Unsichtbarer Feind
Die in sich abgeschlossene Turmstadt hatte offenbar ausgedient.
Seit Wochen schon stand sie leer und verlassen dar, wurde von niemandem mehr betreten oder verlassen. Das Gelächter der Kinder war verstummt, das Getratsche der Frauen auf dem großen Marktplatz ebenfalls. Manche der Türme, die nahe der äußeren Stadtmauer standen, waren bereits teilweise zusammengebrochen. Doch es gab niemanden mehr, der sich um den Wiederaufbau gekümmert hätte. Der Wind blies Staub durch die verlassenen Gassen in denen noch vor kurzem dunkle Gestalten ihren ahnungslosen Opfern, meist reichen Herren aus der Oberstadt, aufgelauert hatten. Der Fluss, der die Ober- von der Unterstadt trennte, floss zwar noch majestätisch seinen Lauf, doch auf ihm fuhren weder Frachter noch nachts kleine Gondeln mit verliebten Pärchen, die den Vollmond bewundern wollten.
Schulen und Kirchen waren ebenso leergefegt wie Museen und Theater. Es gab nichts mehr in dieser Stadt, Leben am allerwenigsten.
Ein einziger Soldat überwachte noch die nun leere Turmstadt. Vom höchsten Turm aus sah er mit starrem Blick auf die verwaisten Straßen hinunter. Früher hatte er als Leibwache des Königs gedient, in ebendiesem Turm hier. Und hier war er geblieben, auch wenn es nun nichts mehr zu bewachen gab. Nichts, außer einer langsam in sich zusammenfallenden Turmstadt.
Einst war sie mit Mühe und Schweiß, und oft auch lautem Fluchen, Turm für Turm errichtet worden. Es war nicht leicht gewesen, denn da es an Erfahrung mangelte, waren vor allem die ersten Türme noch recht wackelig ausgefallen. Doch man lernte schnell hinzu, und so hatte sich diese prächtige Stadt bald einen Namen in der Welt gemacht. Man strömte in Scharen herbei, um dieses architektonische Meisterwerk, das erste seiner Art, zu begutachten. Fremde Völker versuchten manches Mal, sie einzunehmen. Doch die mächtigen Mauern hatten dem Feind stets standgehalten. Die tapferen Soldaten hatten es in zahlreichen Schlachten immer wieder geschafft, ihre Stadt zu verteidigen. Darauf war der Soldat auch sehr stolz. Wehmütig dachte er an diese glorreiche Zeit zurück. Es war ein anderer Feind, der sie schließlich besiegt hatte. Kein offensichtlicher aus Fleisch und Blut, oh nein. Leise und heimtückisch hatte er sich ihnen genähert und dann gnadenlos zugeschlagen. Und sie hatten verloren.
Genau genommen hatten sie kaum eine Chance gehabt, gegen einen Feind, der inzwischen so übermächtig geworden war.
„Tom! Jetzt mach aber mal deinen Game Boy aus und räum endlich diese Legosteine weg. Du spielst doch eh nicht mehr damit!“
„Ja Mama.“
Seufzend schloss der Soldat die Augen. Jetzt war es also endgültig soweit. Dies war das Ende…