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Code Geass: Fügung

Von missglückten Plänen und zweiten Chancen
von

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Auftakt

„Ich weiß euren Rat zu schätzen, aber werft zunächst einen genauen Blick auf das, wozu ich in der Lage bin. Schließlich sprechen wir von Lelouchs letzter Ruhestätte – und einem Ort, den ich so friedlich gemacht haben möchte wie möglich.“
 

- Clovis la Britannia, Stage 0.884
 


 


 

* * *
 

„Ist dir sehr langweilig?“

Lelouch sah von seinem Frühstück auf und betrachtete seinen Bruder mit einer Miene, die er bewusst nichtssagend hielt. „Spielt es eine Rolle?“

„Natürlich tut es das“, erwiderte Clovis und trat aus dem Türrahmen zu ihm herüber. „Du bist mein Bruder, kein Gefangener – auch, wenn ich es dir nicht zum Vorwurf mache, dass du das anders sieht. Wenn dir langweilig ist und es etwas gibt, was ich dagegen tun kann, genügt ein einziges Wort.“

Lelouch lächelte – er wusste sehr genau, dass diese Aussage nur eingeschränkt wahr war. „Solange ich dir nicht vorschlage, mich aus diesem Raum zu lassen“, stellte er fest.

„Solange du mir nicht vorschlägst, dich außerhalb dieses Raumes aus den Augen zu lassen“, verbesserte Clovis ihn. „Wenn du möchtest, kann ich dich im Gebäude herumführen.“

Das plötzliche, beinahe beiläufig gemachte Angebot überraschte Lelouch, aber anstatt sich etwas anmerken zu lassen, wölbte er die Brauen. „Hast du nicht andere Dinge zu tun?“

Sein Bruder hob nachlässig die Schultern. „Heute gibt es nichts, worum ich mich in meiner Tätigkeit als Gouverneur dringend kümmern müsste, und meine Bilder können warten. Ich müsste lediglich das Personal wegschicken und sicherstellen, dass die Wachen im Eingangsbereich ihre Posten nicht verlassen.“ Er legte den Kopf schräg und schenkte Lelouch ein einnehmendes Lächeln. „Und für meinen Lieblings-Kleinen-Bruder tue ich das natürlich gerne.“

Lelouch schnaubte, dachte jedoch ernsthaft über den Vorschlag nach. Im Augenblick hatte er kein Interesse daran, einen Fluchtversuch zu unternehmen – nicht, solange er nicht mit Suzaku gesprochen hatte – und vermutlich würde Clovis ihm auch gar keine Gelegenheit dazu geben, aber es konnte nicht schaden, sich mit seiner Umgebung vertraut zu machen.

Davon einmal abgesehen, war ihm wirklich langweilig. Schlafen war sicherlich nicht der schlechteste Zeitvertreib, aber auf Dauer konnte es ziemlich eintönig werden, das Bett jeden Tag bestenfalls für ein oder zwei Stunden zu verlassen. Und ein Laptop war nicht genug, um Lelouch dauerhaft zu beschäftigen; schon gar nicht, wenn es so vieles gab, worüber er in jeder freien Sekunde nachdenken könnte, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen.

„Es wäre eine willkommene Abwechslung“, sagte er daher schließlich, und sein Bruder strahlte ihn an.

„Dann lasse ich dich jetzt fertigessen und komme in einer Stunde wieder, falls es mir gelingt, bis dahin alle Angestellten loszuwerden. Hast du alles, was du brauchst?“

Lelouch nickte.

„Gut. Dann sehen wir uns gleich.“

Clovis verließ den Raum, und Lelouch nahm zur Kenntnis, dass er trotz allem nicht vergaß, die Tür hinter sich abzuschließen.
 

~
 

„Was möchtest du sehen?“, fragte Clovis, als sie den Korridor außerhalb des umfunktionierten Gästezimmers entlangschritten.

