins Haus. Auch gut.
 

Er wohnte im dritten Stock und das blöde Haus hatte natürlich keinen Aufzug und als ich oben ankam, war ich ziemlich aus der Puste.

Aber ich freute mich so auf Herrn Branner.

Seine Wohnungstür war weiß und wirkte irgendwie steril.

Es gab keine Fußmatte, keinen komischen, hässlichen Kranz, keine Schuhe vor der Tür, einfach nichts, was darauf hinwies, dass hier jemand wohnte.

Nicht einmal ein Namensschild hing irgendwo, aber ich wusste, dass er hier lebte.

Gleich hinter dieser Tür war er.

Mein großer Freund mit den unvergleichbaren, blauen Augen und dem perfekt sitzendem, braunglänzendem Haar, der verdammt charmant und sexy grinsen konnte.

Ich strich mit die blonden Strähnen aus dem Gesicht und drückt dann auf den Klingelknopf.

Ich musste nicht lang warten, bis er die Tür öffnete.

Er wirkte anders.

Er war nicht so ruhig, wie sonst.

Er erinnerte mich ein wenig an Aachen, als er den Mezcal getrunken hatte.

„Alles klar?“ fragte ich ihn, als ich mich ihn vorbei in die Wohnung schob und die Schuhe auszog.

Er seufzte: „Tim, das ist gerade irgendwie ungünstig.“

Verwirrt hob ich eine Augenbraue und ließ die Jacke neben der Garderobe auf den Boden fallen.

„Ich, ähm“, nuschelte er, kam auf mich zu und packte meine Schultern.

Dann hörte ich ein komisch entrüstetes Räuspern hinter uns.

Verstört drehte ich mich um und erblickte Zac Efron im Wohnzimmertürrahmen stehen „Noch ein Zac?“

Mein Freund, Herr M.Ed. Marc Branner

„Marc!“ sagte Zac entsetzt.

„Marc?“ sagte ich verwirrt.

„Das ist doch nicht dein Ernst?“ sagte Zac.

„Was ist nicht dein Ernst?“ fragte ich.

„Ich fass es nicht!“ Zac schlug die Hände über den Kopf zusammen, seufzte genervt auf und drehte sich wieder um, um zurück ins Wohnzimmer zu gehen.
 

Herr Branner schwieg.

Er sah mich an, aber ich verstand seinen Blick nicht, dann schob er mich zur Seite und folgte Zac.

„Du hast mir versprochen, dass du damit aufhörst.“ hörte ich ihn sagen.
 

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich wusste ja nicht mal, was hier los war und ich wusste nicht, wer dieser mysteriöse Mensch war, der Zac Efron ungefähr achtzehn Mal mehr ähnlicher sah, als Herr Branner, und das, wo Herr Branner ja schon ziemlich gut als Zac durch ging.

Der hier hatte aber, anders als Herr Branner, dieselbe Körperstatur und Größe.

Vorsichtig schaute ich ins Wohnzimmer.

Sie standen sich gegenüber, und Zac sah wirklich böse aus. Enttäuscht und wütend sagte er: „Marc, du hast es mir versprochen!“

Und Herr Branner fasste seine wild fuchtelnden Hände, sah ihn eindringlich an und sagte ziemlich verkrampft: „Bitte nicht vor ihm, tu mir den Gefallen!“
 

Das verstand ich, aber mich kümmerte im Moment sowieso viel mehr ihre ekltatante Ähnlickeit.

Sie sahen so verboten gleich aus, das ergab irgendwie keinen Sinn.
 

Außer natürlich, sie waren Geschwister.
 

„Brüder!“ sagte dann meine Stimme, ehe ich bemerkte, dass sie sich wieder verselbstständigt hatte.
 

Die beiden unterbrachen ihren Streit und sahen mich entsetzt an.

„Ihr seid Brüder“, erklärte ich. Ihre Blicke trafen mich so hart, dass ich alles Selbstwertgefühl mit einem Schlag verlor.

Beschämt sah ich zur Seite, sank schnell den Blick und ging einige Schritte zurück.

„Ja“, bestätigte Herr Branner, er kam zu mir, legte seinen Arm um meine Schulter und schaute Zac triumphierend an „das ist Tim und Tim und ich sind glücklich zusammen.“
 

Ich schluckte hart. Mein Herz raste. Mein Puls überschlug sich fast.

Eine ganze Fuhre von Glückshormonen flutete meine Adern und mein Gesicht grinste. Ganz von allein.

Das war sowas von eine Liebeserklärung gewesen.
 

„Ja sicher“, seufzte Zac und verdrehte die Augen.
 

„Tim, das ist Nils.“ Herr Branner ließ mich los und nickte zu Zac rüber.

„Mein kleiner Bruder.“
 

„K..kleiner Bruder?“ fragte ich verunsichert.

„hm?“ machte Herr Branner und sah mich fragend an.

„Ich.. ich dachte, ihr seid... seid Zwillinge?“

„Ah“, Herr Branner nickte, dann schüttelte er den Kopf und ging in die Küche „garantiert nicht. Er ist jünger als ich. Biologisch und im Kopf.“

Dann war Herr Branner weg, hatte den Raum verlassen und ich war allein hier mit... Nils.

Schüchtern lächelte ich ihn an.
 

Nils lächelte auch. Aber freundlich.

„Sorry“, machte er und verdrehte die Augen „wegen vorhin, Tut mir Leid. Das... das war nichts, wirklich.“

„Äh“, entgegnete ich.

„Du bist mit Marc zusammen? So richtig?“
 

Ich nickte.

Nils ließ sich auf die Couch nieder und seufzte noch mal auf.
 

„Ich... ich hab nicht gewusst, dass Herr... ähm“, ich räusperte mich „dass Marc einen Bruder hat.“

„Mich hätte es gewundert, wenn!“ erklärte Nils.

„Ach?“ Das klang durchaus interessant und ich beschloss, dass Nils umgänglich war und ich mich neben ihn auf die Couch setzten konnte.

„Marc erzählt nichts, was nicht lebensnotwndig ist.“ Er verdrehte genervt die Augen.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nichts weißt von ihm.“

Ich überlegte kurz, nickte unbewusst, dann sagte ich: „Na ja, er ist Lehrer.“

Nils lachte auf „ja klar, deiner, ne?“

Ich wurde rot.

Das bestätigte ihn wohl irgendwie.
 

Und ich kam zumindest in diesem Moment nicht auf die Idee, was das eigentlich bedeutete.
 

Aber was mir klar wurde, war, dass hier vor mir die Offenbarung saß.

Nils war Herr Branners Bruder.

Und er schien nicht so merkwürdig mysteriös verschlossen zu sein, wie Herr Branner selbst.

Nils war das Tor.

Ich musste es nur auf machen.

„Nils“, sagte ich dann und sein Bruder sah auf „hm?“

Ich hielt ihm meine Hand hin „ich bin Tim.“
 

Er sah meine Hand an, dann lächelte er, nahm sie, schüttelte sie und sagte: „Nils. Freut mich!“
 

Nils Branner war einundzwanzig Jahre jung, studierte Freie Kunst an der Kunstakademie in Münster und kam seinen Bruder seit acht Jahren jedes Jahr zu Weihnachten besuchen.

Sie sahen sich mindestens und meistens auch höchstens einmal im Jahr und dennoch, oder trotzdem, so sagte Nils, war ihre Beziehung zueinander ungewöhnlich stark und ich musste unwillkürlich an meinen Bruder denken, und daran, dass der schwul war und ganz kurz überkam mich der Gedanke, dass sie sich wirklich ungewöhnlich nah standen.

Doch ich verwarf das, denn das war irgendwie absurd und wäre auch viel zu viel Zufall gewesen.
 

Wir hatten uns gut unterhalten und sogar Herr Branner hatte sich am Gespräch beteiligt und irgendwie schien er sich darüber zu freuen, dass sein Bruder und sein Freund so gut miteinander klar kamen.

Und das freute mich.

Denn mein Bruder und mein Freund hatten wohl kleine Differenzen miteinander.

Wir konnten uns auch in Nils Gegenwart wie ein richtiges Paar verhalten, Herr Branner hatte seinen Arm um meine Schultern gelegt; wenn er in die Küche ging, um sich um das Essen zu kümmern, dann küsste er mich kurz auf die Stirn und er sah mich ganz offen und verliebt an.
 

Am Abend trank Nils den letzten Schluck aus seiner Flasche Bier, stellte sie auf den Wohnzimmertisch ab und sah uns dann erwartend an „und du bleibst jetzt bis morgen, oder...?“

Herr Branner und ich lächelten ihn an, dann antworteten wir gleichzeitig.

Er sagte: „Nein.“

Ich sagte: „Jap.“
 

Dann schauten wir uns verwirrt an.

„Ähm“, machte ich und er zog die Schultern an: „Also, ähm, natürlich, doch. Wenn...“

„Ja“, nickte ich „kein Problem.“

„Okay“, antwortete er, leicht verwirrt, komisch lächelnd.
 

„Stör ich dann?“ kam es von Nils.

Herr Branner und ich ließen (die Blicke) von einander ab und schauten wieder zu ihm.

Ich wurde leicht rot und griff nach einem Lebkruchenherz, an dem ich nervös rummümmelte, Herr Branner schüttelte den Kopf. Er griff nach seiner Bierflasche, trank sehr lange und wir sahen ihn sehr gespannt an.

Dann überkam es mich so plötzlich, dass ich mich am Lebkuchenherz (verdammt ja, die waren so lecker.) verschluckte und keuchend aufhustete.

„Äh“, machte Nils und Herr Branner stellte schnell die Flasche ab, um mich näher zu sich zu ziehen und mir etwas schmerzhaft auf den Rücken zuklopfen.

Ich sah Nils entsetzt an, er starrte verwirrt zurück und ich schüttelte den Kopf: „Gar nicht!“

„Ähm!“

„Niemand stört hier!“

„Ähm...“ Nils war weiterhin verwirrt, Herr Branner lächelte schelmisch und wissend.

Er legte seinen Arm um meine Schulter, zog meinen Körper zu seinem und strich sanft über meinen Ärmel.
 

Es überraschte mich, dass Herr Branner ein Gästezimmer hatte.

Es war nur kein Gästezimmer, sagte er, es war Nils' Zimmer (überraschte mich dann, dass Herr Branner ein Zimmer für seinen kleinen Bruder hatte).

Es war klein und mehr als ein Bett und eine sehr kleine Kommode standen nicht drinnen, und Herr Branner selbst nutzte es wohl als eine Art Schrank für seinen Kram, den er nicht mehr brauchte; aber zu Weihnachten schlief Nils da.
 

Er zeigte mir sein Schlafzimmer.

Das erste Mal, dass ich es sehen würde.

Ich war aufgeregt, wieso?
 

Der Raum war auch nicht besonders groß.

Das ziemlich große Bett war bespannt mit komplett schwarzen Laken, was mich schon verwunderte, immerhin erschien er mir nicht unbedingt als jemand, der schwarze Bettlaken hatte.

Vor dem großen Fenster über dem Bett hing ein dunkles Rollo, das garantiert kein ungewolltes Licht durch ließ, und auf einem kleinen Schrank neben dem Bett stand ein digitaler Wecker, der in roten LED-Lichtern 00:34 anzeigte.

„Tja, du wirst dir wohl ein Bett teilen müssen“, sagte er anzüglich, dann küsste er meinen Nacken und ging ins Bad, nachdem er mir erlaubte, es mir bequem zu machen.
 

Ich fragte mich, ob es nur einen Tag, nachdem ich mich als gesittete Nonne deklariert hatte, soweit war.
 

Ich ging in den Raum, ließ mich auf das Bett fallen, das hart entgegen federte und betrachtete den kleinen, schwarzen Schrank neben mir.

Ich fragte mich, ob er gewisse Utensilien darinnen aufbewahrte.

Vorsichtig beugte ich mich vor, griff nach dem kleinen Knauf und wog nochmal kurz ab, ob es okay oder zu intim war, in den Schrank zu gucken; entschloss mich dann aber dafür, dass ich zu jung und zu neugierig war, um Folgen abzuschätzen und zog die Tür auf. Außerdem war ich ja auch noch total aufgeregt.

Meine Augen glänzten nahezu, als ich die Kondome entdeckte, und irgendwie musste ich mich dann kurz fremdschämen.

Aber das hatte ich ja alles schon gedacht, es gab keinen Grund, eifersüchtig zu sein, der Mann war siebenundzwanzig Jahre alt.

Niemand hatte mit siebenundzwanzig keinen Sex. Außer die Nonnen eben.
 

Neben den Kondomen lag ein Notizblock, sonst war nichts weiteres, interessantes zu finden.

Ziemlich privatsphärendverletzend griff ich den Block und blätterte. Hatte er sich selbst zuzuschreiben, wenn ich sonst nichts über ihn raus finden konnte. Oder? Ja, doch.

Ich konnte absolut nichts mit den Notizen anfangen.

Verschiedene Namen, Nummern und Farben, einiges durchgestrichen, ziemlich viel Gekritzel.

Ganz hinten standen die Namen Laura Berger, Dominik Sauer, Manuel Groß und Miriam-Anna Koke.

Hatte ich noch nie gesehen oder gelesen.

Als ich hörte, wie er zurück kam (er presste ein ziemlich nachdrückliches „Man

Nils ist okay!“ hervor), legte ich den Block schnell weg, schloss die Schranktür und ließ mich schnell in die Laken fallen.
 

Er schloss die Zimmertür, lächelte mich lieb an und setzte sich zu mich aufs Bett, beugte sich vor und gab mir einen kleinen Kuss auf die Lippen.
 

„Marc“, sagte ich dann in dem Ton, der ihn wissen ließ, dass ich ein klitzekleines bisschen sauer war.

„Hm?“ machte er, sah mich nicht an, starrte nur auf seine Hände.

„Wieso habe ich nichts von Nils gewusst?“

„Hm“, er zuckte nur die Schultern.

„Marc“, sagte ich dann wieder, ziemlich streng. Ich kniete mich hinter ihn, legte meine Hände auf seine Schultern, genoss die warme Berührung zwischen uns, und legte meinen Kopf auf seine linke Schulter.

„Erzähl mir doch mehr von dir. Bitte.“

„hm“, machte er wieder und verspannte sich ein wenig.

„Hast du noch mehr Geschwister?“

„hm“, entgegnete er, dann drehte er sich zu mir um, sah mich komisch an, griff meine Schultern und drückte mich zurück ins Bett.

Er beugte sich über mich, musterte mein Gesicht ganz genau, dann küsste er meine Lippen, dann küsste er mein Kinn, dann küsste er mein Schlüsselbein.

Und dann legte er seinen Kopf auf meine Schulter, ließ seinen Körper auf meinen sinken und ich spürte sein Herz auf meiner Brust und sein Bein, dass sich zwischen meine legte.

Marc seufzte einmal schwer, dann sagte er: „Ich bin in Münster geboren und aufgewachsen, meine Eltern hatten da ein ziemlich großes Grundstück und ein sehr schönes Haus. Mein Opa war Leiter der Christoph-Dornier-Klinik. Er ist vor acht Jahren gestorben und hat mir sein gesamtes Vermögen hinterlassen. Ich bin ziemlich reich, theoretisch gesehen brauche ich den Job nicht. Als ich siebzehn war, ist mein Vater bei einem Einsatz gestorben. Er war Feuerwehrmann. Das hat uns irgendwie auseinander gerissen, meine Familie. Hab seit sieben Jahren nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen. Als ich mein Abi hatte, Leistungskurse Mathe und Bio, bin ich sofort von zu Hause weg. Hatte ja Geld. Bin hier her gekommen, hab alles mögliche gemacht. Hab eine Ausbildung zur Fachkraft im Fahrbetrieb angefangen, das war mir aber zu langweilig. Hab bisschen gejobbt, viel Party gemacht, nichts getan. Dann hab ich mich an der Ruhruni hier für Mathe auf Lehramt eingetragen und dann ging irgendwie alles total schnell und jetzt... hab ich den Master of Education und versuche, solchen Vollnasen wie dir zu erklären, was Orthogonalität bedeutet. Wenn du mir einen Brief schreibst, müsstest du vor dem Marc Branner eigentlich noch ein M.Ed. Setzten. Formal gesehen. Eigentlich. Aber ich bin da nicht so penibel.“
 

Als er dann zuende erzählt hatte, war es irgendwie unangenehm still im Raum.

Ich schluckte hart, dann spürte ich sein Bein, welches zwischen meinen lag, und wie er es höher schob.

Er richtete sich auf und sah mich frivol an.

Ich schluckte nochmal hart.

Er biss sich nervös auf die Unterlippe, dann zog er sein Knie noch höher und berührte mich zwischen den Beinen.

Ich fixierte sein Blick. Und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
 

Dann grinste er keck, ich wurde leicht rot und er beugte sich zu mir runter, damit wir uns küssen konnten.

Sehr leidenschaftlich und innig, fast etwas zu gierig und alles, was gestern noch so fern war, stand jetzt direkt vor mir.

Oder lag über mir.

Ich wurde irgendwie nervös.

Erst recht, als ich seine Hand spürte, die vorsichtig meine Seite hinunter strich, etwas zögerlich den Saum des Pullovers griff und dann langsam über meinen Bauch fuhr.

Ganz zart und vorsichtig.

Ich bekam eine Gänsehaut. Vor Erregung.
 

Dann lösten sich unsere Lippen.

Er sah mich vorsichtig an, schaute mir in die Augen und versuchte, heraus zu lesen.

Wie weit er gehen durfte.

Was ich zulassen würde.
 

Mit seiner Hand fuhr er mir über den Bauch hoch zum Brustbein.

Seine Augen achteten genau auf meine Reaktion.

Er sah in meine Augen, auf meine geöffneten Lippen, auf die roten Wangen und den vor Erregung bebenden Kiefer.
 

Ich erlaubte es ihm.

Seiner Hand, über meine Brust zu streichen.

Das war verdammt aufregend, und ich hielt mich so gut ich konnte mit jeglicher Reaktion zurück. Bis sein Knie etwas begehrender gegen mich drückte.

Es war so verdammt scharf, dass ich ziemlich lüstern aufseufzte. Und daraufhin ziemlich schnell rot anlief und mir die Hände vor den Mund schlug.

War so gesehen doch irgendwie peinlich.

Immerhin war er so viel älter.

Und erfahrener.

Er hatte sogar Kondome im Schrank neben dem Bett.

Und ich hatte noch nicht mal einen Schrank neben dem Bett.

Und außerdem war er mein Mathelehrer.
 

Beschämt kniff ich die Augen zusammen und wünschte mich ganz weit weg und gleichzeitig viel mehr solcher Berührungen von ihm.

Dann spürte ich seine Hand, die unter meinem Pullover hervor kam, meine Hände von meinem Gesicht schob, sich auf meinen Kopf legte und mit dem Daumen meine Stirn massierte.

Und dann seine Lippen, die mich vorsichtig auf den Mund küssten, dann über meine Wange zu meinem Ohr flogen und flüsterten: „Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht als deinen Lehrer betrachten.“

Etwas verspannt nickte ich, dann spürte ich seine Zunge am Ohr.

Eine Gänsehaut überkam mich, mit der sich die Befangenheit verflüchtigte.

Marc lehnte sich ganz auf mich, sodass seine andere Hand ebenfalls frei war, mit der er den Saum von meinem Pullover griff und mit hoch zu meiner Brust zog.
 

Es war so weit.

Just Sex.

Mein erster, fester Freund war siebenundzwanzig Jahre alt, als ich sechzehn war.

Er war mein Lehrer auf dem Gymnasium im Grundkurs Mathe der elften Klasse.

Mein Mathelehrer hieß Marc Branner, er hatte an der Ruhruniversität Mathematik auf Lehramt studiert, weil er nicht wusste, was er sonst mit seiner ganzen Freizeit anfangen hätte sollen.

Denn mein erster Freund, der elf Jahre älter war als ich, hatte von seinem Großvater irgendwann mal so unfassbar viel Geld geerbt (was eigentlich gar nicht so viel war, nur in meinen unerfahrenen Augen), dass er ziemlich locker von den monatlichen Zinsen leben konnte.

Er konnte sogar die Diebstahlversicherung für seinen blauen Lotus Esprit mit den Zinsen mit bezahlen, und das Geld, welches er zusätzlich beim Lehrersein verdiente, das kam auf die Millionen vom Erbe drauf.
 

Kurz gesagt, mein siebenundzwanzig jähriger Freund war stinkend reich.

Das jedoch fand ich erst raus, nachdem ich mich ihm vollkommen hingegeben hatte.

Denn verliebt war ich von Anfang an gewesen.

Und das, obwohl ich ihn gar nicht gekannt hatte.

Ich wusste so wirklich nichts über ihn, Marc war wie ein verschlossenes Buch gewesen, welches man einfach nicht öffnen konnte.

Er war nicht zu lesen.

Und es schien so, als wüsste nur ein einziger Mensch auf der ganzen Welt, wie er wirklich war.
 

Deshalb ging ich am Morgen des sechsundzwanzigsten Dezembers, als er noch schlief, an sein Handy und schrieb mir Nils Telefonnummer ab.

Er erschien mir auf eine merkwürdige Art vertrauenswürdig und ich hatte dieses intuitive Gefühl, dass die Nummer mir irgendwann mal nützlich sein würde.

Als ich fertig war, beugte ich mich vorsichtig über Marcs schlafenden Körper und legte das Handy zurück neben seinen Wecker, dessen LED-Leuchten 8:13 anzeigten.

Gerade, als ich mich zurück lehnen wollte, fing mein Telefon an, zu vibrieren und kurz später schrie Ben Kowalewicz aus seinem Lautsprecher.

Marc zuckte, dann drehte er sich halb zu mir um, sah mich verschlafen an, dann das Handy und ließ dann seufzend den Kopf in das schwarze Kissen fallen.

Ich seufzte auch, drehte mich um, mit dem Rücken zu ihm und nahm das Gespräch an. Es war meine Mutter.

„Hm“, machte ich leise und sie grinste so breit, dass ich es hören konnte. Wie peinlich war das denn?

„Guten Morgen mein Schatz!“ sagte sie und ihre Stimme überschlug sich vor spontanen Frohsinn.

„Mama“, nuschelte ich und massierte mir genervt die Nasenwurzel.

„Na, hast du gut geschlafen?“ Ich konnte unmöglich ihren frechen Unterton überhören und schämte mich für sie. Auch, wenn es sonst keiner mit bekam.

„Mama, bitte.“ murmelte ich leise.

Doch Marc hörte mich.

Seine Hand legte sich in meine Taille und kraulte mich müde.

„Hast du auch ein Kondom benutzt, Timmi?“ sagte sie dann, und das reichte mir endgültig.

„Mama“, sagte ich scharf und blamiert und presste die Lippen vor Scham und Wut aufeinander „was willst du?“

„Na, dich beglückwünschen!“ antwortete sie ziemlich dreist.

Ich schloss genervt seufzend die Augen und war der Welt unglaublich dankbar, dass Marc sie nicht hören konnte. Vielleicht tat ich Gott doch ein klitzekleines bisschen Leid. Vielleicht.

Meine Mutter lachte vergnügt auf, dann kam sie zu ihrem eigentlichen Anliegen: „Du, Schatz, ich wollte dir eigentlich sagen, dass wir eine Einladung bekommen haben, über Silvester nach Langeoog zu kommen, zu Oma und Opa.“

„Hm“, entgegnete ich.

„Mir ist schon klar, dass du lieber bei deiner Freundin bleiben willst, Timmi, deshalb hab ich Opa auch gesagt, dass ich alleine komme. Ich wollte dir nur Bescheid geben, morgen Vormittag fahr ich los, ich komm am dritten Januar wieder zurück.“

„okay Mama!“

„Es macht dir also nichts aus?“ fragte sie besorgt.

Ich schüttelte müde den Kopf, bis ich mich daran erinnerte, dass wir telefonierten und sagte dann leise: „Nein, ist okay, ich komm klar.“

„Gut mein Schatz. Pass bitte auf, dass du gut isst, ja? Bekommst du gutes Essen bei ihr?“

„Hm“, ich seufzte abgespannt „ja, er kann echt gut kochen.“

Ich genoss das kurze Schweigen, bis in meinem müden Kopf ankam, was ich eben gesagt hatte.

„Ähm“, räusperte ich mich so hektisch, wie es so früh am morgen unter diesen Strapazen eben ging „ihr Bruder. Ma... Ma... Maries Bruder mein ich. Marc.“

Ich hörte meine Mutter denken. Hoffentlich hatte sie nichts gemerkt.

Die Poster von Zac Efron in meinem Zimmer, oh mein Gott, sie war ja nicht wirklich dumm. Hoffentlich war sie nur in Mathe genauso mies wie ich und konnte eins und eins nicht zusammen zählen.

„Marie“, meinte sie dann „Ein hübscher Name. Grüß sie mal von mir und sag ihr, dass sie vor mir keine Angst haben braucht!“

„Das wär aber gelogen.“ antwortete ich erleichtert, meine Mutter lachte daraufhin, dann wünschte sie mir noch einen schönen Tag, wir verabschiedeten uns und legten dann auf.

Das war knapp.

Ich ließ das Handy kraftlos auf den Boden fallen und seufzte genervt, massierte mir die Schläfen und spürte, wie sich Marc zu mir umdrehte; seinen Arm um meinen Körper schlang und mir einige Küsse auf den Hals gab „Maries Bruder Marc, hn?“

Ich brummte unzufrieden, genoss aber seine Berührungen.

„Deine Mutter hat keine Ahnung von deinen Vorlieben, aber die ganze

Schule weiß es, hm?“ sagte er neckisch, dann fuhr seine Hand an meinem nackten Bauch runter zwischen meine Beine.
 

Jetzt war ich auf einmal gar nicht mehr müde.

„Mh“, antwortete ich, als ich die Lippen aufeinander pressen musste, um kein lustvolles Geräusch von mir zu geben.
 

Er küsste weiterhin meinen Hals, als sein Körper näher an meinem heran rutschte, bis kein Platz mehr zwischen uns war und ich seine nackte Errektion mehr als deutlich an meinem Hintern spürte.

„Nh“, machte ich, konnte einfach nicht anders, konnte das einfach nicht unterdrücken.

Ich sank schnell mein Kinn auf die Brust und presste die Augen zu, als er begann, seine Hand auf und ab zu bewegen.

„Noch mal?“ flüsterte er mir ins Ohr.

Ich schluckte hart, ließ weiterhin die Augen geschlossen, dann nickte ich befangen.

Ich hörte ihn grinsen.

Er lehnte sich zurück, öffnete den Schrank, genauso, wie gestern Abend, es raschelte kurz, dann beugte er sich wieder zu mich vor.

Er küsste meinen Hals, knabberte an meinem Schlüsselbein und strich mir begehrend über die Brust, den Bauch, meine Beine, die Innenseite meiner Oberschenkel, und die ganze Zeit spürte ich ihn dabei direkt an meinem kleinen Arsch.

Und allein das machte mich schon so schrecklich an.
 

Seine Hand legte sich um meinen Kiefer, drückte meinen Kopf hoch, sodass er sich über mich beugen und mich gierig küssen konnte.

Seine Zunge schob sich etwas grob in meine Mundhöhle und forderte mich auf, mit ihr zu Tanzen.

Und noch immer drückte er seine Hüfte gegen meinen Rücken.

Dann ließ er ab, widmete sich wieder meinem Hals, doch schob er seine langen, dünnen Finger dafür in meinen Mund.

Feinfühlig spielten sie mit der Zunge, bis er seine Hand weg zog, vorsichtig damit über meine Brust strich, bevor ich sie zwischen den Pobacken spürte.

Mein Herz raste, mein Atem ging nervös und mir war total warm.

Ich unterdrückte mein Stöhnen wirklich so gut, wie ich nur konnte, doch Marc gab sich auch wirklich alle Mühe der Welt, es mir zu entlocken.

Und er gewann.

„Nh.. nich“, machte ich und ich spürte sein Lächeln an meinem Hals.

„jetzt ists zu spät“, flüsterte er, dann richtete er sich auf, griff mit seinen großen Händen meine schmalen Schultern und drehte mich auf den Bauch.

Aufgeregt, nervös und erregt lag ich unter ihm, spürte, wie er sich über mich aufrichtete, ein Bein links, ein Bein rechts von meinen Hüften; und hörte, wie die Kondomverpackung aufgerissen und das Kondom aufgerollt wurde.

Der unverkennbare Geruch von Latex und Gleitgel kroch mir in die Nase und aus äußerst komischer Konditionierung heraus machte mich das total an.

Als Marc sich zu mir vorbeugte, streckte ich ihm meinen Hintern geradezu willig entgegen.
 

So funktionierte Sex zwischen zwei Männern.
 

Ich spürte sein Atem neben meinem Ohr, sein Herz auf meinem Rücken, seine Füße zwischen meinen Beinen und seine gaaanze Männlichkeit in mir drinnen.
 

Rays Bruder fickte vielleicht meinen, aber ich fickte den Mathelehrer.

Oder er mich.

Irgendwie.

War auch kein besonders toller Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.

Wirklich nicht.
 

~*~
 

Wenn zwei Menschen miteinander geschlafen hatten, behandelten sie einander anders als vorher.

Sie berührten sich anders und sahen sich anders an.

Das war das maximale Vertrauen, welches sie einander entgegen bringen konnten.

Und es war das schönste Gefühl der Welt, welches sie damit erzeugten.

Nicht etwa der Höhepunkt des Sex, viel eher die körperlichen und mentalen Berührungen, die sie einander gaben.

Die, die ihnen zeigte, dass sie geliebt wurden.

Nichts auf der Welt war schöner, als dieses Gefühl.

Zu wissen, dass da jemand war, der sich voll auf dich verließ. Der genau wusste, dass du für ihn da warst.

Immer.
 

Und wahrscheinlich gab es genau deshalb auch kein schlimmeres Gefühl, als zu wissen, dass dieser Mensch dich hinter ging, an log, betrog und ausnutzte.

Dass er dir deine Unschuld raubte und dich von einer gesitteten Notte zum verdorbenen Arschficker gemacht hatte.

Zustände

„Und?“

„was und?“

„Lädst du mich nicht zu dir nach Hause ein?“

„Was?“ entgegnete ich ihm entsetzt und wurde leicht rot.

„Deine Mutter ist doch weg. Das sollten wir ausnutzen.“ Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.

„Ähm!“ ich wusste nicht, wo ich hin schauen sollte. Marc an zusehen war peinlich, Nils anzusehen war viel peinlicher und deshalb blieb nur die weiße Tischplatte des Küchentisches übrig.
 

„Du machst ihn verlegen.“ lächelte Nils.

„Was denn, immer nur hier ist auf Dauer langweilig.“ entgegnete Marc verschmitzt.

„Dann such dir mal Freunde in deinem Alter“, sagte Nils, und dieser vorwerfende Unterton war so greifbar, er biss mir quasi direkt in den Arsch.
 

Ach, scheiße.
 

