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Lauter Einzelteile

26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen
von

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Intus

„Warum hast du es mir dann erst vorgeschlagen?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich in den Telefonhörer, was nur zur Hälfte stimmt, „vielleicht aus Gewohnheit. Ich habe nicht darüber nachgedacht.“

„Wie sooft“, kommt die abwertende Antwort. Ich seufze und sage nichts dazu. Eigentlich weiß ich ganz genau, wie ich auf die Idee kam. Mir war durch den Kopf gegangen, dass ich in meinem Zustand auf keinen Fall hätte Auto fahren können. Und ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis ich mich wieder unter Kontrolle hätte. Wann wäre es nicht mehr gefährlich? Es war idiotisch und unbedacht, auch nur auf die Möglichkeit anzusprechen. Hätte ich meinen Mund gehalten, wäre es kein Problem gewesen. Nur weil ich die Wahrheit nicht ausspreche, heißt das nicht, dass ich lüge.

Eine lange Pause entsteht zwischen uns. Ich gebe mich der Illusion hin, sie am anderen Ende der Leitung gleichmäßig atmen zu hören, um den durch die Stille ausgelösten Druck auf meinen Ohren zu ignorieren. Ich schließe die Augen und stelle mir ihr Gesicht vor, ihre leicht geschminkten, geschwungenen Wimpern und den rötlichen Schimmer auf ihren Wangen, wenn sie wütend ist oder erregt. Ich glaube sie sogar zögern zu sehen.

„Hast du in letzter Zeit mal von unserem ehemaligen Kunstlehrer gehört?“, fragt sie unvermittelt.

„Nein, wieso? Ist was passiert?“

„Ich habe gehört, dass er jetzt zum dritten Mal in der Psychiatrie war. Er soll sogar einen Stuhl nach einem seiner Schüler geworfen haben.“

„Wundert mich nicht. Ich würde auch mit so einigen Stühlen um mich werfen, wenn sie griffbereit wären.“ Die Erwiderung wirkt emotionslos, obwohl es mir die Kehle zuschnürt. Mein Mund ist trocken, sodass ich nach dem Glas auf dem Tisch greife und einen Schluck trinke. Ich denke relativ oft an meine zurückliegende Jugend, an die Menschen, die mich prägten und ihre Zeit mit mir verschwendeten, Lehrer, die mich mit Kreide bewarfen, weil ich im Unterricht schlief, und Freunde, die sich mit mir betranken und lachten. Und unter all den wichtigen, unbedeutenden Gesichtern sticht sie hervor, damals wie heute, immer nur dieses eine Mädchen mit dem provozierenden Lächeln und ihrer völligen Hingabe, als ich sie mir schließlich nahm. Jedes Mal habe ich mir vorzumachen versucht, sie würde irgendwann nur mir allein gehören. Ich denke an meine Vergangenheit und versuche sie gleichzeitig zu verdrängen, wie ich es damals mit dem Gedanken an meine Zukunft tat.

„Weißt du“, sagt sie ganz leise, beinahe schon verletzlich, „ich will dich nicht verlieren.“

„Warum vögelst du dann andere Männer und machst uns beide mit deinem Selbsthass kaputt?“, will ich entgegnen, doch stattdessen antworte ich: „Das wirst du auch nicht.“ Meine Stimme ist rau, aber ich weiß, dass man mir nichts anhören kann. Meine Worte klingen kalt und unbeteiligt, stets in jeder Hinsicht nüchtern und trocken, aber wenigstens ehrlich. Sie weiß genau, dass sie mir glauben kann. Ich würde sie niemals verlassen.

„Also ist alles in Ordnung?“, fragt sie vorsichtig.

„Keine Sorge, mir geht es gut.“

Die Flecken auf meiner Camouflagehose scheinen über meine Beine zu wandern. Ich lenke mein verschwommenes Sichtfeld ziellos auf andere Dinge. Der Zusammenhalt meiner Umgebung, von der sich nur noch lauter Einzelteile überdeutlich abzeichnen, geht verloren. Die Bilder vor meinen Augen werden meinen Blicken hinterhergeschleift. Ich fühle mich nicht mehr so, als würde es wehtun, und beobachte gleichgültig die Tapete, die an den Wänden herunterfließt.

„Kannst du mich heute von der Arbeit abholen?“, will sie nach einer kurzen Pause wissen.

„Diesmal wartest du nicht, bis ich es vorschlage?“ Ich lache liebevoll und schiebe die aufkommende Angst beiseite. „Natürlich, mache ich doch gern.“

„Danke.“ Sie klingt schüchtern. „Ich muss dann mal wieder. Also, bis nachher?“

„Ja, bis nachher.“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Nachdem ich aufgelegt habe, starre ich noch eine Weile auf den Telefonhörer. Unsicher erhebe ich mich. Meine Gliedmaßen sind schwer wie Blei. Ich nehme das Glas und die leere Flasche vom Tisch, bringe sie in die Küche und spüle beides aus. Dann schaue ich auf die Uhr an der Wand. Anschließend gehe ich ins Badezimmer, hocke mich vor die Kloschlüssel und stecke mir einen Finger in den Hals, um wieder nüchtern und ein wenig klarer im Kopf zu werden, bevor ich losfahre.



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