Lelouch zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Was tust du in deiner Freizeit?“

Clovis hielt nicht inne, aber er warf ihm über die Schulter hinweg einen überraschten Blick zu. „Interessiert dich das wirklich?“

„Irgendwo müssen wir schließlich anfangen, nicht wahr? Und es ist nicht so, als würde ich mich hier auskennen.“ Eine Halbwahrheit. Lelouch wusste, wie der Grundriss des Gebäudes ausgesehen hatte, kurz bevor er das Erste Mal Fuß in die Klassenzimmer der Ashford-Akademie gesetzt hatte – schließlich konnte es nicht schaden, sich auch mit Kleinigkeiten zu beschäftigen, wenn man den Untergang einer Weltmacht plante. Aber da Clovis seiner Kreativität bekanntlich auch in Sachen Architektur gerne freien Lauf ließ, war er sich nicht sicher, wie viele seiner Informationen noch aktuell waren.

„In Ordnung“, sagte Clovis nach kurzem Zögern. „Hier entlang.“

Schweigend folgte Lelouch seinem Bruder eine verschlungene Treppe empor in ein höhergelegenes Stockwerk und hinein in den südlichen Flügel desselben, von dem er annahm, dass es sich dabei um einen Teil von Clovis' Gemächern handelte. Am Ende eines Flures, der mit seinen vereinzelten roten Gobelins an den Wänden um einiges schlichter dekoriert war als die meisten der umliegenden Korridore, lag eine einzige Tür, die bei genauerem Hinsehen lediglich angelehnt war. Sein Bruder öffnete sie und trat zur Seite, um ihm den Vortritt zu gewähren.

Das Erste, worauf Lelouchs Blick unweigerlich fiel, waren die unverhangenen Fenster, die direkt gegenüber der Tür eine Wand ersetzten. Sie begannen auf Höhe des Fußboden und ragten von dort aus bis zur Decke empor, welche mindestens zehn Meter davon entfernt war, und außer aus Glas bestanden sie nur aus weißem polierten Holz, das ihre ohnehin eindrucksvolle Erscheinung in eine geschmackvolle Form brachte. In Kombination mit dem ungehindert eindringenden Sonnenlicht ließ es das Zimmer hell und freundlich wirken, obwohl keine einzige der drei von der Decke herabhängenden Lampen brannte.

In der linken Hälfte des Raumes gab es außer einem unter einem farblosen Tuch verborgenen Musikinstrument – ein Piano? Ein Klavier? - nicht viel zu sehen; sie ließ das Zimmer durch ihren auffälligen Mangel an Einrichtungsgegenständen lediglich noch geräumiger erscheinen. Auch auf der anderen Seite des Raumes befand sich auf den ersten Blick nichts weiter als ein kleiner runder Holztisch mit vier unscheinbar anmutenden, wenn auch gepolsterten Stühlen darum, und es dauerte nicht lange, bis Lelouchs Blick auf die rechte Zimmerwand fiel.

Gleich darauf war ihm klar, wo er sich befand.

Wie auch die anderen Wände war die vor seinen Augen in einem kräftigen Rot gestrichen. In ihrer Mitte befanden sich eine vergleichsweise unscheinbare britische Flagge und ein dekorativer Kamin, der zu beiden Seiten von etwa einer handvoll Gemälden flankiert wurde. Rechts davon, an der Wand gegenüber der Fenster, nahmen weitere Kunstwerke den gesamten Platz bis zum Türrahmen in Anspruch.

„Dein Atelier?“, fragte Lelouch, als er den Blick über die Bilder schweifen ließ, die zweifelsohne allesamt sehr eindrucksvoll waren.