„Wir habens erst drei Mal getan!“ meinte dann meine Stimme mit vorwerfendem Unterton.

Ich musste mich verdammt hart anstrengen, den Kopf gesenkt zu lassen und ich dachte mir die schmerzhaftesten Strafen für meine Stimme aus, die es in meinem Kopf gab. Und jetzt, wo ich ein verdorbener, unanständiger Junge war, da breitete sich das Gebiet der schmerzhaften Bestrafungen wie ein weitflächiges Mienenfeld riesengroß vor meinem inneren Auge aus.

Blöd war nur, dass eine Stimme nicht dingfest war; ich konnte sie nicht mal mit nichteinsetzten strafen, denn sie konnte ja von alleine handeln.

„ähm“, murmelte ich. Mein Gesicht wurde total heiß.
 

Ich ignorierte das unterdrückte Lachen der Brüder und verhielt mich den Rest des Frühstücks unauffällig.

Jawohl.
 

Zum Abschied umarmten sie sich und Nils versprach, im Februar noch mal vorbei zu kommen, bevor das Sommersemester anfing.

Der jüngere Bruder hatte von dem Erbe des Großvaters nie etwas abbekommen, aber Marc unterstützte ihn, soweit seine Arroganz das zuließ und so viel, wie Nils eben benötigte.

Und da Nils noch im schönen Haus auf dem großen Grundstück der Mutter wohnte, hatte er tatsächlich nicht besonders viel Unterstützung nötig.
 

„Und?“ fragte er dann, als Nils im Auto die Straße runter gefahren und dann rechts abgebogen war.

„Hä?“ entgegnete ich verwirrt, als wir zurück zur Haustür gingen.

„Fahren wir zu dir?“ sagte er neckisch grinsend.

„Aber!“ entgegnete ich unsicher „es ist doch toll hier. Eine ganze Wohnung. Nur für dich und mich.“ Ich dachte an die Poster von Zac über meinem Bett.
 

„Ja“, er nickte, als wir in die Wohnung zurück kamen und uns die Jacken auszogen „aber du weißt sooooo viel über mich.“ Er beugte sich vor und küsste meinen Nacken. Marc liebte es, meinen Nacken zu küssen.

Er mochte es generell von Hinten.

„Jetzt will ich auch mal was über dich erfahren!“ erklärte er weiter und biss dann unanständig in meine Schulter.

„Verdammt!“ sagte ich. Ich konnte es ihm nicht ausschlagen, in meinem Kopf gab es in diesem Moment auch gar keine Argumente dagegen.

„Willst du es nicht mal im Bett deiner Eltern tun?“ flüsterte er leise in mein Ohr.

Mir schauderte es „Garantiert nicht!“ und gleichzeitig reizte es mich „Glaub ich!“
 

Ich war mir nun wirklich sicher, und dieser Glaube war unumstößlich: Gott hasste mich.

Deshalb tat ich einfach mal das schlimmste, was man Gott antun konnte: Ich verbannte ihn aus meinem Glauben und war mir fortan sicher, dass das Schicksal etwas gegen mich hatte, womit ich weiterhin die Schuld für das Desaster meiner Liebe irgendwem anderes zuschob.
 

Wir fuhren also zu mir.

Um dort Sex im Wohnzimmer, in der Küche, in Mamas Schlafzimmer und auch in meinem Zimmer zu haben. Mehrmals.
 

Ich war unvorsichtig, als wir zu Hause ankamen und achtete nicht darauf, ob jemand unsere Ankunft beobachtete.

Dabei hatte ich durchaus komische Nachbarn, die zu viel Freizeit hatten und gern mal stundenlang am Fenster saßen und die komplette Nachbarschaft ausspionierten und dann Klatschthemen bis ins fünfte Jahrtausend ansammelten.

Ich dachte nicht daran, dass eine komische Omi hinter ihrem Vorgang sitzen könnte und sehen würde, wie ich Arm in Arm mit einem viel älteren Mann nach Hause kam.

Der mich auch noch demonstrativ küssen musste, vor dem Hauseingang.

Und mich anzüglich anlächelte.
 

Ich wurde rot, versuchte, seine dreckig-sexuelle Art zu ignorieren und dachte nur daran, dass mich sein Benehmen auf eine perverse Art ziemlich anmachte.

Nur sollte das eben in der Wohnung bleiben und nicht mitten auf der Straße passieren.
 

Er sah sich leicht interessiert in unserem Flur um und ich schämte mich wahnsinnig wegen nichts.

„Nice“, lächelte er, dann nahm er mich in seine Arme, grinste mich böse an und machte mir unmissverständlich deutlich, wie scheinbar überaus gern er doch Sex hatte.

Mein Gesicht blieb daher einfach mal rot, ich löste mich aus seiner Umarmung und zog mir Jacke und Schuhe aus.

„Küche“, sagte ich und deutete auf die immer offen stehende Schiebetür zur Küche, dann nickte ich zur offen stehenden Tür des Wohnzimmers und sagte: „Wohnzimmer!“ Ich schaute auch kurz rein, der hübsch geschmückte Tannenbaum stand brav in seinem Eck, eine Schale mit Süßigkeiten und Lebkuchen stand auf dem kleinen, hellen Wohnzimmertisch.

Dann tippte ich auf die geschlossene Tür neben dem Wohnzimmer und sagte: „Bad.“

Marc nickte: „Alles klar, und wo ist dein Bett?“
 

Wie gesagt, wir hatten eine Menge Sex. Wir ernährten uns von Milka, Lebuchenherzen und den spärlichen Resten aus meinem Kühlschrank, weil wir keine besonders große Lust hatten, die Straße hoch zum Aldi zu gehen und irgendetwas humaneres zu essen zu kaufen.

Marc hatte mir einige Tage nach Weihnachten ein hübsch eingepacktes Geschenk überreicht, mit einer großen, roten Schleife drauf.

Ich hatte natürlich nichts für ihn, weil ich einfach nicht daran gedacht hatte, dass ich ihm was schenken musste oder sollte.

Er tat das ab, sagte, er brauche nichts, außer meine Zuneigung, die er jeden Tag vollkommen genoss.
 

Nachdem wir drei Tage lang quasi nur miteinander geschlafen und Süßigkeiten in uns rein gestopft hatten, beschlossen wir, die Wohnung zu lüften und zu duschen und mindestens einen Tag lang keinen Sex zu haben. Der Vorschlag kam von mir und er erklärte mir, wie anregend es war, es unter der Dusche zu tun.

Ich registrierte das und nahm mir deshalb vor, nicht mit ihm zusammen zu duschen.
 


 

Ich zog gerade die zwei Küchenfenster wieder zu, als Marc frisch duftend aus dem Bad kam und eine feuchtwarme Wolke hinter sich herzog und dabei nichts weiter an hatte, als ein blödes, kleines Handtuch.

Er lächelte mich lieb an und wollte gerade seine Arme um mich schlingen, als wir das klicken an der Wohnungstür hörten.

Das Klicken und Rascheln, das ertönte, wenn jemand den Schlüssel ins Schloss schob.

Die Atmosphäre wandelte sich schlagartig, die Stille spannte plötzlich an und mein Puls ging hoch auf fünfhundertachtzig.

„Scheiße“, nuschelte ich nervös und schob Marc im Adrenalinschub zurück ins Bad und befahl ihm, keinen Mucks von sich zu geben und so zu tun, als sei er ein Handtuchhalter.

Er grinste mich auch in dieser Situation böse an und zwinkerte mir zu.

Ich seufzte genervt darüber, dass er es sogar jetzt schaffte, so schrecklich zu sein.

Ich zog die Tür zu, und als ich mich umdrehte, stand ich direkt vor Josh.
 

Und das nervte irgendwie auch, als wäre ein dreckig grinsender Kerl um mich herum nicht schon genug Stress.
 

„Was willst du hier?“ fragte meine vor Nervosität zitternde Stimme.

Und Josh grinste natürlich nur „Blumen gießen!“

„Äh...?“

Dann lachte er, kam auf mich zu, ging an mir vorbei ins Wohnzimmer und bediente sich an den Lebkuchenherzen „Marion hat angerufen und gesagt, ich soll mich um ihre Blumen kümmern während sie bei ihren Eltern ist.“

„Tz!“ entgegnete ich, als ich ihm folgte und erwartend ansah.

Er zuckte die Schultern „Ja ist so. Hm. Na ja und sie hat was gesagt von... mal nach Tim gucken?“ er hob verwirrt die Hände und rekonstruierte die Anweisungen, der er bekommen hatte „Aufpassen, Tims kleine Freundin Marie, essen... ähm“

er sah sich im Raum um, als wenn er noch nie hier gewesen wäre und aß noch ein Lebkuchenherz.

Er mochte die scheinbar auch ziemlich gern.

„Sex. Genau, das war es. Irgendwas mit Sex.“

„Oh man“, ich fasste mir an die Stirn und holte ein paar mal tief Luft, um mich zu beruhigen.

„Hm“, machte Josh und deutete auf die Blumen auf der Fensterbank „gießt du dann? Dann muss ich nicht mehr extra her fahren, ich mein, wenn du sowieso hier bist...“

„Ja“, sagte ich matt und ging zurück in den Flur.

„Dann ist gut, dann will ich dich auch gar nicht weiter aufhalten, warst bestimmt gerade beschäftigt.“ Er zwinkerte mir zu und ging zur Wohnungstür.

Er wollte sie gerade öffnen und wieder gehen und mich das ganze heil überstehen lassen, als er sich noch mal zu mir umdrehte „Ich muss nochmal aufs Klo!“
 

Dieser Satz klang gerade so apokalyptisch schlimm, wie der Film Amargeddon oder Independence Day.

Ich schaltete alles um mich herum aus und hörte gar nichts mehr. Als Josh an mir vorbei ging, wollte ich nach seiner Hand greifen und ihn zurück ziehen, doch meine Arme reagierten nicht.

Ich sah mir selbst zu, als würde ich neben mir stehen, wie ich geschockt da stand und Josh anstarrte.

Und ich konnte nichts tun.

Als er die Badezimmertür öffnete, im Raum verschwand und die Tür hinter ihm zurück ins Schloss fiel.
 

Mein Herz blieb vor Panik fast stehen, zumindest fühlte es sich so an.

Nach einer scheinbar urlangen Zeit kam er zurück.

Er schloss die Tür wieder, und er wirkte nicht anders.

Er sah mich genauso an, wie vorhin auch.

Er fragte mich, im selben Ton wie vorhin, was sei.

„Äh“, stotterte ich „n...nichts. Nichts ist.“
 

Marc musste sich verdammt gut getarnt haben.
 

Josh öffnete die Wohnungtür, ging in den Hausflur und zog die Tür zu.

Fast zu.

Kurz, bevor sie ganz geschlossen wurde, lehnte er sich noch mal zurück, sah den Boden an, dann nickte er zum Bad, schluckte hart und sagte: „Herr Branner ist in deinem Bad. Nackt.“
 


 

„Vielleicht solltest du mal was vernünftiges essen.“ sagte Marcs Stimme. Sie klang ganz fern, wie durch hundert Wände durch.

„Etwas mit Vitaminen.“ ergänzte sie dann.
 

Ich seufzte schwer, dann drehte ich mich zu ihm um.

Meine Augen fühlten sich so an, als würden sie jeden Moment von einem Fluss von Tränen weg geschwämmt.

Ich hatte mal sowas von gar keinen Hunger, auf gar nichts.

Ich wollte nur, dass die Zeit rückwärts lief.

Ein paar Tage am besten, bis dahin, wo ich nach dem Mathe Unterricht noch beim Lehrer geblieben war, um mich mit ihm für Weihnachten zu verabreden.

Ja wohl, ich glaube, es wäre einfach am Besten gewesen, wenn ich ihn die ganzen Ferien über nicht gesehen hätte.

Vielleicht wäre mir dann bewusst geworden, wie absurd diese Beziehung wäre, dass ich alles schnell abbrechen hätte sollen, dass das nur Ärger geben würde.

Doch Liebe macht leider soooo blind.
 

„Ich will, dass du gehst.“ sagte ich dann.

„Was?“ entgegnete er fast entsetzt.

Ich sah ihn an. Er saß auf dem Wohnzimmertisch, seine Knie lehnten gegen meine und er hielt meine Hände fest.

„Du solltest gehen, wir sollten ein paar Tage Pause machen. Also, mit dem... Sex und Beisammen sein und so. Wir sollten ein paar Tage allein sein, für uns, unsere Freunde, Familie...“

„Ähm“, sagte er, zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe und ließ meine Hände los „na gut. Wenn du willst. Wurde mir zwar noch nie gesagt, aber ich respektiere das.“
 

„Danke“, murmelte ich und sank den Blick.
 

„Ruf mich einfach an.“ sagte Marc. Er stand auf, beugte sich vor und küsste meine Stirn.

Dann ging er.

Verließ das Wohnzimmer.

Zog sich die Schuhe und seine Jacke an und verließ dann die Wohnung.
 

Ich atmete auf. Ich fühlte mich erleichtert.

Weil jetzt keine Gefahr mehr da war.

Wenn jemand kommen würde, wäre ich allein, niemand könnte etwas sehen.

Niemand würde auch nur im Entferntesten ahnen können, dass ausgerechnet er und ich etwas mit einander hatten.
 

Jetzt waren wir zwei vollkommen Fremde für einander. Wir kannten den Anderen nicht. Wir waren zwei von dreihunderttausend Menschen. Irgendwer eben.
 

Und niemand würde denken können, dass wir uns ein Bett teilten.

Orangen und Zimtkekse

Mir war so schrecklich zum Heulen zumute.

So, wie dieser Smiley im ICQ, dem gnadenlos die blauen Tränen über das gelbe Gesicht rannten.

So fühlte ich mich.

Meine schwule Seite hatte gerade überhand, und ich war so dermaßen schwul, dass ich den ganzen Tag im Bett lag und heulte.

Ich war furchtbar sauer auf Marc, und weil ich so schwul war, hatte das keinen besonderen Grund. Beziehungsweise bastelte ich mir einen Grund aus diversen Taten seinerseits zusammen, ich hatte ihm nicht konkret gesagt, wieso ich sauer war; im Grunde wusste er es nicht mal und meine schwule Seite verlangte einfach mal, dass er es von selbst raus finden sollte.

Und meine rationale, männliche Seite, die genau wusste, dass ich mich anstellte, war einfach mal zu sehr eingeschüchtert, um diese ganze Sache eben nüchtern betrachten zu können.
 

Ich lag in meinem Bett und tat nichts weiter, als mein Handy anzuheulen.

Das Schlimmste war noch nicht mal Marc gewesen.

Es war so bitter und schrecklich schmerzhaft, weil ich absolut niemanden hatte, mit dem ich lästern und zusammen sauer sein konnte, weil niemand wissen durfte, wieso ich heulte.

Ich hatte schon drei Mal Lillys Nummer angwählt gehabt, dann aber wieder aufgelegt. Was hätte ich ihr denn sagen sollen?

Dass ich mit unserem Mathelehrer vögelte?
 

Dann hatte ich zwei Mal versucht, Ray anzurufen, aber es gab ja diese Regeln, die besagten, dass ich ihn niemals und auf keinen Fall in meine Schwulelein involvieren durfte.

Unter anderen Umständen hätte ich diese Regel natürlich total missachtet, denn was nützte mir ein total toller bester Freund, wenn ich mit ihm nicht mal über mein trauriges Liebesleben reden konnte?

In Wahrheit hatte ich natürlich Angst, ihm zu erzählen, wer denn der Grund meiner Trauer war.

Und sagenhafte acht Mal hatte ich Josh angerufen.

Die ersten drei Mal war seine Mailbox dran, beim vierten, fünften und sechsten Mal ging er nicht ran, bei den restlichen zwei Malen nahm er das Gespräch zwar an, aber ich war so starr vor Angst, vor seiner Reaktion, seinem Wissen, dass ich nichts sagen konnte.

Dabei war Josh wirklich der Einzige, mit dem ich eigentlich darüber reden konnte.

Nur wollte ich das nicht.

Immerhin war er mein oberbescheuerter Halbbruder, den ich hasste.
 

Er war zwar schwul und hatte mit denselben inneren und äußeren Einflüssen zu kämpfen, wie ich; er wusste, was man so durchmachte und wie man sich fühlte, kannte das Gefühl, angewidert angestarrt zu werden und lebte mit der Furcht, irgendjemand, der es nicht wissen darf, könnte einen jeden Moment erwischen; und dazu wusste er noch, wer mein schmutziges Geheimnis war, aber dennoch schaffte ich es nicht, mit ihm zu reden.
 


 

Zum gefühlten tausendsten Mal las ich dann diese SMS.

„Alles klar.“

Mehr hatte Marc nicht geschrieben.

Nur diese zwei kleinen Worte.

Alles klar.

Das klang so gleichgültig und abweisend, als wenn er mich einfach nur hassen würde. Als wenn ich ihm wahnsinnig auf die Nerven ginge, einfach nur stören würde.

Als wenn ich ihm nichts bedeuten würde.

So klangen diese zwei zwei Worte in der SMS.

Und die hatte ich gestern bekommen, als ich ihn nach Hause geschickt hatte.

Als Antwort auf mein „Tut mir Leid mit vorhin, ich war etwas geschockt wegen Josh und so. Waren tolle Ferien mit dir! XXX Tim“
 

Er hatte nicht angerufen, nicht gesagt, dass er mich liebte, nicht gesagt, dass er es „schon okay“ fand oder sonst irgendetwas derartiges. Einfach nur „Alles klar.“

Ich mein, wie soll ich mich darauf denn benehmen, als einfach nur zu heulen?
 

Ich starrte also mein Handy an und hoffte in mir drinnen, dass Marc mir gleich eine SMS schicken würde, in der er sich (wegen nichts) entschuldigte und mir sagte, wie sehr er mich doch liebte und dass ich doch gleich bei ihm vorbei kommen sollte, er würde eine kleine Silvesterparty veranstalten. Und das seit gestern Abend schon.

Doch nichts geschah.

Gerade, als ich es aus der Hand legen und mich vom Bett aufrappeln wollte, fing es an, zu vibrieren und kurz danach hörte ich Ben Kowalewicz Stimme etwas über Sympathie singen.

Verwirrt griff ich das Telefon fester, ich hatte ja nicht so wirklich mit Marcs Anruf gerechnet, und schaute, wer mich denn anrief.

Es war nicht Marc.

„Ja?“ sagte ich und war leicht überrascht über den müden und heiseren Klang meiner Stimme. Ich räusperte mich.

„Hey Tim“, antwortete Ray „wie geht’s?“ Das war natürlich nur eine Höflichkeitsfrage, um das Gespräch in Schwung zu bringen und irgendwie dahin zu leiten, wo er hin wollte.

Um ihm das nicht so schwer zu machen, antwortete ich, ohne lügen zu müssen, direkt mit „Was willstn?“

„Ähm“, er klang überrascht; ich war ja eigentlich nicht jemand, der unfreundlich und grob war, schon gar nicht am Telefon und noch viel weniger zu Ray.

„Wir feiern heute Abend bei Joe.“

„Wer?“

„Wir alle, wir konnten dich bisher nur noch nicht erreichen aber wir gehen davon aus, dass du kommst?“

„Ähm“, sagte ich. Ich war leicht verwirrt, ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich den Abend allein verbringen würde. Allein und heulend.

„Wer sind wird?“ fragte ich.

„Na ja“, antwortete er „Julie und Lilly, Pat und Flo, Joe und du und ich.“

Ich nickte nachdenklich.

Das war im Grunde keine schlechte Idee, mal wieder raus kommen, unter (anderen) Menschen, ein wenig Spaß haben und feiern.

Und auch, wenn ich jetzt überhaupt keine Lust dazu hatte, wenn ich dann erst mal da war und die gute Laune der anderen auf mich überspringen würde, dann würde das ganze bestimmt lustig werden.

Also stimmte ich zu: „Ja gut, alles klar. Heut' Abend. Bei wem?“

Ray lachte leise „Bei Joe. Willst du dann was zu unserem Geschenk beisteuern?“

„Was für ein Geschenk?“

„Ach ja“, machte er und ich hörte, wie er sich gegen die Stirn schlug „natürlich, du wusstest das ja noch nicht. Joe hat morgen Geburtstag, deshalb feiern wir bei ihm. Quasi rein in seinen Geburtstag.“

„Aber es ist Silvester.“

„Das kommt noch dazu. Wollen wir zusammen zu ihm fahren?“

Ich zuckte die Schultern, das konnte ja nicht verkehrt sein.

Außerdem wusste ich gar nicht, wo Joe wohnte.

Ich war ein schrecklich egoistischer Freund.

„Ja“, nickte ich.

„Gut, ich komm gegen acht, dann glühen wir noch was vor.“
 

Ich wusste nicht, was das bedeutete, stimmte aber ein und als wir aufgelegt hatten, begann ich, mich auf den Abend zu freuen.

Und mir Gedanken über Joe zu machen.

Ich hatte das Gefühl, ewig nichts mehr mit ihm zutun gehabt zu haben, seinen Namen zu hören wirkte fast schon fremd für mich.

Und dennoch fühlte es sich komisch aufregend an, an ihn zu denken.

Ich fragte mich, wo er wohl wohnte.

Das würde ich dann ja bald heraus finden.
 

Ich vergaß Marc und Josh, stand aus dem Bett auf, lüftete mein Zimmer, ging lange duschen, wechselte meine Bettwäsche, machte mir die Haare, zog mir eine dunkelblaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt an, suchte mir zwei Socken aus meinem Sockenhaufen und zog mir ein schwarzes Hemd mit komischen, mattierten Längsstreifen über.

Als ich im Flur in den Spiegel sah, fand ich mich ausnahmsweise mal so wahnsinnig gutaussehend und auf eine verquere Art sexy, dass ich total von mir überzeugt war.

Ich aß noch ein Lebkuchenherz und bewässterte Mamas Zimmerpflanzen, da klingelte es dann auch schon an der Haustür.
 

Als Ray die Treppe hoch kam, war er schon leicht rot um die Nase und in der Hand hielt eine Flasche Bier.

„Heeeey“, machte er, kam in die Wohnung und warf sich erst mal an mich.

„ähm“, entgegnete ich verwirrt, erwiderte aber seine ungewöhnliche Umarmung.

„Alles klar?“

Er ging sofort ins Wohnzimmer und ließ sich auf der Couch nieder.

Ich zog noch die Wohnungstür zu, dann ging ich zu ihm und sah ihm dabei zu, wie er sich über die anderen Süßigkeiten vom Süßigkeitenteller hermachte.

Ray konnte wahnsinnig viel essen und er aß eigentlich immer.
 

Früher oder später musste ich sowieso lügen.

„Ganz gut, Ray. Wie war Weihnachten?“

„Super. Meine Eltern haben keinen blassen Schimmer davon, dass Steve schwul ist. Und er ist schwul. Ich hab mit ihm geredet. Er hat gesagt, dass er schon ewig in Josh verknallt ist und, das schärfste ist ja, die beiden sind auch schon seit gut anderthalb Jahren zusammen, hast du das gewusst?“

„Hm“, antwortete ich nachdenklich.

Natürlich hatte ich das nicht gewusst, woher denn.

Ich interessierte mich ja nicht mal ansatzweise für Josh, von daher war es mir eigentlich auch ziemlich egal.

„Na ja, auf jeden Fall wissen es unsere Eltern nicht, und deine übrigen auch nicht, und keiner soll es so schnell erfahren. Du glaubst nicht, was Josh damals für ein Gesicht gemacht hat, als er erfahren hat, dass du auch schwul bist.“

Ich lachte vergnügt auf und malte mir aus, wie Josh nach meinem Outing erschrocken auf einem Stuhl in der Pausenhalle saß und die Welt irgendwie nicht mehr ernst nehmen konnte.

Der hatte wahrscheinlich genauso blöd geguckt wie ich, als ich das mit ihm erfahren hatte.

Zwei schwule Brüder, so etwas erlebte man ja nun auch nicht jeden Tag.

Vielleicht lag das ja an der Erziehung, wobei Josh und ich im Grunde ja doch Unterschiedliche genossen hatten.
 

Um neun Uhr saßen Ray, stark angetrunken und ich, leicht erheitert, in der Straßenbahn und alberten herum.

Nach zwanzig minütiger Fahrt stiegen wir aus und mussten dann ein ganzes Stückchen durch die klare Kälte laufen und ich hatte den ganzen Abend nicht ein Gedanken an Marc verschwendet.

Wobei das doch ein bisschen traurig war, denn eigentlich hätte ich den Jahreswechsel gern mit meinem Freund verbracht, doch verboten es mir mein Schwulsein und mein Stolz, mich bei ihm zu melden und für mich fühlte sich das Ganze an, wie der erste Streit, an dem kein Paar vorbei kam.

Nur halt, dass Marc davon nichts wusste.
 

„Nicht dein ernst“, sagte ich, als Ray das große Tor zwischen zwei hohen Mauern aufschob.

„Was?“ fragte er deutlich verwirrt.

„Joe wohnt doch nicht hier?“ fragte ich und schaute zum Haus hoch.

Haus war untertrieben.

„Wieso nicht?“ sagte Ray, zuckte die Schulern und ich war eifersüchtig auf ihn, weil er wusste, wo Joe wohnte, und ich nicht.
 

Wir liefen einen gepflasterten Weg zwischen zwei großen Grünflächen entlang, direkt auf die altmodische Villa zu.

Das Haus war gigantisch groß, die Eingangspforte ragte weit über unsere Köpfe hinweg und bestand aus zwei Türen, welche man nur erreichte, wenn man einige edel wirkende Stufen hinauf ging.

Die Fenster waren groß und ließen viel Lichteinfall vermuten und ein runder, trumartiger Anbau komplettierte diesen Palast.

Die rosa Farbe blätterte teilweise von den Außenwänden ab, teilweise wirkte sie alt und vermoost, aber gerade das wirkte auf dem Gebäude so luxuriös.

Ich hatte nicht gewusst, dass sich Joes Familie so ein Haus leisten konnte.
 

„Hey ihr“, lächelte Lilly, die uns die Tür öffnete und durch eine beeindruckende

Eingangshalle, in der wir unsere Jacke und Schals ablegten, eine Treppe hoch in einen verhältnismäßig kleinen Raum führte.

Es standen drei Couches in der Mitte, zwei Tische an der linken Wand, auf denen sich diverses Knabberzeug und Fingerfood befand und unter denen die Getränke gelagert waren.

In einem Eck stand sogar ein kleiner Kühlschrank.

Eine Musikanlage spielte mittellaute Partylieder und die Wände waren dekoriert mit gerahmten und ungerahmten Fotos und Bücherregalen.

Es war nicht ungemütlich und obwohl das Fenster gekippt war, war es auch nicht kalt.

Gut, bei so vielen Leuten in einem Raum...

Außer Lilly und Julie, die ich kannte, saßen noch zwei andere Mädchen da, die mich schüchtern ansahen, bevor sie mich bemerkt hatten aber in einem wohl spannendem Gespräch verwickelt gewesen waren.
 

„Hey“, sagte ich und setzte mich auf einen freien Platz auf eines der Sofa neben Joe.

Er lächelte dezent und winkte mir vorsichtig zu: „Hey.“

Er war auch leicht angerötet und wirkte so, als wüsste er nicht, was er sagen sollte.

„Wo sind deine Eltern?“ fragte ich, um ein Gespräch in Gang zu bekommen und weil ich das wissen wollte.

„Bei Verwandten“, antwortete Joe schüchtern, dann nickte er zu den beiden fremden Mädchen rüber „das sind meine Schwester Lissy“, die dunkelhaarige winkte schüchtern „und meine Cousine Alina.“ und die Blonde nickte.
 

Und dann war ich in einem Gespräch vertieft, welches ständig die Themen und Partner wechselte.

Zuerst redete ich mit Joe über Geschwister, selbstverständlich ohne zu erwähnen, dass Josh schwul war, dann mit Lissy über Joe, dann mit Alina über Joe, dann mit allen dreien über blöde Partyspiele und dann saßen wir alle im Kreis, hatten komische Zettel im Gesicht kleben auf denen die Namen irgendwelcher Schauspieler standen und wo wir mit Ja-Nein-Fragen herausfinden sollten, wer wir waren.

Ich war Ross Antony und das war so was von klar, dass Ray mir den aufschrieb.

Erstens war ich immer Ross Antony, egal, worum es ging und zweitens war das der einzige schwule Schauspieler, der dazu noch blond war, den Ray kannte.

Und während der Abend voran schreitete und ich keinmal an Marc dachte, aber viel Spaß hatte, so stieg auch der allgemeine und mein Alkoholpegel.

Die innerliche Trauer war es bestimmt, die mich dazu brachte, soviel Rum zu trinken.
 

Als ich von der Couch aufstand, auf der ich müde an Lilly gelehnt hatte, und merkte, wie schwindelig mir war und wie verschommen mein Blick schon war, dachte ich das erste Mal daran, dass ich nicht weiter trinken sollte, aber ich hörte nicht auf mich.

Ich ging zum Getränketisch und schüttete mir ungeschickt Wodka in mein Glas, dadrüber etwas Cola und dann trank ich den Cocktail mit einem Zug aus.

Kurz brannte es in meinem Rachen, dann durchfuhr mich ein Schüttel, mein Blick wurde noch träger und ich fühlte mich gut.
 

Unkoordiniert ging zurück den Sofas, die Musik dröhnte jetzt laut in meinen Ohren, und ließ mich einfach auf einen leeren Platz fallen.

„Hey!“ sagte ich laut und winkte dem Mädchen neben mir zu.

„Hey!“ entgegnete sie ebenso enthusiastisch und das ließ darauf schließen, dass sie ebenfalls gut einen sitzen hatte.

„Ich bin Tim.“ machte ich, weil es mir als das logischte Gesprächsthema erschien.

„Nd ich Lissy.“ sagte sie.

„Ist das dein echter Name?“ ich beugte mich etwas zu ihr vor, damit ich sie besser sehen konnte.

Sie schüttelte leicht den Kopf: „Natürlich nicht, niemand heißt Lissy.“

„Das stimmt...“

„Mein echter Name ist Elise!“ erklärte sie dann glücklich und ich lachte laut auf.

Lissy nickte: „Ja, das is ngfefähr die Reation, die ich erwarte wenn ich das jmandn sage...“

„Tut mir Leid“, sagte ich „aber Elise is ja mal n echt bescheuerter Name...“

„Den hat meine Oma ausgesucht“, erklärte sie „nach dem Stück von Beethoven. Für Elise...“

„Is ja bescheuert.“

„Na wenigstens heiß ich nicht wie ein Komponist selbst!“ lächelte sie und verwirrte mich, was ich wohl deutlich ausdrückte, denn sie erzählte weiter: „Na Joe heißt so wie Johann Sebastian Bach, is doch bescheuert, oder?“

„Wieso hat eure Oma euch Namn gegeben und nicht eure Eltern wie das so üblich ist?“ Ich wunderte mich gerade über diesen Gedankengang, den ich noch in der Lage war, zu fassen, als sich Johann Sebastian neben mich, oder eher gesagt, auf mich setzte. Halb zumindest.

„Wie geht’s worüber redet ihr?“ fragte er und sah mich komisch begeistert an.

„Nichts weltbewegendes, Johann!“ entgegnete ich.

Joe lachte seine ehrliche, aufrichtige Lache und mein Herz hüpfte dem aufgeregt entgegen.
 

Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und schmiegte sich ganz nah an mich, und das fühlte sich schön und warm an; und ich legte meinen Kopf aus seinen und schloss kurz die Augen, um mich voll und ganz auf Johann Sebastian und seine Aura zu konzentrieren.

Joe roch wie Orangen und Zimtkekse.

Bitter End

Da passiert jetzt n bisschen viel 'aufeinmal'

___________

„Tim“, flüsterte jemand.

Ich schlug die Augen auf.

Und alles war verschwommen.

„Woah“, machte ich „wasn los?“

Joe lachte leise, dann spürte ich seine Hand, sie fuhr über mein Gesicht, hielt kurz meine Wange fest, dann strich sie eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr.

„Ist alles klar bei dir?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf: „Nein.“
 

Er beugte sich vor und legte seine Arme um mich.

Von irgendwo hörte ich freies Gelächter, rauschen und Knallen.

Ich drehte mich zum Fenster und nahm hell aufleuchtende Farbe wahr, die genauso schnell verschwanden, wie sie kamen.

„Oh man es is zwölf Uhr!“ rief ich aus und richtete mich von der Couch auf „ich bin eingeschlafen?“

„Ist schon okay, das macht doch nichts.“ sagte Joe. Er stand neben mir, er hielt mich fest.

Gerade stehen konnte ich nicht, mein Körper wankte gefährlich und mir war klar, dass ich sehr stark angetrunken war.

Leichte Übelkeit breitete sich schon in meinem Bauch aus.
 

„Oh, Joe“, machte ich dann und drehte mich zu ihm um: „Du hast ja Geburtstag.“ Ich lehnte mich ungeschickt vor und wollte ihn umarmen, stattdessen ließ ich mich von ihm auffangen, weil ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Etwa hilflos kamen wir zurück zum Sofa und ließen uns grob in die Polster fallen.
 

Es war Neujahr.

Der erste Tag in einem Jahr.

Ein Neuanfang, so zu sagen.

Etwas altes, was man hinter sich lassen sollte, war zu ende, und etwas neues, was man mit offenen Armen empfangen sollte, stand vor einem.

Und mir kamen die Tränen, als ich an Marc dachte.

Etwas ungeschickt schniefte ich und strich mit dem Ärmel des Hemdes über mein Gesicht.

„Was ist los?“ fragte Joe.

Ich kniff die Augen zusammen, drehte mich von ihm weg und schüttelte den Kopf.

Versuchte, mit aller Kraft, meine Emotionen und Tränen in mir zu halten „nichts ist. Nichts.“

„Komm schon“, sagte Joe, er legte seine Arme von hinten um meine Schultern und zog mich zu sich heran.

Das erinnerte mich daran, wie Marc mich immer anfasste.

Ich vermisste ihn so wahnsinnig, ich wünschte mir so sehr, dass Marc hier wäre.

„Marc“, nuschelte ich dann leise und gegen meinen Willen, der im Moment aber sowieso ausgeschaltet war.

„Marc?“ machte Joe verwirrt.

„Oh Gott Joe, weißt du, was er gesagt hat, nachdem er mich geküsst hat?“

Joe verkrampfte etwas.

„Er sagte, er würde nicht gerne rumfuschen in Beziehungen. Er würde mich so lieben“, ich stockte kurz, das war gelogen „aber er würde sich nie zwischen Zwei drängen. Er dachte wirklich, du und ich seien zusammen.“

Meine Wangen waren feucht von den salzigen Tränen und ich drehte mich halb in seiner schlaffen Umarmung um, um sein Gesicht zu sehen.

Seine Augen waren blau, und sie sahen direkt in meine.

„Sowas“, krächze seine Stimme, dann senkte er schnell den Blick und räusperte sich.

„Oh Gott“, machte meine Stimme und sie klang so schrecklich herzzereissend, dass ich selbst von meinem Gefühlsausbruch überrascht war „ich vermisse ihn so, ich will, dass er ihr ist.“

Meine Finger verkrampften sich und krallten sich in Joes schwarzen Pullover fest.

Er war so warm.

Etwas verzweifelt drückte ich mich an, doch er legte nur zögerlich seine Arme um mich.

„Aber wieso ist er nur so?“ fragte ich und schmiegte mein Gesicht an seine Brust.

„Ähm“, sagte Joe unsicher.

Er tätschelte meinen Kopf, strich über meinen Rücken und wirkte ziemlich ratlos.
 

Dann war alles schwarz.

Bis ich wieder eine Stimme hörte, weit weg, doch sie wurde immer lauter.

„Tim...“, sagte sie, klang stark und kräftig, doch ein etwas besorgter Unterton schwang in ihr mit.

Ich öffnete noch mal die Augen.

Die Welt drehte sich um mich und ich sah nur dunkle Farben, die ich nichts zuordnen konnte, verschwommene Konturen und Umrisse, aber nichts richtig und niemanden wirklich.

„Timmi“, sagte die Stimme wieder, jemand packte meinen Arm und zog mich hoch.

In mir drehte sich alles um und ich musste würgen.

„Musst du kotzen?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

Meine Arme waren so schwach, ich konnte sie nicht anheben.

„Hey, ist alles in Ordnung?“ fragte er.

Ich sah auf, kurz flog mein Blick verwirrt umher, dann wurden blauen Augen klar.

Die kannte ich genau und zum ersten mal in meinem Leben war ich wirklich froh, sie zu sehen.

Ich seufzte erleichtert auf, ließ mich nach vorn fallen und von Josh auffangen.

Dann sagte ich: „Verdammt hast du keine eigenen Freunde bei denen zu feierst?“

Josh lachte, er hielt mich fest in seinen starken Armen, und die Welt drehte sich um uns „nichts ist mir wichtiger als dein Wohlbefinden.“

„Ach du Lügner.“

Er lachte wieder auf, strich mir vorsichtig über den Kopf, dann setzte er meinen wehrlosen Körper zurück auf das Sofa.

Ich hasste dieses Sofa.

Steve und Ray und Lilly standen hinter ihm und sahen mich mitleidig an.

„Ray hat mich angerufen“, erklärte Josh „du hat's wohl ein Moralischen.“

„Ein was?“

Verwirrt sah ich Josh ins Gesicht.

Seine Wangenknochen waren hoch, seine Lippen schmal und sein Haar war kurz und dunkelbraun.

Er hatte tolles, kurzes, dunkelbraunes Haar, das mich an Marc erinnerte.
 

Ich schluckte hart.

Die aufkommende Trauer runter.

Die Tränen.

„Oh man“, machte ich und mein Körper begann, komisch zu zittern.
 

Josh griff nach meinem Arm und zog mich zu sich hoch, sodass ich ganz nah bei ihm stand und sein Herz schlagen spüren konnte „Komm Tim, ich bring dich nach Hause.“

„Hm“, machte ich, unfähig, etwas anderes zu antworten. Der Vorschlag klang gut.

Zu Hause.
 

Josh hielt mich in seinen starken Armen fest und drehte uns zu Steve und Ray um.

„Steve?“ fragte er. In der Frage war soviel mehr als nur der Name. Man hörte eine Entschuldigung, die Frage nach Verständnis und eine Bitte mit heraus.

Steve nickte, er tätschelte auf Rays Schulter herum und sagte: „Schon okay, Josh.“

„Okay“, hauchte mein Bruder, er trat an Steve heran und drückte ihn einen Kuss auf die Lippen.

Ein komisches, aufregendes Gefühl durchfuhr mich, ich fühlte mich kurz klarer im Kopf und wacher. Ich wusste, dass sie zusammen waren, aber ich hatte darüber niemals nach gedacht.

Josh war schwul.
 

Mein Blick fixierte Ray.

Und Ray sah mich an, zuerst mitleidig, dann komisch, dann verstehend und dann hob er abwehrend die Hände: „Oh nein Tim, wag es nicht!“

Josh und Steve lachten leise.
 

Dann redeten sie noch kurz miteinander, leise. Man konnte sie hören, doch ich hatte noch etwas zu tun.

Verwirrt sah ich mich im Raum um, doch es war niemand da.

„Ich such Joe“, sagte ich deshalb und verließ das Zimmer.
 

Ich kannte mich ja wirklich gar nicht in diesem Haus aus, und es war riesig, aber ich vertraute auf mein Bauchgefühl, ging die Treppe in die Eingangshalle runter und steuerte eine unauffällige, weiße Tür an.

Konnte natürlich auch am Licht gelegen haben, welches unter dem Schlitz hervorschein, dass ich mich ausgerechnet für diese entschieden hatte.

Ich drückte sie auf und fand mich in einer großen Küche wieder, in dessen Mitte, allein auf einem Hocker an einer Theke, Joe saß.

Joe, ihn hatte ich gesucht und sofort gefunden.

Orangenduft kroch mir sofort in die Nase.
 

„Joe“, lächelte ich und ging zu ihm.

„Tim“, erwiderte er kühl.

„Ich wollte mich entschuldigen“, erklärte ich „weil wegen ich hab dir dein Geburtstag versaut.“

Joe sagte nichts, er zuckte nur mit den Schultern und ich verstand ihn nicht.

„Na ja“, machte ich „Ich fahr jetzt nach Hause. Viel Spaß noch bei deiner Party.“

„Hm“, entgegnete er matt.

Ich sah in seine blauen Augen, sie waren kalt und er wirkte ein bisschen enttäuscht.

„Hm“, sagte ich und aus der Unklarheit meiner Gedanken kristallisierte sich nur eine logische Aktion heraus. Ich wollte mich vorlehnen, ihn umarmen, kam seinem Gesicht mit meinem näher, mein Herz raste, als sich unsere Gesichter fast berührten und ich spürte eine Sehnsucht in mir, die ich vorher noch niemals gefühlt hatte und ich wusste, dass sie gestillt war, wenn ich ihn jetzt küsste.

Doch Joe wandte sich ab, er drehte den Kopf zur Seite und drückte mich dann von sich weg.
 

Nun war ich daran, enttäuscht zu sein: „Was denn los?“

„Tim“, sagte er ernst „ich fusche nicht gern rum.“
 

Dann wurde die Tür aufgeschlagen und Joshs Stimme drang zu uns vor: „Tim komm jetzt!“
 

Mir wurde schlecht, ich drehte mich um, beugte mich vor und kotze.
 

„Scheiße“, hörte ich Josh zischen.

Ich fühlte mich komisch, meine Beine sackten zusammen, mir wurde schwarz vor Augen und ich spürte zwei Arme, die sich um mich schlangen, bevor ich den Aufprall auf die weißen Fließen erwartete.
 

Ich war im Auto.
 

Dann war ich in Joshs Armen und er fummelte irgendwie unangenehm an mir und vor allem an meiner Hose herum.

„Wasn los?“ fragte ich verwirrt und versuchte, zu erkennen, wo ich war, wo Josh war und allem voran, was er an meiner Hose machte.

„Die Schlüssel, Tim.“ erklärte er und ließ dann von mir ab.

Ich brummte genervt, griff in meine Tasche und drückte sie ihm in die Hand.

Er öffnete die Haustür, wir schleppten uns die Treppe hoch und kamen dann in die nach Tannenbaum und Lebkuchen riechende Wohnung.

Josh dirigierte mich in mein Zimmer und ließ mich dann auf meinem Bett fallen.

Ich rollte mich auf die Seite und sah Josh an „Joshua?“

„Hm?“ etwas entnervt setzte er sich zu mich auf die Bettkante „Bleibst du hier?“

Er tätschelte mir sanft über den Kopf und nickte.

„Gut“, sagte ich und schloss die Augen.

Alles drehte sich um mich, nur Josh nicht.

Sofort öffnete ich die Augen wieder, suchte kurz nach Josh, dann griff ich seine Hand, zog sie zu meinem Gesicht und legte meinen Kopf drauf.

„Ach Timmi“, flüsterte er.

„Joshua“, sagte ich leise „es tut mir Leid, dass ich dich hasse.“

„Schon okay.“ entgegnete er leise. Er legte sich zu mir aufs Bett, ich machte ihm sogar ein bisschen Platz.

„Josh?“

„hm?“

„Wieso nennt man sein Kind Johann Sebastian?“
 

Johann Sebastian und Lisa standen am nächsten Tag vor meiner Tür.

Ich war aufgewacht und hatte eine irre Kopfexplosion, aber um mich herum war es wunderbar warm und es duftete einfach herrlich.

Im ersten Moment, als ich den warmen Körper hinter mir spürte, dachte ich, ich sei bei Marc, dann erinnerte ich mich aber an den Streit und meine Flucht zu den Gebrüder Bacardi und Wodka und dann versuchte ich, mich zu erinnern was passiert war.

Vorsichtig drehte ich mich in der Umarmung meines Bettgenossen um und sah dann Josh friedlich schlafendes Gesicht vor mir.

Und dann fragte ich mich, wie lange er wohl nicht mehr hier übernachtet hatte und kam zu dem Entschluss, dass er noch nie hier bei uns in dieser Wohnung geschlafen hatte und das fand ich auf eine merkwürdige Art traurig.

Immerhin war er mein Bruder, und das erste Kind von meiner Mutter.
 

Wer weiß, wie fatal sie mich verzogen hätte, wenn sie nicht ein Übungsobjekt gehabt hätte.

Ich seufzte friedlich auf und tätschelte Joshs Gesicht.

Er roch nach Tannenbaum und ich hatte noch niemals vorher jemals den Duft von jemanden wahrgenommen.

Das war seltsam aufregend und kirbbelig.
 

Sein Gesicht zuckte, dann öffnete er die Augen, erblickte mich und lächelte.

„Hm, guten Morgen, mein kleiner, schwuler Freund!“

Er drehte sich auf den Rücken und streckte sich.

Ich zog grimmig die Augenbrauen zusammen (Kopfschmerzen!!!) und sagte: „Ich dachte, darüber wären wir hinweg!“

„Oh“, Josh sah mich an „du erinnerst dich?“
 


 

Josh duschte in unserem Bad, als ich in den Schränken in der Küche nach etwas essbarem suchte, wovon mir nicht schlecht wurde, und das war eine schwierige Mission.

Denn hatte ich ja die letzten Tage ziemlich erfolgreich nur von Lebkuchen gelebt, gestern hatte ich wegen Liebeskummer nichts gegessen, deshalb hatte ich auch so schnell den Totalabsturz dank Wodka, und heute war ein Feiertag und Aldi hatte zu.

Vorausdenken war nicht meine Stärke und so saßen Josh und ich jetzt hier, ohne was zum Essen, als es an der Tür klingelte.

Die Uhr zeigte Nachmittag und ich fragte mich, ob sich irgendein Nachbar beschweren wollte, weil ich irgendwann mal in der Nacht laut gewesen war oder so.
 

Ich drückte den Türaufknopf und öffnete die Wohnungtür und schielte über das Geländer im Treppenhaus, um zu sehen, welche zwei Gestalten hoch kamen.

Lillys langes, blondes Haar erkannte ich sofort, und sehr schnell kroch mir auch der bekannte Zimtkeksgeruch, der von Joe ausging, in die Nase.

Mein Herz fing binnen Sekunden an, zu rasen.

Was wollte Joe hier?
 

„Hey Tim“, sagte Lilly zur Begrüßug und umarmte mich kurz.

„Lilly“, antwortete ich, lächelte sie an, dann sah ich zu Joe, der da stand und so schrecklich unnahbar wirkte, dass es schon weh tat.

„Joe“, krächze ich „was... was ist los?“
 

Lilly und Joe tauschten gefühlvolle Blicke aus, dann gingen sie in die Wohnung und Lilly meinte: „Wir wollten sicher gehen, dass du heil angekommen bist und dass es dir gut geht.“

„Aha!“ Machte ich und lehnte mich in den Türrahmen meines Zimmers.

Lilly hatte eine Mappe auf meinen Schreibtisch gelegt, die mich ziemlich neugierig machte, aber ich hielt mich zurück.

Sie stand dar, mit verschränkten Armen und man merkte, wie sehr sie etwas sagen wollte und sich zurück hielt.

Joe sah sich im Raum um, als er Marcs Foto erblickte, wurde sein neutraler Blick etwas sauer.

Joe war komisch.
 

„Wir müssen mit dir reden!“ machte Lilly endlich und man spürte, was für eine Anspannung von ihr fiel. Trotzdem war noch eine große Sache unausgesprochen und ich bekam Angst.

„Was müsst ihr beide mit mir bereden?“

Was mussten vor allem Lilly und Joe mit mir bereden? Die beiden hatten doch mit einander so gut wie nichts zu tun.

Dachte ich zumindest.
 

„Es geht um Marc!“ sagte sie und umfaste sich selbst etwas fester. Lilly zitterte, aber ich konnte nicht erahnen, weshalb.
 

Meine Beine kribbelten und machten den Eindruck, als würden sie gleich nachgeben, meine Brust durchfuhr ein aufregendes Gefühl und von dem flutete eine Welle Angst meinen Körper.

„Äh“, stotterte ich „Marc? W... wer ist Marc?“

„Ach“, sie war sauer „tu nicht so!“
 

Lilly griff die mitgebrachte Mappe, ließ sie wieder los und setzte sich dann auf meinem Schreibtischstuhl.

„Wir wissen, was du treibst, das geht schon eine Weile so!“
 

„äh“, machte ich, zu etwas anderem war ich auch gar nicht fähig. Ich konnte nichts sagen, nicht handeln und nichts denken.
 

„Du bist ein Idiot Tim, das vorweg!“ sagte sie streng, stand wieder auf und ging zu Joe „Dieser Junge hier“, sie deutete auf Joe „der liebt dich so wie...“ sie hielt inne und suchte nach einem passenden Vergleich „der liebt so wie Romeo seine Julia geliebt hat“, und sie fand keinen tollen „und du Vollhonk“, Lilly kam auf mich zu und schubste mich grob nach hinten, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, ich musste mich am Türrahmen fest halten „du rennst mit einem Tunneblick durch die Welt und am anderen Ende steht dieses pädophile Arschloch!“
 

Das waren grausam gewählte Worte, die mir mindestens genauso weh taten, wie sie Marc weh getan hätte.
 

„Äh“, machte ich, dann sah ich zu Joe. Seine Wangen waren leicht rot, sein Blick jedoch war noch kalt und enttäuscht.
 

„Aber... das hab ich doch nicht gewusst...“ versuchte ich, mich zu rechtfertigen, doch Lilly schnaubte nur. Sie griff nach der Mappe und warf sie nach mir „gucks dir an. Guck, was für ein toller Mann dein blöder Herr Branner ist.“
 

Ich verstand ihre Wut nicht, vor allem weil sie selbst auch gesagt hatte, Herrn Branner würde sie „nicht von der Bettkante stoßen“; sie hatte ihn auch durchaus nett und toll gefunden.
 

Ich hockte mich auf den Boden und griff die Mappe.

„Was ist das?“ fragte ich, doch niemand antwortete.
 

Das erste, was mir entgegen fiel, als ich sie öffnete, war ein Foto.

Marc und ich, hier vor meinem Haus.

Er hatte seinen Arm um mich geschlungen und grinste dreckig.

„Woher hast du das?“ ich sah auf, wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte, wusste aber doch, dass Lilly jetzt gar kein Recht hatte, sauer zu sein; viel eher ich.
 

„Guck weiter!“ forderte sie mich auf.

Und ihr Tonfall war so beißend, dass ich mein Recht aufs Sauersein freiwillig abgab und weiter die Unterlagen durchblätterte.

Ich fand noch einige andere Fotos von mir und Marc, in seinem Lotus, in seinem Hausgang, eins mit Nils, Marc und mir.
 

Das roch nach Stalking und der Geruch stank.
 

„Was ist das, woher habt ihr das?“ fragte ich nochmal etwas nachdrücklicher und sah Lilly und Joe enttäuscht und sauer an.

„Joes Dad“, erklärte das Mädchen „er ist Privatdetektiv. Er hat Nachforschungen über deinen tollen Macker angestellt.“

„Wieso?“

„Weil er eine perverse Sau ist. Guck doch“, Lilly hockte sich zu mir auf den Boden und hielt mir ein Dokument hin, vom Schiller-Gymnasium.

„Strafversetzt“, sagte sie und ich nahm das Blatt entgegen „wegen Sex mit Schülerin.“

Ich las den Namen Marc Branner und Miriam-Anna Koke, und der kam mir verdächtig bekannt vor.

Dann legte mir Lilly ein weiteres Blatt auf dem vorherigen, von der Geschwister-Scholl-Schule.

„Strafversetzt wegen Sex mit einem Schüler“, sagte sie und zeigte auf die Namen.

Marc Branner und Manuel Groß.

„Hier“, sagte Lilly, sie drückte mir noch mehr in die Hände „während des Studiums hat er's mit einigen minderjährigen Zehntklässlern getan, im Praktikum hatte er einen Schüler und als er Abiturient war, war seine Freundin gerade mal in der siebten Klasse.“ Lilly deutete auf den Namen Laura Berger.

Den kannte ich auch.
 

„Aber“, machte ich und las mir den Zettel noch mal genau durch „aber... wieso?“

„Er hat sich vorher nie strafbar gemacht, Sex zwischen Lehrer und Schüler ist eigentlich nicht verboten, wenn sie volljährig sind, Tim. Aber du bist erst sechzehn.“

Erklärte sie mir, ihre Stimme klang plötzlich so lieb und sie nahm sogar meine Hand.

„Du musst nur gegen ihn aussagen.“

„Ach“, meinte ich, entriss mich ihrem Griff und richtete mich vom Boden auf „und wieso sollte ich das tun? Wie kommst du überhaupt darauf, dass Marc und ich Sex hatten?“

Meine Stimme zitterte, genauso, wie meine Hände und Knie.
 

„Tim“, sagte sie, erstaunlich verständnisvoll, dafür, dass sie eben so sauer war.

Frauen!

„Nichts Tim!“ schrie ich „haut ab. Geht weg, verschwindet!“
 

Ich drehte mich um, ging ins Wohnzimmer und schlug mir die Hände gegen die Ohren.

Ich war verwirrt, enttäuscht, wütend und traurig, mein ganzer Körper zitterte vor Ekstase und Gefühlswallungen und in meinen Augen sammelten sich Tränen, die ich unter keinen Umständen unterdrücken konnte.

Sie stellten Marc als Perversen dar.

Sie meinten, er sei ein gemeines Arschloch, sie meinten, er würde mich gar nicht lieben.

Aber er musste mich doch lieben.

Er war mein erster Freund!

Niemand war jemandes erster Freund, wenn er den nicht lieben würde.

Das war unfair und gemein!
 

Das war falsch, betrügerisch und total schmierig.
 

Sie wollten mir gerade verkaufen, dass mein erster Freund ein scheinheiliger, abartiger Betrüger war.
 

Und ihre Argumentation war so unumstößlich.

Josh und Tim

Ich hab' da ne kleine Frage an meine Leser, ziemlich spannend für mich zu wissen (:

In welcher Stadt sind Tim & so zu Hause, wo spielt diese Story? Ich habe den Namen nie genannt, mich würde aber interessieren, ob meine Leser es trotzdem rausgefunden haben bzw rausfinden können (:

Vielen Dank für die Reviews, die freuen mich immer sehr.
 

Sam

_____________________________

Mein Körper zitterte, als ich im Türrahmen auf die Knie sank, mein Gesicht in meine Hände legte und irgendwie versuchte, mich zu beruhigen.

Gedämpft von irgendwo hörte ich eine weibliche Stimme, Schritte, die Tür, die geschlossen wurde.

Ich verkrampfte etwas; und verlor die Kontrolle über alles.

Mein Körper tat, was er wollte, und er wollte beben und zittern und hemmungslos heulen, als würde sein Leben davon abhängen.

Und meine Gefühle schwirrten chaotisch in mir herum, ich war wütend und traurig, verzweifelt und unendlich enttäuscht, fühlte mich absolut hoffnungslos und total fertig, einfach nur betrogen, hintergangen und am Ende.
 

Mein Kopf pochte und schmerzte und ich schluchzte laut, schaltete alles um mich herum aus, ich hörte nichts mehr, sah nichts mehr und spürte nichts mehr.

Nichts, außer die bittere Kälte, die mich umschloss und mir alles Lebenswerte nahm, grausam entriss; und es blutete im Herzen.
 

Joshs dämmrige Stimme drang irgendwann zu mir durch.

Joshs Geruch fuhr mir in die Nase, seine Wärme riss mich zurück ins Leben und seine Arme legten sich sanft, beschützend um mich.

Die Verkrampfung ließ nach.

„Sch“, machte er leise, drückte meinen Kopf gegen seine Brust. Ich spürte sein Herzschlag, er war gleichmäßig, langsam, entspannend.

Ich zitterte noch immer stark, ich heulte noch, aber ich konnte ihn fühlen.

Seine Wärme, seine Nähe, sein Brudersein, seine Sorge, die sich wie ein beruhigender Schleier über mich legte.
 

Dann hörte ich ihn reden, leise, bedacht, voller Verständnis und Fürsorge: „Ist schon gut, Tim. Ich hab dich!“

Kurz überlegte ich, ob ich lachen sollte, weil es irgendwie schnulzig und unpassend war, dachte ich, soetwas zu seinem Bruder zu sagen, doch wusste ich nicht um die Reaktion meines Körpers, meines Gemüts ob dieses kleinen Satzes.
 

Ich entspannte vollkommen, sackte in seinen Armen zusammen, er hielt mich fest, er hielt mich warm; der Tränenfluss ging zurück, bis nur noch vereinzelte Tröpfchen über eine stark geröteten Wangen liefen, die ich nicht einmal bemerkte; wie sie sich langsam aus meinen Augenwinkeln schlichen und dem unfassbaren Schmerz Ausdruck verliehen.
 

Seine Hand strich beruhigend über mein Haar.

Und er tat nichts, außer mich zu halten, zu beruhigen und da zu sein.
 

Er sagte nichts, er fragte nicht auf krank verbissene Art, was los sei; denn niemand konnte jetzt nüchtern schildern, was war.
 

Wir wollten uns erst einmal abreagieren, wir wollten den Schock der Informationen verarbeiten, auf uns wirken lassen, wir wollten es abwarten, bis wir klar genug waren, um uns der Sache nüchtern und subjektiv nähern zu können.
 

Gefühlte fünf Tage saßen Josh und ich da, auf der Schwelle der Wohnzimmertür; nicht ganz drinnen und nicht mehr wirklich draußen.
 

Außer Schmerz, Trauer und Trösten fühlte ich nichts, mein Kopfschmerz war nicht da, der Hunger ausgeblendet, die Übelkeit verschwunden.
 

Erst, als auch die letzte Träne geflossen war, ich mich kraftlos an Josh gelehnt hatte, und nach einer Weile fast eingeschlafen war, da drückte er mir einen sanften Kuss auf das Haar, lehnte mich etwas von sich weg und sah mich an.

Er lächelte.

Sein Blick war voller Verständnis.
 

~*~
 

„Joshua?“

„Hm?“

„Macht sich Papa keine Sorgen?“

Josh brummte. Er tastete in der Dunkelheit vorsichtig nach meinem Körper, fand meinen Bauch, glitt hoch über die Brust zum Gesicht und tätschelte dann meinen Kopf “Mach dir keine Sorgen.“
 

Ich schob die Unterlippe leicht vor und fühlte mich unfair behandelt, weil er mir die Frage nicht beantwortete.

„Wenn du so lange von zu Hause weg bist ohne dich zu melden und so.“

„Er denkt bestimmt, ich bin bei Freunden.“ nuschelte er und vergrub sein Gesicht in mein Kissen.

Seine Hand glitt von meinem Kopf zurück zu meinem Buch, legte sich in die Taille und zog meinen kleineren Körper an seinen heran.
 

Das sollte sich wahrscheinlich eigentlich komisch anfühlen, so von seinem Bruder angefasst zu werden, mit ihm ein Bett zu teilen, so nah beieinander zu liegen und zu schlafen.

Doch Josh wollte nicht gehen, und ich fand das gut.

Ich hatte ihn nicht gebeten, zu gehen, oder zu bleiben, er tat es einfach.
 

Wir gingen zusammen zurück ins Bett, er legte sich wortlos hinter mich und schloss mich wieder in seine warme Umarmung.

Ja, und eigentlich sollte das seltsam und unangenehm sein. Nicht nur deshalb, weil wir Brüder waren, sondern auch, weil wir nun mal schwul waren.

Doch vielleicht war es genau das, weshalb es sich für uns eben nicht absonderlich anfühlte.

Wir liebten Männer, wir gingen mit Männern ins Bett, wieso sollten wir dann nicht in einer gemeinsamen Umarmung schlafen dürfen?
 

Immerhin waren wir Geschwister, Brüder, es sollte eigentlich niemanden geben, der einem näher stand, und der einen mehr kannte, als der eigene Bruder, oder?
 

Ich wunderte mich noch über diese kuriosen Gedankengang, als ich hörte, wie sich meine Stimme wieder mal auf eigene Faust erkundigte: „Josh?“

„Hm?“ brummte er müde.

„Seit wann...“, ich hielt inne und überlegte, wie unangebracht die Frage war und beschloss, dass es nur ein geringes Maß war „wie lange bist du eigentlich schon schwul?“

„Hm“, machte er wieder. Er hob den Kopf und ich spürte seinen Blick auf mir.

„Wieso?“ fragte er und klang dabei gar nicht mehr so müde, wie vorhin noch.

Ich zuckte die Schultern „Nur so.“
 

Josh seufzte tief, dann spürte ich, wie er sich umdrehte. Seine Arme fuhren an meinem Körper vorbei nach oben und er berührte seine Stirn.

„Noch nicht so lang“, antwortete er „seit der elften Klasse, ungefähr.“

„Seitdem bist du mit Steve zusammen?“

„Hm.“
 

Dann schwiegen wir wieder eine Weile.

Ich wusste es schon länger.

Ich wusste es eigentlich schon immer.

Ich hatte mir, anders als meine Freunde damals, nie ein späteres Leben mit einer Ehefrau, die zu Hause die zwei Kinder behütete, während ich hart schuftete, vorgestellt.

Ich hatte mir als Kind sowieso niemals mein späteres Leben vorgestellt, sowas konnte ich damals nicht, ich kann es heute nicht und ich bezweifele, dass ich das je können will.

Vorrausschauen, nie meine Stärke gewesen.

Vor ungefähr zweieinhalb Jahren outete ich mich bei meinen Freunden.

Lilly war entzückt gewesen, Pat und Flo überrascht, verwirrt und am Anfang auch angewidert, sie hielten damals dann doch etwas Abstand, und Ray rauchte, akzeptierte und stellte bald fest, dass es bei der Brautschau ganz hilfreich sein konnte, einen schwulen Freund zu haben.