„Aa“, bestätigte Clovis aus dem Türrahmen heraus. „Je länger ich hier gewesen bin, desto einfallsloser sind meine Gemälde geworden; aber hin und wieder konnte ich doch einen Erfolg verzeichnen.“ Er hob die Schultern. „Einen Großteil meiner Freizeit verbringe ich noch immer hier.“

Als Laie hatte Lelouch wenig Ahnung von den Feinheiten der Kunst, aber seine Allgemeinbildung war gut genug, um ihn beinahe auf Anhieb erkenne zu lassen, dass die Gemälde nicht nur die unterschiedlichsten Motive zeigten, sondern auch zahlreichen Stilrichtungen angehörten. Expressionismus, Impressionismus, Romantik... Landschaftsbilder, Stilleben, Portraits, ...das Einzige, was sie alle gemeinsam hatten, waren die weichen Farbtöne, in denen sie gehalten waren, und das unabstreitbare Talent des Künstlers, der sie geschaffen hatte.

Lelouch wollte sich gerade wieder abwenden, als sein Blick auf eines der Gemälde in der Mitte der rechten Wand fiel und er mitten in der Bewegung erstarrte.

„Das...“, brachte er hervor und spürte, wie seine Eingeweide sich zusammenzogen.

„Oh“, machte Clovis, beinahe ein wenig verlegen, und trat neben ihn. „Es ist schon eine Weile her, dass ich das gemalt habe. Ich bin nicht sicher, ob es gelungen ist. Vermutlich-“

„Es ist perfekt“, sagte Lelouch und merkte kaum, wie erstickt seine Stimme klang. Er starrte das blaue Kleid seiner Mutter an, das unbeschwerte Lächeln seiner Schwester, und registrierte nur am Rande sein neunjähriges Selbst zu Marianne vi Britannias Linken.

Es war die Szene aus einem Leben, das er beinahe vergessen gehabt hatte, weil die Erinnerung daran befleckt war von dem Wissen darum, wie es geendet hatte, und brennendem Hass auf diejenigen, die dieses Ende so abrupt herbeigeführt hatten.

Wenn Lelouch an seine Kindheit dachte, kam ihm zuerst seine Zeit im Haushalt der Kururugi-Familie in den Sinn; seine Freundschaft mit Suzaku und ihre gemeinsamen Bemühungen, Nanali zu beschützen. An das, was davor gewesen war, dachte er in diesem Zusammenhang nur selten, wenn überhaupt, und selbst seine kleine Schwester schien es nicht viel anders zu halten... oder vielleicht sprach Nanali ihn auch einfach nur nicht länger auf ihre gemeinsame Vergangenheit in Britannien an, weil sie Angst hatte, seine Gefühle zu verletzen. Falls dem so war, kannte sie ihn besser, als Lelouch sich selbst kannte.

Niemals wieder, dachte er mit einem seltsam beklemmenden Gefühl in der Magengegend, würde ihr Leben so sorglos sein.

Lelouch widerstand dem Drang, die Augen zu schließen. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich ein Teil von ihm noch immer nach dieser Unbeschwertheit sehnte. Nach Nanalis sorgloser Heiterkeit, Euphies unberechenbarem Idealismus... nach seiner Mutter.

Er bemerkte, dass er das Ausatmen vergessen hatte, und holte es nach. Als er seine Emotionen ein paar Sekunden später wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich seinem Bruder zu und stellte fest, dass dieser ihn aufmerksam beobachtete, einen sonderbaren Ausdruck in den Augen.

Bevor Lelouch jedoch dazu kam, Clovis' Blick zu deuten, verblasste die namenlose Emotion auf seinen Zügen auch schon wieder und wurde von einem frivolen Lächeln ersetzt. „Nun, wenn das Kompliment von dir kommt, werde ich es mir zu Herzen nehmen.“

Lelouch brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf sein Bruder sich mit dieser Aussage bezog. Dann schnaubte er.

Ein kurzes Schweigen folgte, und unwillkürlich glitt Lelouchs Blick wieder zu dem Gemälde. Zum ersten Mal betrachtete er sein jüngeres Selbst näher - den weißen, formellen Anzug, die verhältnismäßig ernste, aber doch alles andere als unglückliche Miene... war es das, wie sein Bruder ihn gesehen hatte?

War es das, wie er einmal gewesen war?