Zumindest hatte ich ihm auf diese Weise schon vier Nummern verschafft. Angerufen nur hatte er die Mädchen nie.
 

„Josh?“ nuschelte ich leise in die Dunkelheit und Josh, der scheinbar schon dabei gewesen war, einzuschlafen, zuckte leicht zusammen und nickte: „Hm?“

„ähm“, antwortete ich und überlegte, wie ich die Frage am besten stellen sollte, und entschied mich dann dafür, einfach so zu sein, wie ich immer schon war „du und Steve, macht ihr es auch? Also Sex, mein ich, treibt ihr es miteinander?“
 

Die Dunkelheit schwieg und die Stille bohrte sich unangenehm in mein Hirn.

Ich hörte das schnelle, laute Klopfen meines Herzens und hatte das Gefühl, dass sich Josh überrumpelt fühlte, dass ich ihm zuweit gegangen war.

Dann räusperte er sich wieder, drehte sich wieder zu mir um und sagte: „Ja. Wieso fragst du sowas?“

Ich, gemäß meines Wesens, ignorierte seine Frage und sagte: „War es dein erstes Mal mit Steve?“

„Mit einem Mann, ja“, entgegnete er und wollte noch mehr sagen, doch ich unterbrach ihn „Wie alt ward ihr?“
 

Josh schwieg wieder.

Sein Blick brannte in meinem Nacken, doch ich wusste nicht, ob er sauer wegen diesen Fragen war, überrascht oder ob es ihm mehr oder weniger egal war.

Oder ob er sich gerührt fühlte, weil ich, Tim, der kleine Junge, den er als Kind immer beschützt hat, der andere Sohn seines Vaters, weil ich mich für ihn interessierte; und, oder, weil ich mir Rat bei ihm holte.

„Steve hat mir bei dem Sommferfest damals in der Elf gesagt, wie erotisch er mich fand,“ sagte Josh „natürlich waren wir beide ziemlich betrunken gewesen. Aber er hat's ernst gemeint. Das hing dann aber noch ziemlich lange in der Luft rum. Du weißt ja, seine Mutter ist da etwas komisch, was sowas angeht und ich, na ja, hab es für eine Art Scherz gehalten.“

Josh seufzte schwer und drehte sich wieder auf den Rücken „Aber ich konnte wochenlang nicht aufhören, darüber nachzudenken. Steve sah plötzlich anders für mich aus und irgendwann war es mir vollkommen klar.“
 

Dann war er fertig.

Ich nickte, überlegte, dann drehte ich mich auch auf den Rücken.

Das Bett war etwas schmal und unsere Schultern und Hüften berührten sich, doch mir machte das nichts aus.

„Ich war von Anfang an in Marc verliebt gewesen“, erklärte ich dann. Josh blieb ruhig liegen und hörte mir geduldig zu „er kam an diesem Montag in unser Klassenzimmer und... Bäm... wie ein Blitz. Er lächelte uns an, er lächelte mich an, er bezauberte mich, sofort. Oder, wahrscheinlich verzauberte er mich...“ ich hielt inne, kniff kurz die Augen zusammen, schluckte und erzählte dann weiter „Marc hat mich immer persönlich begrüßt. In der Pausenhalle unten, im Klassenraum. Er hat mir immer extra noch mal alles erklärt in Mathe. Er war total auf mich fixiert. Ich

hab das gar nicht gemerkt, weil ich so blöd blind war.“

Ich seufzte noch mal schwer, in der Brust tat es plötzlich weh und ich spürte Josh Hand, die mir beruhigend über die Schulter strich.

„Ich wusste das nicht, dass er.... ich kannte ihn ja nicht. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mich nicht einladen lassen. Dann... im Zug. Joe und ich. Ich wäre in Aachen nicht zu ihm gegangen, an dem Abend. Ich hätte ihn voll ignoriert.“

„Ist schon gut, Tim!“ sagte Josh, er legte seinen Arm um mich und zog mich zu sich heran. Sein Körper roch nach Winterwald, seine Brust war warm und er strahlte diese angenehme, enspannende Ruhe aus.

Mein Puls beruhigte sich binnen weniger Sekunden und der fette Kloß, der sich im Hals gebildet hatte, löste sich einfach auf.

Erleichtert atmete ich auf, schloss die Augen und genoss es, bei ihm zu liegen.

Und dann dachte ich an Joe und mit der Erinnerung an Zimtkekse schlief ich ein.
 

~*~
 

Ich saß auf Mamas Stuhl am Tisch in der Küche und starrte vor mich hin. Nicht irgendwo hin, sondern ihn an.

Joshua Sutherland.

Er war mein großer Bruder, er war ein Jahr und zehn Monate älter als ich, ging in die Abschlussklasse am Neuling-Gymnasium und hatte Mathe im Abitur.

Wir waren total verschieden.

Er war groß, fast zwei Meter, hatte hübsche, trainierte breite Schultern, einen flachen Bauch und eine schmale Hüfte.

Seine Auge waren hypnotisierend, strahlend blau und sein Haar war glatt, braun und glänzend.

Ich war ein Kopf kleiner als er, schmächtig und hatte null Kondition. Mein Haar war blond und stand struwlig wild in allen Richtungen von meinem Kopf ab, meine Augen langweilten mich in ihrem grün an und unter tausend anderen Menschen wäre ich niemals aufgefallen.
 

Wir hatten nur eine kleine Gemeinsamkeit. Etwas, was unser distanziertes Verhältnis repariert hatte, was uns wieder zu Brüdern gemacht hatte.

Eine Sache, die mich wissen ließ, dass er noch immer mein großer Bruder war, egal, wie anders wir waren. Dass er immer für mich da war, sich um mich sorgte und dass es ihm wichtig war, dass es mir gut ging.
 

Josh und ich, wir waren beide schwul.
 

Deshalb starrte ich ihm auch auf seinen Hintern, als er in der Küche an der Arbeitsfläche stand und seine Einkäufe vom Morgen sortierte.

Noch bevor ich wach war, war er die Straße hoch in die kleine Stadt gegangen und hatte die Schränke in meiner Küche mit Lebensmitteln, Süßigkeiten und Getränken füllen wollen.

Ich lebte seit ein paar Tagen schon ziemlich ungesund nur von Lebkuchen und Schokolade und langsam machte sich ein latenter Nährstoffmangel breit.

Doch da sich ein großer Bruder um mein Wohlbefinden kümmerte, stand der jetzt da und bereitete ein ausgewogenes Frühstück für mich vor.
 

Und sein Gesäß, das war nunmal genau auf Augenhöhe.

Ich fragte mich, wie das bei ihm und Steve war.

Wer 'oben' lag.

Verschollene Lehrkörper im neuem Jahr

Es war kalt und es war nass, alle umherstehenden grummelten böse und verkrochen sich so gut, wie es ging, in ihre Parker und Schals.

Nur der obercoole Ray stand abseits, seine Jacke geöffnet, und rauchte gemütlich.

Ein Wesen für sich.

Ich stellte mich neben ihn und erzitterte, als die Kälte unter meinen Pullover fuhr.

Ich hasste den Januar.

Es war kalt, es war nass und es gab nichts, auf was man sich freuen konnte.

Die Welt war grau und erholte sich von den Festtagen, die doch immer soviel Heiterkeit und Liebe in die Welt transportierten.

Danach war es immer düster und trist.

Ich wollte März.

Da fing es wieder an, wärmer und heller zu werden und die ersten Blümchen blühten.
 

„Hey“, machte er, nahm den letzten Zug und ließ den Stummel dann auf den Boden fallen. Es zischte, es dampfte und das Glühen war verschwunden.

„Hm“, entgegnete ich müde.

Ich beobachtete die Sechstklässler, die sich mit kaltem Matsch eine Schneeballschlacht lieferten.

Um sieben Uhr morgens, ätzend.

„Dachte, du wärst tot oder sowas“, meinte Ray „hab ewig nichts mehr von dir gehört.“

Er klang so, wie immer, monoton, gelangweilt; und konnte das ohne jeden Vorwurf oder komischen Unterton sagen.

Ich liebte Ray für seine Gleichgültigkeit gegenüber anderen.

Ich zuckte die Schultern: „Brauchte etwas Ruhe.“

„Von Silvester?“ Ray grinste.

„Hm.“

„Lilly war bei dir?“ fragte er dann. Er drehte sich zu mich um und starrte mich an. Aber nicht vorwurfsvoll.

Ich seufzte und nickte.

„Ich hab gesagt, sie soll's lassen.“ meinte Ray.

„Du wusstest davon?“

Ray nickte „schon...“
 

Ich drehte mich zu ihm um. Musterte ihn. Seine Haut war einige Nuancen dunkler als meine, seine Haare lockten sich lustig über seine Stirn und seine Augen waren so dunkel braun, dass sie manchmal wie schwarz wirkten.

Jetzt zum Beispiel, im kargen Licht der Straßenlaterne über uns.
 

Dann drehte ich mich wieder weg. Und ich war mich nicht sicher, ob ich es gut oder schlecht finden sollte, dass Ray das von Marc gewusst hatte. Wieso hatte er mir nichts gesagt?

Wahrscheinlich hatte Ray gewusst, wie ich reagieren würde, ich hätte ihn angeschrien, geschlagen oder ausgelacht und geglaubt, dass er es mir nicht gönnen würde, und im Hinterkopf hätte ich gewusst, dass alles wahr war.
 

Ich hatte Angst davor, in die Schule zu gehen.

Ich wollte nicht Lilly begegnen, die mich vorwurfsvoll anstarren würde, ich wollte nicht Steve begegnen, weil ich ihn in Joshs Nähe nicht vertragen konnte und ich wollte Joe nicht begegnen.

Ich hatte Angst davor, dass er sauer sein würde, weil ich auf ihn nicht eingegangen war, oder weil ich in seine Küche gekotzt hatte, oder weil ich mich betrunken an ihn ran gemacht hatte, obwohl ich einen Freund hatte.

Und natürlich hatte ich wahnsinnigen Schiss davor, Marc zu begegnen. Deshalb hatte ich auch bis zum letzten Moment mit der Kontaktaufnahme gewartet und ihn nicht mehr angerufen oder war zu ihm gefahren.

Ich wollte einfach nicht, dass es stimmte, was Lilly mir bewiesen hatte.

Ich wollte nicht, dass ich ihn ansah und nicht mehr meinen perfekten Helden sah, sondern tatsächlich den Betrüger, der hinter der Heldenmaske stand.
 

Doch früher oder später hätte es sowieso sein müssen. Nicht nur, weil er sich sicher auch Gedanken um mich gemacht hätte, immerhin war er immer noch mein Lehrer, der an meinem keinem logischen Verständnis für die komplexe Oberstufenmathematik total verzweifelte.
 

Vielleicht, hoffentlich, war das der Grund dafür, dass wir nach dem Kunstunterricht – Joe kam zu spät und benahm sich total normal, als wenn absolut nichts passiert wäre und Lilly lächelte nur lieb, vielleicht entschuldigend – im Klassenraum saßen und nur das Getummel und Gerede der Mitschüler hörten.

Mein Herz raste zunehmend schneller, je mehr Zeit verstrich.

Ich wollte keinen Perversen in den Raum kommen sehen. Ich wollte Marcs wunderschönes Lächeln sehen, wenn er rein kam; das, welches mich vergessen ließ, was ich über ihn gehört und gelesen hatte und nur die schöne Zeit in den Ferien wissen ließ.

Doch er kam nicht.

Zuerst fünf Minuten, dann zehn Minuten, dann Fünfzehn.

Der Kurssprecher machte sich nicht die Mühe, zum Sekreteriat zu gehen und fragen, was los sei und nach zwanzig Minuten fingen die ersten Schüler an, ihre Taschen zu packen.

Marcs Nichtauftauchen machte mich nervös und gleichzeitig erleichterte es mich. So musste ich nicht befürchten, dass ich ihn nicht mehr so sehen konnte, wie ich ihn sehen wollte, so musste ich ihn nicht auf all die Sachen ansprechen und auf ein irres Missverständnis hoffen.

So hatte ich noch mehr Zeit, um mich auf das Wiedersehen vorzubereiten.
 

Nach dreißig Minuten hatte sich immer noch kein Schüler getraut, zu gehen, und dann kam auch endlich jemand.

Es war nicht Marc.

Die Tür wurde geöffnet und man spürte quasi, wie alle die Luft anhielten und gespannt zum Eingang starrten, und erleichtert ausatmeten, als nicht Herr Branner, aber Herr Pieper den Raum betrat.

Er war unser Stufenkoordinator, und wenn er kam, hatte es etwas wesentliches zu bedeuten.
 

„Entschuldigt die Verspätung“, murmelte er und sah zu uns auf.

„Jungs, Mädels, aus Kurs drei, ich habe gute oder schlechte Nachrichten für euch.“

Er lächelte komisch und sah mich dann an.

Ich schluckte und hatte unter diesem stechenden Blick das Gefühl, nackt vor ihm zu stehen. Und bei Herrn Pieper war das kein schönes Gefühl.
 

„Herr Branner fällt aus“ sagte er, ohne seinen Blick von mir zu nehmen „und so kurzfristig haben wir leider keine Vertrerung, die habt ihr erst ab nächste Woche. Heute und Morgen fällt der Unterricht daher aus.“
 

Mitschüler brummten und beschwerten sich über die Verspätung dieser Information; ich war nur verwirrt.

Wieso kam er nicht?

Wieso wusste ich nicht, warum er nicht kam?

Wieso hatte er mir nichts gesagt?
 

Was hatte er, wieso musste er ausfallen, wieso brauchten wir eine Vertretung?
 

Auch ich nahm meinen Rucksack, ignorierte Ray und meine Freunde und verließ den Raum. Ich lief die Treppe runter, durch den Flur auf den Schulhof und verfluchte kurz die Kälte.

Graue, dicke Wolken verdeckten die eben aufgegangene Sonne und ich lief quer über den Schulhof, um zu den Treppen zu kommen, die auf die untere Ebene führten, wo sich um diese Jahreszeit keine Sau aufhielt.

Dort war es vom nassen Laub matschig, es roch moderig und der Wind, der vom Fluss hoch kam, war eisig.
 

Ich wählte Marcs Nummer und als ich das Telefon zum Ohr führte, schaute ich mich um, um sicher zu gehen, dass ich wirklich allein war.

Ein geschmolzener Schneemann starrte mich mit seinen Steinaugen an.

Er wirkte nicht bedrohlich, erinnerte mich aber an Joshs komische Torte und verursachte mir so ein komisches, warmes Gefühl im Bauch, welches mir schnell in die Knie glitt.

Marc ging nicht an sein Telefon. Tatsächlich war es ausgeschaltet, denn ohne Piepen meldete sich sofort seine Mailbox.

Vielleicht war er wirklich nur richtig krank, und weil ich mich so lange nicht gemeldet hatte, dachte er, ich wolle echt nur eine Weile meine Ruhe haben.

Ich seufzte.

Trotzdem machte ich mir Sorgen.
 

Auch Lilly fragte sich, was war und als ich Marc auch am vierten Tag nicht über das Telefon erreichen konnte, beschlossen sie und ich, zu seiner Wohnung zu fahren.

Sie würde, sobald sie ihn sehen würde, total wütend auf ihn werden und ihn anschnauzen, völlig missachtend, dass sie unser Lehrer war; und ich würde ihn sehen, alles vergessen, mich in seinen Augen verlieren und auch vergessen, dass er mein Lehrer war.

Lilly und ich schwiegen, als wir mit der Straßenbahn zu Marc fuhren.

Wieso ich sie mitgenommen hatte, wusste ich so genau nicht.

Vielleicht, weil ich jemanden zum halten brauchte, wenn ich ihn sah und er nicht mehr mein toller Lehrer war, sondern dieser perverse Typ.

Vielleicht, weil ich jemanden brauchte, der mich auf die Erde zurück holte, wenn ich drohte, in Marcs Augen zu versinken.
 

Schon, als wir am kleinen Blumenladen ankamen, wurde mir mulmig.

Hinter den Fenstern seiner Wohnung war es dunkel.

Er war vielleicht gar nicht da?

Ich hätte mich angemeldet, aber sein Handy war ja aus.
 

Ich drückte auf den kleinen Knopf neben dem Schild an der Türklinkgel.

Ein Surren ertönte, und nichts geschah.

Ich drückte nochmal.

Wieder nichts.

Verunsichert drehte ich mich zu Lilly um, auch sie war ratlos, zuckte nur die Schulten und trat einige Schritte zurück, um noch mal hoch zu sehen.

Dabei wusste Lilly nicht, welche Fenster zu seiner Wohnung gehörte.

„Er ist nicht da?“ nuschelte sie und ich ging zu Lilly, um auch hoch zu sehen.

„Vielleicht ist er im Krankenhaus?“ spekulierte sie.

„Aber hätte er mich nicht informiert?“ sagte ich leise, ohne sie anzusehen.

„Wenn er im Koma liegt?“

„Und woher weiß Herr Pieper es dann?“

„Na ja“, Lilly zuckte die Schultern, sie trat vor mich und sah mich eindringlich an.

„Ich glaube ja nicht, dass er seinen Eltern von seinem minderjährigen Liebhaber erzählt hat.“

Ich lachte leise auf, natürlich hatte er das nicht „Marc hat gar kein Kontakt zu den Eltern, er hat nur seinen...“
 

Dann überkam es mich wie eine Erleuchtung. Ich hielt beim Sprechen inne, kramte noch mal in meiner Hosentasche nach meinem Handy und suchte schnell im Telefonbuch nach der Nummer, die ich mir Weihnachten heimlich eingespeichert hatte.

„Nils!“ sagte ich euphorisch, als ich sie gefunden hatte.

„Nils?“ fragte Lilly verwirrt, ich wandte mich jedoch nur ab und rief diese Nummer an.

„Tim, wer ist Nils?“ hörte ich ihre Stimme hinter mir, doch ich deutete, mich nicht zu stören und sie seufzte nur genervt.
 

Es ertönten einige Piepen, ehe es klackte und diese unverkennbare Stimme sagte: „Ja?“

Ich zog scharf die Luft ein, mein Herz raste und meine Finger begannen, zu zittern.

„Nils“, krächzte ich.

„Äh, ja, wer ist da?“ er klang überrascht.

„Tim!“ sagte meine Stimme und klang erstaunlich stark und kraftvoll.

„Äh“, machte es „Tim? Was, wieso, woher... oh man!“

„Ja!“ entgegnete ich und spürte, wie mich eine leichte Wut überkam „wo ist er?“

„Marc?“

Ich brummte.

„Hm“, machte Nils „es ist gerade ungünstig, Tim, ich bin in einer Vorlesung.“

Dann klackte es wieder und ein monotones Piepen sagte mir, dass die Verbindung beendet war.
 

„Er weiß, was los ist.“ nuschelte ich, umklammerte das Telefon fester und drehte mich zu Lilly um.

„Wer weiß es? Mit wem hast du geredet?“

„Marcs Bruder hat es von Anfang an gewusst“, erklärte ich „deshalb war er so wütend gewesen, natürlich. 'Du hast mir versprochen, aufzuhören', hat er zu Marc gesagt. Bah!“

Wütend stapfte ich durch den Matschschnee zurück zur Bahnhaltestelle.

Das konnte einfach nicht wahr sein.
 

Und die Sorge um Marc in mir verschwand, und die grenzenlose Zuneigung verkleinerte sich zunehmend, als ich wirklich wahrnahm und begriff, dass es stimmte, was mir Lilly gezeigt hatte.

Und ich war auf ihn reingefallen.

So dumm konnte wirklich nur ich sein.

Ich seufzte genervt auf, als die Straßenbahn hielt und mich und Lilly einstiegen ließ.

Billy Talent needs to take Placebos

Als Ray und ich am Freitagmorgen den Klassenraum betraten, war das Gerede aufgeregter als sonst.

„Habt ihr es schon gehört?“ kam uns sofort Pat entgegen, er klang wahnsinnig aufgeregt, und hinter ihm hibbelte Flo, mit der Information auf der Zunge, die er kaum zurück halten konnte.

„Was gehört?“, sagte Ray müde „ist Frau Dahlmann explodiert?“

„Nein, so ein Quatsch“, meinte Flo „es gibt neues über Herrn Branner!“

„Eher ein Gerücht, eigentlich“, erklärte Pat und mein Puls schoss augenblicklich in die Höhe.

Was war das jetzt schon wieder, was alle wussten, nur ich nicht?

Zitternd legte ich meinen Rucksack auf den Tisch und Ray ließ sich genervt auf den Holzstuhl fallen.

„Er wurde gefeuert.“ sagte Flo aufgebracht und nun kam auch Julie zu uns, ohne das vorherige Gespräch mit bekommen zu haben.

Sie sah mich mit komischem Blick an, den ich um alles in der Welt nicht verstand.

„Er hatte doch eine Affäre mit einem Schüler“, meinte sie, und ihre Stimme zitterte.

Genauso, wie meine Knie.

Mein Herz blieb plötzlich stehen und das Gerede um mich herum verstummte.

Die Welt hörte auf, sich zu drehen und ich taumelte einen Schritt zurück, ließ mich unsanft auf den harten Stuhl fallen und hörte Rays Stimme, wie durch Watte, aufgebracht reden „Was? Wer erzählt so was? Wisst ihr überhaupt, ob das stimmt? Wer verbreitet denn solche miesen Gerüchte?“

„Schon gut Ray“, kicherte ein Mädchen „sei nicht eifersüchtig.“

„Halt dein Maul“, entgegnete er entzürnt, und das beruhige mich irgendwo. Ray war doch niemand, der schnell ausrastete, doch jetzt klang er so, als würde er gleich explodieren.

„Das ist doch nicht mehr nachvollziehbar, irgendwer hat's wohl irgendwo auf geschnappt, die ganze Schule redet davon...“
 

Als ich auf sah, sah ich blaue Augen.

Ich war kurz verwirrt, dann erkannte ich Joe Engel.

Er lächelte.

Er hielt mich fest.

Die Stimmen wurden leiser und ich sah nur ihn.

„Ist alles klar?“ fragte er leise.

Ich nickte und fühlte mich wie betrunken, aber plötzlich sehr zufrieden und auf eine komische Art glücklich.

„Keine Sorge, Tim“, sagte Joe leise, so leise, dass es niemand um uns herum hören konnte „das ist nur ein Gerücht. Oder wollte jemand von der Schule mit dir reden?“

Ich schluckte hart.

Dann schüttelte ich den Kopf.

Niemand hatte mich angesprochen, ins Sekretariat oder gar zur Schulleitung verlangt, alles war eigentlich wie immer gewesen, ich war nach wie vor der unauffällige Schüler gewesen.
 

„Dann ist doch alles in Ordnung.“ Joes Stimme war sanft und mitfühlend, er lächelte mich so liebevoll an.

„Ja, ja“, ich nickte, dann spürte ich, wie die Erde wieder zu rotieren begann, die Stimmen wurden wieder lauter, bis die Welt um uns herum wieder normal war.

Wie alles war wieder normal.

Dann kam Frau Dahlmann, um mit dem Englischunterricht zu beginnen, und die aufregenden Gespräche um Herrn Branner und seine Affäre verstummten und fremdsprachige Diskussionen begannen.

Dennoch spürte ich die Anspannung im Raum und wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
 

~*~
 

„Oh mein Gott, habt ihr das gehört?“ kreischte Christine, als sie kurz nach dem Schellen in den Klassenraum stürmte.

Ich befürchtete, dass es etwas mit Marc und dem komischen Gerücht zu tun hatte, als sie auch schon, hysterisch mit den Armen fuchtelnd, bei ihren Freunden ankam und so laut, dass auch ja jeder, inklusive unserer Englischlehrerin Frau Dahlmann, es hören konnte „Herr Branner soll versetzt worden sein weil er 'ne Affäre mit Josh Sutherland aus der dreizehn hatte!“
 

„Was?“ Ertönten mehrere Stimmen gleichzeitig, und ich konnte nur meine eigene ausmachen.

Ich ließ meinen Rucksack los und ging zu Christine hin „Was?“ fragte ich noch mal und sah sie scheinbar sehr bedrohlich an, denn sie wurde kleiner und ging einen Schritt zurück „Ähm.“

„Was hast du gesagt, mit wem soll Marc...“, ich stoppte im Satz, wich einen Schritt von der kleinen Mädchengruppe zurück, die mich interessiert und verwirrt musterte.

„Ähm“, ich räusperte mich, versuchte, meinen Puls zu beruhigen und sammelte meine Worte „Josh Sutherland?“
 

Die Dunkelhaarige nickte „Unfassbar, oder? Er war immer so ein netter Typ. So ein toller, gutaussehnder Junge“

„Mit Herrn Branner?“

„Ist niemanden zu verübeln“, meinte das Mädchen schulterzuckend, und ahnte nicht, wie falsch sie damit lag „sind beides Männer zum anbeißen. Nicht?“

„Tz!“ ich drehte mich um, nahm meinen Rucksack und ging runter in die Pausenhalle.

Das Getuschel war groß, das Gerücht war nun auch hier angekommen und mein Freund und mein Bruder waren das Gesprächsthema schlechthin.
 

Die Dreizehner tummelten sich in ihrer üblichen Ecke, und auch Steve saß dabei, eingehüllt im schwarzen Kapuzenpullover, still schweigend. Er wirkte müde.

„Steve“, sagte ich, als ich fand, dass ich nah genug bei ihm war, und außer seinem, drehten sich auch einige andere, verwirrte Gesichter zu mir um.

„Wo ist er?“ sagte ich, streng und mit kraftvoller Stimme.

Ich war wütend auf ihn.

Steve zuckte müde die Schultern.
 

Ich brummte genervt, drehte mich um und kramte nach meinem Handy, um Josh anzurufen, als es mir schlagartig klar wurde.

Das Telefon glitt zurück in meine Hosentasche und ich verließ das Schulgebäude, um über den Hof hin zu den Treppen zu gelangen, die zum unteren Schulhof führten.
 

Ich sah ihn schon von oben dort stehen, wo es moderig roch und eiskalt war, vom Wind, der vom Fluss hoch kam.

„Joshua!“ rief ich, dieses mal klang die Stimme nicht mehr so sauer, und ich lief die Stufen runter.

Er drehte sich zu mich um, zuerst sah er verwirrt aus, dann traurig.

Als ich bei ihm ankam, begrüßte er mich friedlich „Hey.“

„Hey?“ entgegnete ich verwirrt und ein bisschen verärgert.

Er zuckte nur die Schultern.

„Was ist mit diesem Gerücht?“ sagte ich.

Josh lächelte, er tätschelte müde meinen Kopf, dann drehte er sich von mir weg und sah zum Fluss runter.

„Ich dachte, es sei besser.“

„Was?“ entgegnete ich laut. Ich trat vor ihn, damit er mir ins Gesicht sehen musste, was er jedoch nicht tat. Er war immerhin sehr viel größer als ich, sodass er einfach über mich hinweg sah.

Doch dass er wirklich müde aussah, und leicht mitgenommen und ziemlich fertig war, bemerkte ich erst jetzt.

„Was... was ist los? Ist alles in Ordnung?“ fragte ich leise.

Josh lächelte, seufzte, sank dann den Blick und schluckte hart die aufkommende Tränen.

Seine Finger verkrampften sich, die Hände zitterten und er schüttelte den Kopf.

„Josh!“ sagte ich leise, trat näher an ihn heran und legte meine Hand auf seine Schulter.

„Ich wollte nicht, dass er in deiner Nähe ist.“ meinte er dann und sah wieder zu mir auf.

Ich zog meine Hand zurück „was?“

„Marc. Der Kerl ist... er soll nicht in deiner Nähe sein, er hat dir schon genug weh getan.“

„Heißt das“, sagte ich leise „das kommt von dir? Er ist wegen dir weg?“

„Ich war bei der Schulleitung“, nickte er „war meine Idee. So verschwindet er von der Schule, von hier, von dir und den anderen.“
 

„Was ist mit Steve?“ sagte ich aufgebracht, denn das war das Erste, was mir in den Sinn kam. Nicht Marcs Verschwinden oder Josh Idee, ihn verschwinden zu lassen, sondern Joshs Freund.

„Steve?“ seine Stimme zitterte.

„Hast du ihm...“

Josh unterbrach mich, schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder ab „Steve hat's wenig gut verkraftet; zumindest wollte er mich nie wieder sehen und“, Josh hielt kurz inne, überlegte, suchte nach den Wörtern „ich sei mies, gemein, ein Arschloch, ein betrügerischer Heuchler... na ja, alles eben, was Marc ist.“

Dann sah Josh mich wieder an.
 

Ich nickte. Verstehend.

Und langsam begriff ich, was da hinter stand.

Mein Bruder hatte etwas für mich getan, was seinem Image komplett geschadet hatte. Was ihm Missachtung auf Lebzeiten eingebracht hatte, was ihn vermutlich seine Freunde gekostet hatte.

Und seinen Freund.

Seine Liebe.

Seine erste große Liebe, seinen ersten Freund.

Wieso stellte er das nicht richtig?
 

„Aber wieso sagst du ihm nicht die Wahrheit?“ fragte ich, vollkommen vergessend, was das alles für Marc bedeutete.

Josh lächelte wieder, zynisch irgendwie „Ich will wirklich nicht, dass jeder von dir und dem Typen weiß, Tim.“

„Aber wenn du die schmutzige Affäre hast, ist es okay, oder wie?!“ meine Stimme wurde wieder lauter.

„Es ist einfach besser so“, erklärte Josh, er legte seinen Arm um meine Schulter, zog mich zu sich heran, drückte meinen Körper ganz nah an seinen und ich spürte seine Wärme, sein schlagendes Herz, seine Trauer.
 

~*~
 

Als ich nach dem Unterricht auf den Schulhof kam, um mit Ray und Joe nach Hause zu fahren, stand Joe allein dort und wartete auf mich.

Mein Herz hüpfte aufgeregt, als ich ihn sah und erinnerte mich ein wenig daran, als ich mich damals in Marc verliebt hatte.

„W-wo is Ray?“ stotterte ich, und Joe, der mindestens genauso aufgeregt war, wie ich, zuckte die Schultern: „Irgendwas mit seinem Bruder.“

Ich nickte verstehend, wollte da auch nicht weiter drauf eingehen und gemeinsam, nebeneinander her, gingen wir dann langsam zur Haltestelle.

Es war ein angenehm schönes Gefühl, Joe um mich herum zu haben, ich fühlte mich wohl und erwünscht bei ihm.

„Tim?“ sagte er leise und ich sah auf, zu ihm hin, in seine Augen, die mich schüchtern ansahen.

„Hm?“

„K-kommst du heute Abend mit? Wir treffen uns im Pub.“
 

Ich schmunzelte.

Joe wurde etwas rot.