„Wollen wir weiter?“ Clovis' Stimme ertönte direkt neben seinem Ohr, und obwohl ihr jegliche Härte fehlte, riss sie Lelouch jäh aus seinen Gedanken.

Beinahe noch im selben Moment wandte Lelouch sich wieder um und nickte. „Ja.“

Während er seinem Bruder nach draußen folgte, hoffte er, dass er sich den belegten Klang seiner Stimme nur eingebildet hatte.
 

Zwei Stunden später hatten sie ihre Tour durch das Gebäude beendet, und Lelouch war zu dem Schluss gekommen, dass zwar das ein oder andere in den letzten Jahren umgebaut worden, die Abweichungen aber so wenig der Rede wert waren, dass die Besichtigung sich als nichts weiter als ein netter Zeitvertreib herausgestellt hatte. Er bezweifelte, dass er zu irgendwelchen neuen Erkenntnissen gelangt war, die ihm in der nahen Zukunft nützlich sein würden.

Als sie wieder die Ebene des Gebäude betraten, auf der Lelouchs vorübergehendes Zimmer angesiedelt war, hielt sein Bruder plötzlich inne und drehte sich zu ihm um. „Was ist mit deiner Verletzung?“

„Nichts.“ Lelouch blieb ebenfalls stehen. „Es geht mir gut.“

Clovis musterte ihn eindringlich. „Bist du dir sicher?“

„Ich bin nur ein bisschen müde“, entgegnete Lelouch mit einem unbekümmerten Achselzucken. „Das ist alles.“

„Willst du dich hinlegen?“

„Ich stehe nicht kurz davor, zusammenzubrechen, wenn du das meinst. Weshalb fragst du?“

Sein Bruder betrachtete ihn noch einen Augenblick länger abschätzenden Blicks, bevor er bereit schien, seinen Worten Glauben zu schenken. „Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er dann.

„Zeigen?“, wiederholte Lelouch.

Aber sein Bruder ließ sich zu keiner näheren Erläuterung hinreißen. „Komm mit“, sagte er nur.

Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte Clovis sicher wieder von ihm ab, und nach einem kurzen, perplexen Zögern folgte Lelouch ihm.

Was auch immer er jedoch vorzufinden erwartet hatte, als er wenige Minuten später durch eine unscheinbare Tür ins Freie trat – nichts hätte ihn auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihm dort bot.
 

~
 

„Das ist...“

Wenn Lelouch Schwierigkeiten gehabt hatte, rechtzeitig wieder auszuatmen, als er in Clovis' Atelier das Bild seiner Mutter gesehen hatte, dann musste er sich nun daran erinnern, überhaupt erst Luft zu holen. Er befand sich mitten auf dem Dach des Regierungsgebäudes, sein Bruder wenige Schritte von ihm entfernt, und ganz gleich, wohin er sich wandte, er blickte direkt auf Aries' Kaiserliche Villa und den Garten, den seine Mutter dereinst darum herum hatte anlegen lassen.

Es war eine exakte Kopie. Von den kleinen Pavillons und bunten Blumen im Gras über die sorgfältig zurechtgeschnittenen Bäume und Hecken bis hin zu dem Vorbau der Villa selbst. Das gleiche dezente Rosa, die gleichen seichten Gewässer, die den Pfad zum Eingang markierten, und das gleiche säulenartige Gebilde, das zierend zwischen ihnen aufragte.

Es fühlte sich überwältigend unwirklich an und war genug, um Lelouch inmitten der Wiese wie angewurzelt stehenblieben zu lassen.