„Kommst du?“ fragte ich grinsend und Joe nickte: „Klar.“

„Dann komm ich auch.“ sagte ich und sah wieder nach vorn, als er mein Handgelenk packte und mich so zwang, mich zu ihm umzudrehen.

„Was...?“ fragte meine Stimme verwirrt und ich sah ihn an, seine Augen leuchteten, seine Wangen waren etwas rot, von der Kälte, seine vollen, rosa Lippen waren etwas geöffnet und sein Atem formte kleine, niedliche Wölkchen in der Janaurkälte.

„Trink nicht wieder so viel.“ sagte er dann, grinste und ging dann lachend an mir vorbei.

Sein Lachen war so schön.

Ich glaubte, ich war in ihn verliebt.
 


 

Es tutete eine Weile, eher es klackte und Ray müde antwortete: „hm?“

„RAY!“ rief ich in mein Handy und spürte quasi, wie mein Gesprächspartner erschreckte „scheiße, was'n los?“

„Du sollst nicht so viel rauchen“, entgegnete ich, lächelte kurz, erinnere ich aber dann an den Grund, wieso ich ihn überhaupt angerufen hatte.

Gleich nachdem ich nach Hause gekommen war von der Schule, sofort, als ich in mein Zimmer getreten und die Tür zugeknallt hatte.

Jacke und Schuhe hatte ich noch an, der Schal hing noch um meinen Hals.

„Rääähääääi“, jammerte ich, und ließ mich schwerfällig auf mein Bett fallen.

„Oh je Tim“, seufzte er „die Regeln?“

„Außer Kraft gesetzt!“

„hmpf“, Ray seufzte genervt, aber tat wenigstens so, als würde er es nicht sein und sagte: „Was ist denn los?“

„Ich bin eine Schlampe!“ quängelte ich und öffnete schwer ächzend meine Jacke.

„Okay...“ hörte ich ihn sagen, deutlich verwirrt und wohl nicht wissend, was er darauf entgegen sollte.
 

„Ja“, nickte ich wehleidig, schloss die Augen, strich mir über das Gesicht und begann, es ihm zu erklären: „Ich glaub, ich hab mich voll verknallt.“

„Ist doch nichts Neues...“

„So richtig. Mein ich.“

„Hm“, Ray klang nachdenklich und ich erhoffte mir eine Antwort auf all meine Probleme, doch nichts kam. Eine ganze Weile, dann hörte ich ihn schwer ausatmen „Wo ist das Problem?“
 

Jetzt zog ich die Stirn in falten und dachte kurz nach.
 

„Ich mein, du bist ständig in irgendwen verknallt. Der Typ aus der Kneipe, dieser Schauspieler, der Kellner im Eiscafé, dein Lehrer...“ zählte er dann auf und ich zuckte kurz zusammen.

Das mit Marc war nur am Anfang eine Schwärmerei gewesen, ihn hatte ich ja wohl so richtig geliebt. Glaubte ich.

„Das waren doch nur Schwärmerein, die fand ich süß; aber dieses Mal ist es anders. Es ist...“ wehmütig seufzte ich.
 

„Okay, und wo war jetzt das Problem?“ fragte Ray noch mal, und ich zuckte die Schultern.

„Ist er nicht schwul?“

„Doch...“

„Kennt er dich nicht?“

„Doch...“

„Er hat einen Freund und mag dich nicht...“

„Doch... tut er. Das weiß ich sogar ziemlich genau!“ lächelte ich und dachte an den Tag, an dem ich die Wahrheit erfahren hatte.

Leichte Gänsehaut zog sich über meinen Rücken.
 

„Boah“, sagte Ray laut und deutlich genervt „jetzt mal ernst, WO ist dann das Problem?“
 

Entweder verstand Ray mich nicht, oder ich verstand mich nicht.

Denn im Grunde, da hatte er doch Recht, oder?

Aber andererseits war da immer noch Marc, mit ihm war doch wegen dieser ganzen Sache nicht gleich Schluss, oder etwa doch?

Er war mir irgendetwas schuldig, irgendetwas musste er doch tun, es konnte doch nicht sein, dass ich ihn nie wieder sehen oder nie wieder hören würde.

Immerhin waren wir ein richtiges Paar gewesen, für ganze drei oder vier Wochen, da vergaß man sich doch nicht einfach so?

Betrunkene Teddybären

Ich starrte mein Telefon an.

Es war klein und schwarz und lag da auf meinem Schreibtisch neben der Tastatur für den Computer.
 

Wenn ich es jetzt nehmen würde, und seine Nummer wählen würde und das Gespräch einleiten würde...
 

Ich traute mich nicht. Gestern noch war ich total erpicht darauf gewesen, alles zu erfahren und zu wissen, heute war ich mir nicht mehr so sicher.

Ich zweifelte wieder, obwohl ich heute wusste, wie wahr die Wahrheit war.
 

Aber eigentlich gab es keinen Grund dafür.

Ich brauchte Marc nicht. Marc war nicht gut für mich, Marc war zu alt, zu gemein, zu heuchlerisch.

Außerdem liebte ich ihn nicht.

Zumindest versuchte ich sehr stark, mir das einzureden. Und teilweise gelang es mir auch sehr gut, doch allein schon, weil ich jetzt zweifelte, zeigte mir, dass irgendwo in mir immer noch etwas an ihn hing.
 

Und genau deshalb war ich eine Schlampe.

Wie konnte ich Marc und Joe lieben?

Wie konnte meine Knie zittern und mein Herz hüpfen, wenn ich Marc und Joe begegnete?
 

Ich litt an einem unnatürlichen Grad Verwirrung.
 

Ich drehte mich seufzend um, ging zum Bett und wollte mich weich darein fallen lassen, als ich mich anders entschied.

Also ging ich zurück zum Schreibtisch, nahm mein Handy und ließ mich dann in mein Bett fallen.

Mein wundertolles Bett, ein Ort, der einen in andere Welten entführte, wo man sich geborgen und zu Hause fühlte, der nur einem selbst gehörte. Des Tims bester Freund.

Ich suchte im Telefonbuch nach 'Nils' und drückte die grüne Taste.

Es tutete.

Und tutete.

Und tutete.

Dann klackte es.

Dann hörte ich ein leises, entferntes Lachen.

Dann seine Stimme: „Ja?“

Ich seufzte schwer aus.

„Hallo?“ entgegnete Nils konfus und ich sagte streng: „Hier ist Tim!“

Dann schwieg er kurz.

Ich konnte seine Überlegungen durch das Telefon hindurch hören.

„Hey“, machte er dann, klang leiser und etwas eingeschüchtert.

„Erklär's mir.“ meinte ich.

„Aber“, sagte Nils, doch ich ließ ihn nicht ausreden und unterbrach ihn „ich will es nur hören, ich will wissen, wieso. Es ist okay, ich bin drüber hinweg...“

Meine Stimme zitterte.

Das war gelogen, doch ich fand, dass das niemals jemand erfahren sollte.

„Ach Tim“, seufzte Nils, er klang mitfühlend „es tut mir Leid.“

„Schon okay...“

„Marc ist... er... ich will gar keine Partei ergreifen. Natürlich ist es mir unangenehm, ich finde es absolut nicht in Ordnung...“ Nils klang sehr ehrlich, und ich hörte heraus, wie er unter dieser Sache litt, obwohl er im Grunde nichts damit zu tun hatte.

„Ich hab' ihn gebeten, das nicht zu tun. Tausend Mal, ungefähr, ich weiß auch nicht, was er hat...“ Nils schwieg kurz.

Was Marc hatte, war ja irgendwie klar, er war total ephebophil.

„Ich habe ehrlich gesagt nur einmal kurz mit ihm geredet. Am Montag. Er meinte, er sollte wieder versetzt werden, weil dein Bruder irgendwie...“

„Josh hat rum erzählt, er sei mit Marc im Bett gewesen, um mich zu schützen...“ erklärte ich schnell.

„Ja, das war's“, sagte Nils leise.

„Aber wieso ich? Wieso ausgerechnet ich?“ fragte ich und spürte auch sogleich, wie mein Herz schneller wurde, wie sehr die Frage in mir gebrannt hatte und wie groß die Angst vor der Antwort war.

„Ähm“, machte Nils und seine Stimme wurde leiser „weil du deutliches Interesse an ihm gezeigt hast?“

„Hä?“

„Marc ist... pervers, aber nicht unaufmerksam. Er weiß um sein Aussehen.“ Nils klang kurz verlegen, natürlich wusste er, dass er seinem Bruder extrem ähnlich sah und konnte nicht leugnen, dass er bei potentiellen Interessenten nun mal sehr gut ankam.
 

„Er hat sich immer an diejenigen ran gemacht, die offensichtlich für ihn geschwärmt hatten. Und du weißt ja, wie das in der Schule ist, so was bekommt man da schnell mit.“
 

Natürlich wusste ich nicht, wie so etwas war, zumindest war mir nicht aufgefallen, dass ich meine Gefühle so furchtbar deutlich zur Schau gestellt hatte, jedoch waren das Rotanlaufen, Stottern und hysterische vom Stuhl fallen wahrscheinlich sowieso mehr als klare Indizien für ihn gewesen.
 

„Ich bin also doch ein absoluter Dummkopf!“ sagte ich seufzend.

Nils lächelte leise.

Dabei war das alles gar nicht zum Lächeln, ich war ausgenutzt worden.

Der Typ hatte mich benutzt, um seine komischen Gelüste zu stillen.
 

~*~
 

Ich nippte an der Cola, die ich mir vor einer viertel Stunde bestellt hatte. Die Zitrone, die im Glas schwamm, berührte meine Nasenspitze.

Schwer ausatmend stellte ich die Cola zurück auf den Untersetzter und sah wieder hoch zur Eingangstür unseres Pubs.

Das war unser Treffpunkt, hier saßen wir Abends, am Wochenede, redeten, lachten und berieten uns gegenseitig bei allerhand überlebenswichtigen Dingen, angefangen bei der Schule und Hausaufgaben, über Stylingtipps und Klamottenempfehlungen bis hin zu Ratschläge in Sache Liebe und Beziehungskram und -krisen.
 

Gerade, als ich mir bei der jungen Kellnerin eine Wodkacola bestellen wollte, kamen Julie und Lilly durch die Tür.

Sie sahen mich sofort, lächelten, winkten blöd und setzten sich zu mich an den Tisch „Hey Tim, alles klar?“ sagte Julie.

Sie wusste nichts von allem. Auch Pat und Flo nicht, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte auch Joe nichts erfahren sollen.

Joe, der genau in dem Moment, in dem ich dem Mädchen antworten wollte, durch die dunkelbraune Tür kam.

Mein Herz hüpfte kurz aufgeregt auf.

Ich musste an Marc denen.

Ich trank meine Wodkacola mit einem Zug leer.
 

Wärme breitete sich in meinem Bauch aus und mir war nicht ganz klar, ob das von Joe oder vom Wodka kam.

Er lächelte mich an.

Sein Lächeln war so verdammt perfekt.

Das durfte alles nicht sein.

Ich glaubte, ich hatte keine Lust auf Pubertät jetzt.

Deshalb bestellte ich mir gleich noch eine Wodkacola.

„Hey ihr“, sagte Joe und setzte sich gegenüber von mir auf einen Stuhl.

„Hey Tim!“ lächelte er dann.

Meine Wangen wurden rot. Ich hoffte, das kam vom Wodka.

„Hey Joe“, sagte Lilly, und nur ich konnte ihren Unterton wahrnehmen, der sagte: „Los Tim. Greif zu!“
 

Und ich dachte an Ray und seine Ansprache über das Problem, welches nirgendwo gefunden werden konnte.

Joe war verdammt nett und urlieb, er hatte ein tolles Lächlen, war wahnsinnig tolerant, kümmerte sich um mein Wohlbefinden, er liebte mich und seine Schwester war auch ganz nett.

Prinzipiell sprach nichts gegen Joe.
 

Nur meine durcheinander gebrachte Gefühlswelt verwirrte ihrerseits meine Rationalität.
 

Rationalität, die man ja glücklicherweise mit Wodka betäuben konnte.

„Kommt Ray?“ fragte ich über das Gerede und die laute Musik hinweg. Lilly und Julie tauschten Blicke, Joe zuckte die Schultern.

Wusste keiner, niemand hatte mit ihm geredet, ich musste ihn anrufen.

Schnell nahm ich noch den letzten Schluck meiner dritten Wodkacola, dann nahm ich mein Handy aus meiner Hosentasche.

„Ich ruf ihn an.“ erklärte ich den Mädchen, dann stand ich auf, spürte Joes Blick im Nacken als ich drei Stufen von der Erhöhung runter und zur Tür ging.
 

Ich wollte gerade die grüne Taste am Telefon drücken, als ich Rays unverkennbare Gestalt die Straße entlang laufen sah.

„Ray!“ rief ich vergnügt aus und ein genervtes Brummen kam mir entgegen: „Die Regeln gelten!“

„Schon klar“, lächelte ich und als Ray bei mir angekommen war, warf er den Rest seiner Zigarette auf den Boden und schlug in meine Hand ein.

Eine ganz männliche Begrüßung ohne zu viel Körperkontakt.

Ray war für jede Frau der Welt zu haben.

„Alles klar?“ fragte er und ich nickte: „Ja, bei dir?“

„Wieso stehst du hier?“ er konnte mein Gerede auch gut ignorieren.

„Ich... ich wollte dich anrufen“, erklärte ich ihm und winkte kurz mit der Hand, die noch das Handy umschlossen hielt.

„Oh je“, sagte Ray, seine Augen fuhren über mein Gesicht und meinen Körper „tu mir nur ein Gefallen, ja? Heul heute Abend bitte nicht rum, das geht mir bis hier!“

Ray hielt sich die Hand oberhalb der Stirn, verdrehte die Augen und nahm sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche.

„Ähm“, machte ich, räusperte mich und nickte dann verlegen: „Okay...“
 

Wir schwiegen uns kurz an, er rauchte sich den Stress weg, dann setzte er zum Sprechen an: „Aus irgendeinem Grund meint Steve, ich sei seine Seelsorge.“ Ray verdrehte genervt die schwarzen Augen, nahm einen letzten Zug seiner Zigarette, bevor er den Rest von der fallen ließ, den Qualm in die dunkle Nacht blies und dann die Bar betrat.

Ich folgte ihm, drinnen sah ich Joes schwarzes Haar, das struwelig wild in allen erdenklichen Richtungen ab stand und mein Herz schlug so dermaßen laut, dass es mit dem Geräuschepegel des Pubs locker mithalten konnte.
 

Die stickige Luft, die Menschenansammlung, die laute Musik, das Gerede und der Wodka.

Das alles wirkte auf mich ein.

Und ich fand das gut.

Einfach frei glücklich sein.

Ohne Gedanken an etwas störendes, ohne Stress und Chaos im Leben.

Ausgelassenes frei sein, auch, wenn es nur temporär war.

Was ich bin dahin nicht gewusst hatte, war, dass Joe ein echt harter Kampfsäufer war. In der Zeit, in der ich ein Cocktail genoss, goss er sich drei Korn und zwei Bier weg und das erstaunliche daran war, dass sein Grad des Betrunkenseins meinem nicht viel abwich.
 

Dennoch hielt ich mich bedacht zurück, wenn es um ihn ging.

Ich war im hohen Maß verunsichert. Mit Joe. Was Joe anging.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und wie ich mich benehmen sollte.

Da ich nun ungefähr wusste, was ich fühlte, was alles viel verzwickter und verwirrender um mich herum, als es bis her jemals gewesen war.
 

Schwer seufzend stellte ich das leere Glas auf den Holztisch mit den Einkerbungen und wünschte mir die Zeit vorher zurück, als es nur Zac in meinem Leben gab.

Dabei hasste ich Zac.
 

„Wasn los?“ fragte Joe, und er kam mir gefährlich nah mit seinem Bieratem, der mir einen Schauer über den Rücken jagte.

Nein, es war nicht eklig, es war anregend.

Sehr.
 

„Nichts“, nuschelte ich und bestellte bei der Gelegenheit bei der Kellnerin noch eine Wodkacola.

„Hm“, machte Joe. Er lehnte sich zurück, nicht ohne dass wir uns noch berührte, und zuckte die Schultern: „Wenn du meinst!“

„Na ja!“ Ich seufzte noch mal schwer, dann lehnte ich mich auch zurück und sah ihn an. Ins Gesicht.

Seine Wangen waren rot, seine Lippen weich und rosa, seine Augen strahlten blau und einige vor witzige schwarze Strähnen hingen ihm ins Gesicht.

Mein Herz hüpfte alarm.

Wir waren uns ungewohnt nah, doch er hielt meinem Blick stand, er drehte sich nicht weg, doch er wirkte total gelassen und ruhig dabei.

Und das, wo er doch so in mich verliebt war.

Vielleicht war das alles nicht mehr unangenehm aufregend, wenn der andere es wusste...

„Ich muss mit Ray reden.“ sagte meine Stimme, ich drehte mich weg und stand auf, um das kleine Podest zu verlassen und in den hinteren, größeren Raum des Pubs zu gehen.

Hierhin war Ray doch verschwunden mit Pat, um Kicker zu spielen.

Er saß am Tisch neben dem Kicker, umfasste ein Glas Bier und hörte dem Gespräch einiger neben ihn sitzenden Mädchen zu.
 

Ich überlegte nur kurz, ob ich zu ihm gehen konnte und rumheulen sollte, wo er mir das doch auch verboten hatte.

Aber ich brauchte ihn.

Ungeschickt ließ ich mich auf einen freien Stuhl auf der anderen Seite des Tisches fallen und sah ihn eindringlich an.

Er grinste, dann lächelte er, dann sah er mich fragend an, bis er wusste, was ich wollte. Er war ein so guter Gedankenleser.

„Nein“, er schüttelte genervt den Kopf „nein Tim, ich hab dir was gesagt, ich hab dadrauf echt kein Bock.“

„Aber...“

„Nein“, er unterbrach mich „ehrlich, du heulst von der einen Seite, Steve von der anderen! Es ist nicht so, als hätte ich nicht selbst auch noch genügend Probleme. Wenn du so auf ihn stehst, wieso sagst du es ihm nicht einfach und gut ist?“

Sagte er streng, dann trank der das Bierglas leer und ich musste mich willkürlich fragen, was Ray für eigene Probleme hatte und wieso er mich da deshalb nicht ansprach?

„W..“ machte ich, doch mit einer Handbewegung deutete er mir, still zu sein: „Er ist doch auch in dich verliebt, Himmel wieso seid ihr alle nur so kompliziert, das ist ja schlimmer, als jede Frau!“

„Was ist mit dir?“ entgegnete ich, ohne auf seine Kritik einzugehen.

Er sah mich verwirrt an, zog fragend die Augenbrauen zusammen und wusste nicht, was ich meinte.

So gut war er dann doch nicht mit Gedankenlesen.
 

„Woher soll ich wissen, dass dich was bedrückt, wenn du mir nichts sagst?“ meinte ich dann, meinerseits etwas verständnislos „Ich für meinen Teil kann deine Gedanken nämlich nicht lesen, mir musst du eben konkret sagen, was los ist.“
 

Dann schwiegen wir und sahen uns böse an. Die Musik erschien plötzlich lauter, das Gerede um uns herum wurde unruhiger und mein Herz pochte heftig gegen meine Brust.

„Ich geh dann jetzt zurück zu ihm!“ erklärte ich dann, immer noch leicht angesäuert, stand dann auf und suchte mir durch das Menschengewimmel einen Weg zurück zu Joe.
 

Joe war toll.

Ray war doof.
 

Und weil Ray doof war, hörte ich auf ihn, als eine Art Protest, drehte mir in meinem Kopf seine Worte aber so um, dass es ganz gegen seinen Empfehlungen war, auf Joe anzuspringen.
 

Ich kam zu unserem Tisch zurück und ließ mich laut seufzend neben Joe fallen und nam mein Getränk, welches schon auf mich wartete, um viel davon zu trinken.

„Alles klar?“ fragte er, und mein Herz hüpfte wie auf Kommando auf.

Ich lächelte, stellte das Glas zurück und nickte: „Ja, alles in bester Ordnung!“
 

Ich drehte mich zu Joe um, lächelte in sein wunderschönes Gesicht und nahm mir vor, auf seinen nächsten Anmachversuch voll einzugehen.

Jetzt, wo ich mir das vorgenommen hatte, drucksten wir natürlich blöd rum, tranken noch ein Bier, lächelten schüchtern, erzählten uns wahnsinnig unwichtige und langweilige Dinge über Frau Dahlmann, Adverbien, die Bierhistorik und allerhand anderen scheiß, und ich wartete angespannt auf ein Thema, welches Annäherungsversuche unterstützte, als wir plötzlich ein helle, kreischige Stimme wahrnahmen, die hysterisch seinen Namen schrie: „Joe! Joe! Verdammt, hier steckst du, du bescheuerter Mistkerl.“

Joe und ich fuhren erschrocken auseinander, auch wenn wir nichts verbotenes taten außer reden, und ich sah verwirrt auf und zu erkennen, wer die Quelle dieser schrecklichen Wörter war.

Zuerst ein wenig verschwommen sah ich Lissy da stehen, und sie sah nicht so aus, als sei sie eine 14-Jährige, unschuldige kleine Schwester.

Ihre Beine steckten in Stiefel mit Absätzen jenseits jeglicher Genehmigungsgränze für Höhe von Absätzen, ihr Rock war kürzer als der Gürtel, den sie über die schmale Hüfte trug und ihr Oberteil war nicht nur enger als ihre eigene Haut, sondern hatte auch noch einen Ausschnitt bis zum Bauchnabel, das mehr zeigte als es verdeckte.

Und dieses Mädchen nannte Joe Mistkerl.

„Was gehtn?“ fragte Joe und schien vollkommen unbeeindruckt von ihrem Outfit, welches mich als großen Bruder schon acht mal dazu gebracht hätte, das Mädchen zu packen und sofort nach Hause zu bringen, damit es sich die drei Kilo schwarze Schminke vom Gesicht waschen konnte.
 

„Hast du ne Ahnung, wie stinkend sauer Mama ist?“ sagte sie, griff sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch gegenüber, dabei warf sie einen flüchtigen Blick auf mich und nickte kurz: „Hi Tim.“

„Eh“, entgegnete ich, noch immer leicht geschockt von ihrem Erscheinungsbild.

„Wieso?“ fragte Joe und klang genauso verwirrt, wie ich war.

„Wieso? Tz!“ sagte das Mädchen und verschränkte zickig die Arme vor der Brust „Ich glaube du weißt genau wieso. Die wartet zu Hause auf dich und wenn du kommst, die reißt dir den Kopf ab.“

„Hm“, machte Joe und sank etwas nachdenklich den Kopf.

„Ja hm“, sagte seine Schwester und stand wieder vom Stuhl auf „An deiner Stelle, ich würde heute nicht nach Hause gehen. Überleg's dir, ich übernachte auch bei Kathi.“

Sie sah ihn mahnend an, dann zwinkerte sie mir zu (war das ein ausgeklügelter Plan oder was?) und verschwand dann durch die braune Holztür des Pubs.
 

„Du?“ machte seine heisere Stimme dann und ich drehte mich schnell zu ihm um „hm?“

„Kann ich bei dir pennen?“ fragte er und klang dabei ziemlich unterwürfig. Ich lächelte, ich grinste, ich nahm einen Schluck vom Bier und nahm diese eine Chance endlich wahr.
 

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Es dürfen ausführliche Vermutungen aufgestellt werden, wieso Joes Mutter so sauer ist ;)

Coming-Outs

„Ist es ein komisches Gefühl?“ fragte er.

Ich zuckte die Schultern und kramte ungeduldig in meiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel.

„Jemanden mit nach Hause zu nehmen?“ erklärte er weiter und ich zuckte noch mal die Schultern.

Es war so schrecklich kalt heute Nacht und der Weg vom Pub nach Hause zog sich dann immer so.

„Jemand Betrunkenes.“ führte er dann weiter aus, als ich endlich den Schlüssel gefunden und aus der Tasche geholt hatte.

„Jemand Betrunkenes, der schwul ist.“ sagte er dann. Ein Schauer lief mir über den Rücken, dann steckte ich den Schlüssel in das Schloss der Haustür, und das klappte erstaunlicherweise sofort beim ersten Mal.

„Ein schwuler, Betrunkener, der auf dich steht!“ sagte er dann schlussendlich, als ich die Haustür aufdrückte.

Joe kam einen Schritt näher, im Glauben, ich würde in den wärmeren Hausflur treten; weil mein Körper unter der januarischen Kälte so zitterte, doch stattdessen drehte ich mich um und Joe lief direkt in meine Arme.

Etwas verwirrt sah er mich an, als ich dann noch meine Hand in seine Taille legte und seinen Körper gegen meinen presste: „Ich bin nicht weniger betrunken, schwul oder geil auf dich.“

Dann beugte sich mein Oberkörper etwas vor, sodass mein Gesicht seinem ganz nah war, doch es nicht berührte.

Ich sah in seine Augen, die direkt vor meinen waren, ich spürte seinen Atem im Gesicht und hörte sein oder mein Herz wahnsinnig laut gegen die Brust schlagen.

„okay...“, hauchte er dann. Sein Blick forderte mich heraus, war voller Erwartungen, und dennoch sah ich etwas in seinen Augen, was wie Angst aussah.
 

Doch das war uns egal.

Betrunkene Schwule ohne Sinn für Rationalität; so beugte ich mich vor und legte meine Lippen auf seine; und ein Schauer warmer Gefühle überkam mich; meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich ganz fest an Joe halten musste, und mein Herz überschlug sich fast selbst, als wir uns so berührten.
 

Seine Lippen waren kalt, doch das war völlig unbedeutend. Fast wild pressten sich unsere Lippen aufeinander, sie massierten sich gegenseitig, bis ich seine zögernde Zunge spürte, sie etwas behaglich über meine Unterlippe strich.
 

Ich trat in den Hausflur und zog Joe noch näher an mich heran, ohne, das wir uns voneinander lösten, und die Tür fiel zurück ins Schloss.
 

Dann gingen wir auseinander, etwas schüchtern sahen wir uns an, erforschten den Blick des Anderen, ob wir zuweit gegangen waren, doch wir bereuten es nicht und in den Blicken lag die Lust nach mehr.

Ich nahm seine kalte Hand in meine, zog ihn zu mir und drückte ihn einen kleinen Kuss auf die zusammengepressten Lippen.

Dann zog ich ihn die erste Treppe hoch, bevor ich seine Hand auf meiner Schulter spürte, wie er mich zu sich herum drehte.

Er sah mich lüstern an, kam mir näher und drückte meinen Körper nach hinten, bis die Wand in meinem Rücken war.

Er war ein bisschen größer, und ein bisschen stärker, und er presste mich gegen die kalte Hausflurwand, damit er mich erneut küssen konnte, doch dieses mal weniger zurückhaltend sondern fordernd.

Er griff mein Handgelenk und drückte es neben mein Gesicht gegen die Wand, und seine Zunge drang etwas forsch in meinen Mund ein und ich spürte, wie wild und dominant er sich gegen mich drängte, und das eigenartige daran war, dass ich mich auf eine seltsame Weise sehr wohl dabei fühlte.
 

Als er etwas entspannter wurde, drückte ich ihn sanft weg, sah ihn vielsagend an und bedeutete ihm, mir weiter die Treppen bis in den dritten Stock hoch zu folgen.

Seine Hand griff nach meiner und sein Daumen strich die ganze Zeit über meinen, bis wir vor der weißen Wohntungstür mit dem Milchglasfenster zum Stehen kamen.
 

Ungeduldig drückte er sich an mich, schlang seine Arme um meinen Körper und machte es mir dadurch nicht gerade einfach, den Schlüssel in das Schloss zu bekommen.
 

Erst nach vielem Küssen, aneinander drücken, Körpererkundungen und Versuchen, gelang es mir endlich, die Wohnungstür auf zubekommen; und ziemlich ungeschickt stolperten wir dann in den warmen Korridor.

Durch die geöffnete Tür kam noch kalte Luft in die Wohnung, das störte uns nicht, war der andere Körper, den wir berührten und küssten, sowieso schön warm und weckte in uns das Verlangen, noch mehr davon zu spüren.
 

Als ich beim Küssen sein Nacken griff, und ihn fester an mich drückte, und unsere Hüften hart aneinander streiften, entlockte ich ihm sogar ein kleines, erregtes Stöhnen, welches augenblicklich eine Gänsehaut und zittrige Knie verursachte.
 

Dann ertönten Schritte, es klackte leise und als das Licht der Deckenleuchte unsere geschlossenen Lider blendete, fuhren Joe und ich erschrocken auseinander, soweit von einander weg, wie es die Wände des Raumes zu ließen.

Er sah beschämt zum Boden und strich sich schüchtern über die Lippen, während ich im grellen Licht zu meiner Mutter hinüber sah, die im Schlafanzug in der Wohnzimmertür stand und die Hand noch immer am Lichtschalter hatte.
 

Hatte sie uns gesehen?

War sie geschockt und fand keine Worte für das, was sie fühlte?
 

„Mama“, sagte meine Stimme leise und zittrig, und ich wusste nicht, wie ich mich fühlen und was ich sagen sollte „Du bist noch wach?“
 

Sie nahm ihre Hand vom Lichtschalter weg, schluckte hart und nickte benommen: „Ich habe eben mit deinem Vater telefoniert“, sie winkte mit dem Telefon in ihrer anderen Hand „ich... wir müssen reden. Aber nicht jetzt“, meine Mutter machte eine wegwischende Handbewegung, sah kurz zur Seite, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust: „Ihr solltet euch ausschlafen. Ich...“ sie hielt kurz inne, dann drehte sie sich kurz um und griff nach dem Griff der Wohnzimmertür, um sie zu zuziehen.

„Ich bringe euch noch eine Decke.“ Erklärte sie dann, als sie durch den Flur an uns vorbei in ihr Zimmer ging.
 

Und ich wusste absolut nicht, ob sie Joe und mich zusammen gesehen hatte, mein Herz raste auch jetzt noch, wo sie weg war.

Doch ihr Benehmen war komisch gewesen, ungewohnt, irgendwie schien sie sich unwohl und unbehaglich gefühlt zu haben.
 

„Komm mit“, sagte ich zu Joe und ging dann in mein Zimmer. Ich schaltete das Licht ein, ging hinüber zum Fenster und schloss es. Die Kälte hatte sich den ganzen Abend im Raum ausgebreitet, da ich das Fenster eigentlich grundsätzlich geöffnet hatte.

Etwas müde und betrunken ließ ich mich auf mein Bett fallen und zog mir die Stoffschuhe aus. Als ich dann auf schaute und mein Blick sich festigte, sah ich Joe noch immer etwas hilflos im Raum rum stehen.

Gerade, als ich ihn fragen wollte, was genau er da machte, klopfte meine Mutter an die angelehnte Zimmertür und kam rein, Decken und Kissen auf dem Arm und sah mich und Joe komisch an, als sie die Decken neben mich auf das Bett nieder legte.