„Ich bin nach Gebiet Elf gekommen, weil das der Ort war, an dem du und Nanali angeblich umgekommen wart“, sagte Clovis und trat hinter ihn. „Ich dachte, ich könnte das ehemalige Japan in eine friedliche letzte Ruhestätte für euch verwandeln – ein gigantisches Grabdenkmal, wenn du so willst. Ich habe es als eine Herausforderung betrachtet; eine Fortsetzung der Partie, die wir niemals beendet haben.“ Ein leises, selbstironisches Lachen, dem die nötige Bitterkeit fehlte, um als zynisch bezeichnet zu werden, das jedoch spöttisch genug klang, um nicht in die Szenerie zu passen. „Aber ich konnte dich niemals schlagen, nicht wahr? Ich hätte ahnen sollen, dass es in der Niederlage meines Lebens enden würde.“

Clovis hielt einen Moment inne, und als er fortfuhr, war der Hohn aus seiner Stimme gewichen.

„Ich habe nicht vor zu versuchen, meine Taten zu rechtfertigen“, sagte er in einem überraschend milden Tonfall. „Ich habe versagt. Mehr als das, ich habe aufgehört, mich für irgendetwas außer meiner Bilder und meinem Status zu interessieren und damit nicht nur das Andenken meiner vermeintlich toten Geschwister beschmutzt, sondern ohne es zu ahnen auch willkürlich dein Leben in Gefahr gebracht. Ich wäre beinahe für den Tod deines Freundes verantwortlich gewesen, nicht wahr?“

Lelouch versteifte sich, als sein Bruder die Arme um ihn legte. Es war eine ausgesprochen lockere Umarmung und wenn er gewollt hätte, hätte er sich mit einem einzigen Schritt nach vorne oder zur Seite daraus befreien können; aber er war zu überrumpelt, um sofort zu reagieren, und anschließend war er sich nicht sicher, was er von alledem halten sollte. Also ließ er Clovis weitersprechen, während sein Blick noch immer wie gebannt auf der nachgebauten Villa ruhte. „Ich werde nicht noch einmal versuchen, dich um Verzeihung zu bitten“, sagte sein Bruder. „Ich habe Fehler gemacht, und einige davon sind unentschuldbar.“ Die einseitige Umarmung wurde kaum merklich enger, und im nächsten Moment ruhte Clovis' Kinn auf Lelouchs Schulter. „Aber ich liebe dich, Lelouch. Ich will nicht dein Feind sein - genauso wenig, wie ich zwischen dir und irgendetwas stehen will, was du dir vorgenommen hast.“ Der Tonfall seines älteren Halbbruders war sanft, bar jeden Nachdrucks. „Alles, worum ich dich bitte, ist eine Chance.“

Es dauerte eine Weile, bis Lelouch seine Stimme wiederfand. „Eine Chance?“

„Lass mich dir helfen.“

„Du weißt nicht einmal, was ich vorhabe.“

„Es spielt keine Rolle.“

Lelouch drehte sich um, und sein Bruder ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück. „Und was, wenn ich dir sage, dass ich Britannien dem Erdboden gleichmachen werde?“

Für einen kurzen Moment weiteten Clovis' Augen sich merklich, aber dann schüttelte er den Kopf. „Es spielt keine Rolle“, wiederholte er.

Lelouch starrte ihn an. „Ist das dein Ernst?“, fragte er. „Du würdest dabei zusehen, wie ich den Kaiser vernichte? Deinen eigenen Vater?“

„Er ist auch dein Vater, nicht wahr? Wenn du ihn so sehr hasst, musst du einen guten Grund dafür haben.“

„Das habe ich“, stimme Lelouch zu. „Aber es ist immer noch dein Heimatland.“

„Ebenso wie deines.“ Clovis hob die Schultern. „Ich schulde Britannien nichts“, sagte er. „Ich mache mir etwas aus meiner Mutter und unseren Geschwistern, aber das ist alles. Und selbst das...“ Er brach ab. „Aber du würdest keine Unschuldigen in diese Sache mit hineinziehen, oder nicht?“ Ein Anflug von Unsicherheit hatte sich auf Clovis' Züge geschlichen, aber seine Stimme war erstaunlich fest, als er hinzufügte: „Du würdest nicht so weit gehen, Euphie wehzutun.“

„Nicht, wenn ich es vermeiden kann“, räumte Lelouch nach kurzem Zögern ein. „Aber es wäre immer noch Hochverrat. Solltest du mir helfen und der Kaiser jemals davon erfahren, wird er dich hinrichten lassen. Dass du sein Sohn bist, bedeutet ihm nichts.“

„Ich bin mir des Risikos bewusst“, entgegnete Clovis – und lächelte zu Lelouchs Überraschung amüsiert. „Aber nachdem mein eigener kleiner Bruder mir um ein Haar eine Kugel in den Schädel gejagt hätte, schreckt auch das mich nicht mehr ab. Wenn ich so oder so mein Leben in Gefahr bringe, dann wähle ich lieber die Seite, der meine persönliche Sympathie gebührt. Die einzige Alternative wäre auf Dauer, dich dem Kaiser auszuliefern, und wenn du tatsächlich noch immer glaubst, ich würde dir derart in den Rücken fallen, dann hätte ich mich die letzten paar Tagen auch mit einer Betonwand unterhalten können.“

„Vermutlich“, sagte Lelouch, weil ihm nichts anderes in den Sinn kam. Inzwischen erschien es ihm lächerlich, dass er jemals geglaubt hatte, Clovis könnte in das Attentat auf seine Mutter verwickelt gewesen sein, und alle Fakten deuteten darauf hin, dass er seinem Bruder auch über diese Gewissheit hinaus vertrauen konnte – wenn er an seinen Worten noch Zweifel hatte hegen können, so sprachen Clovis' Taten doch für sich. Und dennoch...

„Bitte, Lelouch.“ Die Stimme seines Bruders war sanft, beschwörend. „Ich verspreche dir, dass ich mich nicht mehr einfach über deinen Willen hinwegsetzen werde. Und wenn-“

„In Ordnung.“

Clovis klappte den Mund zu und blinzelte. „In Ordnung?“

„Ich kann nicht sagen, dass ich dir vertraue“, sagte Lelouch. „Aber ich misstraue dir auch nicht. Ich werde versuchen, dir eine Chance zu geben, wie du es nennst... wenn es das ist, was du willst.“

Einen Augenblick lang starrte Clovis ihn an, sichtlich perplex. Dann glitt ein Lächeln auf seine Lippen. „Das ist es“, bestätigte er. „Also muss ich mir keine Sorgen machen, in allzu naher Zukunft doch noch mit einer Portion Blei in lebenswichtigen Organen zu enden?“

Etwas an dem unbekümmerten Tonfall seines Bruders rief eine vage Übelkeit in Lelouch hervor. „Nein“, sagte er tonlos, bevor er seine reservierte Haltung für einen Moment aufgab und hinzufügte: „Ich wusste nicht, dass wir dir so viel bedeutet haben.“

Es war keine Entschuldigung, nicht wirklich, aber es war das Beste, was sein Bruder in dieser Hinsicht von ihm bekommen würde, und Clovis schien sich dessen bewusst zu sein. „Es ist in Ordnung“, sagte er leichthin. „Es war meine eigene Schuld. Ich bin nur froh, dass die Nachricht von eurem Tod ein Irrtum war.“

Lelouch registrierte, dass sein Bruder Nanali so selbstverständlich miteinbezog, als hätte er keinen Zweifel daran, dass sie ebenfalls noch am Leben war. Aber das war in Anbetracht der Umstände nicht weiter verwunderlich, und obwohl Lelouch nicht so weit gehen würde, diese Annahme durch irgendetwas anderes zu bestätigen als sein beharrliches Schweigen zu diesem Thema, beunruhigte es ihn nicht, dass Clovis zu dem einzigen logischen Schluss gekommen war. Es war zu erwarten gewesen.