„Wir haben leider kein Gästebett oder sowas“, erklärte sie dann an Joe gerichtet und deutete auf die Decken „es wird ein wenig hart, aber... na ja ich glaube, das merkst du eh nicht besonders...“

„Wieso hart, er schläft hier“, entgegnete ich verwirrt und deutete auf mein Bett. Doch Mama schüttelte den Kopf: „Das ist doch viel zu eng“ „Ray hat hunderttausend Mal mit mir hier geschlafen und Josh auch.“
 

Ich spürte, wie sie sich merklich verkrampfte und ihr kurz die Worte wegblieben. Sie fasste sich an den Hals, schluckte den vermutlichen Kloß hart runter und meinte dann: „Es ist mir aber lieber, wenn ihr nicht zusammen in dem kleinen Bett schlaft.“
 

Das hörte sich so mütterlich endgültig an, deshalb nickte ich unterwürfig und sie zufrieden, dennoch war sie immer noch etwas aufgewühlt.

„Schlaft gut“, sagte sie dann leise, sah uns beide kurz lächelnd an und verließ dann das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
 

Joe und ich tauschten verwirrte Blicke und er fragte: „Weiß sie, dass du schwul bist?“

Ich schüttelte den Kopf, zuckte dann die Schultern und zog meine Jacke und die Jeans aus, bevor ich unter die kalte Decke kroch.

Joe stand noch immer konfus drein blickend da rum, als ich auf die Matratze neben mir klopfte und sagte: „Komm schon, ich bin müde.“

„Aber deine Mutter“, sagte er und zeigte zur Tür, doch ich unterbrach ihn: „Ich bin ein sechzehn-jähriger Teenie, die hören nicht auf ihre Mütter und jetzt komm endlich!“
 

Er nickte, schlüpfte dann aus seinen Schuhen und die Jacke und kam zu mir, um sich nebendran ins enge Bett zu legen.

Joes Körper war warm neben meinen, ich musste unwillkürlich lächeln, beugte mich vor, um das Licht auszuschalten und als die Dunkelheit uns umschloss, schmiegte ich mich ganz nah an seinen warmen Körper und spürte sein Herz rasant gegen die Brust klopfen.
 

„Johann?“ fragte ich leise und Joe zuckte etwas.

„Nenn mich nicht so.“ sagte er.

„Wieso nicht?“

„Das ist ein hässlicher Name.“

„Hm“, machte ich und dachte kurz nach, dann schüttelte ich im Liegen den Kopf: „Mir gefällt der Name. Johann. Jooo-hann!“

„Ist schon gut, Tim!“ sagte Joe scharf, leicht lachend, er drehte sich etwas zu mich um, sodass ich seinen Bieratem im Gesicht spüren konnte.
 

„Johann?“

„hm?“

„Ist das ein Problem für dich?“

„Was?“

Ich schwieg kurz, als ich das wiederkommende Herzrasen spürte und wie sich meinerseits jetzt ein Kloß im Hals bildete.

„Dass ich... hm, wegen... Also! Die Sache mit Marc.“
 

Ich hörte nichts weiter als mein Herz, doch das war wohl nicht schwierig, denn es war so laut, dass sogar meine Mutter nebenan es noch hören musste.

Dann spürte ich, wie Joe sich umdrehte und mir den Rücken zuwandte: „Schon, irgendwie!“
 

~*~
 

„Oh“, machte ich am Morgen, als ich vollkommen verkatert und ebenso verpennt in den Flur trat „Papa. Is schon wieder Weihnachten?“ gähnend ging ich ins Bad.

Was suchte wohl mein Vater hier?

Hin und wieder kam er zwar zur Besuch, meistens dann, wenn Mama Geld brauchte und niemanden wusste, den sie bitten könnte, ihr was zu leihen, außer dem Vater ihres Kindes.

Ich musste dann auch immer herhalten mit irgendeinem Scheiß.

Und zu Weihnachten kam er immer, mit Josh.
 

Josh...
 

„Wie geht’s dir, mein Spatz?“ sagte Mama, als ich wieder in den Flur kam, und sie klang so schrecklich müde und mitgenommen und sie nannte mich doch nur in besonderen Notfällen 'Spatz'. Irgendwas war doch nicht in Ordnung?
 

„Was ist los?“ antwortete ich ihr verwirrt, doch Mama sah mich nur lieb lächelnd an, strich mit über das Haar und verbarg etwas. Etwas wichtiges, etwas, was sie enorm aufgewühlt hatte.

Und was auch Papa betraf?!
 

Verwirrt sah ich den Mann an, der größer war als ich, aber kleiner als Josh.

Er hatte das gleiche, braune, glänzende Haar wie Josh, und an den Augen sah man auch, dass sie zusammen gehörten.
 

„Ist was mit Josh?“ fragte ich und spürte, wie meine Stimme zitterte.

„Nichts schlimmes!“ Sagte Papa sofort, scharf und sah meine Mutter mahnend an „Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Tim!“

„Was denn?“ entgegnete ich ungeduldig und sah nervös zwischen beiden Eltern hin und her.
 

Dann tauschten sie gefühlvolle Blicke, und ich spürte, wie Mamas Griff auf meiner Schulter fester wurde.

„Ach kommt schon“, sagte ich dann in ihre Anspannung rein „ich bin doch kein verdammtes Kind, das vor alles beschützt werden muss, was in der Welt passiert.“
 

Mama seufzte schwer aus, Papa sah sie bittend an, dann griff sich mit beiden Händen meine Schultern, packte fest zu und sah ernst zu mir auf: „Dein Halbbruder hat uns gestern etwas gesagt...“

„Etwas, was nichts verändert...“ warf Papa ein und Mama verdrehte die Augen und warf ihm einen bösen Blick zu.

Mein Vater sah sie entschuldigend, aber auch streng an und kam zu uns, um sich ebenfalls vor mich zu stellen.
 

Ich begriff ja sowas von gar nicht, was hier ab ging und spürte daher meine Anspannung immer mehr und mehr wachsen.
 

„Josh ist einer von diesen.... diesen...“, sagte meine Mutter dann, sie konnte meinem fragenden Blick nicht stand halten, sie lies meine Schultern los und wandte sich ab, legte ihre Hand auf das Gesicht und ließ mich deutlich spüren, wie nahe ihr die Sache ging.
 

„Josh ist absolut kein anderer Mensch als er je war“, erklärte mir Papa dann mit lehrender Stimme „nur, weil er schwul ist!“
 

„Josh ist schwul?“ entgegnete meine Stimmte verwirrt, und ich war ihr verdammt dankbar, dass sie die alleinige Führung übernahm, denn ich war durcheinander, verwirrt und bestürzt.

Noch während mein Vater wieder begann, etwas von Gleichheit und so was zu predigen, sah ich an ihm vorbei zu meiner Mutter.
 

Sie weinte.

Das Gespräch mit Lilly und die Bitte von Ray

Ein wenig ruhier jetzt

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Zitternd vor Kälte trat ich in das kleine, warme Café, in dem ich mich mit Lilly treffen sollte.

Als ich auf sah und die Mütze von meinem Kopf nahm, erblickte ich das schmale Mädchen auch gleich auf einer kleinen Couch an einem noch kleineren Tisch sitzen und mich fröhlich anlächeln.

„Hey“, machte ich, als ich mich neben sie fallen ließ und sie umarmte mich zur Begrüßung kurz. Ihr Hände waren warm.

„Hallo, Tim. Wie geht’s dir?“ fragte Lilly und meinte das natürlich nur freundlich, dennoch seufzte ich genervt auf, als ich die Jacke auszog und über die Couchlehne hing: „Ganz ehrlich, es könnte besser gehen. Ich glaube sogar, dass ich noch nie soviel Chaos um mich herum hatte...“
 

Sie gluckste leise, hielt sich aber entschuldigend die Hand vor den Mund, als sie meinen entrüsteten Blick aufschnappte „Tut mir Leid, aber das bringt wohl die Liebe mit sich...“

„Ach?“ jetzt war ich hell hörig, wenn das kein eindeutiger, unterschwelliger Hinweis war.
 

Ihre blasse Wangen färbten sich leicht rot und sie sah beschämt zum Boden.
 

„Seit wann?“ fragte ich interessiert und beobachtete Lillys Reaktionen genau. Sie war etwas schüchtern, doch wusste sie auch, dass sie mir vollkommen vertrauen konnte.

Lilly und ich waren seit sieben Jahren die besten Freunde, wir sagten uns alles, wir hörten uns an, was der andere zu erzählen hatte, wir liebten uns auf diese Art, wie sich Freunde liebten, wahrscheinlich bedingungsloser und hingebungsvoller als jede andere Art von Liebe sein konnte.

Lilly war diese Art von Freundin, die man Nachts um zwei Uhr anruft, die mit Sicherheit ans Telefon geht und dann auch bis elf Uhr wach bleibt, um sich dein Jammern anzuhören und die tröstende Worte zu zusprechen.
 

Ich hätte problemlos jeder Zeit zu ihr kommen können, sie wäre immer für mich da gewesen und ich würde mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar locker für ein paar Tage oder Wochen bei ihr im Zimmer wohnen dürfen, wenn die Situation das je verlangen würde.
 

Sie war gewissermaßen wie Ray, nur einfühlsamer; sah alles von einem anderen Standpunkt aus und redete über andere Themen.
 

Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich mein bisheriges Leben ohne Ray und Lilly gemacht hätte. Unvorstellbar.

Wir waren die Seelenverwandten. Die, die zusammen gehörten, die drei Fragezeichen, die drei Charmed-Hexen, die fünf Freunde auf drei Personen verteilt.

Das waren wir.
 

„Hm“, machte sie und sah nachdenklich zur Decke, von der einige interessante Lampen hingen.

„Ich denke, ich hab's gemerkt, als das mit dir und Joe los ging. Apropos Joe...“ jetzt war sie es wieder, die dieses Gespräch dominierte und mich verschmitzt anlächelte „war da was zwischen euch? Er ist doch zur dir gegangen, letzte Nacht?“
 

Ich wurde nicht rot, ich zuckte nur leicht die Schultern und bedanke mich bei dem süßen Kellner, der mir eben meinen Kaffee gebracht hatte.

„Er ist nur mit zu mir gekommen, weil seine Mutter manchmal... etwas hysterisch werden kann“, erklärte ich ihr, nahm dann einen Schluck von meinem Kaffee, um sie in der Anspannung sitzen zu lassen, und erzählte dann weiter: „weil er doch, das weißt du gar nicht, oder? Er hat beim rückwärts Ausparken sein neues Auto gegen eine Begrenzung gesetzt. Da sind jetzt Dellen und Kratzer im Wagen, natürlich hat er das seinen Eltern nicht gesagt.“ Ich seufzte schwer auf und trank noch etwas vom Kaffee.

„Seine Mutter hat's dann gesehen, ist ausgerastet... weil das Auto neu ist. Ich weiß, das ist vollkommen albern; weil er ist ja nun mal ein Fahranfänger und denen passieren solche Sachen, wenn sie blöd sind...“

„Joe ist doch nicht blöd...“

„Joe ist nicht der talentierteste Autofahrer!“ sagte ich wissend. Lilly nickte hinnehmend und trank von ihrer Trinkschokolade, als ich weiter erläuterte: „Wir sind Abends nach Hause, Mama über den Weg gelaufen, dann ins Bett und sofort eingepennt. Du weißt ja, du bist betrunken und legst dich hin, sofort schläfst du.“

Lilly nickte wissend, dann sah sie mich weiterhin aus großen Augen an, die sagten: „Erzähl weiter, los!“
 

„In wen bist du verknallt?“

Ihre Wangen wurden sofort wieder rot und sie sah beschämt zum Boden „Tim, darum geht’s doch gar nicht...“

„Hm“, nachdenklich sah ich sie an „wenn du mir seinen Namen sagst, dann sag ich dir, was mit Joe und mir war.“

Ich grinste.
 

Ihre Augen funkelten kurz, und ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie an ihren Traumprinz dachte, oder daran, dass sie wissen wollte, was in meinem Liebesleben passierte.

„Das ist unfair“, erklärte sie schließlich.
 

Ich grinste noch breiter „ist es nicht.“
 

Lilly schnaubte und verschränkte die Arme vor ihrer Brust „Ich sag's dir nicht!“

„Och komm schon“, meine Stimmte klang bettelnd „ich bin dein bester Freund! Wenn du es mir nicht sagst, wem denn dann?“

„Aber du verstehst das nicht...“

„Wer sollte es besser verstehen, als ich?“ entgegnete ich ihr, im Glauben, dass außer mir um mich herum niemand in einem verzwicktem, kompliziertem Liebesleben steckte.
 

„Tz“ machte sie beleidigt „ich kann es auch meinem Teddy erzählen!“

„Der dir sicher geniale Ratschläge gibt...“

„Tim, weshalb wolltest du dich mit mir treffen? Doch nicht etwa, um mich aus zuquetschen wie eine Tomate?“ sagte sie letztendlich und beendete somit das leidige Gespräch und Thema, in dem wir uns verfangen hatten.

Und erinnerte mich damit auch wieder daran, dass ich sie, nachdem Joe am Morgen gegangen war, sofort angerufen hatte und sehen wollte.
 

Mama hatte ihm misstrauisch nachgeblickt, als Joe hinter meinem Vater die Wohnung verließ. Ich hatte Papa gebeten, Joe nach Hause zu bringen, läge ja eh auf dem Weg.

Er war etwas überrascht gewesen, als er gesehen oder gehört hatte, dass ich einen Jungen hatte bei mir übernachten lassen und auch meiner Mutter war nicht entgangen, dass ich mich ihr widersetzt hatte und Joe in meinem Bett hatte schlafen lassen. So kurz nach Joshs Coming-Out erschienen mir beide etwas befangen mit dem Thema zu sein.
 

„Es ist wegen Josh“, sagte ich seufzend und löste damit die Anspannung, die über Lilly und mir hing.

„Was ist mit ihm?“ fragte sie besorgt und nahm meine Hand, war ihr doch aufgefallen, wie sich irgendetwas zwischen meinem Bruder und mir geändert hatte, dass irgendetwas war zwischen uns, was ich wahrscheinlich nur mit dem merkwürdigen Band zwischen Geschwistern beschreiben konnte.

„Er hat's ihnen gesagt“, erklärte ich „Mama und Papa... dass er schwul ist, mein ich.“

„Und?“

Ich seufzte noch mal schwer „Sie weinte. Sie war vollkommen aufgelöst und irgendwie... sie hat mir verboten, mit Joe in einem Bett zu schlafen.“

Ich schwieg kurz und dachte an ihr trauriges Gesicht, als ich ihr erzählt hatte, dass ich auch mit Josh schon in diesem Bett zusammen geschlafen hatte.

„Ich glaube nicht, dass sie das einfach so hinnimmt. Wieso bitte sollte man denn weinen, nur wenn jemand schwul ist?“ fragte ich verwirrt und spürte in mir eine seltsame Angst aufkommen, gepaart mit Enttäuschung. Vom Verhalten meiner eigenen Mutter.

„Sie muss es erst mal verdauen, Tim!“ meinte Lilly im Versuch, mich auf zumuntern, ihr Verhalten zu rechtfertigen.

„Verdauen?“ entgegnete ich, etwas lauter als gewollt, doch spannte sich mein ganzer Körper an „was soll es denn da zu verdauen geben? Sie ist unsere Mutter! Sie hat uns so zu nehmen wie wir sind oder werden oder was weiß ich! Ihre Liebe sollte bedingungslos sein. Bedingungslos!“
 

Ich war von Lilly zurück gegangen und sah sie nun erwartend an. Einige Gäste von den anderen Tischen hatten zu uns rüber geschaut, ich war doch ein, zwei Tonlagen lauter geworden, als angemessen war, und mein Herz raste in meiner Brust und schlug unaufhörlich wild gegen den Brustkorb.
 

Lilly sagte nichts. Sie schluckte hart, sank den Blick und schloss die Hände um ihre Tasse. Dann nickte sie vorsichtig: „Ja, du hast Recht. Eigentlich sollte sie das. Aber Josh ist nicht ihr Kind. Sie hat ihn aufgenommen und groß gezogen... zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Ihre Gefühle dir gegenüber sind vielleicht anders... sie sind von anderer Natur! Du bist ihr Kind, ihr richtiger Sohn...“
 

Ich ließ ihre Worte kurz auf mich wirken, nahm es auf und bedachte es. Lilly lag richtig. Vielleicht war es anders mit mir, wenn ich es ihr sagen würde. Ich hatte es mir als Wurm in ihrem Bauch gemütlich gemacht, war ihr Leben lang um sie herum gewesen.

Ich war ihr leibliches Kind... aber dennoch...
 

„Ja... aber ich will nicht, dass sie Josh deshalb hasst. Ich will nicht, dass unsere Familie auseinander bricht, weil sie homophob ist.“ sagte ich streng.

„Oh Gott Tim, das darfst du von ihr nicht denken. Deine Mutter ist doch nicht... so konservativ.“ entgegnete Lilly im rabiaten Tonfall.
 

„Scheinbar aber doch.“ sagte ich entschlossen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Lilly schüttelte den Kopf und wollte gerade zum Sprechen ansetzten, als sie an mir vorbei blickte und kurz erstarrte, dann wurden ihre Wangen leicht rosa, sie lächelte herzlich und sagte dann: „Hey, Ray! Was machst du denn hier?“
 

Ich drehte mich und sah unseren besten Freund hinter mir stehen, in Begleitung seines älteren Bruders, der Ray so ähnlich sah, dass es mich unweigerlich an Marc und Nils erinnerte und mir ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief, den ich so schnell wie möglich verdrängte.
 

„Wir sind gerade hier vorbei gegangen als ich deine rosa Mütze im Fenster gesehen habe“, erklärte Ray grinsend und setzte sich neben Lilly auf die Bank, während Steve sich auf den Stuhl neben meinen setzte.

Lilly sah Ray verwirrt an, schaute dann zu ihrer Jacke, auf der ihr Schal lag, aber keine rosa Mütze.

„Oh“, meinte dann Ray „nicht deine, Lilly, sondern seine...“ Ray nickte zu mir rüber, als der niedliche Kellner zu uns kam um Rays und Steves Bestellung entgegen zu nehmen.

„Mensch“, machte ich und griff die Mütze, um sie Ray hin zu halten „das ist Violett, nicht rosa! Lila, merk es dir mal!“

„Es ist 'ne schwule Farbe“, meinte er entschlossen und wandte sich dann an seinen Bruder: „Nichts für Ungut.“

Steve tat das ab und lächelte mich müde an.
 

„Was macht ihr hier?“ fragte Lilly.

„Einkaufen.“ antwortete Ray „Steve brauchte neue DVDs... und einen neuen DVD-Player... ne?“
 

Steve nickte und deutete auf die blaue Plastiktüte eines bekannten Elektromarkts, die er mit ins Café gebracht hatte.
 

„Und das neue Album von Placebo. Hab ich mir gekauft“, grinste nun Ray und hielt mir die CD-Hülle demonstrativ vor die Nase.

Ich zuckte müde die Schultern und rührte in meinem Kaffee rum „Ich mag Placebo nicht.“
 

Ich spürte, wie Ray und Lilly erst sich, dann mich verwirrt ansahen.

„Ich weiß nicht“, Ich zuckte die Schultern „sind nicht so mein Fall... nerven irgendwie...“

„Es war mal deine Lieblingsband?“ meinte Ray, als er die CD weg packte.

„Ja, war mal, okay und jetzt... lass mich damit in Ruhe“, erwiderte ich gereizt und ließ den Löffel in den Kaffee fallen, sodass das Getränk etwas über den Tisch spritze.
 

Kurz herrschte angespannte Stille zwischen uns und ich sah Ray böse in sein verwirrtes Gesicht, als ich Steves Stimme neben mir wahrnahm, die sich zuerst räusperte, dann sagte sie: „Du siehst aus wie Josh.“
 

Nun wandten sich drei höchst verwirrte Gesichter dem älteren Bruder zu, der nickte: „Ja, ihr habt die gleichen hohen Wangenknochen und die gleiche spitze Nase...“

„Meine Nase ist nicht spitz“

„vom Vater. Der hat die auch. Und wenn Josh sauer ist, sieht er auch so aus.“
 

Niemand wusste was zu sagen, als der Kellner kam und Ray und Steve, beiden jeweils eine Cola hin stellte und die Brüder sich leise bedankten.
 

Wir wussten alle, was war zwischen Josh und Steve, und ich fand es keineswegs verwunderlich, dass Steve diese Dinge bei Josh bemerkt hatte, und dass er sich so gut an sie erinnerte, dass er sie sogar in mir sehen konnte. Nicht anders war es bei mir mit Marc, ich hatte ihn immer gern beobachtet, einfach nur sein Gesicht angesehen, oder seine Hände, mir alles eingeprägt, was es da gab, jede Unebenheit und jede Ebenheit.

Und ich denke, das macht man so, wenn man sich liebt. Man sieht sich eben gerne an, so, wie man sich gern spürt und berührt.
 

Doch war es ein wenig unangenehm, gerade für uns, die wir die Wahrheit wussten, und dass Steve gewissermaßen derjenige war, der für dumm verkauft worden war.
 

Irgendwie fühlte sich das plötzlich unangenehm komisch an, neben ihm zu sitzen.
 

~*~
 

Ray zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blies den Dunst in die kalte Mittagsluft.

Es hatte angefangen, zu regnen und all die Menschen, die vom Einkaufen oder der Arbeit Heim fahren wollten, drängelten sich unter dem Schutz der Haltestelle, nur er und ich standen Abseits und das Nasswerden machte uns nichts aus, als wir auf den Bus warteten.

„Weißt du, Tim“, meinte er dann, und sah mich wie immer nicht an, wenn er kuriose Gedanken fasste und Ideen hatte „ich denke, du solltest das klären...“

„Ähm“, entgegnete ich sehr verwirrt „ich sollte was klären?“

„Die Sache mit Steve und Josh!“ sagte er entschlossen und blickte mir endlich in die Augen.

„Hä? Wieso ich?“

„Weil du den Schlamassel angezettelt hast. Der Typ liegt mir jeden beschissenen Tag in den Ohren damit...“

„Natürlich, Josh hat ihn betrogen, ihm geht’s nicht gut!“ entgegnete ich, doch sein Argument war schlagkräftiger: „Das ist es ja, Josh hat es nicht getan und du weißt es und es ist deine Schuld!“

Seine Worte unterstreichend tippte er mir energisch auf die Brust „deshalb musst du das wieder richtig biegen. Rede mit Josh!“

„Der will nicht mit mir reden“, sagte ich leise „nicht darüber.“

„Dann bring ihn dazu. Schreib ihm 'ne SMS, sag ihm, dass es Stefano beschissen geht. So richtig beschissen, und dass er ihm die Wahrheit sagen soll. Oder sag du ihm die Wahrheit. Mir egal.“
 

Er warf die Zigarette in eine Pfütze, sie zischte und dampfte, sah mich noch mal eindringlich an und stieg dann nach Lilly und seinem Bruder, die bei den anderen unter dem Unterstellhäusschen der Halstestelle gestanden hatten, in den gerade angekommenen Bus ein.

Ray war ein toller Bruder, dachte ich, nicht ohne den Hauch von Ironie, wenn er sich so belästigt fühlte von Steves Suche nach Halt und Trost.

Doch immerhin gab er sich ihm gegenüber als den guten Freund, und hintenrum jammerte er widerum meine Ohren zu.

So war wohl die Welt.
 

~*~
 

Ich vermied es, meiner Mutter an diesem Abend zu begegnen, als ich nach Hause kam, und es schien so, als wolle auch sie meinen Weg nicht kreuzen.

So begrüßte sie mich nicht, als ich nach Hause kam, sie machte nicht einmal auf sich aufmerksam und ich wusste nicht, ob sie überhaupt da war oder nicht.

Nachforschen wollte ich das auch nicht, ich schlich mich leise in mein Zimmer, verschloss die Tür und wünschte mir, dass das alles niemals passiert wäre.
 

Einfach und absolut alles, was in der letzten Zeit passiert war; angefangen bei Marc und Joe, die Sache mit Steve und Josh und das Coming-Out.

All das hätte niemals passieren sollen, das war zu viel Chaos um mich herum, das machte meine kleine Welt, in der es so glücklich war zu leben, so kaputt und brachte alles durcheinander.
 

Seufzend schaltete ich den Computer an, und als er und ICQ hochgefahren waren, öffnete ich das Gesprächsfenster mit Lilly.

„Es ist Ray, oder?“

„Wie bitte?“ erschien in dem kleinen Fenster und ich konnte mir vorstellen, wie Lilly am anderen Ende vor Befangenheit ganz rot wurde.

„Du stehst auf Ray.“ tippte ich und es kam lange keine Antwort, was mir meine Vermutung nur bestätigte.
 

Dann schrieb sie: „Woher weißt du das?“
 

Und dass Lilly das nicht abstritt, auch, wenn es stimmte, sagte mir, dass sie dennoch wollte, dass ich es wusste und dass sie mir von nun all die guten Vorzüge unseres lieben Rays aufzählen würde. Den ganzen Tag lang.

Denn so war das, wenn man verliebt war.

Ich beugte mich vor und sah auf die Tastatur. Kurz überlegte ich, dann tippte ich: „Ich find' das nicht gut...“

in das Gesprächsfenster und drückte die Eingabgetaste.

Mama, ihr Freund, mein Bruder und du

Letztendlich war es meine Mutter, die meine Familie zerbrach.

Ich kam nach einem sehr langen Schultag nach Hause, die Dämmerung war gerade vorüber und die Straßenlaternen leuchteten mir im düsteren, kalten Licht den Weg.

Ich war fertig, vollkommen ausgelaugt und lustlos.

Die Schule schaffte mich, Mathe schaffte mich, es gab zu viele Hausaufgaben und zu viele Klausuren und jegliche mentale und soziale Unterstützung wandte mir gerade ihren Rücken zu.

Jeder in meinem Umfeld schaffte es gerade, aus einem anderen Grund sauer auf mich zu sein und das war irgendwie ziemlich trostlos.
 

„Tim“, hörte ich schon ihre strenge Stimme sagen und ich vermisste die Tage, an denen wir wie zwei Kumpel zusammen gelebt hatten.

„Hm“, entgegnete ich ihr müde, als ich gerade in mein Zimmer treten und sie ignorieren wollte.

„Hör mir mal zu.“ mahnte meine Mutter ob meiner Gleichgültigkeit mit gehobener Stimme.

Genervt ließ ich den Rucksack mitten im Flur fallen und drehte mich zu ihr um.

Als ich jedoch auf sah, erblickte ich nicht, wie erwartet, die mitgenommene, blonde Mutter irgendwo in den vierzigern, sondern eine attraktive Frau mittleren Alters.

Und nicht nur das, neben ihr, oder ein Stück hinter ihr, stand ein Mann.

Ein Mann, den ich nicht kannte, mit angegrauten Locken, einer langen Nase und einem starken Kinn.

„W...“, machte ich, deutlich und offensichtlich überrascht.

„Das ist Holger“, sagte nun Mama, und lächelte etwas unsicher, als sie auf den großen Typen deutete. Der hob kurz die Hand und lächelte auch.

„W...“, entgegnete ich verwirrt, starrte den Mann an, dann meine Mutter und als ich das leicht fröhliche Funkeln in ihren Augen las, wurde mir klar, wer 'Holger' war.

„Was?“ sagte ich, ziemlich schrill, ziemlich entrüstet.

„Wir sind seit gut einem Jahr zusammen“, erklärte sie nun und griff dabei seine Hand.

„Was?“ machte ich noch mal, noch lauter und noch schriller.
 

„Ich dachte, es sei nun an der Zeit, dass ihr euch kennen lernt, Tim!“ lächelte sie, doch aber sehr nachdrücklich, und griff seine Hand etwas fester.

Ich schüttelte den Kopf: „Es sei NUN an der Zeit?“

Sie nickte.

Ich schüttelte noch mehr den Kopf „Ich glaub's nicht.“
 

Ohne weitere Worte drehte ich mich um, ging in mein Zimmer und schlug die Tür zu.

Ich fühlte einen Druck, überall, einen Kloß, der sich im Hals bildete und den man nicht einfach wegschlucken konnte. Ich spürte einen Schmerz, in meiner Brust, wie etwas zerriss.

Ich konnte nicht atmen, nervös lief ich im Zimmer auf und ab, raufte mir die Haare, versuchte, Gedanken zu fassen und mich zu beruhigen.

Dann blieb ich stehen, am Schreibtisch und stützte mich ab, ich versuchte, tief Luft zu holen, doch schien es so, als könne ich diesen Atemzug nicht mehr machen.

Die Wände um mich herum waren es, die auf meinen Brustkorb drückten und mir die Luft nahmen.

Ich musste raus aus dieser Höhle der Intrigen und Lügen und Vortäuschungen.

Meine Jacke und meine Schuhe hatte ich noch an und der Schal war noch um den Hals geschlungen, gar nicht erst ausgezogen als ich gerade nach Hause kam, in den Glauben, in mein vertrautes Heim zurück zu kehren, wo mich die Wärme und Geborgenheit meines Bettes erwartete.

Ich ging.

Zur Tür, als ich in den Flur trat, hörte ich sie streng sagen: „Tim. Mach jetzt keine Szene.“

Ich öffnete die Tür und verließ die Wohnung, schlug die Tür wieder zu und rannte die Treppen runter, ich rannte aus dem Haus, die Straße zur kleinen Stadt hoch und den Weg entlang, und mit jedem Schritt, den ich mich von ihr entfernte, kam die Luft und Freiheit zurück, und mit jedem Atemzug, den ich nahm, wurde die Gewissheit größer, dass das Ende war.
 

Das Ende einer Zeit, die nur mir gehört hatte. Einer schönen Zeit, geschmückt mit Blumen und Glitzer, angeführt von Zac Efron und Brian Molko, auf der Suche nach einem Traum, oder einen Prinzen.

Das war meine unbekümmerte Kindheit gewesen, und jetzt lief ich geradewegs in das Erwachsenenleben rein.

Ein Leben voller Probleme, in den Freundschaften, in der Liebe, der Familie; ein Leben, in dem jede Tätigkeit und jedes Begehen Konsequenzen mit sich bringt.
 

Als es in den Lungen anfing, zu stechen und zu brennen und meine Beine immer schwerer wurden und ich auf der Haut im Gesicht die nasse Kälte spürte, die die Februarluft trug, wurde ich langsamer.

Bis ich nicht mehr rannte, und nicht mehr lief, und nur noch ging, langsam den nassen Pfad entlang, neben den Straßenbahnschienen her.

Bis zur nächsten Haltestelle, dort wartete ich, bis die Straßenbahn kam und ich stieg ein, um ins Nirgendwo zu fahren.
 

Und das erschien besser als alles andere.
 

Als die monotone Frauenstimme jenen Namen der Haltestelle vor sich hin faselte, wo ich im Dezember mit Ray ausgestiegen war, um zu Joe zu kommen, entschied ich mich spontan und schnell dazu, dieses mal wieder hier auszusteigen.