„Möchtest du noch hier bleiben?“

Lelouch wandte sich noch einmal zu der täuschend echten Imitation von Aries' Kaiserlicher Villa um und betrachtete sie eindringlich. „Nein“, entgegnete er nach einer Weile und sah über die Schulter hinweg seinen Bruder an. „Gehen wir.“
 

~
 

„Ich habe mit Lloyd gesprochen“, teilte Clovis seinem Bruder an jenem Abend mit. Sie saßen in dem geräumigen Esszimmer des Gebäudes, einen mit Ornamenten verzierten Tisch vor sich, auf dem mehrere Platten mit unterschiedlichen Sorten Gebäck sowie zwei bereits geleerte Teller aus weißem Porzellan standen.

Da Clovis den Großteil des Personals bereits in aller Frühe nach Hause geschickt hatte, hatte er keinen Grund gesehen, weshalb sie die Gelegenheit nicht nutzen sollten. Wenn es nach ihm ging, konnte er gar nicht genug Zeit mit dem jüngeren Bruder verbringen, den er so lange für tot gehalten hatte, und auch wenn Lelouch nicht gerade außer sich vor Begeisterung zu sein schien, war Clovis sich sicher, dass der Tapetenwechsel ihm guttat.

„Und was sagt er?“ Über den Rand seiner Tasse hinweg sah Lelouch ihn aufmerksam an. Seit sie ihre morgendliche Tour durch das Gebäude beendet hatten, war er beinahe ununterbrochen damit beschäftigt gewesen, Kaffee in sich hinein zu gießen wie Wasser auf ein ausgetrocknetes Blumenbeet.

Clovis rümpfte die Nase. Er hoffte wirklich, dass Lelouch übertrieben hatte, als er sagte, er ernähre sich bevorzugt von Koffein, und dass er lediglich das nachholte, was er in den letzten Tagen nicht an Kaffee konsumiert hatte. Es fehlte noch, dass sein kleiner Bruder auch unter normalen Bedingungen saufte wie ein Kamel am Wasserloch.

Und dann auch noch Kaffee. Was war so falsch an Tee?

„Du solltest deinen Freund in den nächsten paar Tagen sehen können“, setzte Clovis an und beschloss, den himmelschreienden Mangel an Kultur zu ignorieren, mit dem er sich konfrontiert sah. Es war Lelouch. Irgendetwas musste er tun, um seine Nerven zu strapazieren, und nach den letzten paar Tagen war ein bisschen fehlende Etikette fast schon ein Segen. „Ich habe Lloyd gesagt, dass ich mir den Piloten seines neuen Spielzeugs aufgrund dieses eher unkonventionellen Arrangements erst persönlich ansehen will, bevor ich ihn den Lancelot das nächste Mal einsetzen lasse, und wie erwartet hatte er nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Allerdings haben offenbar auch die Puristen Wind von der Sache bekommen, als ich nach dem Vorfall in Shinjuku einige Zeit... ah, verhindert war, und nun muss ich erst einmal zusehen, dass ich sie mir noch eine Weile vom Hals halten kann – zusammen mit einem Team angeblich fähiger Wissenschaftler, dessen Mitglieder inzwischen herumlaufen wie kopflose Hühner. Ich versuche mein Bestes, aber morgen wird es wohl nichts mehr.“

Lelouch nickte leicht. „Was willst du bezüglich der Puristen unternehmen?“

Clovis hob die Schultern. „Ich nehme an, ich werde mich mit ihnen zusammensetzen müssen. Sie mögen ein wenig festgefahren in ihrer Meinung sein, aber die meisten von ihnen sind in erster Linie kronloyal. Vermutlich.“

Seinem Bruder entging sein mangelnder Enthusiasmus nicht. „Du hast es wirklich nicht mit Politik, oder?“, fragte er mit dem Anflug eines Schmunzelns.

Clovis verzog leicht das Gesicht. „Nein.