Als ich in der kalten Luft stand, die Bahn hinter mir weiter fuhr und der Wind kalt über das Land fegte, nahm ich mein Handy aus der Hosentasche hervor.

Joe war genau ein Eintrag über Josh, ich drückte die grüne Taste am Telefon und als das Tuten, welches die freie Leitung bestätigte, unterbrochen wurde, flatterte mein Herz erregt auf, als sich Joe meldete: „Ja?“
 

Ich wollte etwas sagen, doch war kurz meine Stimme weg, und nachdem ich mich nicht gemeldet hatte, sagte er: „Was gibt’s denn?“

„Ähm“, machte ich heiser und räusperte mich „Tschuldigung. Ähm, Hi. Joe...“

„Hi...“

„Kann ich vielleicht zu dir kommen?“

„Ähm... was?“

„Oh“, machte ich schüchtern, natürlich wusste er nichts von all dem. Fröstelnd lief ich den Weg entlang, der zu seinem Haus führte.
 

„Kann ich bei dir vorbei kommen?“

„Äh... ja... ja klar, aber wieso?“

„Danke. Ich bin in zehn Minuten da, ja?“ sagte ich in das Telefon, dann drückte ich auf den Auflegknopf, ließ es wieder in meine Hose verschwinden und beschleunigte meine Schritte, damit ich schneller im großen, warmen Haus seiner Familie sein konnte.
 

Sieben Minuten später tauchte der rosa Turm vor meinen Augen auf, der zusammen mit dem Rest der Villa in einem gemütlichen, gelbem Licht lag, unterhalb der kahlen Bäume und des fahlen Mondes.
 

Schon als ich die Stufen zur Eingangstür hoch ging, wurde diese geöffnet und Joe stand sichtlich irritiert dar, die Arme vor der Brust verschränkt, aber er lächelte.

Als ich nah genug bei ihm war, streckte er die Hände aus, griff mich bei den Schultern und zog mich ins Haus, nah zu sich heran, an seinen Körper.

Er war warm.

Und er zitterte etwas.

Aber das war nicht auffällig, denn erst jetzt bemerkte ich das Schütteln, das durch meinen Körper ging, und plötzlich spürte ich die kalte Nässe, die sich durch meine Jacke und meinen Pullover gefressen hatte und meine Haut benetzte.
 

„Was ist los?“ flüsterte Joe besorgt und musterte mein Gesicht.

Ich wollte gerade zum Sprechen ansetzten, als wir ein Knarren auf der Treppe wahrnahmen und als ich hoch aufschaute, erblickte ich die hübscheste Frau, die ich jemals gesehen hatte.

Sie hatte ein schmales Gesicht, doch volle Wangen und Lippen, blasse Haut und ein- und ausdrucksvolle Augen und langes, schwarzes Haar, welches glänzend und seidig auf ihre Schultern fiel.

„Joe? Alles in Ordnung?“ sagte sie und ihre Stimme klang wie Musik, von tausend griechischen Musen gesungen.

„Äh, ja... ähm, alles Bestens. Das ist Tim“, er nickte zu mir rüber.

„Hi, Tim!“ sie lächelte mich an und ich fühlte mich, als würde ich sterben. Aber den glücklichsten Tod der Welt.

„Okay, dann... will ich euch nicht weiter aufhalten“ lächelte sie, dann drehte sie sich um und ging wieder.
 

Und mein Herz fing wieder an, zu schlagen.
 

„Oh mein Gott“, hauchte ich „ich werde Hetero und heirate deine Schwester...“

„Äh...“, machte er, kratzte sich am Kopf, deutete mir dann, ihm die Treppe hoch zu folgen „Wieso willst du Lissy heiraten?“

„Wen? Ach“, erwiderte ich, erinnerte mich an das junge Mädchen, welches mir als so lieb und brav vorgestellt worden war, und die ich schlimmer als jede Straßenprostituierte im Gedächtnis hatte „Doch nicht Lissy.“
 

Oben angekommen gingen wir durch einen Flur, der zu einer weiteren Treppe führte, die wir wohl auch hoch mussten. Doch am Fuß blieb Joe stehen und sah mich sehr verwirrt an.

„Ich hab keine andere Schwester.“ sagte er dann. Und musterte mich weiterhin interessiert.

„Ach so... und“, ich drehte mich um und deutete auf den langen Flur, durch den wir eben gelaufen waren, an dessen Ende vor wenigen Minuten die Schwarzhaarige Schönheit gestanden hatte. Die Frage, die ich stellen wollte, erübrigte sich, als er verstehend auf nickte: „Ach so, das. Nein, das war meine Mutter.“

Dann wandte er sich ab und ging die zweite Treppe hoch.

„Dann heirate ich eben sie!“ sagte ich, als ich ihm folgte.

„Ich glaub, da wird mein Vater was dagegen haben. Aber du kannst immer noch Lissy heiraten.“

„Tz“, entgegnete ich „die will ich nicht heiraten.“

„Okay...“
 

Joes Zimmer war mehr eine Art winzig kleine Wohnung, als ein Zimmer.

Hinter der normalen, weißen Tür, die er mir geöffnet hatte, waren zwei Räume, durch einen Durchgang getrennt.

Während der vordere Raum eher den Eindruck eines jungen Wohnzimmers machte, inklusive der großen Couch, den lustigen Tischen, die vor dem Sofa standen, einigen Regalen und der TV-Bank mit dem Fernsehgerät, das mich ziemlich streng an Marc erinnerte, und dem Schreibtisch im Eck, auf dem ein 22-Zoll-Flachbildschirm triumphierte; war der hintere Raum eher einem achtzehnjährigen zuzumuten.

Sehr chaotisch zumindest, ein durchwühltes Bett, ein Schrank, dessen Türen offen standen und dessen Inhalt sich scheinbar über den ganzen Parkettboden erstreckte, Kabel und Netzteile, die verwirrt herum lagen und ein sehr großes Notebook stand auf dem ebenso großem Bett.

Dadrinnen fanden mit Sicherheit drei bis vier Leute bequem Platz zum Schlafen, und er nutzte es vollkommen allein.

Was für eine Verschwendung.
 

„Und“, sagte er, sah mich herausfordernd an „wie geht’s dir so?“

und er schien ziemlich überfordert mit meiner Anwesenheit.

Doch erschien mir das der einzige Ort für mich zu sein, an dem ich im Moment sein konnte.

Ich seufzte genervt, öffnete den Reisverschluss der nassen Jacke, welche er mir sofort abnahm und über so einen freischwingenden Poäng-Sessel von Ikea warf, der mitten im Raum frei rumschwang.

„Ja“, hauchte ich und war so frei, mich auf der großen, weißen Couch fallen zu lassen und mich noch mal im Raum umzusehen, bis mein Blick an ihm hängen blieb.

Joe war verdammt hübsch, hatte was von seiner Mutter, die hohen Wangenknochen; und das ovale Gesicht wurde geziert von einer geraden, kleinen Nase.

„Ich...“ ich sank den Blick, denn schämte ich mich etwas „ich musste einfach weg und... wusste nicht wohin. Weil... irgendwie hassen mich alle und ich...“

Der Gedanke an all das war erdrückend, demotivierend und irgendwie verdammt traurig.

Ich hielt beim Sprechen inne als ich spürte, wie sich ein Kloß im Hals bildete und mir Tränen in die Augen stiegen.

„Alles Okay?“ fragte er verwirrt und kam zu mir, er wollte sich neben mich setzten, doch als er meinen Arm berührte, war ihm etwas anderes wichtiger: „Dein Pulli ist total nass...“

„was?“ verwirrt, mit geröteten Wangen, sah ich auf „ach so, ja, ja es regnet ein bisschen...“

„Wie lange warst du draußen?“

Ich zuckte die Schultern und kalte Nässe wurde mir erneut bewusst. Ich erschauerte, sie war sogar durch meine Stoffschuhe gedrungen und ertränkte meine Socken.
 

„Was... was ist denn überhaupt los?“ fragte er in einem noch besorgterem Tonfall, als ich ihn je von meiner Mutter oder Josh gehört hatte, als er in das andere

Zimmer verschwand und irgendetwas kramte.
 

„Ach, irgendwie... sie haben Recht. Sie haben alle Recht“, meinte ich, als ich aufstand und zum Durchgang ging, um zu sehen, was Joe machte.
 

„Wer hat womit Recht?“ fragte er, richtete sich auf und kam zielstrebig auf mich zu, um mir sehr viel schwarzen Stoff in die Hand zu drücken und mich dann zum angrenzenden Badezimmer zu schieben.

„Was...“ sagte ich, doch er unterbrach „trockne dich ab, zieh dir den trockenen Pullover an.“

„Aber...“

„Bevor du krank wirst.“
 

Seine Fürsorge war so erwärmend in meinem Herz, dass ich dem nicht widersprechen konnte. Ich fühlte mich im Moment so sehr verlassen, da tat mir dieses bisschen Zuneigung gut.

Ich ging in sein Bad, zog meinen nassen Pullover aus und hing ihn über den Handtuchhalter, dann trocknete ich mich in dem großen, flauschigem Handtuch ab und zog mir dann den Pullover von Joe über.

Er war warm, sehr kuschelig und roch wunderbar nach ihm und seinen Zimtkeksen.

Und ich liebte diese Zimtkekse.
 

Als ich das Bad wieder verließ, hatte Joe ein wenig aufgeräumt, weniger Kleidung lag auf dem Boden, und er deutete mir, mich neben ihn auf die Couch zu setzen.

Der Fernseher war nun an, es lief irgendeine Viertel-Nach-Acht-Sendung, die ich zuvor noch nie gesehen hatte.
 

Erschöpft ließ ich mich neben ihn fallen und lehnte mich zurück, seufzte schwer auf und sah ihn dann an. Und musste einfach Lächeln.

Er liebte mich. Immer noch.
 

„Ich meinte, Ray und Lilly und Josh...“ sagte ich dann, wandte den Blick aber ab und fummelte mir an den Hände rum.

„Ray meint es sei meine Schuld, mit...“, misstrauisch sah ich zu Joe auf.

Er beobachtete mich genau, ohne mich aber anzusehen.

Dann nickte er „ja, ich weiß das mit Josh und Steve und... Herrn Branner...“ dieser Name kam ihn schwer über die Lippe, es schien ihm auf eine seltsame Art weh zu tun, ihn auszusprechen.

„Siehst du das auch so?“ fragte ich.
 

Er antwortete erst nicht. Er überlegte. Dann drehte er sich zu mir um, sah in mein Gesicht, dann auf meine Hände, schluckte hart und sagte dann: „Das kommt auf Standpunkt an.“

„Du findest auch, es ist meine Schuld.“

„Im weitesten Sinne...“

„Wie?“ fragte ich verwirrt.

„Na“, meinte er nun und setzte sein Knie auf die Couch, damit er sich mir noch besser zuwenden konnte „wenn du und... der Lehrer...“ es fiel ihm wirklich schwer, davon zu reden „wenn das nicht passiert wäre, hätte Josh wohl nicht dieses Bedürfnis gehabt, dich zu beschützen, diese Affäre erfunden, und Steve hätte nicht Schluss gemacht.“
 

Ich seufzte hart und war ein wenig enttäuscht, doch konnte ich wohl kaum verlangen, dass alle auf meiner Seite waren.

„Aber“, sagte er dann und ein bisschen Hoffnung kehrte zu mir zurück „das war Joshs Entscheidung. Ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt, wenn sowas mit Lissy gewesen wäre... mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar, aber letztendlich war es Joshs Entscheidung. Und er hätte Steve die Wahrheit sagen können, was er auch nicht getan hat, oder?“

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Da siehst du es.“ sagte er, lächelnd, triumphierend, dann drehte er sich wieder um und sah zum Fernseher.
 

„Ray meint, ich soll das wieder richtig biegen.“

„Hm.“ machte Joe „dann tu es doch.“

„Ja...“, entgegnete ich müde „schon, aber...“

„aber was?“ er drehte sich wieder zu mir um.

Ich zuckte die Schultern „man, ich weiß doch nicht, wie ich da ran gehen soll. Josh reagiert nicht auf mich, und wenn ich ihn kurz ran bekomme, blockt er mich sehr schnell ab und über Marc und Steve und sich und diese Affäre lässt er nicht mit sich reden. Das ist jetzt... drei Wochen her?“ fragte ich, und Joe nicke nur leise.

„Man... ich fühl mich, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen. Niemand redet mehr mit mir, nur so das Wichtigste, nur in der Schule. Josh nicht, Ray nicht, Lilly nicht. Meine Mutter...“ sagte ich, und die Erinnerung, die ich frisch begraben hatte, guckte nun plötzlich wieder aus dem Erdloch hervor und klammerte sich fest um meine Brust.

Er merkte, dass es auf mir lastete, dass es plötzlich schwerer wurde, zu reden, dass ich wieder hart Schlucken musste.

„Was ist?“ fragte er leise, sah mich bedächtig an und wollte auf keinen Fall zu sehr drängen, eigentlich doch nur irgendwie behilflich sein.
 

„Sie... hat gelogen“, meinte ich dann und sah zu ihm auf. Ich merkte nicht mal, wie mein Körper begann, den inneren Schiffbruch auszudrücken, wie meine Augen immer feuchter wurden.

Erst, als sie brannten und Tränen auf meine Hände tropften, wandte ich schnell den Blick ab, wischte mir über die Wangen und fand, dass ich eine ziemlich memmige Heulsuse war.

„Oh man... bin ich ein Weichei...“, krächze ich lachend.

„Oh Tim.“ machte er sanft, rückte etwas näher an mich heran und legte seinen Arm um mich, damit er meinen Körper zu sich ziehen konnte.

Diese schreckliche Wärme und Freundschaft und Liebe und Zuneigung durchfuhr mich angenehm, mein Herz klopfte, meine Hände zitterten, meine Lippen lächelten und meine gestauten Gefühle fanden dies einen perfekten Zeitpunkt, sich vollkommen zu entfalten.
 

Ich versuchte schnell, alles runter zu schlucken, doch war da mehr, als man mit einem Mal fassen konnte.
 

„Natürlich sollte ich auch hinter Lilly stehen, das hat sie verdient, sie ist meine beste Freundin, sie braucht meine Unterstützung, egal, was ich von ihrer Idee halte, ne?“

Joe nickte, obgleich er nicht wirklich wusste, wovon ich redete.

Und ich redete schnell, um die Emotionen zu überschatten „und wahrscheinlich hat auch Ray Recht, er hat selbst irgendwas zu tun, er kann sich keine Nervensäge leisten, ne? Und ich bin allein ja schon mehr als genug Nerven am Sägen. Ich rede einfach mit Josh, ich... nein, ich geh zu Steve, der wird mir zuhören. Das mach ich. Und dann ist da ja auch immer noch Joe, er und ich waren zusammen neulich Nacht, wir mögen uns, wir mögen uns sehr und Ray sagt, da gibt es kein Problem, was eine Sache zwischen ihm und mir nicht erlauben würde...“ ich atmete tief ein, als ich dann aufsah, in sein gerötetes Gesicht, seine lächelnden Lippen ansah, die Reaktion abwartete.
 

Er drehte sein Gesicht weg um mich nicht länger anzusehen, hielt mich aber immer noch fest in seiner Umarmung.

„Joe?“

„hm...“

„Meinst du... meinst du, ich kann heute hier bleiben? Bei dir?“

„hm...“ er sank den Kopf und das schwarze Haar, das schon einen leichten, hellen

Ansatz zeigte, fiel ihm ins Gesicht.

„Weißt du, meine Mutter“, begann ich, überließ dem Gefühl meine Brust, und drehte mich etwas zu ihm um, um seine Hand zu nehmen.

„Sie hat da so einen Typen, wohl. Schon über ein Jahr, hat mir nie was gesagt und jetzt aufeinmal meint sie“, ich hielt kurz inne „jetzt meint sie, es mir sagen zu müssen. Ausgerechnet jetzt, wo das mit Josh ist. Sie ist sowieso total komisch geworden, weißt du? Es gab mal 'n paar Fotos von Josh und mir und Papa zu Hause. Hat sie alle weg gemacht. Sie will keinen schwulen Sohn.“
 

Ich holte tief Luft, beruhigte meinen zitternden Körper, meine verwirrten Gedanken, hielt mich an Joe fest und fühlte mich zu Hause.

„Weiß deine Mutter, dass du...“ fragte ich und Joe nickte.

„Und sie...“ fragte ich weiter und Joe schüttelte den Kopf.

„Man, du hast es gut“, erklärte ich seufzend und er lachte fröhlich auf.

„Also“, fragte ich noch mal „kann ich bleiben?“

Und Joe nickte: „Bleib solang du willst.“

Der Engel

„Na ja“, er zuckte die Schultern „deine Eltern sind seit... elf Jahren getrennt. Glaubst du denn, sie ist danach frigide geworden?“

„Ach sag so was nicht!“ entgegnete ich und warf mein Kissen nach Joe, welches ich mir zum Festhalten mit auf seinen Sessel genommen hatte.

Nachdem ich jetzt auch noch trockene Socken und irgendeine Sporthose von ihm anziehen musste, als er bemerkt hatte, wie nass ich in Wahrheit doch war, versuchte er nun, meine kleine Welt für mich richtig zu biegen.
 

Er fing das Kissen auf und lachte, und sein Lachen brachte mich zum Lachen, denn es war das Schönste, dass ich je gehört hatte.

„Nein ehrlich“, meinte er dann, noch immer amüsiert, und legte das Kissen neben sich auf die Couch „letztendlich ist deine Mutter auch nur eine Frau.“
 

Ich nickte abwesend, dachte kurz darüber nach, verstand es, irgendwo, aber dennoch „wieso hat sie mir diese Affäre ein Jahr verschwiegen? Was will sie denn damit bezwecken...“

„Sie wollte dich nicht verletzten oder so“, antwortete Joe „du bist...“ er zog die Schultern an und sah mich kurz überlegend an, dann seufzte er aus und fuhr fort „du bist doch schon noch ziemlich kindlich... sehr naiv... weltfremd...“

„was?“

„natürlich weiß sie das, und natürlich wusste sie, dass du... deine Umgebung wie sie ist so für dich brauchst. Magst keine Veränderungen...“
 

Er sah mich an. Und ich sah ihn an. Nicht mehr lachend, oder lächelnd, sondern entrüstet, über das, was er sagte, die Worte, die er nutzte, um mich zu beschreiben und meine Mutter zu recht fertigen.
 

„Du brauchst eben jemanden, der deine Hand hält“, meinte er dann, nahm das Kissen wieder und legte es auf seinen Schoß „Josh, deine Mutter, Ray, Lilly, dein... Lehrer...“ etwas verstört sah er auf, sein Blick begegnete meinem, er wandte sich ab und warf das Kissen dann wieder zurück zu mir.
 

„Was redest du da?“ fragte ich verwirrt, und irgendwo in mir drinnen war es mir klar, dass er Recht hatte, mit seiner kurzen, aber konkreten Psychenanalyse und dass ich Angst haben sollte darüber, dass er hier saß, mir gegenüber auf der weißen Couch und mir all das über mich selbst erzählte.
 

„Ich kann das einfach... ich bin... ein Beobachter!“ verteidigte er sich und zuckte rechtfertigend die Schultern.
 

Kurz schwiegen wir uns an.

Ich beobachtete ihn, seine vorsichtigen Bewegungen, sein strubbeliges Haar, seine geröteten Wangen und die plötzliche Unsicherheit mir gegenüber.
 

„Du... Joe...“, sagte ich dann leise und er sah mich sofort gespannt an: „Ja?“

„Die Sache mit dem Lehrer und mir“, begann ich und sah, wie er sich anspannte, und das verunsicherte mich natürlich „also, du hast gesagt, dass du... irgendwie... na ja...“
 

Ich beendete den Satz nicht, sah ihn abwartend an und Joe zuckte die Schultern.
 

Ich holte tief Luft, sammelte meinen gesamten Mut, den ich hatte, und das war weiß Gott nicht sehr viel, sank den Blick und packte das Kissen fest „Ich will mit dir zusammen sein! Ich bin... ich bin sehr in dich verliebt, Johann Sebastian Engel.“

Das Blut schoss mir in die Wangen, das Adrenalin durch die Venen und kurz fühlte es sich so an, als würde mein Herz stehen bleiben und keine Luft mehr in die Lungen kommen.
 

Beschämt hob ich den Blick.

Er fummelte sich unsicher an den Händen rum, zitterte eine wenig vor Aufregung, sah mich bewusst nicht an, ließ seinen Blick unten. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.
 

Die Spannung zwischen uns wurde immer unangenehmer, mein Herzrasen immer schneller und je mehr stille Zeit verstrich, desto mehr Angst bekam ich, dass das alles nur in eine riesengroße Katastrophe führte.
 

Dann räusperte er sich. Gespannt hob ich den Blick wieder um ihn anzusehen, doch war sein Gesicht noch immer gesenkt.

„Ich bin von Anfang an in dich verliebt gewesen. Am ersten Schultag nach den Sommerferien... du kamst zu spät. Zehn nach Acht oder so, du, Ray, Flo, Dennis und Lennart kamt in die Aula und niemand hat sich gestört gefühlt. Ein Paar haben die Köpfe zu euch umgedreht, ich auch. Ich hab... ich weiß auch nicht, ich hab mich einfach umgedreht und dann hab ich dich gesehen und dann wusste ich, dass ich... in dich verliebt war.“ erklärte er und ich fragte mich, wer Lennart und Dennis waren.

„Ich hab dich... beobachtet und... na ja, jeder der länger als fünf Minuten mit dir zusammen ist, weiß sofort, dass du vom anderen Ufer bist, das ist keine Frage“, lächelte er und ich lächelte auch. Damit hatte er Recht, und das machte mir überhaupt nichts aus.

„Na ja und dann... dann tauchte dieser schmierige Lackaffe auf und du... du rennst mit einem Tunnelblick durch die Welt und am Ende steht dieser Pädophile Sack.“ er klang etwas bitter, als er Lillys Worte aufgriff, um mir mein Verhalten zu erklären.
 

„Aber...“ machte ich, als mir klar wurde, wie sehr ich Joe verletzt haben musste in den letzten Monaten. Als ich immer zu nur von dem Mathelehrer gesprochen hatte, er immer und überall mein heißester Typ war und als Joe dann auch noch rausgefunden hatte, dass er und ich tatsächlich Etwas miteinander hatten. Das musste schlimmer gewesen sein, als der Freund oder die Homophobie meiner Mutter.
 

„Aber das ist vorbei“, meinte ich dann leise, dennoch erkennend, wie sorglos ich mit Joe umgegangen war. Dass er in mich verknallt war hatte er wohl einige Male gezeigt. Als wir im Zug nach Aachen saßen und er mich küssen wollte. Daran hatte ich seitdem nie wieder gedacht, weil ich irgendwo Angst hatte, dass der Mathelehrer das gesehen haben konnte.

Und dass er mich so komisch angesehen hatte, als wir im Jungenkreis von unseren Liebschaften geredet hatten.

Und der Kuss auf die Stirn beim Sommerfest, sowas macht man doch nicht einfach so aus Freude heraus, schon da wollte er es mir mitteilen.
 

Und natürlich Silvester, als er mir so unsicher gegenüber gesessen hatte und als er sich um mich gekümmert hatte, als es mir so schlecht ging und dass er plötzlich so abweisend geworden war. Er war enttäuscht, als ich ihm sein Herz gebrochen hatte; als ich angefangen hatte, vom Mathelehrer zu reden und wie schlimm es war, nicht bei ihm zu sein, an Silvester.
 

Da war Joe monatelang in mich verliebt gewesen, und war endlich mit mir allein, an seinem achtzehnten Geburtstag, nur, damit ich ihm die Ohren vollheulte, wie schwer die Beziehung zu einem elf Jahre älteren Mathelehrer war.
 

„Darum geht es doch gar nicht, Tim“, sagte er und seine Stimme zitterte „es ist, weil... wegen... du... du bist mit dem Mathelehrer ins Bett gegangen. Das ist... du warst... du hast jeden Tag von ihm geredet und geschwärmt und ach so toll...“

Er hielt kurz inne, hob die Hand an sein Gesicht, atmete tief durch, und hielt den Blick immer noch gesenkt, die ganze Zeit schon.
 

„Joe“, sagte meine Stimme dann und klang erstaunlich fest, bei unseren aufgewühltem Gemüt „erzähl mir von deinem ersten Freund.“
 

Endlich sah er auf, deutlich überrascht, mit etwas geröteten Augen und Wangen. Er strich sich fahrig über das linke Auge und zog die Schultern an „Wieso... sollte ich das tun?“ er lächelte verwirrt, strich sich drei Strähnen aus dem Gesicht und sah mich dann an.

„hm, nur so...“ ich zuckte die Schultern und er lächelte auch, und das ließ mein Herz kurz erleichtert aufhüpfen.
 

„Ach Tim“, schmunzelte er „man erzählt denen, in die man verliebt ist, nicht von seinen vorherigen Partnern...“

„Wieso nicht?“ sagte ich und beugte mich grinsend vor „ich möchte das wissen. Was für ein Typ er so war...“
 

Er lachte kratzig auf, griff nach einem Kissen und drückte es sich gegen die Brust „du willst was über Aykut wissen...“

„Aykut“, entgegnete ich knapp, konfus und er nickte: „Aykut ist absolut nicht wie du, kein bisschen; du wirst kein Muster bei meiner Partnerwahl finden.“
 

Ich wussten kurz nicht, wie ich seine Worte zu deuten hatte, doch hatte ich auch nicht die Zeit und die Lust, jetzt darüber nachzudenken.
 

„Er war... in der Zwölften, 'n ziemlich schmächtiger Kerl... na ja, bist du ja auch“, stellte er nebenbei fest und beäugte mich nochmal „wir waren sehr diskret, niemand sollte wissen, was zwischen uns wahr, oder dass er oder ich schwul waren; wir waren einfach nicht die Typen, die schwul waren. Er, na ja, Muslim, Türke, dieser zerstörerische Anführertyp, weißt du?“

Ich schüttelte de Kopf, hatte keine Ahnung, was er meinte, doch er zuckte nur die Schultern „Na ja, egal, er verstellte sich. Vor seinen Freunden, in seiner Familie, bei mir... zuerst sollte nicht mal jemand wissen, dass wir überhaupt Freunde waren, hinterher ging das; aber nicht etwa, dass wir zusammen waren. Du weißt schon, Image wahren und so, aber ich nahm ihm das nicht übel, ich hab das gar nicht so gesehen wie jetzt, mir ging es genauso. Irgendwann waren wir leider zu fahrlässig, irgendwer hat uns gesehen, es an die große Glocke gehängt... war zum Glück kurz vor meinem Abschluss, deshalb bin ich auch von der Schule weg und hier zum Gymnasium gewechselt...“
 

Ich nickte verstehend und fragte mich, was das für ein Typ war, der Joe verleugnete „hast du ihn geliebt?“
 

Sein Blick war komisch, als er mich an sah, etwas verwirrt und bestürzt, er nickte leicht, dann sagte er: „Das reicht jetzt, davon. Wir sollten schlafen.“
 

Joe stand auf, streckte sich, mied es, mich noch mal anzusehen und ging dann zum Durchgang zum anderen Zimmer. Da blieb er kurz stehen, sah mich aber doch nicht an, und sagte: „Gute Nacht, Tim.“ und ich spürte, dass es nicht das war, was er eigentlich hatte sagen wollen.
 

Dann ging er rüber, schaltete nicht mal das Licht in diesem Raum an; sein Bett knarrte kurz und leise, als er sich rein legte und die Decke rauschte kurz, als er sich mit ihr zudeckte.
 

Scheinbar hatte ich ihn verwirrt, seine Gefühle durcheinander gebracht und rastlos aufgewühlt. Dabei fand ich das nicht schlimm. Es machte mir nichts aus, das von Joe zu wissen, über seinen ersten Freund, wer er war.

Ich fühlte mich ihm gegenüber nicht anders, er war mir jetzt nicht weniger attraktiv oder liebenswert. Für mich machte ihn das nur noch menschlicher.
 

~*~
 

Wir saßen in unserem Café, der süße Kellner stand hinter dem Thresen und lächelte mich verliebt an und ich aß eine Tafel Milka Traube Nuss. Es war schön warm, ein Feuer prasselte in dem Kamin, mein Kopf war gehüllt in der violetten Strickmütze und ich erfreute mich am unermesslichen Frieden, als sich jemand neben mich setzte.

Verwirrt drehte ich mich zu ihm als, erkannte dann aber sofort, dass es Aykut war. Er war schmächtig, hatte schwarze Haare, einen Drei-Tage-Bart und dunkle Augen.

Er lächelte „Hey.“

„Hey“, antwortete ich und nahm seine Hand entgegen, die er mir hinhielt.

„Du solltest zu ihm gehen. Er will dich bei sich haben.“ sagte er dann und leiherte ein komisches Echo mit sich.

„Wie... jetzt?“ fragte ich verwirrt und Aykut nickte.

Dann stand er auf und ging. Der süße Kellner nickte mir aufmunternt zu, dann folgte er Aykut, das Feuer erlisch und das Café um mich herrum verblasste langsam.

Dann wachte ich auf.
 

Der Mond strahlte durch das große Fenster direkt auf mein Gesicht. Müde rieb ich mir dir Augen, dann wurde mir langsam die erdrückende Kälte um mich herum bewusst.

Ich drehte mich auf die Seite und sah zum Durchgang in das andere Zimmer.

Es war schwarz, ich konnte nichts erkennen, und es war leise, ich konnte nichts hören außer die belastende Stille.

Dann erinnerte ich mich an die Worte vom Traum-Aykut und ehe ich darüber nachdenken konnte, schlug ich die Decke zurück und stand von der Couch auf, um ins dunkle Nebenzimmer zu tapsen.

Er atmete leise und gleichmäßig, als ich mich vorsichtig zu ihm legte, immer mit den Worten „Er will dich bei sich haben“ im Hinterkopf.
 

„Tim“, brummte er dann müde.

„Sch“, entgegnete ich, strich über seine Stirn, Haare aus seinem Gesicht und beugte mich vor, um seinen Nacken zu küssen.

„Tim, lass das!“ murmelte er, und zeigte dabei deutlich, wie sehr er es genoss.

Ich ließ es nicht.

Ich fuhr mit der Hand über seine Schulter zu seiner Brust, legte sie flach drauf und drückte seinen Körper gegen meinen.

Es wurde ganz warm um uns und ich wusste nicht, wessen Herz schneller schlug, seines oder meines.

Vorsichtig umfasste ich sein Kinn, drehte sein Gesicht zu mir.

Es war dunkel, ich konnte ihn nicht sehen, nur unklare Schatten und Konturen, doch beugte ich mich vor und berührte ihn vorsichtig mit den Lippen.

Ein warmes Gefühl ging von da aus und durchfuhr unsere ganzen Körper.