„Ich verstehe wirklich nicht, weshalb du hergekommen bist“, sagte Lelouch. „Nur, weil es hieß, wir seien hier umgekommen?“

„Zu jenem Zeitpunkt schien es mir eine gute Idee.“

„Und jetzt?“

„Jetzt...“, wiederholte Clovis. „Nun, ich schätze, ich bereue es nicht. Wäre ich in Britannien geblieben, würden wir jetzt nicht hier sitzen, nicht wahr? Aber wären die Dinge anders verlaufen, würde ich sagen, dass es der dümmste Einfall gewesen ist, denn ich jemals hatte – die Sache mit dem Frühlingsball miteingeschlossen.“

„Frühlingsball?“

„Ah... es war eine dumme Angelegenheit, wirklich“, sagte Clovis, setzte aber dennoch zu einer Erklärung an. „Da war dieser Sohn eines Herzogs auf einem Ball vor ein paar Jahren. Er konnte noch keine zehn gewesen sein, wollte aber älter wirken und war ausgesprochen förmlich, wenn man ihn ansprach. Aber jedes Mal, wenn Euphie ihn angesehen hat, ist er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Es war unglaublich offenkundig und man musste einfach Mitleid bekommen – er hat mich ein bisschen an dich erinnert, als du in dem Alter warst.“ Clovis konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen, als es für einen Moment so aussah, als würde Lelouch mitsamt seinem Stuhl zur Seite umkippen. Und war das da etwa ein Anflug von Röte auf seinem Gesicht...? Aber sein Bruder machte ihm nicht die Freude, ihn seinen kleinen Triumph auskosten zu lassen, und im nächsten Augenblick hatte Lelouch auch schon seine Fassung wiedergefunden. Das Überraschungsmoment war fort, und sein Bruder bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Clovis quittierte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln. „Mir war gerade nicht nach Tanz und Hofklatsch zumute“, fuhr er fort, als wäre nichts gewesen, „und so kam ich auf die glorreiche Idee, dem Ärmsten ein bisschen behilflich zu sein. Weshalb nicht, dachte ich – es würde sicherlich unterhaltsam sein.“ Er hielt inne, schauderte. „Lass mich dir einen Rat geben, kleiner Bruder... solltest du jemals den unwiderstehlichen Drang verspüren, Euphemia li Britannia frühzeitig unter die Haube zu bringen, stell erst sicher, dass ihre Schwester sich nicht im selben Raum befindet.“

Lelouch sah ihn an, als wäre er ein Idiot. „Und du musstest das erst ausprobieren, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?“

Nur mühsam hielt Clovis sich davon ab, aufzustehen und seine Tasse über ihm zu entleeren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Narukyu
2012-09-14T11:26:14+00:00 14.09.2012 13:26
Echt tolles Szenario, jetzt könnte es richtig spannend werden, wenn du weiterschreibst! Ob Kallen zu Lelouch halten wird?
Von:  Nugua
2012-03-06T17:57:29+00:00 06.03.2012 18:57
Interessantes Szenario. Schade, dass du die Geschichte nicht fortsetzt (wobei ich zugegeben auch nicht wüsste, wie man sie vernünftig abschließen könnte.)
Ich habe mich nie sonderlich mit Clovis beschäftigt und kenne die erwähnte Light Novel auch nicht, aber ich finde, du triffst seinen Charakter hier sehr gut.
Von:  Miharu_x3
2011-07-31T21:50:30+00:00 31.07.2011 23:50
haay xD
egal wie oft ich sie lese... sie ist einfach viel zu kurz...
kannst du bitte mehr hochladen?? >.<'
Von:  Miharu_x3
2011-06-30T19:44:14+00:00 30.06.2011 21:44
haayxD
Ich liebe diese ffxD
ich freu mich, wenns endlich wieder weitergeht *.*
Von:  saspi
2010-03-27T23:17:53+00:00 28.03.2010 00:17
Hey!!!
hab heute deine ff endeckt und find sie echt supi!!!
Bitte schreib schnell weiter!
Bin schon neugierig wie 's weitergeht!!!
Freu mich aufs nächste kappi.
Bye

Von:  fahnm
2010-02-27T18:19:33+00:00 27.02.2010 19:19
Oh weh das kann was werden mit den beiden.
ICh bin mal gespannt wie es weiter gehen wird.^^

mfg
fahnm


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