„Tim“, murmelte er in unseren Kuss hinein, doch er drückte mich nicht weg, er erwiderte, er genoss es.

Als wir uns lösten, hörte ich seinen schweren Atem. Jetzt war mit Sicherheit wach.

„Bitte“, flüsterte Joe leise „tu das nicht.“
 

Ich spürte seinen Blick auf mir, er musterte mich genau, obwohl er mich nicht sehen konnte.

Ich sagte nichts.

Ich wollte mich noch mal vorbeugen, ich wollte ihn noch mal küssen, ich wollte ihm zeigen, wie sehr es kein Problem gab, welches es zu lösen galt.

Doch er hielt mich zurück.

Er griff nach mir, er legte seine Hand auf mein Kinn, auf meinen Mund und drückte mich nach oben.

„Du weißt, dass ich dir nicht widerstehen kann“, sagte er dann, ließ mich los und drehte sich wieder auf die Seite, mir den Rücken zu.

„Also bitte“, flüsterte er „tu das nicht.“

EXTRA: -Kapitel

Hallo liebe Leser.

Ich hab mach jetzt dazu entschieden, alles, was ich hierzu geschrieben, aber nie veröffentlicht habe, in einem kleinen Extra-Kapitel zusammen zu fassen.

Hier im Kapitel 27! gehts also nicht weiter mit der Story, sondern es ist ein kleines Extra aller 'rausgeschriebenen' Szenen.

Dieses Extra wird jetzt veröffentlicht, da mein Laptop kaputt ist und sich das nächste Update etwas verzögert. Und jeder Autor will seine Leser bei Laune halten. Ich hoffe, es geht bald weiter.

~*~
 

Ray nickte und sah dabei besoffen ernst aus, und Patrick lachte, nickte auch und legte seinen Arm von der anderen Seite um unseren Mathelehrer: „Ja, hamsie gewusst? Heiß wie Zacfron!“

„Was?“ er lachte beklommen und war etwas errötet, aber das kam neben meinem Gesicht wohl kaum zur Geltung .

Ich schluckte hart, mir war zum Heulen und ich war kurz davor, Pat und Ray umzubringen, als ich Joes warme Hand auf meiner Schulter spürte, er drehte mich zu sich um, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Da bist du ja, hab dich gesucht. Hallo, Herr Branner!“

Er lächelte vergnügt und winkte ihm zu.

Joe roch nach Bier.

„Wir wollen in den Pub gehen“, Joe deutete in die Runde „Tim, die Mädels und ich, Ray hier hat nämlich Geburtstag!“
 

Herr Branner nickte und lächelte Ray an „na dann herzlichen Glückwunsch.“

„Danke“ Rays Gesicht wurde rot und ich verdrehte genervt die Augen.

„Ich wollte euch eigentlich auch nur ein schönes Wochenede wünschen!“

Herr Branner lächelte, winkte, klopfte Ray auf die Schulter und ging dann zurück zu den anderen Lehrern.
 

In dem Moment hasste ich die Anderen einfach nur, alle eingeschlossen, diese blöden, besoffenen Säcke.

„Hier“, Joe hielt mir eine angebrochene Flasche Bacardi Breezer hin „trink erst mal!“

Ich funkelte ihn böse an und schlug seine blöde Hand weg.

„Könnt ihr vergessen, dass ich mit euch komme!“ sagte ich sauer und stapfte zum Tor.

„Warte“, rief mir Ray-Ray nach und ich schnaubte laut, blieb aber nicht stehen; auch nicht, als er mich eingeholt hatte und seine Arme um mich schlang „Tim. Tut mir Leid“, nuschelte er.

„Sollte es dir auch!“ Ich sah ihn nicht an, sondern fixierte noch das Tor, Herr Branner, der sich mit Frau Wenner unterhielt und dann plötzlich fröhlich auflachte.

In meiner Brust verzog es sich komisch, ich kniff die Augen zusammen und sah Frau Wenner böse an.
 

„'S kam einfach über mich drüber, er stand so vor mich, sah unfassbar so aus wie Zafron und der ganze Allohol in mir, du weiß doch, wie das ist.“

„Deshalb solltet ihr aufhören damit. Was denkt er denn jetzt von mir?“ Ich sah Ray kurz an, dann drehte ich mich wieder zu Herrn Branner um und seufzte traurig und hoffnungslos.

„Tim“ er legte seine Arme tröstend auf meine Schultern und sah mich ernst und liebevoll an „er ist unser Lehrer und hundert Jahre älter als wir. Sei doch nicht so naiv und glaub ernsthaft daran, dass das was werden kann mit ihm.“
 

Sein Atem roch nach Rum, aber seine Worte trugen die Wahrheit und das tat mir im Herzen weh.

Ich schluckte, meine Unterlippe bebte und ich spürte einen riesengroßen Schauer Traurigkeit über mich kommen.

„Nicht weinen, Tim!“ sagte Ray-Ray, als ich den dicken Kloß in meinem Hals spürte und wie sich langsam eine einzelne Träne über meine Wange bahnte, er wischte sie mir (zwar ungeschickt, aber lieb gemeint) weg, zog mich dann an sich ran und drückte seine Arme fest um meinen kleineren Körper und seine Wärme und Freundschaft durchfuhr mich angenehm wie ein Strom.
 

~*~
 

„Ist das denn nicht gut?“ sagte Joe zu mir, sah mich fragend an, als ich ihm in der Pausenhalle den Vorwurf machte, rumzuschwulen.

„Wasn daran gut?“, entgegnete ich leicht erschüttert. Joe zog die Schultern hoch „Na, er weiß jetzt, dass du definitiv schwul bist!“

Joe nickte zum Lehrerzimmer.

Ich wollte etwas erwidern, mir fiel nichts ein.

Ich entspannte meine Schultern, sah nachdenklich zur Tür zum Lehrerzimmer und sagte dann: „Ja aber er denkt, dass du und ich...“

Ich deutete auf ihn, dann auf mich.

Joe verdrehte jedoch nur die Augen „wir waren doch betrunken, da macht man sowas.“

„Ich war nicht betrunken!“

Joe seufzte genervt, verdrehte die Augen, wandte sich ab und ging zurück zu unserem Tisch neben der Tür zum Flur.
 

~*~
 

Ray-Ray verabschiedete sich von unseren Freunden und brachte mich dann nach Hause.

Eigentlich brachte ich ihn zu mir nach Hause, wir aßen drei Tafeln Milka Traube-Nuss und schauten Fernsehen, wobei ich den ganzen Abend elf mal versucht hatte, ihn zu überreden, High School Musical mit mir zu gucken.

Aber mit zunehmender Nüchternheit wurde es sowieso immer unwahrscheinlicher, dass er plötzlich „Ja“ sagte.
 

„hm“, seufzte er dann glücklich und schmiegte sich zufrieden an sein Kissen, als wir später im Bett lagen und schlafen wollten.

„Tim“, sagte er und sah mich zufrieden an „das war ein toller Abend.“

„Er hätte toller sein können wenn wir High School Musical geguckt hätten...“ lächelte ich und rutschte näher an Ray-Ray ran.

Der lachte fröhlich auf, schloss die Augen und bevor er einschlief, sagte er noch: „Bloß keine Schwulelein.“
 

~*~
 

„Respekt man!“ sagte er und nickte ehrfürchtig „ich meine, dass Tim letztes Jahr Frau Lavie angekotzt hat war ja schon sehr krass und meiner Meinung nach hast immer noch du alleine den Titel dafür verdient, Tim.“

Steve wuschelte mir anerkennend durch mein Haar – über die Kapuze!

„Aber Ray“, er nickte zum schwarzen Brett rüber „dem neuen Lehrer zu gestehen, dass du ihn heiß findest war einfach zu köstlich. Schade, dass ich da nicht bei war, war sicher lustig.“
 

~*~
 

Mein Gesicht färbte sich genauso rot wie das von Ray und ich ließ mich zurück auf den Stuhl fallen.

„Na ja, aufjedenfall“, Steve und Josh standen von ihren Stühlen auf „wir ergeben uns mit Freude.“ Steve zwinkerte, dann gingen sie zurück zu ihren Freunden, die uns meistens amüsiert anlachten.

„Wir haben's geschafft“, sagte Ray und highfivte Flo und Lilly (es schien ihm egal zu sein, dass die ganze Oberstufe ihn für schwul hielt, wieso?)

Da Pat sich an nichts mehr erinnerte, wurde ihm keine Ehre zu Teil und außer Ray und mir durfte noch keiner über diese Herr Branner Sache reden.
 

~*~
 

„Komisch, dass du immer Sechser bekommst“, hatte Flo in Mathe nach der zweiten Klausur gesagt und ich ihn daraufhin verwirrt angestarrt: „Wieso?“

„Na, weil du Herr Branners Lieblingsschüler bist!“

Antwortete er, als sei es offensichtlich und total selbstverständlich.

„Was?“

„Na“, machte Flo „er begrüßt dich jede Stunde persönlich, kommt immer zu dir hin und erklärt die alles noch mal extra und sagt jeden Morgen in der Pausenhalle Morgn zu dir.“
 

~*~
 

Ich ahnte ein schreckliches Gespräch, Vorwürfe, eine Standpauke, Hassparolen.

Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und erwartete, dass er mir gleich klar machte, wie sehr er mich hasste.

„Tim, willst du mit zu mir kommen nachher?“

„Was?“

„Du solltest wirklich nicht allein sein. Siehst außerdem so als, als hättest du ein bisschen zu viel getruknen.“

„Ich fühl mich auch so an“, entgegnete ich und lachte leise.

Dabei war nichts zum Lachen.

„Willst du mir erzählen, was los ist?“ sein riesiger Finger strich mir sehr sanft über die Wange.

Josh roch nach Natur, nach Lavendel oder Flieder.

Er erinnerte mich an einen Nadelbaum im Winter, wenn die Luft klar und kalt ist und der Geruch einer Fichte oder Tanne einen an Weihnachten erinnert.

Ich wünschte, ich hätte mich an Weihnachten besser mit Josh unterhalten.

Ich schluckte den Geruch runter, schmiegte mich jetzt an seine Brust, sie war warm und trainiert, und nickte „er hat sich nicht bei mir gemeldet. Er hat mich nicht angerufen, nichts geschrieben, er... er ist weg, hat 'Alles klar' gesagt und das wars.“

Ich schniefte noch mal.

„Tim“, sagte er vorsichtig „dass mit... Marc...“

„Ja“, ich unterbrach ihn, nickte und schwieg dann. Er auch. Er streichelte vorsichtig über meinen Rücken und ich genoss seinen ruhigen Herzschlag.

Der erinnerte mich an Marc.

Und das machte mich traurig.

Aber ich wollte nicht traurig sein.

Ich wollte wütend sein. Also kniff ich meine Augen zusammen, ballte die Fäuste und richtete mich dann auf: „Weißt du was, Joshua?“

„Was denn?“

„Marc ist ein Riesenarschloch.“

„Ist er das?“

„Ja“, ich nickte entschlossen „bitte hass ihn mit mir.“

„Was?“ er lachte verwirrt auf und tätschelte meine Wange.

„Hass ihn einfach kurz mit mir. Dann geht es uns besser. Dann fahren wir nach Hause. Zu dir.“

Er lächelte noch immer, dann nickte er und sagte: „Was für ein Arschloch.“

Ich lächelte auch, bedankte mich, dann stand ich auf, schwankte komisch, Josh hielt mich und wir gingen.
 

~*~
 

Joe hieß eigentlich Johann Sebastian Engel und weil das ein total bescheuerter Name war, noch blöder als Joshua, ließ er sich nur Joe rufen.
 

~*~
 

„Ihr nervt so dermaßen mit eurem scheiß chaotischem Liebesleben, du sitzt hier und besäufst um mich voll zu heulen, wie schwer alles ist?“
 

„Steve heult rum wegen Josh, du wegen Marc und deiner Hurerei, ich kann das alles nicht mehr hören, weißt du das?“
 

„Ich bin doch nicht eure Telefonseelsorge.“
 

„ich brauch hilfe! Du bist doch Lillys beste Freundin...“
 

„Steve und Josh leiden sich was weiß ich was aus dem Leib und du jammerst hier rum, weil du nicht weißst, was du trinken sollst!!!“
 

~*~
 

„Soll das heißen...“

„Es ging doch gar nicht um Herr Branner oder die angebliche Affäre zwischen Josh und ihm.“

„Aber...“

Der Ansatz des Lösens

Ich kann die Wärme, die ich am Morgen empfand, nicht in Worte fassen.

Es war diese metaphorische Wärme, die einen erblühen lässt. Wenn man aufwacht, und alles in der Welt ist gut. Man fühlt sich befreit, man spürt, dass die Last des ganzen Lebens zumindest für diesen Moment nicht auf den Schultern trohnt; es ist eine Geborgenheit, die einen umgibt, die einem für einen Moment die ganze Schönheit des Seins eröffnet.
 

Ich spürte Joes Burst, die sich gleichmäßig auf und ab hob, und hörte seinen Atem, und das war es, was mich so glücklich machte.

Wir lagen dicht beieinander, so nah, dass wir die Wärme des anderen spüren konnten, und er hatte sich an mich gekuschelt und ich hatte meinen Arm um ihn geschlungen.

Und wenn man so aufwachte, bei jemanden, den man so liebte, dann fühlte man dieses Gefühl, welches einen so hoch in den Himmel mit nahm.
 

„Gott“, nuschelte Joe. Ich dachte, er schliefe noch.

„Wie spät ist es?“ sagte er, ganz leise, etwas heiser, direkt gegen meine Brust.

„hm“, entgegnete ich. Ich wollte ihn näher an mich drücken, doch wagte ich nicht, mich irgend zu bewegen.

Die Worte der letzten Nacht schwirrten mir im Kopf und ich hatte Angst, dass Joe aus Angst, oder Überzeugung, oder Prinzipien oder sonst was, das alles, was wir gerade empfanden, kaputt machen würde.
 

Doch dann rückte er näher an mich heran, und das, obwohl er schon sah nah, dass es eigentlich gar nicht ging, dass er näher kam.

„Mir ist kalt“, nuschelte er. Er legte sein Gesicht neben meine Brust, er hörte mein Herz schlagen, und mein Herz schlug schnell.
 

Ich zog die Decke etwas höher und strich meine Hand einige Male leicht über seinen Rücken, ehe ich ihn an mich drückte.
 

Ich war mir ziemlich sicher, dass Joe das gleiche Gefühl hatte, wie ich an diesem Morgen, denn nur dadurch ließ sich erklären, was dann geschah.
 

Er hob den Blick, und obwohl seine Augen geschlossen blieben und sein Gesicht so friedlich aussah, als schliefe er, fand es problemlos mein Eigenes, seine weichen Lippen strichen vorsichtig sanft über meinen Hals und mein Kinn, ehe sie sich ganz zart auf meine legten. Etwas zögerlich drückten sie sich gegeneinander und ich spürte Joes Unsicherheit ob der ganzen Sache, und seine zweifelnden Gedanken in seinem Hinterkopf und die Fragen, die er sich stellte, ob es okay sei, ob er falsch handele, ob er übereifrig sei.

Doch das alles wurde überdeckt von diesem Gefühl.

Vom Herzen, von der Liebe, die so absurd und leichtsinnig war, und dennoch das war, was sie eben war.
 

Unsere Lippen lösten sich, er öffnete die Augen und sah mich verunsichert an.

Zweifel sprach noch immer in seinem Inneren, doch ich wollte ihn den Schutz geben, den er brauchte, und die Sicherheit, die den Zweifel beseitigen würde.
 

So kamen Joe und ich letztendlich doch zusammen, denn die Liebe ist, für jeden, das Irrationalste und Unvernünftigste, was passieren kann, und diese direkte Konfrontation, die macht einen Jungen von Achtzehn Jahren nicht nachdenken, sie macht ihn sich hingeben, genießen und fühlen.
 

Wir verhielten uns etwas schüchtern. Ich hatte das ganze zwar bis dahin gebracht, doch weiter war ich auch noch nie gegangen und ich kannte einfach den Weg nicht.

Joe war unsicher und ich hegte sogar den leisen Gedanken, dass er ein wenig zweifelte; einen Voreiligen Schluss gemacht zu haben.

Doch am Ende wollten wir die Nähe, die wir uns gegenseitig schenkten, nicht missen und mehr und mehr gewöhnten wir uns an daran, und vielleicht waren das auch die Tage, die so zwei betrogene Jungen eben brauchten, um sich vollkommen und ganz auf diese Beziehung einzulassen, sich fallen lassen zu können und das Wolke-Sieben-Gefühl zu erreichen.

Nach einer Woche eher befangenen Berührungen und gehemmten Küssen wurden wir freier, fassten uns mehr und weniger verlegen an, lachten zusammen und schliefen entspannt und unverkrampft nebeneinander in einem Bett.

Bei ihm, selbstversätndlich.
 

Am Montag fuhren wir kurz zu mir nach Hause, meine Mutter war nicht da, ich holte frische Kleidung und meinen iPod und verzog mich dann bei Joe in seinem Riesenzimmer.

Seine Eltern sahen die ganze Geschichte weniger verkrampft, total normal eigentlich und behandelten mich wie einen normalen Gast.

Der sich eben eine Woche lang bei ihnen einquartiert hatte.
 

Am Donnerstagabend rief meine Mutter bei mir auf dem Handy an. Ich wies sie ab, kurz später rief mein Vater an.

„Was ist denn los?“ fragte ich genervt, denn man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass meine Mutter ihm befehligt hatte, anzurufen.

„Tim, wo bist du? Marion macht sich Sorgen“, sagte er, und bemühte sich, freundschaftlich und einträchtig zu klingen.

Ich antwortete mit einem genervten Schnauben und war nah dran, einfach aufzulegen, doch hinderte mich der besorgte Ton in seiner Stimme

„Was ist los“, fragte ich mit Unruhiger „stimmt was nicht?“

Er seufzte tief, und mir war klar, dass seine Sorgen nicht wegen mir allein waren; zumal diese ziemlich schnell beseitigt wurde, da ich ja ans Telefon ging und die Eltern somit wussten, dass es mir gut ging.

„Du.. du weißt nicht zufällig, wo dein Bruder ist?“ sagte er dann.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte vorsichtig den Kopf und ordnete konfus meine Gedanken.
 

„Er hat sich von der Schule abgemeldet und ist seit anderthalb Wochen weg.“

„Wo ist der denn?“

„Keine Ahnung. Sein Telefon liegt hier und... er hat nicht mal eine Nachricht hinterlassen.“ mein Vater klang ziemlich aufgelöst, ein Zustand, den ich Zeit meines Lebens nicht bei ihm mit angesehen hatte.

„Er hat sich von der Schule abgemeldet?“
 

Mein Vater seufzte. Er war verzweifelt. Er suchte seit einer Woche nach seinem Kind und fand es nicht.
 

„Ist schon gut Tim. Sei deiner Mutter nicht so böse, ja? Es tut ihr Leid.“

„Darum geht’s doch gar nicht“, antwortete ich, als ich von Joes gemütlicher Couch aufstand und in meine Schuhe schlüpfte „es geht nicht um ihren.. blöden Typen oder was weiß ich.“ sagte ich angesäuert und griff nach meiner Jacke. Joe sah mich verwirrt an und ich deutete ihm, sich auch anzuziehen.

„Was ist denn passiert?“ fragte mein Vater und ich nickte energisch: „Ja, das frage ich auch.“ Dann legte ich auf und hörte schon Joes Stimme: „Was ist los?“
 

„Josh ist verschwunden und ich denke, ich weiß wieso...“

„Hä, was?“ entgegnete Joe verwirrt, als er sich seine Jacke zu knöpfte.

„Na“, machte ich, als wir dann endlich zusammen runter zu seinem Auto gingen „das ganze Chaos um uns, der Mathelehrer, ich, du, Ray und Steve, das Outing. Wie konnte ich so egoistisch sein? Ich hätte wissen müssen, dass es ihm an die Nieren geht...“
 

„Und was willst du jetzt tun?“
 

Wir fuhren zu Ray. Zu Steve, um genauer zu sein.

Joe wartete im Auto, weil ich dachte, dass ich das allein handeln müsse.

Diese Aufgabe schob ich einfach schon zu lang vor mir her, ich musste reinen Tisch machen und Steve aufklären, damit er Josh verzeihen konnte und die beiden wieder zusammen kamen.
 

Denn es war doch alles meine Schuld gewesen.
 

Rays Mutter freute sich, mich mal wieder zu sehen, sagte mir, Ray sei oben, ich könne zu ihm gehen.

Das ganze Haus erschien so warm und familiär, jeder, der hier rein kam, fühlte sich gleich wohl und ich dachte mir, wie gut die Schuster-Brüder es hatten.
 

Ich klopfte leise an, dann ging ich in Rays Zimmer.

„Tim?“, sagte er verwirrt und kam auf mich zu, musterte mich konfus und fragte: „Was willst du?“

„Ich muss zu Steve, ist er da?“

„Äh, ja?“
 

Ich lächelte dankend, dann machte ich kehrt und ging zurück auf den Flur. Ray folgte mir, sein Kopf voller Fragen, und ich klopfte an die weiße Tür, hinter der sich Steves Zimmer verbarg.

Geduldig und aufgeregt wartete ich das „Ja?“ ab, dann ging ich etwas scheu zu ihm in den Raum. Ray folgte mir.
 

„äh“, machte Steve ersichtlich verwirrt, mich in Schuhen und Jacke zu sehen, und seinen kleinen Bruder, der ebenso ahnungslos drein schaute, wie er selbst „ist... was?“
 

Steve richtete sich auf, hatte er bisher auf seinem Bett gelegen und etwas melancholisch in den Fernseher gestarrt.

Ich schluckte hart und nickte: „Ich muss mit dir reden!“
 

„Du?“ entgegnete er konfus „mit mir?“
 

Ich nickte wieder.
 

„Okay“, sagte er „worüber?“
 

Ich räusperte mich, drehte mich halb zu Ray um und bat ihn, bloß mit dem Blick, mich und seinen Bruder allein zu lassen.

Ray gehorchte, er drehte sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
 

„Ich wollte mit dir über Josh reden“, sagte ich dann und Steve verdrehte genervt seine Augen „warte, bevor du mich unterbrichst, Steve. Er... er hat nichts unrechtes getan, okay?“ nuschelte ich und mied den Blickkontakt, sah nervös an mir runter, spielte mit den Bändern meiner Jacke und lief ungeduldig hin und her „ich war's nämlich. Der was mit dem Mathelehrer hatte.. Und Josh wollte nur... ich weiß nicht, was er wollte und wieso er behauptet hat, er wäre es gewesen. Total absurd. Aufjedenfall wollte ich dir das sagen, damit zu weißt, dass Josh kein mieses... was auch immer ist, dass er dich wirklich liebt und dir treu war und du ihn zurück nehmen musst...“
 

Meine Wangen fühlten sich unangenehm heiß an und meine Finger zitterten.
 

Steve gluckste leise, er seufzte schwer und als ich endlich aufschaute, sah ich ihn lächeln. Er lächelte, und das verstand ich irgendwie nicht: müsste er nicht verwirrt und durcheinander sein?

Nein, stattdessen lächelte er, lehnte sich auf dem Bett zurück und schüttelte langsam den Kopf: „Ach Gottchen, du bemitleidenswerter, kleiner Junge.“
 

Und nun wusste ich nicht, ob ich das als Beleidigung auffassen sollte, oder ob er es klar so meinte, wie er es sagte?
 

„Das weiß ich doch.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (61)
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Von:  Angie_Cortez
2009-12-02T16:56:47+00:00 02.12.2009 17:56
So so es wird also noch mal spannend ^^
Von: abgemeldet
2009-12-01T22:20:23+00:00 01.12.2009 23:20
Hä?
Also...hä? Wie jetzt, er wusste das doch? Das heisst, Josh hat es ihm gesagt? Und was für ein Problem haben die Beiden dann????
Na, da hast du es echt geschafft mich verwirrt zurückzulassen... und ich bin stolz auf Tim, endlich hat er es geschafft zu Steve zu gehen. Hätte er das mal vorher gemacht, dann hätte ich keinen Grund gehabt mich andauernd über ihn aufzuregen^^
Bin echt gespannt was das nun mit Josh und Steve auf sich hat.
LG Rhiska
Von: abgemeldet
2009-10-25T19:27:43+00:00 25.10.2009 20:27
Braver Joe. Ich würdemich auch nicht einfach so schnell auf Tim einlassen. Ich würde mir auch erstmal sicher sein wollen was Tim eigentlich von ihm will. Ich glaube Joe hat wahnsinnige Angst verletzt zu werden.
Das Tim sich Vorwürfe macht wegen seines Verhaltens Joe gegenüber, also dem vergangenen während der Sache mit Mark ist unverständlich. Es ist ja nunmal so das wir uns selten auf die Gefühle anderer konzentrieren, wenn wir selbst nicht wirklich involviert sind. Ich finde er braucht sich da keine Vorwürfe machen, in meinem Augen hat er wenigstens da nicht gänzlich falsch gehandelt, auch wenn es nicht gerade die beste Möglichkeit war sich ausgerechnet bei Joe über Marc auszuheulen mit dem Wissen das er in ihn verliebt ist. Aber ok. Ich kritisiere heute nicht^^
Ich fand es schön endlich mal ein bisschen was von joe und seiner Vergangenheit zu erfahren, auch wenns nur ein winziger, wenn auch vielleicht bedeutender Bruchteil war. Aber immerhin macht es ihn menschlicher...

LG Rhiska
Von:  Angie_Cortez
2009-10-25T17:43:49+00:00 25.10.2009 18:43
Mh okay, das Ende war jetzt wirklich verwirrend. Aber sonst ein eher ruhiges Kapitel. Es ist nicht viel passiert, man hängt einfach Tims Gedaken nach und Branner ist schon zu "der Mathelehrer" geworden. Das zeugt schon von einigem Abstand, aber es ist wohl gut, wenn Tim diesen gewinnt.

lg Angie
Von:  Laniechan
2009-10-22T21:57:22+00:00 22.10.2009 23:57
Na, wenn man da mal nicht nach dem loch im Boden zum Verkriechen sucht, weiß ich auch nicht mehr weiter. Schlimmer gehts nimmer...
Von:  Laniechan
2009-10-22T21:22:33+00:00 22.10.2009 23:22
Hui, wir kommen der Sache näher ^^ Ich war zwischendurch echt kurzzeitig verwirrt, als du Zac geschrieben hast und Herr Branner gemeint war ^^' Voll aufm Schlauch gestanden. Aber dieser Gedanke, als Tim meinte, er würde ja auch erst seit zwei Jahren unterrichten...also wirklich, das war nicht nett...
Ist für mich als Matheliebhaberin sowieso nicht ganz nachzuvollziehen, dass jemand so komplett nicht durchblickt, aber naja, muss es ja auch geben xD
Dann hör ich mal auf zu labern

Byebye Laniechan
Von:  Laniechan
2009-10-21T18:42:08+00:00 21.10.2009 20:42
Muss ich jetzt alles nochmal schreiben?

Also: Ich liebe deine Story! Ich mag Tim besonders gerne und freu mich darauf mehr von ihm zu lesen ^^
Von:  Laniechan
2009-10-21T18:38:56+00:00 21.10.2009 20:38
Mmmh, Alex hat ja echt tolle Augen xD. Verleitest uns dazu, fremden Menschen hinterherzugooglen *lach*

Hübsches Kapi, sollte aber nochmal wegen Rechtschreibung geprüft werden, da waren ein paar kleinere Fehler drin, aber nix Gravierendes. Auf Joe bin ich ja gespannt. Und die Klassenfahrt verspricht ja auch so einiges ^w^. Aber ich mach morgen weiter. Für heute reicht es (oh, ist ja schon fast "morgen" ^^')

Byebye Laniechan

Von:  Angie_Cortez
2009-10-21T17:48:16+00:00 21.10.2009 19:48
Ach der arme Tim, der macht sich ganz schön Stress. Ich verstehe aber überhaupt nicht warum Josh nicht mit seinem Freund/Ex redet und dem das erklärt hat, bevor er die Aktion startet. Das Vertrauensverhältnis is wohl nicht so doll. Außerdem finde ich die Reakion der Mutter auf Joshs Outing echt -sorrry- scheiße. Was nicht heißen soll, dass die Geschichte doof ist! Ich hab bloß eine ziemliche Antipathie gegen sie entwickelt ^^

Na ja ich bin dafür, dass er jetzt mal mit Joe klarkommt, dass er Steve mal erzählt was Phase ist und so. So geht das ja nicht weiter ;) Und das mit Ray und -ähm- ich hab ihren Namen vergessen ist bisschen blöd gelaufen. Mir ist vollkommen klar, warum er das nicht gut findet. Na ja ... bin gespannt. Weiter so!
Von: abgemeldet
2009-10-21T10:48:54+00:00 21.10.2009 12:48
Hmmm, was ist denn hier so ebbe bei den Kommis?Oo
Naja ok, ich hab jetzt auch mal erheblich länger gebraucht als sonst xD

Ich kann mich erstmal nur wieder wiederholen, ich find es nicht gut das er diesen Schritt das zwischen Josh und Rays großem Bruder zu klären immer noch nicht gegangen ist und er immer noch Leute braucht die ihn darauf hinweisen es zutun.
Gut ist aber das er begriffen hat das es ja nicht nur Josh gibt dem er es erklären könnte. Auch wenn er in meinen Augen immer viel zu lange braucht um überhaupt mal irgendwas zu begreifen, aber naja, vielleicht kriegt er es ja jetzt mal gebacken.

DAs er so schockiert ist wegen seiner Mutter. Nun, für mich ist es nicht ganz nachvollziehbar, vielleicht weil ich nie selber in der Situation war. Ich kann mir schon vorstellen das es ein Schock für ihn gewesen ist zu erfahren das seine Mutter seit nem Jahr schon einen neuen Mann an ihrer Seite hat und er sich die Hoffnung gemacht hat das mit ihr und dem Dad könnte nochmal was werden, aber er kann doch nicht seine Erwartungen dermaßen auf seine Mutter projezieren. Ich hasse es wenn jemand etwas erwartet und dann an die Decke geht wenn seine Erwartungen nicht erfüllt werden.
Aber Tim ist mir so oder so in der letzten Zeit ein bisschen suspekt geworden. Er war zwar schon immer ein bisschen unsicher und brauchte jemanden an seiner Seite der ihm zu zeigen schien wo es lang ging, aber das er ohne eine helfende Hand an seiner Seite wirklich dermaßen aufgeschmissen ist macht mich irgendwie wütend. Er wirkt zeitweise als wäre er noch ein kleiner Junge... aber ok...^^ Eine Wandlung seines Charakters wäre jetzt auch ein wenig unglaubwürdig, er hat ja schon ein bisschen was liebenswertes an sich, eben durch diese Unsicherheit und diese hatte er ja auch eigentlich schon von Anfang an. Nur fiel das da wohl nicht so extrem auf...

LG Rhiska


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